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Dieser Lord spielt mit dem Feuer und diese Lady mit seinen Gefühlen ...
Eine Frau finden und heiraten? Das kommt für Lord Christopher Cynster nicht infrage. Doch seine Eltern sind da anderer Ansicht: Christopher soll schließlich endlich das Familienanwesen in Kent übernehmen – und einsehen, dass er dafür die Unterstützung einer Ehefrau braucht. Doch bevor Christopher auch nur an die Suche nach einer passenden Frau denken kann, wird er in eine Ermittlung hineingezogen: Falschgeld ist im Umlauf! Bei seinen Nachforschungen stolpert dann Ellen Martingale in Christophers Leben. Christophers Geheimnistuerei weckt Ellens Neugier und sie kann nicht anders, als sich in den Fall einzumischen. Diese Lady verursacht Chaos – nicht nur bei den Ermittlungen, sondern auch im Herzen des Lords …
Für noch mehr »Bridgerton«-Flair lesen Sie auch die anderen Bände der Reihe »Cynster, eine neue Generation« bei Blanvalet – leidenschaftliche Liebesszenen, historische Atmosphäre und Spannung bis zur letzten Seite!
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Seitenzahl: 653
Eine Frau finden und heiraten? Das kommt für Lord Christopher Cynster nicht infrage. Doch seine Eltern sind da anderer Ansicht: Christopher soll schließlich endlich das Familienanwesen in Kent übernehmen – und einsehen, dass er dafür die Unterstützung einer Ehefrau braucht. Doch bevor Christopher auch nur an die Suche nach einer passenden Frau denken kann, wird er in eine Ermittlung hineingezogen: Falschgeld ist im Umlauf! Bei seinen Nachforschungen stolpert dann Ellen Martingale in Christophers Leben. Christophers Geheimnistuerei weckt Ellens Neugier, und sie kann nicht anders, als sich in den Fall einzumischen. Diese Lady verursacht Chaos – nicht nur bei den Ermittlungen, sondern auch im Herzen des Lords …
Stephanie Laurens begann mit dem Schreiben, um etwas Farbe in ihren wissenschaftlichen Alltag zu bringen. Ihre Bücher wurden bald so beliebt, dass sie ihr Hobby zum Beruf machte. Stephanie Laurens gehört zu den meistgelesenen und populärsten Liebesromanautorinnen der Welt und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in einem Vorort von Melbourne, Australien.
Eine Liebe in den Highlands · Schottische Versuchung · Verführt von einer Highlanderin · Eine skandalöse Leidenschaft · Ein verheißungsvolles Abenteuer · Wie zähmt man eine Lady · Der irische Gentleman · Ein reizvolles Spiel
Stephanie Laurens
Roman
Deutsch von Wolfgang Thon
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Inevitable Fall Of Christopher Cynster« bei Savdek Management.
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Copyright der Originalausgabe © 2020
by Savdek Management Proprietary Limited
Published by Arrangement with Savdek Management Pty Ltd
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by
Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Beate De Salve
Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com
(MARIIA, MNStudio, Lotharingia, william87)
und Colin Thomas – colinthomas.com
SH · Herstellung: sam
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-30406-5V001
www.blanvalet.de
12. August 1851. Walkhurst Manor, Kent.
Christopher Cynster lehnte sich hinter dem Schreibtisch in der Bibliothek des Anwesens zurück und fuhr sich frustriert mit den Fingern durch die dicken Locken. Nach einem Moment, in dem er blicklos auf die Schreibtischplatte starrte, ließ er die Hände wieder sinken und murmelte: »Anscheinend brauche ich eine Ehefrau.«
Es war niemand anwesend, der dieses Eingeständnis hätte hören können – ein niederschmetterndes Eingeständnis, wenn man bedachte, wie lange er gebraucht hatte, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, alle Selbsttäuschungen abzulegen und sich dieser ernüchternden Realität zu stellen.
