Berührung - Wolf Ollrog - E-Book

Berührung E-Book

Wolf Ollrog

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Beschreibung

Wie hast du´s mit der Nähe? "Komm her! Halt mich fest!" - "Hau ab! Bleib mir vom Hals!" Nähe und Distanz, das ist der Dauerbrenner für Paarseminare. Wie viel Körpernähe brauche ich, wie viel vertrage ich? Wie nah lasse ich dich an mich? Wie nah lässt du mich an dich? Das ist ein Konfliktherd Nummer eins in Partnerschaften. Rücken wir uns nah, sind wir be-rührt. Dann wird uns warm oder kalt. Es geht ums Anfassen und Angefasst-Werden. Körperlichkeit ist ein hochemotionales, trotzdem über weite Strecken verschwiegenes Thema zwischen Paaren. Es geht um Emotionalität und Sex und wie beides zusammengeht. Körpernähe ist mehr als Sex. Wie kann sie gelingen? Das ist die Hintergrundfrage des Buchs und eröffnet ein komplexes Feld. Dazu muss man vor allem verstehen, was jede und jeden hindert, sich auf Nähe einzulassen. Aber Berührung ist keineswegs nur ein heißes Pflaster für Paare. Wie nahe wir uns treffen, bestimmt, wenn meist auch nur unbewusst und auf versteckte Weise, jede noch so alltägliche Begegnung mit - sei es in der Familie, bei Freundschaften, in Nachbarschaften oder bei den Beziehungen am Arbeitsplatz. Wir mögen es uns nicht immer bewusst machen, aber wir können es nicht vermeiden. Die meisten Menschen sind nähemäßig unterversorgt. Sie leben in einem krankmachenden Dauermangel. Dieses Buch wendet sich an Paare und einzelne, die unzufrieden darüber sind, wie sie körperliche Nähe leben und austauschen. Wer rundum damit zufrieden ist, wie er oder sie mit dem Partner oder der Partnerin (oder auch mit anderen Menschen) körperliche Nähe teilt, braucht dieses Buch nicht. Es wendet sich an Menschen, die sich über Körpernähe oder Sex in die Haare kriegen oder anschweigen. Die enttäuscht darüber sind, dass ihr Gegenüber sie nicht an sich lässt. Oder die sich der Nähewünsche des Partners oder der Partnerin erwehren müssen. Wie stillen wir unsern Nähehunger? Wie gelingt Nähe?

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Der Autor:

Dr. Wolf Ollrog, Pfarrer, Bonding-Psychotherapeut, Arbeit in freier Praxis. Veröffentlichungen unter anderem: „Nie gesagte Worte“ in: Deutschland und seine Weltkriege (2012); „Aus der Traum. 101 Vorschläge, wie man seine Partnerschaft vor die Wand fahren kann“ (2013; 32021); „Ein Quantum Leben. Woher wir die Kraft zum Leben nehmen“ (2014); „Die drei Säulen der Partnerschaft. Was Partnerschaften stabil, ebenbürtig und glücklich macht“ (2015); „Wir müssen endlich reden. Die Partner-Diade – eine einfache Gesprächshilfe für schwierige Themen“ (2016; 32021); „Ich hätte dich gebraucht. Nachkriegsgeschichten“ (2017); „Geklopfte Sprüche. Über die Welt, die Liebe und andere unflätige Dinge“ (2019; 22021); „Eine Urlaubsliebe“ (2020)

Inhalt

Vorwort

Teil 1 Berührungshunger und Berührungsnotstand

1 Wie hast du‘s mit der Nähe?

2 Die unterkuschelte Gesellschaft und der berührungsbedürftige Einzelne

3 Berührung: Ein Rand-Thema für die Wissenschaft

4 Corona und Nähe

5 Worum es in diesem Buch geht

Teil 2 Warum wir uns berühren müssen

6 Mit Haut und Haar: der Tastsinn

7 Berührung: Treibsatz des Lebens

8 Die Sprache der Berührung

9 Warum wir uns permanent selbst berühren

10 Im Mutterleib geht alles los

11 Perspektivenwechsel: von der Mutter zum Kind

12 Rührselig von der Wiege bis zur Bahre

Teil 3 Die Verknappung der Ressource Berührung

13 Einübung in den Mangel: Berührung bei Kindern und Heranwachsenden

14 Berührungs-Engpass Partnerschaft

15 Nähenotstand im Alter

Teil 4 Die berührungsverarmte Gesellschaft

16 Berührung zwischen Konvention und Moral

17 Warum die Gesellschaft Berührungen verknappt

18 Auf dem Weg in die berührungslose Gesellschaft?

Teil 5 Berührungs-Ersatzwege

19 Auswege oder Sackgassen

20 Virtuelle Berührungen: Die Inszenierung der Nähe

21 Gekaufte Berührungen: Die Kommerzialisierung der Nähe

22 Übergriffige Berührungen: Die Erzwingung der Nähe

23 Verdeckte Berührungen: Die Erschleichung der Nähe

24 Tierische Berührungen: Die Verschiebung der Nähe

25 Verdrängte Berührungen: Die Kompensierung der Nähe

Teil 6 Die persönliche Berührungsgeschichte

26 Die eigene Berührungsgeschichte – ein Buch mit sieben Siegeln

27 Die persönliche Berührungs-Matrix

28 Das Körpergedächtnis

29 Der Blick in die eigene Vergangenheit

30 Das gebrannte Kind

31 Auf Kriegsfuß mit dem eigenen Körper

Teil 7 Wie Berührungen gelingen

32 Das Ja zum eigenen Körper

33 5 Schritte zur Wiedergewinnung der Ressource Berührung

34 Bedingungen gelingender Berührung

35 Schmusen kontra Sex?

Teil 8 Heilsame Berührungen

36 Heilsame Berührungen im Alltag

37 Berührung in therapeutischen Kontexten

38 Die Bondingpsychotherapie

39 Resümee: Zwischen Nähe und Distanz

Teil 9 Anhang: Lust auf Berührung

40 Anregungen für Berührungen: allein, zu zweit, in Gruppen Literaturverzeichnis und Anmerkungen

Vorwort

Worüber schreibst du? – Ich schreibe über das Berühren. – Oh!

Berührung – körperliche Nähe – sich anfassen: ein prickelndes Thema! Es ist ein Thema, das Jungverliebte beflügelt und in die Jahre gekommene Paare wundgerieben hat.

Dieses Buch wendet sich zunächst an Paare, als Pendent zu meinem Partner-Buch „Wir müssen endlich reden!“ Dass wir, soll unsere Partnerschaft gelingen, miteinander reden müssen, leuchtet den meisten Paaren ein, auch wenn es ihnen oft nicht gelingt. Die brisantere, noch stärker unter die Haut gehende Frage ist aber: Wie nah lassen wir uns aneinander? Müssen wir uns auch berühren? Auch wenn es noch weniger gelingt?

Aber Berührung ist keineswegs nur ein heißes Pflaster für Paare. Nicht nur, wie wir miteinander reden, sondern nicht weniger, wie nahe wir uns treten, bestimmt, wenn meist auch nur unbewusst und auf versteckte Weise, jede noch so alltägliche Begegnung mit. Wir mögen es nicht beachten, aber wir können es nicht vermeiden.

Wie das Reden ist auch das Berühren voller Widersprüche und Ambivalenzen. „Komm her! Halt mich!“ und „Geh weg! Bleib mir vom Hals!“ Ich wünsch mir so sehr, dass du mir naherückst, aber dann zerstreiten wir uns und gehen enttäuscht auseinander. Nähe und Distanz – das sind die Pole, zwischen denen sich Paare, Familien, Freundschaften, Nachbarschaften und Beziehungen am Arbeitsplatz aufreiben können. Wir suchen die Nähe. Und wir gehen auf Abstand. Das sind auch die Pole dieses Buchs.

Das Bild auf dem Buchdeckel ist ein Ausschnitt aus dem weltbekannten Deckengemälde von Michelangelo „Die Erschaffung Adams“ aus der Sixtinischen Kapelle im Vatikan. Mit Fug und Recht wird es zu den großartigsten Gemälden der Kunstgeschichte gezählt. Kaum ein Bild beschreibt das Thema „Berührung“ in seiner Ambivalenz eindringlicher. Es lohnt eine Reise. Und es lohnt eine genaue Betrachtung. So berühmt und bekannt das Fresko auch ist: es bleibt etwas Geheimnisvolles um dieses Bild aus dem Zyklus um die Erschaffung der Welt und des Menschen, wie sie in den ersten 9 Kapiteln der Bibel geschildert wird.