In dem großen Haus herrschte Stille, und es badete in der Wärme des Sommernachmittags. Die Fenster zu beiden Seiten des Schreibtisches standen offen. Er hörte das Summen der Bienen und das Zwitschern der Vögel in den Büschen und Rabatten, die die alten Steinmauern umgaben. Außer dem Personal, das sich gelegentlich im hinteren Teil des Hauses oder draußen bemerkbar machte, war niemand da. Christophers Eltern reisten durch Amerika, sein jüngerer Bruder Gregory besuchte Freunde im Peak District, und seine Schwester Therese war mit ihrem Mann, ihren Kindern und ihrem eigenen Haushalt in Lincolnshire beschäftigt.
Christopher ließ seinen Blick über die verschiedenen Berichte schweifen, die vor ihm lagen. Dann nahm er einen Bleistift in die Hand und klopfte mit dem Ende auf die Ecke des ledergebundenen Notizbuchs.
Gut, dass Gregory und Therese ihn jetzt nicht sehen konnten. Wenn sie von seinem widerstrebend getroffenen Entschluss erfuhren, würden sie sich gewiss kaputtlachen. Therese würde sich sofort daranmachen, nach einer Frau für ihn Ausschau zu halten, während Gregory grinsend dabei zusah.
Einen Moment war er sehr froh, dass seine beiden Geschwister weit weg waren. So konnte er selbst eine Strategie zur Behebung seines Problems ausarbeiten, ohne dass sich jemand einmischte.
Als ältester Sohn von Vane und Patience Cynster war er während der Abwesenheit seiner Eltern in die Rolle geschlüpft, auf die er sein ganzes Leben lang vorbereitet worden war. Er hatte so viele Jahre seinem Vater als rechte Hand gedient, dass ihm die Verwaltung des Anwesens geradezu in Fleisch und Blut übergegangen war.
Schließlich war er derjenige, der eines Tages das Landgut erben würde. Von frühester Jugend an hatte er verstanden, dass es seine Aufgabe sein würde, den Wohlstand zu sichern, den sein Großvater und sein Vater nicht nur in Kent, sondern auch durch Investitionen anderswo angehäuft hatten. Vane Cynster hatte ein Händchen für Ackerbau und Viehzucht, und Christopher hatte dieses Talent geerbt. Er war davon überzeugt, dass er in die Fußstapfen seines Vaters treten konnte.
Da er der älteste Sohn – und damit der ranghöchste Vertreter seines Familienzweigs in England – war, hatte er sich auch nicht vor der Teilnahme am jährlichen Familientreffen in Somersham Place, der Hauptresidenz des Dukes of St. Ives, drücken können. Der derzeitige Duke, genannt Devil, war der Cousin und engste Freund seines Vaters; und Devils Gemahlin, Duchess Honoria, war die Busenfreundin von Christophers Mutter. Obwohl Christopher in diesem Jahr zum ersten Mal in seinem Leben lieber nicht teilgenommen hätte, hatte Honoria die Einladung so formuliert, dass es ihm unmöglich gewesen wäre, nicht zu erscheinen. Abgesehen davon wären seine Großmutter Horatia, sein Großvater George und seine Großtante Helena schockiert gewesen, wenn er ferngeblieben wäre.
Also war er hingefahren und hatte den Tag im Kreise des Cynster-Clans verbracht. Wie üblich war er die meiste Zeit mit seinen Cousins und Cousinen zusammen gewesen – mit Sebastian, Michael, Marcus, Lucilla, Prudence und ihren Ehepartnern. In diesem Jahr hatten sich auch Louisa und ihr Mann Drake Varisey zu dieser Gruppe gesellt.
Abgesehen von einigen kürzlich hinzugekommenen Ehegatten begleiteten Christopher die Mitglieder dieser Gruppe schon sein ganzes Leben lang. Sogar Drake und auch Antonia, Sebastians Frau, kannte er seit einer Ewigkeit. Doch jetzt war er ganz klar der Außenseiter, denn er war als Einziger noch unverheiratet.