Die merkwürdige Fast-Berührung zwischen der scheinbar schlaffen Hand Adams und der ausgestreckten, dynamischen Hand Gott-Vaters wird gern so verstanden, dass Adam, dem eben Geschaffenen, noch Trägen und Uninspirierten, vom kraftvollen Schöpfergott das Leben eingegeben wird. Vom Zeigefinger Gottes springe der Funke des Lebens zum Finger Adams über.

Aber diese Interpretation springt zu kurz. Sie übersieht das Entscheidende: Da klafft mitten im Bild eine Lücke. Eine kleine zwar, aber eine unübersehbare. Diese Lücke trägt eine unerhörte Spannung in die Szene. Und Adam ist durchaus nicht träge oder noch hilflos, wie manche Interpreten meinen. Er ist verhalten, aber er schaut mit voller Aufmerksamkeit hinüber zu Gott. Deswegen kann man das Bild auch anders lesen: Adam, der sich nur vorsichtig, wie unversehens Gott nähert, ihn aber nicht erreicht, der den Arm ausstreckt und zugleich die Finger ein wenig abwinkelt und zurückzieht, der sich nicht traut, Gott zu berühren; und Gott, der sich nach ihm ausstreckt, ohne ihn zu fassen, ohne ihn festzuhalten und zu dirigieren, der ihm aber zugleich zeigt: Ich bin dir ganz zugewandt! Eine knisternde Spannung steht zwischen den Fingern. Aber es bleibt eine Distanz, es kommt nicht zum Zusammenschluss, es bleibt etwas offen.

Man kann in der Fast-Berührung, der ausgebremsten Nähe, die nicht ans Ziel kommt, auch ein Sinnbild menschlichen Lebens insgesamt abgebildet finden. Ein Ich-sehne-mich-nach-dir und ein Ich-erreiche-dich-nicht, ein Komm her – Geh weg menschlicher Nähe-Erfahrung, eine auf die Fingerspitze getriebene Metapher für die ewige Sehnsucht nach Berührung und Vereinigung und die ewige Diskrepanz, sie nie vollständig zu finden. Dabei geht es nicht nur um die Sehnsucht nach Gott, es geht zugleich um die Sehnsucht nach menschlicher Nähe. Das Fresko, das hier nur in einem Ausschnitt gezeigt wird, deutet es an. Der sehnsuchtsvolle Blick der Frauengestalt neben Gott, am ehesten zu verstehen als die auf Adam wartende Eva, unterstreicht die beinahe unerträgliche Spannung dieses nie endenden Dilemmas der zwei Königskinder, die nicht zueinander kommen können.

Jetzt noch ein paar Bemerkungen zu diesem Buch. Im Rahmen von Therapie und Beratung kann sich körperliche Berührung als ein emotional hochbesetztes, heikles Terrain erweisen. Die meisten Therapieansätze fassen das Thema nur mit spitzen Fingern an. In der Bonding-Psychotherapie, die ich seit über 25 Jahren praktiziere, ist „Berührung“ ein zentraler Bestandteil der Arbeit. Im letzten Kapitel stelle ich diese Therapieform deshalb genauer vor.

Dieses Buch versteht sich als Buch aus der und für die Praxis. Ich habe mich bemüht, so allgemeinverständlich und praxisnah wie möglich zu bleiben. Soweit es möglich war, habe ich mich um eine gendergerechte Sprachweise bemüht, wissend, dass es mir nicht immer gelungen ist. Auf die wissenschaftliche Fachsprache verzichte ich soweit wie möglich. Die Diskussion mit der Fachliteratur führe ich nur implizit. Ich möchte Leserinnen und Lesern die Möglichkeit geben, das Buch auch als Anregung zur eigenen Bearbeitung des Themas zu nutzen. Deshalb habe ich hier und da Fragen zusammengestellt und durch Einkästelungen hervorgehoben, mit denen man bestimmte Aspekte des Themas für sich selbst reflektieren kann. Man kann sie auch gut zu zweit bearbeiten, um darüber in einen Austausch zu kommen. Dem dient außerdem der Anhang, eine kleine Sammlung von Anregungen für jene, die ihre Berührungserfahrungen erweitern möchten.

Mai 2022

1 Berührungshunger und Berührungsnotstand

1 Wie hast du’s mit der Nähe?

Dieses Buch handelt von der zwischenmenschlichen Nähe, speziell vom leiblichen Berühren; also vom körperlichen Teil der Nähe. Es ist ein Erfahrungsfeld, das jeden Menschen betrifft, bei dem jede und jeder was zu sagen hat. Und doch eins, über das nur wenig geredet wird.

Körperlichkeit ist ein hochemotionales Thema. Es geht uns an. Es geht an uns. Weil wir überallhin unsern Körper mitnehmen, ist das Thema präsent, wo immer wir mit anderen zusammentreffen; gleich, ob wir uns Nähe wünschen oder sie uns vom Halse halten. Im täglichen Zusammenleben ist es eins der aufgeladendsten Themen überhaupt, vor allem in seiner sexuellen Variante. Wie nah will ich dir kommen? Wie nah darf ich dir kommen? Es geht ums Anfassen und Angefasst-Werden. Es geht ums Angerührtwerden und Sich-Öffnen. Und ebenso um Abstand und Rückzug. Es geht um Emotionalität und Sex und wie beides zusammengeht. Rücken wir uns nah, beginnt es in uns zu kribbeln. Dann wird uns warm oder kalt.

„Nähe und Distanz“ – das ist der Dauerbrenner für Paar-Seminare. Nähe geht an die Haut und unter die Haut. Nähe führt Paare zusammen. Und nicht gelingende Nähe treibt Paare auseinander. Wie hast du’s mit der Nähe? Wie viel Nähe lässt du zu? Wann raubt sie dir die Luft? Daran reiben sich Menschen wund.

Vielleicht nehmen Sie sich, liebe Leserin, lieber Leser, am Anfang dieser Lektüre einen Moment Zeit und fragen sich selbst:

Wie halte ich selbst es mit der körperlichen Berührung? Wann und wozu brauche ich körperliche Nähe? Wünschte ich mir mehr davon oder weniger? Oder anders? Wie sieht oder sähe angenehme Nähe für mich aus?

Wie geht es mir im Blick auf Nähe mit meinem Partner oder meiner Partnerin? Bin ich darüber zufrieden, wie wir körperliche Nähe austauschen? Können wir darüber miteinander reden? Wie geht es meinem Partner, meiner Partnerin oder meinem Gegenüber mit dem Thema?

Körpernähe ist das Herzstück der Partnerschaft. Wenn Paare sich nicht mehr berühren, verlieren sie den Kontakt zueinander. Oft ist es der Anfang vom Ende der Zweisamkeit.

Aber wie wir uns nahekommen und berühren, wie viel Nähe uns angenehm ist und wie viel wir zulassen, ist nicht nur ein Thema für die Partnerschaft. Wir haben tagtäglich in vielen Begegnungen damit zu tun. Auch in ganz normalen Begegnungen ist die Körperlichkeit alles andere als ein belangloser Nebeneffekt. Sie bestimmt mit, wenn auch meist unbewusst, wie wir uns fühlen und in welchem Maße wir uns auf eine Situation einlassen.

Wenn Sie wollen, können Sie sich auch hier noch einmal ein paar Fragen beantworten:

Mit wem, außerhalb meiner Beziehung, habe ich Körperkontakte? Tausche ich körperliche Nähe mit den Menschen aus, von denen ich herkomme, also mit den Eltern, Geschwistern, Verwandten? Habe ich Freunde oder Freundinnen, die ich körperlich an mich lasse?

Wie distanziert sind meine Kontakte? Was steht dem Berühren im Wege? Warum meide ich das Körperliche? Welches Maß an Körperlichkeit erlaube ich mir mit anderen? Wie viel hätte ich gern? Welche Erfahrungen habe ich gemacht, wenn ich anderen nahekam?

Wahrscheinlich wählen Sie sich die Menschen gut aus, denen Sie nahekommen. Mit Berührungen sind wir üblicherweise vorsichtig und sparsam. Vermutlich gehen Sie bestimmten Personen aus dem Weg oder leben mit ihnen in Streit. Es ist eine Binsenwahrheit: Mit allen will und kann man nicht nah sein. Aber ohne alle auch nicht. Begegnungen sind unvermeidlich.

Jede Sympathie und jede Antipathie hat auch eine körperliche Seite. Immer schwingt, wenn wir uns begegnen, auch Körperlichkeit mit im Raum, gerade auch dann, wenn darüber kein Wort verloren wird. Aber wir fühlen sie. Wir merken es daran, ob wir uns wohl oder unbehaglich fühlen.

Wie nah kommen wir uns? Diese Frage steht unausgesprochen immer mit im Raum. Besonders zwischen Menschen, die sich nahestehen, ist fehlende Berührung oder die Vermeidung von Körperkontakt ein schmerzendes, von Kränkungen durchsetztes Thema: etwa wenn der oder die andere jeder Berührung aus dem Wege geht, sich wegdreht, reflexartig die Hand wegzieht, auf Abstand geht. Es fühlt sich an wie eine Wunde, die zwar gut verklebt wurde, aber permanent Signale aussendet: Rühr mich nicht an!