Dankenswerterweise hatten seine gleichaltrigen Cousins und Cousinen das nicht einmal angedeutet, doch leider waren ihre Eltern nicht annähernd so nachsichtig gewesen. Fast jeder von ihnen hatte sich ein wenig darüber mokiert, um sich dann zu erkundigen, wann er sich denn wohl eine Gemahlin suchen wolle.
Er hatte es lächelnd vermieden, konkret auf die Frage zu antworten. Früher hätte er sich eine scherzhafte Antwort ausgedacht und höflich angedeutet, dass sie nicht damit rechnen sollten, ihn jemals vor den Altar treten zu sehen, aber in diesem Jahr hatten ihn seine Schlagfertigkeit und Selbstsicherheit verlassen.
Etwas hatte sich verändert. Im vergangenen Jahr war ein Teil seiner Seele erwacht, von dem er nicht einmal gewusst hatte, dass er ihn besaß. Dieser Teil hatte sich gerührt und gestreckt und wünschte sich nun plötzlich die Art von Zukunft, die sich seine Altersgenossen bereits geschmiedet hatten – eine Zukunft mit einer Ehefrau und einer eigenen Familie.
Bis jetzt war er davon ausgegangen, dass er nicht heiraten, sondern zusammen mit Prudence einer der beiden Angehörigen ihrer Gruppe sein würde, die glücklich und unverheiratet in die Zukunft blickten. Er hatte sich als Junggesellen-Onkel der Kinder seiner Geschwister gesehen – als derjenige, der die Familienfinanzen verwaltete, bis er irgendwann vom Sohn seines Bruders abgelöst werden würde.
Seiner Meinung nach gab es für ihn keinen Grund zu heiraten. Warum sollte er die Liebe und die damit verbundenen Komplikationen und emotionalen Verletzungen riskieren?
Mit ihrer unnachgiebigen Weigerung, eine Heirat in Betracht zu ziehen, war Pru, wie er sie nannte, derselben Meinung gewesen. Jedenfalls hatte er das gedacht. Und wenn sie, eine Lady, dem unvermeidlichen Druck standhalten konnte, den ihre Eltern, Tanten und Großeltern ausübten, dann konnte er das auch.
Aber dann war Prudence nach Irland gereist und hatte ihre Meinung geändert. Oder vielmehr: Deaglan Fitzgerald, der Earl of Glengarah, hatte sie geändert. Allerdings wusste Christopher, dass nicht einmal Glengarah die Macht hatte, Pru umzustimmen, wenn sie sich einmal entschieden hatte.
Pru war also ihrem Schicksal in Glengarah begegnet. Sie hatte es hingenommen und die Wendung, so schien es, mit klarsichtiger Gelassenheit akzeptiert.
Christopher hatte auf Prus Hochzeit getanzt und sich dabei ein wenig verraten gefühlt. Nicht von Prudence, sondern vom Schicksal, das durch sein Eingreifen dazu geführt hatte, dass Pru ihr Glück und ihren wahren Platz im Leben fand, was wiederum die rastlose, unzufriedene Sehnsucht, die sich inzwischen in Christophers Seele gegraben hatte, deutlicher zutage treten ließ.
Nach seiner Rückkehr aus Irland hatte er versucht, wieder in das Leben einzutauchen, das er einst als befriedigend empfunden hatte. Er hatte sich in die Gesellschaft seiner Freunde gestürzt und an mehreren frühsommerlichen Jagdausflügen im Norden teilgenommen.
Aber nichts, was er tat, hatte die gähnende Leere in seinem Inneren gefüllt. Wenn überhaupt, war sie nur noch größer geworden. Sie hatte ihn immer mehr abgelenkt, und der Druck war gewachsen.
Ende Juli war er nach London zurückgekehrt, um mit seinen Eltern und den Geschwistern seinen Geburtstag zu feiern. Anschließend hatte er seine Eltern auf ihre Reise nach Amerika verabschiedet, bevor er nach Kent ging, um die Leitung des Anwesens zu übernehmen. Doch nachdem er sich erst an den Rhythmus des Sommers auf dem Lande gewöhnt hatte, war er nur widerwillig nach Somersham gekommen.
Von dort war er nun gestern Abend zurückgekehrt. Jetzt, wo er über all die Stunden in Somersham Place nachdachte – über alles, was er gesehen und gefühlt hatte –, musste er sich eingestehen, dass der Anstoß, der seine Aversion gegen die Ehe endgültig zunichtegemacht hatte, von sehr kleinen Menschen ausgegangen war.
Er hatte Thomas, Lucillas Ehemann, dabei beobachtet, wie er seine Zwillingstöchter Chloe und Christina über den Rasen jagte. Beide hatten vergnügt gequietscht und geschrien, und das Lachen in Thomas’ Augen sowie die schiere Freude in seinem Gesicht, als er erst die eine, dann die andere gefangen hatte und sie unter noch mehr ohrenbetäubendem Gekreische hochhob, schienen Christophers Herz zu umklammern und zusammenzudrücken.
Lucilla hatte derweil stolz ihren und Thomas’ erst wenige Wochen alten Sohn Manachan gewiegt, während sie mit Niniver – Marcus’ Frau – geplaudert hatte, die wiederum ihren Sohn Richard im Arm hielt, bis der stolze Papa ihr die Last des kräftigen sechs Monate alten Jungen abnahm. Da sie sich auf dem herzoglichen Anwesen befanden, hatte jedoch Sylvester Gyles Cynster, der wenige Wochen vor Manachan als Sohn von Antonia und Sebastian geboren worden und daher dazu bestimmt war, das Herzogtum zu erben, den Ehrenplatz bei den Babys belegt.
Antonia hatte gestrahlt, während Sebastian sich noch nie so vernarrt in ein anderes Wesen gezeigt hatte, nicht einmal in seine schöne Frau.
Das konnte Christopher mit Sicherheit sagen, denn Sebastian und er hatten die meiste Zeit ihres Lebens miteinander verbracht. In den letzten Jahren hatten sie sich zwar weniger gesehen, weil sie sich immer mehr mit der Verwaltung der Ländereien ihrer Väter beschäftigten, aber davor hatten sie sich in denselben exklusiven Kreisen bewegt und waren aufgrund ihrer ähnlichen Interessen und Einstellungen nahezu unzertrennlich gewesen.
Was den Rest der Gruppe anbelangte: Michael und seine Frau Cleo erwarteten in etwa einem Monat ihr erstes Kind, während Louisa, die mit ihrem und Drakes erstem Kind schwanger war – sehr wahrscheinlich Drakes Erbe und damit ein weiterer zukünftiger Duke –, ihr Bestes getan hatte, um ihren Zustand herunterzuspielen. Was allerdings schwierig war, da sie um die Mitte herum sichtlich zugelegt hatte und Drake ihr so gut wie nie von der Seite wich.
Prus Schwangerschaft war zwar noch nicht so weit fortgeschritten, aber das Glühen auf ihren Wangen ließ kaum Zweifel an ihrem Zustand aufkommen. Doch Deaglan – ein weiser Mann, obwohl er Ire war – hatte sein Bestes getan, um nicht wie Drake um seine Frau herumzuscharwenzeln.
Christophers Besuch in Somersham Place und das Cynster-Sommerfest hatten in mehrfacher Hinsicht das Ende der Fahnenstange markiert. Die Freude und das Glück, die seine Altersgenossen ausstrahlten …
Ich will das auch.
Heute Morgen hatte er die Verwaltungsangelegenheiten des Guts erledigt, um sich nach dem Mittagessen in der gemütlichen Bibliothek niederzulassen und sich mit seinem neu erwachten Bedürfnis, eine Ehefrau zu finden, näher auseinanderzusetzen. Er wollte nun endlich das in Angriff nehmen, was sich als seine dringendste persönliche Aufgabe abzeichnete: die richtige Frau zu finden.