Nicht wenige Menschen führen ein berührungsarmes Leben. Das betrifft nicht nur alte Menschen. Es betrifft auch Jugendliche. Es betrifft auch Menschen, die eigentlich genug Gelegenheit zum Austausch hätten. In vielen Partnerschaften verliert sich die anfangs wunderbare Nähe.

Wer wenig Berührung mit anderen Menschen hat, denkt vielleicht, er brauche sie gar nicht. Das stimmt nur auf eine oberflächliche Weise. Dinge, die wir nicht nutzen, verlieren wir aus dem Sinn. Körperteile, die wir nicht verwenden, schrumpeln ein. So verhält es sich zum Beispiel mit unserer Muskulatur. Auch das nicht genutzte Fühl-Sensorium fährt seine Antennen zurück und stumpft ab. Der Mensch gewöhnt sich an den Mangel und lernt, mit ihm zu leben. Wer keine Übung in der Gestaltung der Nähe hat, verliert die Idee dafür, wie sie gehen könnte. Die Fühlfähigkeit allerdings verlieren wir nicht.

Wenn Menschen vereinsamen, wenn sie allein bleiben, wenn Partner sich entfremden, richten sie sich mit sich selbst ein; aber die Sehnsucht nach Berührung bleibt ihnen. Wie und warum es zu ihrer Berührungsverarmung kommt, steht oft nur wie ein stummes Fragezeichen im Hintergrund.

So sehr sich Partnerschaften daran aufreiben können, wenn die Nähe zwischen ihnen verloren geht, so wenig dringt in der Regel etwas davon nach außen. Wir bekommen meist gar nichts davon mit. Vielleicht, wenn wir gezielt darauf achten, merken wir, dass sich zwei nie anfassen. Berührungsmangel, Berührungsverweigerung, Berührungsvergessenheit, Berührungslosigkeit sind eher geräuschlose Leiden. Sie spielen sich meist im Verborgenen ab.

Welttage werden von den Vereinten Nationen ausgerufen, um an vergessene oder nicht beachtete Weltprobleme zu erinnern. Daran anknüpfend hat man einen „Weltknuddeltag“ ins Leben gerufen1. Er wirft eher Fragen auf, als dass er sie beantwortete.

Es sind eher unangenehme Fragen: Was hindert mich eigentlich an nahen Begegnungen? Warum bekomme ich nicht hin, was ich mir erträumt habe? Gelingt Berührung nicht, zieht man sich zurück, geht auf Abstand. In Partnerschaften droht die Trennung. Viele finden keinen Weg aus der Vereinzelungsfalle. Und nur selten finden sie mit vertrauten Menschen Gelegenheiten, darüber zu reden. Viel häufiger suchen und finden sie Ersatzlösungen.

Das ist mehr als bemerkenswert. Denn niemand, den ich kenne, bestreitet, dass Berührung gut tut oder gut tun kann. Die meisten sagen sogar: Berührung ist lebenswichtig. Dazu werden gewichtige Argumente angeführt. Hier eine kleine Sammlung von Antworten:

Berührung bestätigt uns die Zugehörigkeit, zeigt uns, dass wir bei anderen einen Platz haben. Sie gibt uns das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit.

Durch Berührung zeigen wir jemandem ohne Worte, dass wir ihn mögen

Berührung wärmt uns, äußerlich wie innerlich.

Sie macht emotional satt.

Sie kann wie Heilsalbe wirken.

Berührung kann uns trösten oder Trost geben.

Berührung ist beruhigend.

Berührung ist aufregend.

Sie geht uns an den Leib.

Im Gegensatz zum distanzierteren Schauen, Reden oder auch Zusammen etwas-Tun trifft sie uns unmittelbar, direkt, ohne Abstand.

Sie unterschreitet die übliche Distanzschwelle und betritt unsern Intimbereich.

Berührung ist die Tür zum Sex, schärft die sexuelle Begegnung.

Von Anfang an ist Nähe, insbesondere in ihrer körperlichen Gestalt, ein zentrales Thema für jeden Menschen. Für Nähe nehmen wir unser Leben lang sehr viel in Kauf, selbst unerträgliche Beziehungen. Für Nähe tun wir manchmal alles.

Aber Nähe ist auch ein Minenfeld. Und oft auch ein Feld der Qualen. Mit Nähe kann man Menschen ausbeuten, unterjochen, erpressen. Nähe kann man mit Geld erkaufen oder mit Gewalt erzwingen. Nähe kann man durchleiden oder sich auch nur erträumen.

Die meisten Menschen können beim Thema körperliche Nähe mit einer vielschichtigen Erfahrungspalette aufwarten. Sie kann von wunderbaren bis zu grausigen Erlebnissen reichen. Nähe ist ein schillerndes Thema.

Welche Nähe ist gemeint, wenn sie mir jemand anbietet oder gewährt? Wie nah darf die Nähe sein? Welchen Preis muss ich für sie zahlen? Wann macht sie mich satt, wann setzt sie mich auf Diät, wann erstickt sie mich? Welche Nebenwirkungen muss ich in Kauf nehmen? Auf was will ich mich einlassen? Weiß ich überhaupt, welche Art der Nähe mir guttut? Weiß ich umgekehrt, was mein Gegenüber sich von mir wünscht? Bin ich bereit, es zu geben? Um welche Nähe geht es und was macht sie mit mir? Immer neu stellen sich solche Fragen.

„Nähe“ kann man auf vielerlei Weise, in vielerlei Gestalt und mit unterschiedlichen Sinnen erleben, etwa indem wir uns anschauen, miteinander reden, aneinander denken, etwas zusammen tun. Ihre eindringlichste, intensivste und unmittelbarste Gestalt ist die körperliche Berührung. Mit unserm Körper, wenn wir uns anfassen, wird Nähe konkret und handgreiflich: wenn wir zueinander rücken, uns aneinanderlehnen, uns umarmen, beieinander liegen, ineinander steigen. Die körperliche Berührung kommt ohne Worte aus. Sie löst unmittelbare Reaktionen in uns aus. Sie durchzuckt uns und lässt uns zurückzucken. Sie kann uns in Euphorie versetzen und kann auch Alarm auslösen. In Echtzeit spüren wir, dass etwas mit uns geschieht.

Unser Körper ist das zentrale Empfangs- und Melde-Instrumentarium, mit dem wir uns in unserer Welt und Umwelt orientieren, unsere Beziehung zu anderen Menschen wahrnehmen und unsern Platz unter ihnen finden. Unser Körper reagiert unmittelbar, je nachdem, mit Zustimmung und Entgegenkommen, mit Abwehr und Rückzug oder auch mit Erstarrung. Ist uns die Berührung angenehm, spüren und wissen wir, dass wir willkommen sind, dass wir zusammengehören. Im Vollzug erleben wir Gemeinsamkeit und Gleichklang. Ist die Nähe dagegen unangenehm, gerät unser Körper unter Spannung und Stress, sträubt sich, entwickelt Ekel- und Abwehrgefühle. Er versperrt oder wehrt sich. Wie nahe wir andere an uns lassen, bestimmt in entscheidendem Maße mit, wie sicher und wie zufrieden wir uns fühlen.

Fehlt uns dieser körperliche Begegnungsraum, geht er uns verloren oder verkehrt er sich, etwa wenn wir ihn als unfreundlich, bedrängend, übergriffig, ausbeuterisch oder gewalttätig erleben, reduzieren wir den Kontakt. Wir kapseln uns ab.

Viele Menschen befinden sich im Blick auf ihre Bedürfnisse nach körperlicher Berührung in einem alarmierenden Zustand des Mangels; teils gelegentlich, teils immer wieder, teils dauerhaft. Er entzieht ihnen Energie, nagt an ihrer Lebensfreude, höhlt ihre Gesundheit aus. Wenn wir gesund sein und glücklich werden wollen, können wir auf Nähe nicht verzichten.

2 Die unterkuschelte Gesellschaft und der berührungsbedürftige Einzelne

Vor ein paar Jahren übertitelte die Berliner Tageszeitung taz einen langen Artikel über die Verkümmerung der körperlichen Beziehung in der modernen Gesellschaft mit den provokanten Schlagzeilen: „Die unterkuschelte Gesellschaft“ und „Deutschland unterkuschelt“2. Immer wieder einmal schlagen Fachleute aus dem Bereich der Soziologie, der Psychologie, der Medizin oder Theologie Alarm und sprechen von einem sich verschärfenden Berührungsnotstand. Sie weisen darauf hin, dass in unserer Gesellschaft etwas falsch läuft. Die gesundheitspolitischen und therapeutischen Folgekosten seien enorm.