Das Konzept blieb jedoch nebulös. Er akzeptierte, dass ein Großteil seiner Schwierigkeit zu bestimmen, was er sich von einer Frau wünschte, daher rührte, dass er sich bis jetzt geweigert hatte, überhaupt über diese Form der Zukunft nachzudenken, von der er erst so spät erkannt hatte, dass er sie eigentlich wollte. Es war keine durchdachte Entscheidung gewesen, Junggeselle zu bleiben, sondern er war schlicht davon ausgegangen, dass er diesen Lebensentwurf bevorzugte. Folglich war er in einen Trott verfallen, der ihm bis vor kurzem noch vollkommen genügt hatte. Das war nun anders.
»Was für eine Frau will ich denn?«
Er kniff die Augen zusammen und überlegte. Was für eine Art von Frau brauchte er?
Er dachte an die Ladys, mit denen er in den letzten zehn Jahren herumgetändelt hatte. Wie bei anderen Gentlemen seines Standes, seines Vermögens, seines Alters und von seinem sozialen Status war ihre Zahl durchaus nicht unerheblich. Doch nahezu alle waren verheiratete Damen der besseren Gesellschaft gewesen, mit denen er kurzlebige Affären gehabt hatte. Er hatte nie vorgehabt, eine von ihnen zu ehelichen, und deshalb ihre Vorzüge nie in diesem Licht bewertet.
Ebenso sah er keinen Grund, die zahlreichen jungen Ladys, die ihm von den Gastgeberinnen der noblen Gesellschaft vorgeführt wurden, in Betracht zu ziehen. Diese Haltung hatte dazu geführt, dass er – metaphorisch gesprochen – der gesamten Gattung heiratsfähiger junger Frauen den Rücken zukehrte. Folglich verfügte er weder über einen Maßstab noch über einen Bezugsrahmen, ja nicht einmal über eine Liste von Qualitäten, an denen er seine Wahl hätte ausrichten können.
Es war einfacher, die Eigenschaften und Merkmale aufzuzählen, die er nicht ausstehen konnte. Zum Beispiel alberne, frivole Ladys, diese Gänse mit mehr Haaren als Verstand, die sich mit Bändern, Schleifen, Federn und Rüschen schmückten. In der besseren Gesellschaft wimmelte es nur so von solchen Frauen, und ihr hohles Geplapper zerrte an seinen Nerven.
Er brauchte eine Frau, mit der er ein intelligentes Gespräch führen konnte. Aber darüber hinaus …?
Ich habe wirklich keine Ahnung.
Wo sollte er sie suchen, seine ideale Frau?
Gegenwärtig war die vornehme Gesellschaft über das ganze Land verstreut. Mitte September würden die großen Familien nach London zurückkehren, um an der Herbstsitzung des Parlaments und den damit verbundenen gesellschaftlichen Ereignissen teilzunehmen. Die in diesen Wochen stattfindenden Bälle und Feste dürften, so vermutete er, das ergiebigste Jagdrevier sein …
Aber er scheute vor der Vorstellung zurück, die dieser Gedanke hervorrief. Sobald er auf mehr als zwei dieser Veranstaltungen auftauchte, würden die Gastgeberinnen merken, was er beabsichtigte. Dann würden die Heiratsvermittlerinnen über ihn herfallen und ihm das Leben fast unerträglich machen.
Er biss die Zähne zusammen und zwang sich, weiter darüber nachzudenken. Er fühlte sich so, wie ein Pferd empfinden musste, das den Sprung über einen Zaun verweigerte.