Aber solche Stimmen sind, jedenfalls bis zur Corona-Pandemie, in der öffentlichen Diskussion eine Randerscheinung geblieben. Denn so verbreitet die berührungsmäßige Mangelerfahrung ist, so versteckt ist sie auch. Die Gesellschaft als Ganze hat bisher kein besonderes Interesse an den Tag gelegt, ihr auf den Grund zu gehen. Sie hat sich mit dem Mangel arrangiert. Es liegt im Trend, Berührungen zu vermeiden. Die Pandemie verstärkt ihn noch.

In den letzten einhundert Jahren hat sich berührungsmäßig ein eklatanter Wandel in unserer Gesellschaft vollzogen. Die Menschen vereinzeln, gehen immer mehr auf Distanz. Die Zahl der Single-Haushalte ist stark gestiegen. Mehr als ein Drittel, in Ballungsgebieten fast die Hälfte der Bevölkerung lebt inzwischen allein. Familienverbände, in denen mehrere Generationen unter einem Dach wohnen, sind nur noch eine Seltenheit. Die moderne Arbeitswelt verlangt Mobilität von uns. Persönliche, gewachsene Beziehungen bleiben nicht selten auf der Strecke. Man wohnt anonym in Hochhäusern, geht anonym in Kaufhäusern einkaufen, fährt einzeln oder in überfüllten Verkehrsmitteln anonym zur Arbeit. Lebenswelt und Arbeitswelt fallen auseinander. Die Kommunikationsmittel haben sich grundlegend verändert. Die Welt ist dabei, sich zu digitalisieren. Es wird schwieriger, enge Beziehungen zu halten oder neue aufzubauen.

Dem scheint eine offener gewordene Gesellschaft zu widersprechen. Seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts haben die öffentlichen Medien, Werbung, Fernsehen und Kino eine zunehmende körperliche Freiheit hoffähig gemacht. Überall springt uns eine nackte Körperlichkeit entgegen, als könnten wir sie anfassen. Aber diese größere Freiheit für die Augen geht paradoxerweise nicht einher mit einer größeren Freiheit sich nahe-zukommen. Im Gegenteil. Sie erhöht die Sehnsucht nach Berührung und vergrößert den Mangel an befriedigender Nähe. Nähe und Berührung sind offensichtlich ein kompliziertes Gelände. Berührungsbedürfnis und Berührungsmöglichkeit klaffen auseinander.

Aber in Wirklichkeit ist der Widerspruch noch größer. Nicht nur die Gesellschaft erschwert den Zugang zur Berührung; auch für jeden einzelnen bildet sie auf unterschiedliche Weise ein Problemfeld. Obwohl nach eigener Auskunft viele Menschen in unserer westlichindustrialisierten Gesellschaft berührungsmäßig unterversorgt sind, kommen wir uns auch im privaten Umgang miteinander selten und jedenfalls zu wenig nah. Viele Menschen leiden nach eigener Auskunft unter Berührungsmangel. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung wünscht sich mehr Berührung. Das haben Umfragen immer wieder bestätigt3. „Es könnte ruhig mehr sein“. Trotzdem gelingt es vielen Menschen nicht, wohltuende Körpernähe herzustellen, vor allem nicht dauerhaft, und auch nicht dort, wo die Bedingungen eigentlich günstig sind – insbesondere in der Partnerschaft, wo gegenseitige Berührung sozusagen zur Grundausstattung gehört. Viele Paare berichten, dass sie sich mit der Zeit immer weniger berühren, dass ihr körperlicher Berührungs-austausch zusammengeschrumpft ist auf einen ritualisierten flüchtigen Begrüßungskuss und dass ihre sexuellen Begegnungen gegen Null tendieren.

Das ist zunächst einmal gänzlich unverständlich. Es drängt sich die Frage auf: Warum tun Menschen sich das an? Was macht es so schwierig sich zu berühren, wo wir doch hautnah spüren können, wie sehr wir es benötigen? Warum gehen wir so sparsam mit dieser eigentlich in Hülle und Fülle vorhandenen Ressource um? Wie kommt es, dass Menschen eine so wichtige Kraftquelle derart vernachlässigen, ja verlottern lassen? Und was braucht es, um Nähe so zu gestalten, dass sie uns gut tut? Was hält mich selbst ab, anderen Menschen nahezukommen? Erst wenn ich das beantworten kann, kann ich weiterfragen: Was kann ich tun? Es geht also zunächst um eine doppelte Frage: Wieso zeigt sich die Gesellschaft als Ganze im Blick auf Nähe so spröde? Und was erschwert mir als Individuum den Zugang zu ihr?

3 Berührung – ein Rand-Thema für die Wissenschaft

Niemand hat bisher eine „Geschichte der Berührung“ geschrieben. Zum Thema Körper und Berührung, Haut und Haptik, findet sich auffallend wenig Literatur. Das 1971 veröffentlichte Buch des britisch-amerikanischen Anthropologen Ashley Montagu „Touching: The Human Significance of The Skin“, in Deutsch: „Körperkontakt“, gilt immer noch als das einzige Standartwerk zum Thema. Er beschäftigt sich zwar auch mit den kulturellen Unterschieden der menschlichen Berührung, geht aber auf die Geschichte der Berührung nur am Rande ein4. Auch das Buch von Martin Grunwald „Homo Hapticus“, die meines Wissens einzige umfassendere Bearbeitung des Themas aus jüngster Zeit, verzichtet auf einen historischen Rückblick. Der Medizinhistoriker Robert Jütte befasst sich in seinem Buch „Geschichte der Sinne“ nur unter anderem mit dem Tastsinn. Die menschliche Berührung ist nur ein Nebenthema. Das Tasten sei ein Stiefkind, ein Randthema der Forschung, beklagen auch Renate Berenike Schmidt und Michael Schetsche in ihrem vor knapp 10 Jahren erschienenen Übersichts-Sammelband „Körperkontakt“. Zu manchen Aspekten des Themas fanden sie keine Fachleute, die darüber schreiben wollten. Eine umfassende „Soziologie der Berührung und des Körperkontaktes“ fehlt bislang, wie der Berner Soziologe Matthias Riedel in einem ersten Aufriss zum Thema beklagt5.

In den 90ger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat das Thema eine kurze Phase größeren Interesses erlebt. Ursprünglich um Blinden Zugänge zu der sie umgebenden Welt zu ermöglichen, entstanden in verschiedenen europäischen Städten „Theater der Sinne“ oder in Museen „Ausstellungen für alle Sinne“, „Fühl-Gärten“ oder „Dunkel-Bars“. Kulturschaffende und Theaterpädagogen griffen das Thema auf. Sie installierten Fühl-Parcours als Kontrast zu einer Gesellschaft, die einerseits vom Visuellen dominiert wird, andererseits von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und industriellen Machbarkeiten geprägt wurde und von den Möglichkeiten der neu aufkommenden Digitalisierung schwärmte. In Tastkästen, auf Barfußstrecken, in Hörkabinen und Schnüffel-Boxen konnte der städtische Pflastertreter und Discogänger neu fühlen lernen. Aber diese „Wiederentdeckung der Sinne“ verlief sich wieder.

Weltweit befassen sich, schreibt Martin Grunwald, derzeit nur einige hundert Forscher mit dem Tastsinn. Merkwürdig. Liegt es daran, dass Sehen und Hören und damit Augenheilkunde und Hörakustik klarere Anwendungsgebiete bieten und in der Nutzung technischer Geräte und Hilfsmittel kommerziell gesehen mehr Gewinn versprechen als Hautarztpraxen (vielleicht einmal abgesehen von der Schönheitschirurgie)? Liegt es daran, dass uns der Tastsinn viel seltener im Stich lässt als das Sehen und Hören und deshalb medizinisch-therapeutisch weniger relevant und lukrativ erscheint? Hat man das Tasten nicht auf der Rechnung?

Schon oft wurde festgestellt: Wir leben in einer vom Visuellen dominierten Welt. Wir sind geradezu überflutet von Bildern. Demgegenüber scheint der Tastsinn viel unscheinbarer. Er ist einerseits robuster, andererseits auch selbstverständlicher als das Sehen und Hören. Nur im engen Gewande der Sexualität erzeugt das Thema Berührung Aufmerksamkeit. Als Kontaktbedürfnis wird es gern übergangen und unterschätzt.

Aber auch in Zeiten von Bildschirm, Laptop, Handy und Ohrstöpsel-Dauerbeschallung ist das körperliche Fühlen unerlässlich. Bislang kommt auch die moderne digitale Welt nicht ohne Tasten oder Touchscreen aus. Unentwegt benötigen wir unser Tastsystem, bei Tag und besonders auch bei Nacht.