Und es war nicht nur seine Abneigung gegen den unvermeidlichen Aufruhr, die ihn zurückhielt. Es widerstrebte ihm, sich das einzugestehen, aber Feigheit spielte eine große Rolle bei seiner Abneigung gegen die Ehe. Die Familienüberlieferung besagte, dass für einen Cynster – und zwar ohne Ausnahme! – die Liebe eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Ehe war. Nach allem, was er gesehen hatte, galt diese Regel immer, ganz gleich, ob sich der Mann oder die Frau dagegen wehrte.
Doch der Liebe zum Opfer zu fallen war nichts, was er sich gewünscht hätte. Verliebt zu sein bedeutete, einem anderen nahe zu sein, Gedanken, Hoffnungen und Träume zu teilen. Vor allem aber bedeutete es, sich der Gefahr von Verletzlichkeit auszusetzen, Verrat und Zurückweisung zu riskieren, Verlust und Trauer.
Er war noch nie verliebt gewesen, sprach also nicht aus Erfahrung, doch er konnte sich vorstellen, wie es sich anfühlte. Er konnte sich den Schmerz ausmalen, denn er hatte es bei Nicht-Cynster-Freunden gesehen.
Andere Bekannte hatten sich dem entzogen, indem sie zwar heirateten, aber nicht aus Liebe. Diese Ehen schienen ganz gut zu funktionieren. Aber das Schicksal hatte nun einmal bestimmt, dass er diesen Weg nicht einschlagen sollte.
Der Cynster-Fluch, wie er ihn nannte, war unerbittlich und unumgänglich. Als Cynster musste er, wenn er heiraten wollte – und das akzeptierte er jetzt –, die Liebe annehmen und mit den Risiken leben.
Er tippte mit dem Bleistift ein paarmal auf das Löschblatt, dann nickte er. Im September würde er nach London zurückkehren und herausfinden, ob eine der unverheirateten Ladys zu ihm passte. Oder genauer gesagt, ob das Schicksal sich dazu herablassen würde, ihn zu einer zu führen. Allerdings hatte er keine Ahnung, wie das Schicksal und die Liebe zuschlagen würden, wenn es denn passierte.
Nachdem er sich entschieden hatte, wie es weitergehen sollte, richtete er seinen Blick und seine Aufmerksamkeit wieder auf die vor ihm ausgebreiteten Geschäftsbücher. Doch seine innere Unruhe brodelte unablässig weiter, ohne dass er sie hätte stillen können. Irgendetwas tief in seinem Innern wollte weitermachen, wollte die richtige Frau finden, sie heiraten und mit dem Aufbau der gewünschten Zukunft fortfahren. Er war noch nie der Typ gewesen, der zu lange über etwas grübelte, sondern zog es vor zu handeln. Aber was konnte er schon tun?
»Warte bis September«, murmelte er und zwang sich, sich auf den Plan für den nächsten Fruchtwechsel zu konzentrieren.
Die Uhr auf dem Kaminsims tickte. Sie hatte gerade die halbe Stunde geschlagen, als Christopher Schritte hörte, die sich rasch näherten.
Jemand klopfte laut an die Tür. Er blickte hoch.
»Herein!«
Die Tür öffnete sich, und George Radley, der Gutsverwalter, schob seinen Kopf durch den Spalt.
Beim Anblick von Radleys angespannter Miene ließ Christopher den Bleistift fallen und schob seinen Stuhl zurück.
»Was gibt es?«
»Ziegen. Die Herde von Bigfield House ist in eines unserer Hopfenfelder eingefallen.«
Christopher fluchte, stand auf und schritt zur Tür. Er bedeutete Radley vorauszugehen.
»Ich nehme an, Sie meinen das Feld, das an die Straße grenzt?«
Radley nickte grimmig. »Die Pflanzen dort beginnen gerade erst zu blühen.«
»Natürlich!« Ebenso grimmig schritt Christopher mit Radley zum Stall.