Wir ertasten den Lichtschalter, erfühlen Unterschiede auf Oberflächen und Strukturen an Stellen, wo unsere Augen nicht hinreichen. Mit den Fingerspitzen knöpfen wir das Hemd zu, binden die Schuhe, fingern nach der unters Sofa gerollten Münze. Wir laufen barfuß durch den Sand. Streichelnd und mit geschlossenen Augen tun wir der nackten Haut Gutes. Der Arzt ertastet, was mit unserm Körper los ist. Unentwegt reagiert unser Körper auf Tastsignale von innen und von außen. Trotzdem gilt das Tasten eher als untergeordnete Fähigkeit, und Berühren erscheint in der Wissenschaft wie ein Nebenthema.

Das Berühren ist aber viel mehr als nur ein Mittel zur Erkundung der Umwelt. Es ist zugleich ein Begegnungs-Instrumentarium und Kontaktfindungs-Sinn. Es erschließt uns die Beziehung zum Gegenüber auf eine unmittelbare, emotionale Weise. Das Sehen benötigt eine gewisse Distanz. Beim Berühren rückt man heran.

Womöglich liegt hierin ein Grund für die Zurückhaltung der Wissenschaft gegenüber dem Thema. In seiner Aufdringlichkeit ähnelt das Tasten dem Schmecken und Riechen, die tendenziell unseren Intimbereich betreten - beides ebenfalls eher Randthemen der Medizin und der öffentlichen Wahrnehmung. Mundgeruch und Darmwinde nimmt man wahr, aber man spricht nicht darüber. Das Berühren ruft unmittelbare Reaktionen in uns hervor, aber wir machen sie nicht zum Thema.

Aber in Wirklichkeit ist es anders. Die Art, wie wir uns berühren, ist ein Fundamental-Thema menschlicher Kommunikation. Es ist ein uraltes Thema. Ihm Interesse zu schenken, seiner Bedeutung im Lauf der Geschichte der Menschheit nachzugehen, könnte sehr aufschlussreich sein. Religion, Philosophie, Medizin, Kunst, Literatur, Politik und diverse andere Disziplinen könnten dazu befragt werden. Es erschöpft sich nicht in einer Geschichte der Physiologie. Es betrifft das menschliche Zusammenleben insgesamt.

Schon Aristoteles war überzeugt, der Berührungssinn sei unter den fünf Sinnen des Menschen der wichtigste. Deshalb verstand er ihn nicht bloß als einen äußeren Hautreiz, sondern lokalisierte sein Wahrnehmungs-Organ im Herzen. Physiologisch hatte er Unrecht, aber psychologisch traf er den Kern.

Wenn das Thema „Berührung“ ein Mauerblümchendasein in der Wissenschaft fristet, gibt es dafür vermutlich starke Gründe. Vermutlich muss man darin auch ein Spiegelbild der ambivalenten Rolle des Körperlichen in der Gesellschaft insgesamt erkennen.

Zum einen besitzt die zwischenmenschliche Berührung eine unscharfe Grenze zur Sexualität, berührt damit ein jedenfalls in unserm Kulturkreis über Jahrhunderte verdrängtes und tabuisiertes Thema. Zum andern überlagert die Sexualität als der stärkste Ausdruck von körperlicher Nähe die allgemeinen Berührungsbedürfnisse des Menschen und erstickt sie gewissermaßen. Über beides wird also zu reden sein.

4 Corona und Nähe

Dieses Buch fällt in eine Zeit, in der das Thema Berührung plötzlich in aller Munde ist. Es ist in seinem Kern allerdings lange vor den Corona-Einschränkungen entstanden. Darüber, wie dringend wir auf Berührung angewiesen sind und wie sehr Menschen sie vermissen, wurde allerdings noch nie so häufig geschrieben und geklagt wie seit der Corona-Pandemie.

Plötzlich entdeckt die Gesellschaft, dass sie ein Defizit an Berührung hat. Plötzlich merken Menschen (aber sind es nur einige hellsichtige Journalisten?), was ihnen fehlt. Wo wir doch häufig, so merkwürdig das sein mag, die Erfahrung machen, dass Menschen auf Distanz gehen; dass jemand die Finger spreizt, wenn man zu nahe an ihn herantritt. Mit einem „Komm mir nicht zu nah, ich bin erkältet!“ oder „Ich hab’s nicht so mit dem Abknuddeln!“ weichen manche vor einer drohenden Umarmung zurück. In unseren Breiten fristet die Berührung oft nur ein scheues, bestenfalls aufgescheuchtes Dasein. Darf man das Bedürfnis nach Nähe erst an sich lassen, wenn es sich nicht erfüllen lässt? Vielleicht, weil es dann nicht mehr gefährlich ist?

Wenn nicht wenige Menschen in unserer Gesellschaft über die Coronabeschränkungen und eine verordnete „social distance“ klagen, ist das allerdings oft nur ein Nebengleis der Unzufriedenheit. Nicht immer ist eine schmerzlich vermisste Nähe der Hauptgrund von Klagen und Protesten. Oft klagen jene viel lauter, die sich in ihren persönlichen Freiheiten beschnitten fühlen.

Ob sich die Zahl derer, die nach Berührung lechzen, gegenüber der Vor-Coronazeit wesentlich vergrößert, bleibt trotz der verbreiteten Klagen abzuwarten. Denn es litten nicht alle Betroffenen immer unter dem Berührungsmangel selbst. Sie litten auch – und oft noch mehr – unter den ökonomischen Auswirkungen der öffentlichen Schutz-Maßnahmen, etwa darunter, dass sie ihrem Beruf nicht oder nur erschwert nachgehen konnten.

Aber es gibt auch die andere Seite. Die coronabedingten Beschränkungen haben bisweilen zu schwer aushaltbaren Dramen geführt. Sie haben einigen Menschen viel abgefordert und die zwischenmenschlichen Kontakte massiv erschwert. Besonders bitter traf es Großeltern und Enkel, die sich aus Angst vor Ansteckung nicht sehen konnten, oder Menschen, die ihre Angehörigen in den Altersheimen nicht besuchen oder nicht einmal beim Sterben begleiten konnten. Auch in anderen Situationen kam es im Zuge des Lockdowns zu erheblichen, unerträglichen Belastungen. Etwa wo es um den Kontakt der Kinder zu Spielgefährten ging, um das Zusammenkommen von Jugendlichen, um Menschen auf der Suche nach Begegnungen, um Kontaktsperren zwischen frisch Verliebten, um den nicht möglichen Besuch von Freunden und Verwandten. Ganze Berufszweige und Branchen wurden durch die Einschränkungen lahmgelegt; von der Kunst bis zur Therapie, von der Gastronomie bis zum Tourismus, von körperlichen Dienstleistungen bis zum Vereinsleben. Das hat Menschen sehr viel abgefordert.

Viele Menschen sind nicht nur Corona-müde; sie fühlen sich auch ausgelaugt und hungrig wie nach einer langen Wanderung. Sie sehnen sich nach dem Ende der Vorsicht, nach dem Abnehmen der Maske, die ihr und das Gesicht anderer verbirgt, nach unbefangener Berührung. Wir leben wie im Exil, manche betrachten den entgegenkommenden Fußgänger als Gefahrenherd, vor dem man zur Seite springt, wir haben die Isolation satt, sehnen uns nach unverkrampfter Geselligkeit, wir wollen unsere Körper zurück. „Wie lange“, fragt der SPIEGEL, „kann eine Gesellschaft mit deutlich weniger Berührungen durchhalten?“6

Die Situation ist disparat. Für Menschen, die in häuslicher Gemeinschaft, in Partnerschaften und Familien leben (das sind fast zwei Drittel aller Bundesbürger) war die Lage ambivalent. Bei Home-Office, ausgefallener Schule und Ausgehbeschränkungen hatten sie mit einem Mal viel mehr Gelegenheit zu körperlichen Begegnungen als sonst.

Inzwischen wurde allerdings auch viel darüber berichtet, dass dieser vermehrte Begegnungsraum ihnen nicht nur angenehme Seiten bescherte. Durch die größere Berührungsenge in Familien, vor allem in solchen mit schulpflichtigen Kindern, entstand eine ungewohnte, dichte Gemengelage, die, so melden es Beratungsstellen und Polizei, nicht selten zu Streit, Gewaltausbrüchen und Missbrauchssituationen geführt hat. So viel Nähe auf engem Raum sind wir nicht mehr gewohnt. Viele Menschen und Familien waren und sind mit der Situation überfordert.

Das Virus und seine Nebenwirkungen haben dem Thema „Berührung“ ohne Frage eine erhebliche Brisanz beigemengt, und zwar auf beiden Seiten. Die einen konnten nicht zueinander kommen, den andern wurde es zu eng. Es wäre aber ein Irrglaube anzunehmen, diese beiden Bedürfnisse verteilten sich immer auf verschiedene Menschen. Sehr oft wohnen zwei Seelen in einer Brust. Es wäre auch ein Irrtum anzunehmen, das Thema Berührungsnotstand sei vor allem durch die Corona Beschränkungen aufgekommen. Die Corona-Pandemie hat für einen Moment ein Vergrößerungsglas auf das Thema gelegt. Aber es ist weder durch die Pandemie entstanden noch wird es nach ihr irgendwann abklingen wie ein Virus. Es ist eher ein bleibender Dorn im Fleisch, eine chronische wunde Stelle, an die wir momentan gestoßen sind, die üblicherweise nur verpflastert ist. Berührungsmangel: das ist ein ganz grundsätzliches Thema unserer Gesellschaft. Es begleitet jeden Menschen durchs Leben. Und es spricht vieles dafür, dass es sich ausweiten wird.

5 Worum es in diesem Buch geht

Wer rundum damit zufrieden ist, wie er oder sie mit dem oder der Partnerin (oder auch mit anderen Menschen) körperliche Nähe teilt, der braucht dieses Buch nicht. Dieses Buch wendet sich an Paare und einzelne, die unzufrieden darüber sind, wie sie körperliche Nähe leben und austauschen. Die sich über Körpernähe oder Sex in die Haare kriegen oder anschweigen. Es ist für Menschen geschrieben, die sich zum Beispiel nicht trauen anderen nahezukommen. Oder die umgekehrt enttäuscht darüber sind, dass ihr Gegenüber sie nicht an sich lässt. Oder die sich der dauernden Nähewünsche des Partners oder der Partnerin erwehren müssen. Es wendet sich an Menschen, die sich fragen, was sie falsch machen, warum es ihnen nicht gelingt, eine wohltuende und dauerhafte Nähe herzustellen – vor allem in ihrer Partnerschaft, aber vielleicht auch mit anderen, Eltern und Geschwistern, Freunden oder dafür offenen Menschen.

Wie hast du‘s mit der Nähe? Diese Frage begleitet Sie, lieber Leserin, lieber Leser, durch dieses Buch. Es möchte Ihre Aufmerksamkeit schärfen für Ihre eigenen Bedürfnisse in puncto Nähe, die Sehnsüchte ebenso wie die Bedenken. Und ebenso die Ihres Gegenübers. Sie finden Gelegenheit zu Selbstexplorations-Reisen und Anregungen zu gemeinsamer Reflexion über Ihre Nähe-Erfahrungen.

Wie kann Körpernähe, also nicht bloß Sex, gelingen? Das ist die Hintergrundfrage des Buchs. Spitzt man die Frage nicht auf die Sexualität zu, öffnet sich ein komplexes Feld. Eine Antwort wird sich nach meiner Überzeugung nur finden, wenn verstanden und ernst genommen wird, was jede und jeden hindert, sich auf Nähe einzulassen.

Zunächst geht das Buch auf Entdeckung. Es geht um unsern Fühlsinn. Dem gehe ich im zweiten Teil nach. Viele Fragen drängen sich auf, etwa im Blick auf unsere biologische Ausstattung, auf die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung und soziale Rolle des körperlichen Berührens. Was macht Körpernähe mit uns? Wozu brauchen wir sie? Wie brauchen wir sie? In welchem Umfang? Wie viel tut not oder gut? Was passiert, wenn uns der Körperkontakt fehlt?

Jeder Mensch hat zahllose Berührungserfahrungen hinter sich. Umfang und Intensität körperlicher Nähe ändern sich im Lauf des Lebens drastisch mit erheblichen Nebenwirkungen. Vor allem entkommt niemand der Erfahrung des Mangels. Berührungs-Mangel wird das Leitwort des dritten Teils, der beschreibt, wie das Bedürfnis nach Berührung die verschiedenen Lebensalter vor besondere Probleme stellt.

Wie wir körperlich miteinander umgehen, ist in starkem Maße davon geprägt, was uns andere vorgeben. Die Frage ist: Wie geht unsere Gesellschaft mit Körpernähe um? Inwieweit ist das Näheverhalten des Einzelnen ein Abbild der jeweiligen gesellschaftlichen Normen und Rollenbilder? Wie und warum verknappt die Gesellschaft den Umgang mit Berührung? Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft? Darüber handele ich im vierten Teil.

Spätestens hier machen fast alle Bücher Halt, die sich dem Thema „Berührung“ widmen. Sie beschreiben und beklagen den Berührungsmangel in unserer Gesellschaft und weisen auf die Folgen für unser Gemeinwesen hin. Aber weder wird so das wahre Ausmaß des Problems beschrieben noch wird deutlich, wie dem Mangel zu begegnen ist.

Viele Menschen schenken dem Thema „Berührung“ scheinbar wenig Beachtung; aber dieser Eindruck täuscht. Die meisten treiben vielmehr einen erheblichen, teils immensen Aufwand dafür. Aber er wird selten nach außen sichtbar. Von der Kehrseite des Themas her, von der Antwort auf den Mangel, wird seine Dimension deutlich. Welche Bedeutung die mitmenschliche Berührung für jeden einzelnen Menschen besitzt, erschließt sich vor allem aus dem Aufwand, den jeder dafür treibt. Fehlt Menschen Nähe, suchen sie sich auf unterschiedliche, nicht selten zerstörerische Weise Ersatz. Davon ist nahezu jede und jeder betroffen. Wie kompensieren wir das, was wir nicht bekommen? Darüber handele ich im fünften Teil.

Aber es reicht nicht zu verstehen, was uns in einen so folgenreichen Mangel geführt hat und wie wir ihm zu entkommen versuchen. Und es reicht auch nicht, nur eine Antwort darauf zu finden, warum es uns die Gesellschaft erschwert, uns zu berühren. Sondern es bedarf einer Antwort darauf, was den einzelnen hindert, sein persönliches Berührungsbedürfnis zu stillen und wie er wieder Zugang finden kann zu der verlorenen Ressource. Woher rührt die merkwürdige Ambivalenz vieler Menschen, die zugleich Nähe suchen und vermeiden? Die sich schwer tun, andere an sich zu lassen, obwohl sie unter der Distanz leiden? Die unentwegt das Komm-her-geh-weg-Spiel aufführen? Die lieber aufwändige und trotzdem unzureichende Ersatzlösungen suchen. Also warum berühren wir uns nicht?

Um das zu verstehen, muss ich mich mit meiner eigenen Berührungsgeschichte befassen. Mit dem sechsten Teil frage ich danach, welche Möglichkeiten jeder einzelne besitzt, Nähe zu gestalten. Jeder Mensch trägt seine eigenen Erfahrungen mit Nähe mit sich herum, wenn auch zumeist wenig bewusst. In seinem Beziehungsverhalten lebt er diese Erfahrungen aus. Sie sind Hinweisgeber zum je individuellen Umgang mit Nähe. Die Frage ist also: Wie komme ich meinem eigenen Berührungsverhalten auf die Spur? Welche Erfahrungen habe ich mit Berührungen gemacht, und auf welche Weise hat mein Körper sie gespeichert? Was sagt mir mein Körper über meine Erfahrungen mit Nähe? Wir werden sehen, dass das keine belanglosen Fragen sind.

Erst wenn ich verstehe, was mich hindert, einem anderen Menschen nahezukommen, kann ich mich auf ihn – und er oder sie sich auf mich – einlassen. Erst dann – in den Teilen sieben und acht – kann die Kernfrage dieses Buchs angegangen werden: Wie gelingen körperliche Berührungen? Können wir diese grundlegende Beziehungs-Ressource, wenn sie nur noch dümpelt oder uns verlorenging, wieder reaktivieren und zum Sprudeln bringen? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit wir uns mit Lust und Liebe körperlich begegnen können?

Vor allem Paare fragen sich das: Wie finden wir wieder zurück zu einem stimmigen Austausch körperlicher Nähe? Wie bekommt unsere Beziehung wieder Schwung? Wie bekommen wir es hin, uns aneinander heranzulassen, uns zu öffnen, ohne Schaden zu nehmen? Wie kann ich mit Berührungen umgehen, wenn ich berührungsverletzt, wenn ich ein gebranntes Kind bin?

Es geht um die Einstellung zum eigenen Körper und zu dem des andern. Es geht um das Ernstnehmen der eigenen Berührungsgeschichte und der meines Gegenübers. Es geht um Körpernähe und Begehren, um Zärtlichkeit und Sensualität, um Sexualität und Lust und ihr Verhältnis zueinander. Es geht um das Gewinnen des Andern. Und es geht ebenso um den ganz normalen Berührungsalltag, um die täglich neue, unbändige Lust auf Berührung. Und schließlich geht es auch um manchmal notwendige therapeutische Zugänge zur eigenen Körperlichkeit.

Im Anhang, dem neunten Teil, finden dann diejenigen, die sich angesprochen fühlen und Lust haben, neue Berührungserfahrungen zu machen, einige Anregungen, sie in ihre eigene Praxis umzusetzen.

2 Warum wir uns berühren müssen

6 Mit Haut und Haar: der Tastsinn

Die Biologie der Berührung

Wozu brauchen wir körperliche Berührung? Was macht sie für uns so wichtig? Welchen Platz hat sie neben unsern anderen Sinnen und Kommunikations-Organen wie sehen, hören, riechen, schmecken? Was macht es attraktiv oder womöglich dringlich für uns, dass wir uns berühren?

Man könnte vermuten, der Berührungs-Sinn sei einfach eine Art Nebeneffekt der Menschheit auf dem Wege ihrer Entwicklung. Als Menschen sind wir immer mehr zu Herdenwesen geworden. Wir rotten uns körperlich zusammen. Soweit man weiß, lebten die Menschen bis vor etwa 10.000 Jahren in überschaubaren Horden oder familiären Kleingruppen, dann im Zuge der Sesshaftwerdung und besseren Nahrungsversorgung in immer größeren Einheiten, in Dörfern und Städten, schließlich und in wachsendem Maße in Massen. Im Laufe der Geschichte vervielfachte sich die Menschheit und rückte immer mehr zusammen. Aber nur scheinbar haben sich die Möglichkeiten, sich nahezukommen, damit vermehrt und vergrößert. Die Situation in der modernen Massengesellschaft legt eher das Gegenteil nahe. In kleinen Gruppen berührt man sich mehr und intensiver als in großen.

Das Thema Berührung ist keineswegs bloß ein soziologisches Phänomen. Es ist viel älter. Erst der Blick auf unsere biologische Konstruktion und evolutionäre Mitgift kann die besondere Bedeutung verständlich machen, die Berührungen für uns haben.

Die Wissenschaft von der Berührung, die Haptik, unterscheidet zwischen taktiler und haptischer Berührung. Taktile Berührungen sind solche, wo ein Körperkontakt stattfindet, ohne dass er intendiert, also gewollt herbeigeführt wird. Also wenn wir irgendwo anecken. Wenn uns etwas von außen trifft. Wenn wir geschlagen werden. Wenn wir in einen Unfall geraten. Taktile Berührungen können unmittelbar unser Alarmsystem auslösen. Aber sie können auch als wunderschön erlebt werden. Etwa wenn der Wind unser Gesicht streift und durch die Haare weht, wenn die Sonne uns wärmt oder, nicht zuletzt, wenn uns jemand, womöglich unverhofft, liebevoll berührt.

Haptische Berührungen sind solche, die wir selbst herbeiführen, die wir bewusst gestalten und erleben, also indem wir zum Beispiel nach etwas greifen, eine Situation mit den Händen erkunden, uns in der Umwelt einrichten, Gegenstände ertasten und erfassen oder mit anderen Menschen in Körperkontakt treten. Das tut jeder von uns tausendmal am Tage. Wir gestalten unsere Umwelt, sichern uns gegen unliebsame Begegnungen ab, gehen Gefahren aus dem Wege und bringen uns in angenehme Positionen.

Im Folgenden nehme ich vor allem die selbstgewollten Berührungen in den Blick, also die Art und Weise, warum und wie wir die Berührungen mit anderen selbst gestalten. Allerdings ist die Unterscheidung zwischen taktilen und haptischen Berührungen oft unscharf. Für das eigene Erleben ist vor allem wichtig, welche Wirkung Berührungen auf uns haben, was sie in uns auslösen: ob wir sie als angenehm oder als unangenehm erleben.

Hauptvermittler aller Berührungserfahrungen ist unser Tastsinn. Der Tastsinn ist ein wahres Wunderwerk der Natur. Evolutionär ist er sehr alt. Schon bei einfachsten Tierarten lässt er sich beobachten. Viele Tiere, insbesondere die größte und stabilste Art auf diesem Planeten, die Insekten, haben lange Fühler entwickelt. Die meisten von uns haben vermutlich schon einmal einen Wurm berührt oder eine Schnecke, einen Käfer angestoßen und gemerkt, wie sie sofort darauf ansprechen. Jedes Lebewesen reagiert auf Berührung, es sei denn, es hätte sich bereits in Angststarre versetzt. Selbst die zwischen 0,1 bis 1 Millimeter großen einzelligen Amöben reagieren, wenn man sie anrührt.

Berührungen sind Körpererfahrungen. Es geht um unsern Körper. Es geht vor allem um unsere Haut. Sie umgibt uns bekanntlich rundum und ist das größte unserer Sinnesorgane. Die Haut ist nicht nur der ursprünglichste, sondern der wichtigste Bereich unserer Erfahrungen. Mit unserer Haut ertasten, erfühlen, erspüren wir unsere Umwelt. Unsere Haut ist das Zentral-Organ zur Wahrnehmung von innen und außen, von Selbst und anderen, von mir und der Welt um mich herum.

Dabei sind es vor allem die Haare oder Härchen, die etwa 80 % unserer Haut bedecken, insgesamt etwa 5 Millionen, die meisten sehr fein und kaum sichtbar, die diese Arbeit leisten. An den Haarwurzeln befinden sich Rezeptoren, an jeder einzelnen über 50, sagen uns die Biologen, mit teils gleichen, teils verschiedenen Funktionen, die über ein feinstes Nervengeflecht und weitere Nervenbahnen Informationen über jede Form von Reizen an das Gehirn weiterleiten; seien es nun Biegungen, Wendungen oder Stauchungen der Härchen, betreffe es Druck oder Zug. Unser Körper ist mit entsprechenden Berührungsrezeptoren geradezu übersät. Die Haare auf unserer Haut bilden ein umfassendes und zentrales Meldesystem für unsern Organismus.

Es ist also vor allem unser Tastsinn – genauer gesagt unsere Haut, und noch genauer: die Härchen in unserer Haut –, der mit zahllosen, bestens dafür geeigneten Messwerkzeugen unsere Grenzflächen zur uns umgebenden Welt bestimmt, registriert, analysiert, bewertet und koordiniert. Er sagt uns: Hier bin ich, da bist du. Hier höre ich auf, da fängst du an. Er meldet uns zugleich, ob eine Begegnung angenehm oder unangenehm ist.

Die Haut und die Behaarung des Menschen sind also mitnichten bloß eine nötige und sinnvolle Grenzfläche zur Umwelt, die uns sozusagen zusammenhält und vielleicht, jedenfalls in einem gewissen Maße, vor Verletzungen schützt. Sie ist auch mitnichten bloß ein Überbleibsel der Wärmeregulierung des Körpers. Sie ist vielmehr, und man kann sagen: vor allem, ein hochentwickeltes Fühl- und Kontakt-Organ des Körpers.

Dafür hat die Evolution großen biologischen Aufwand betrieben und uns übersät mit dafür hochspezialisierten Empfangsrezeptoren7. Ob sich Menschen etwas Gutes tun, wenn sie ihre Haare als etwas Lästiges, Unschönes behandeln und sich an allen möglichen Körperpartien kahlrasieren, steht dahin.

Die Haut umfasst beim erwachsenen Menschen eine Fläche von etwa 2 m2und ist das bei Weitem größte Organ des Menschen. Das unterstreicht die fundamentale Bedeutung des Berührens. Es ist bemerkenswert, dass der kopf- und hirngesteuerte Mensch weiterhin diese Fühlausrüstung behalten hat. Ohne das Fühlen fehlte ihm ein, wenn nicht das entscheidende Meldeorgan zur Orientierung in der Umwelt. Das Lebewesen Mensch mit seinen evolutionären Vorläufern hat auf die Ausstattung mit Schuppen, Verhornungen, Borsten, Stacheln, Lederhaut und Panzer weitgehend verzichtet. Das Lebewesen Mensch hat auch das von seinem Vorfahr, dem Affen übernommene Fell weitgehend abgelegt, vielleicht, weil er als Savannen-Dauerläufer so besser schwitzen konnte – aber seine Fühlfähigkeit und Sensibilität damit noch erhöht. Der Mensch ist, kurz gesagt, körperlich gesehen überaus gefühlig, ein Sensibelchen.

Der Basis-Sinn Berührung

In seinem Buch „Homo hapticus“ zeigt der Leipziger Professor Martin Grunwald, der den einzigen Lehrstuhl für Haptik in Deutschland innehat, mit vielen Beispielen: Das Fühlen, Ertasten, Greifen und Anfassen ist für das Leben fundamental8. Unsere haptische Ausrüstung geht allen anderen Sinnen voran, sowohl entwicklungsgeschichtlich wie von seiner Bedeutung her.

Das gilt von Anfang an und währt das ganze Leben. Bereits ab der 7. Schwangerschaftswoche, wenn der Embryo gerade mal 2,5 cm groß ist, reagiert er heftig, wenn jene Körper-Partien berührt werden, aus denen sich die Lippen entwickeln. Diese Sensibilität für Druckreize verbreitet sich in den folgenden Wochen über den ganzen Körper. Über dieses Binnen-Tastsystem, die „Propriozeption“, wird der Organismus in jedem Augenblick über Druck-, Bewegungs- und Temperaturbedingungen informiert und kann darauf reagieren. Ab der 12.-13. Schwangerschaftswoche kann man dann auch gezielte Greifbewegungen mit den Händen bis zum Daumennuckeln beobachten, also nach außen gerichtete („exterozeptive“) Berührungen. Andere Reizverarbeitungssysteme wie hören und sehen, riechen und schmecken sind in diesem Stadium der Schwangerschaft noch nicht entwickelt. Der Tastsinn, das Berühren, läuft allem voran. Er ist die basale, zentrale, dominante Körpererfahrung des Menschen schlechthin. Taubblinde Menschen, die von Geburt an nicht sehen und nicht hören können, können überleben, wie etwa das berühmte Beispiel der Helen Keller zeigt9; nicht so, wenn der Tastsinn fehlt. Das Tasten lässt sich nicht ersetzen.

Bereits im Mutterleib werden die entsprechenden Berührungs-Sensoren entwickelt und später zunehmend weiter ausgebaut. Sie arbeiten bis ins hohe Alter. Das ist inzwischen gut erforscht. Der Säugling „be-greift“ seine Umwelt. Wir sind Wesen, die, wie unsere Sprache es beschreibt, ihre Umwelt „er-fassen“, „wahr-nehmen“, „emp-finden“ und „ent-decken“.

Dabei ist unsere Haut zwar das größte Berührungsorgan, aber bei Weitem nicht das einzige. Über die Haar-Empfindlichkeiten hinaus ist speziell unser Mund taktil gesehen ein Spitzenprodukt, ist besonders dicht besetzt mit tastsensiblen Rezeptoren10. Er ist keineswegs nur zur Nahrungsaufnahme und zum Sprechen nötig. In allererster Linie ist er ein Fühl-und Erkundungsorgan. Kleinkinder nehmen alles erst einmal in den Mund. Auch das Saugen an der Brust ist mehr als Nahrungsaufnahme. Schon vorgeburtlich saugt, suckelt und lutscht der Fötus etwa an seinem Daumen. Der Erwachsene an seiner Zigarette. Wahrscheinlich küssen wir uns deshalb so leidenschaftlich gern. Insbesondere an Zunge und Lippen, aber auch an den Handinnenflächen, den Fingerspitzen oder anderen Körperbereichen bilden sich weitere höchst sensible Sinnesrezeptoren aus. Die Neurobiologen schätzen, dass ihre Gesamtzahl pro Person deutlich über 500 Millionen liegt, eine ungeheure Zahl, zu groß, als dass sie bisher hätte ausgezählt werden können. Sie sind spezialisiert auf unterschiedlichste Empfindungen, etwa Druck, Zug, Temperatur, Lage, Dehnung, Vibration oder Bewegung. Dazu kommen weitere Fühlreiz-Empfindungen in unserem Körper. Auch unsere inneren Organe besitzen eine Fülle von Rezeptoren, die auf Innendruck, Schmerz, Überhitzung, Überlastung und vieles andere reagieren.

In Bruchteilen von Sekunden erreichen die Signale das Gehirn. Je nach Art der Berührung erzeugt der Körperreiz angenehme oder unangenehme Gefühle und führt zu Reaktionen, zur Ausschüttung unterschiedlicher Botenstoffe, sogenannter Neurotransmitter. Der bekannteste ist das Oxytocin.

Die Erforschung der Nervenbahnungen und Gehirnreaktionen ist noch längst nicht ans Ende gekommen. Erst kürzlich, Ende der 2000er Jahre, hat man noch eine andere Art von Rezeptoren entdeckt, die sogenannten C-taktilen Nerven-Fasern11. Sie reagieren insbesondere auf sanfte Berührungen. Bisherige Untersuchungen zeigen, dass sie das Gehirn mit einer gewissen Verzögerung erreichen – anders als Rezeptoren, die etwa einen Schmerz in Sekundenbruchteilen melden und dazu führen, dass die Hand sofort von der heißen Herdplatte zurückzuckt. Die C-taktilen oder „Streichel-Fasern“ werden durch sanftes, langsames Streicheln der Haut aktiviert und regen das Gehirn zur Ausschüttung von Endorphinen an, einer Art körpereigene Droge; insbesondere Oxytocin, das sogenannte Bindungs- oder Kuschelhormon.

Unser Körper hat also nicht nur eine spezielle Antenne dafür entwickelt, dass wir uns auf eine bestimmte sanfte Weise berühren, uns streicheln, sondern er reagiert auch intensiv darauf. Oxytocin löst eine Fülle physiologischer und neurophysiologischer Reaktionen aus. Ihm werden zahlreiche wichtige und angenehme Wirkungen im Körper zugeschrieben: Es erhöht den Blutdurchfluss, senkt den Blutdruck und verringert die Muskelspannung; deshalb erleichtert es etwa das Gebären, verbessert die Wundheilung, wirkt entzündungshemmend und stärkt das Immunsystem. Die Atmung wird ruhiger und tiefer. Darüber hinaus ist es für Hirnreifungsprozesse zuständig, stärkt die soziale Bindung, entstresst und entspannt, macht großmütig, empathisch, zufrieden – und wohl noch mehr, was noch nicht im Detail erforscht ist. Das alles setzen also angenehme Berührungen in Gang!

Die schwedische Oxytocin-Forscherin Kerstin Uvnäs-Moberg hat in zahlreichen Untersuchungen gezeigt und darauf hingewiesen, welche zentrale Rolle Oxytocin für das Zusammenleben von Menschen zukommt und welche Folgen sein Mangel, also wenn unser „Hauthunger“ nicht gestillt wird, für die Beziehungsgestaltung hervorruft12. Das Besondere an diesem Hormon ist, dass es die nahe, angenehme Begegnung braucht, um den Körper anzuregen, es auszuschütten. Es ist gebunden an die für das Säugetier Mensch typische Art des Miteinanderlebens. Oxytocin lässt sich zwar seit etwa 50 Jahren auch künstlich herstellen und hat seine Wirksamkeit in diversen Studien erwiesen – aber eindrucksvoller Weise verfliegt seine Wirkung, wie ebenfalls nachgewiesen, bereits nach einer Stunde.

So funktioniert unser Organismus: Wir brauchen angenehme körperliche Nähe als Produktionsbedingung für Oxytocin, um uns wohlzufühlen und zu gedeihen. So wie das Land das richtige Maß Sonne und Wasser als Vorgabe benötigt, um zu grünen. Man kann es nicht auf Vorrat bewässern oder besonnen. Es benötigt jeweils neu das richtige Maß. Was jeder aus eigener Anschauung in der Tiefe seines Herzens weiß, bestätigt uns die Neurophysiologie.

Und sie zeigt auch die Kehrseite auf. Unangenehme Berührungen andererseits erzeugen Angst- und Stressreaktionen und führen in der Nebenniere zur Ausschüttung von Adrenalin, das – neben anderem – den Blutdruck in die Höhe treibt, die Verdauung lahmsetzt, die Schmerzempfindlichkeit senkt, unsere Energiezufuhr drosselt und uns in Alarmbereitschaft versetzt. Zugleich kommt die Produktion von Cortisol in Gang, einem Hormon, das bei besonderen Belastungen die Leistungsreserven des Körpers aktiviert, das Immunsystem dämpft und Entzündungen hemmt und deshalb gern als „Stresshormon“ bezeichnet wird. Eine dauernde Überproduktion von Cortisol kann zu Bluthochdruck, depressiven Verstimmungen und vielen anderen Nebenwirkungen führen.

7 Berührung: Treibsatz des Lebens

Der Mensch als Fühlwesen

„Ich denke, also bin ich“ (lat. cogito ergo sum), lautet der berühmteste Satz des französischen Philosophen und Naturwissenschaftlers René Descartes aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts. Nichts gebe es, was der Mensch nicht in Zweifel ziehen könne. Gewiss sei lediglich, dass er zweifeln und damit denken könne. „Ich fühle, also bin ich“ setzte der portugiesische Neurowissenschaftler und Psychologe António Rosa Damásio dreihundertundfünfzig Jahre später pointiert dagegen13. Das heißt: Dass ich bin, sagt mir mein Körper und das, was er fühlt. Der Körper fühlt, auch wenn er nicht denkt. “Wir denken uns nicht selbst, sondern wir fühlen uns“, sagt Martin Grunwald14.