Ellen Martingale saß an ihrem Schreibtisch im Arbeitszimmer von Bigfield House und starrte auf die vor ihr ausgebreiteten Blätter mit Zahlen. Am liebsten hätte sie sich die Haare gerauft. Hopper, der Gutsverwalter, hatte sie mit der Berechnung der voraussichtlichen Ernten der Getreidefelder des Guts allein gelassen. Es hatte eine gute halbe Stunde gedauert, bis sie herausgefunden hatte, dass sie erst wissen musste, welches Getreide auf welchen Feldern angebaut wurde, um all diese Informationen auch nutzen zu können.
»Argh!« Sie warf den Bleistift zur Seite, mit dem sie versucht hatte, den Gesamtwert der Ernte zu notieren, und starrte auf Hoppers Blätter. »Wer hätte gedacht, dass es so kompliziert sein würde, ein ›einfaches landwirtschaftliches Gut‹ zu verwalten?« Denn als solches bezeichneten Mr. Vickers, der Anwalt der Familie, und Hopper die Ländereien von Bigfield House.
Ellen wollte Hopper nicht unterstellen, ihr absichtlich Schwierigkeiten zu machen, weil er nicht notiert hatte, welches Getreide auf den jeweiligen Feldern angebaut wurde. Der Mann hatte sein Bestes gegeben, so wie alle Beteiligten. Aber leider war Hopper ein fantasieloser Mensch, der auf dem Land aufgewachsen war und es immer wieder versäumte, Ellens mangelnde Ortskenntnis zu berücksichtigen – von ihrer völligen Unkenntnis, was Landwirtschaft anging, ganz zu schweigen.
Sie seufzte, schloss die Augen und massierte ihre Schläfen. Ein leichter Kopfschmerz war im Anflug, und sie konnte es sich wirklich nicht leisten, dass er stärker wurde.
In Wahrheit hatte sie keinerlei Ambitionen, die vielen Unternehmungen von Bigfield House zu leiten. Sie saß nur deshalb hier und wurde langsam in den Wahnsinn getrieben, weil es niemanden sonst gab, der bereit und in der Lage gewesen wäre, diese Last zu tragen. Und sehr viele Menschen waren darauf angewiesen, dass das Anwesen so funktionierte, wie es sollte! Da konnte sie es nicht einfach zulassen, dass der landwirtschaftliche Betrieb ohne jegliche Aufsicht vor sich hin dümpelte.
Von allen Personen, die unter dem Dach von Bigfield House lebten, war sie eben am besten qualifiziert, die Zügel in die Hand zu nehmen, die ihr armer Onkel nicht mehr halten konnte. Ihr jüngerer Bruder Robbie, ihre Tante Emma, das Personal des großen Hauses, alle Angestellten des Anwesens und sogar Mr. Vickers zählten darauf, dass sie den Betrieb, ganz gleich wie langsam, in die richtige Richtung lenkte.
Was, so hatte Mr. Vickers ihr versichert, wirklich alles war, was sie tun musste. Nur schade, dass der gute Anwalt selbst nicht das Geringste von Landwirtschaft verstand …
Nach einer weiteren Minute der Kontemplation, in der sie die Augen geschlossen hielt und den Frieden genoss, atmete Ellen tief durch, ließ die Hände sinken, öffnete die Augen und betrachtete die Blätter vor sich. Dann sah sie sich in dem kleinen Arbeitszimmer um.
»Vielleicht gibt es ja irgendwo eine Karte, die zeigt, welche Pflanzen wo angebaut werden?«
Sie wollte gerade ihren Stuhl zurückschieben und sich auf die Suche machen, als es an der Tür klopfte.
»Ja?«
Partridge, der Butler – ein großer Mann mit einem mächtigen Bauch und dünnen Beinen, der sie in seiner Berufskleidung unweigerlich an seinen Namensgeber, das Rebhuhn, erinnerte –, schob den Kopf durch den Spalt, entdeckte sie, trat schnell ein und schloss die Tür hinter sich.
Beunruhigt von seiner Heimlichtuerei starrte sie ihn an. Ihr Blick besagte unmissverständlich: Was ist denn nun schon wieder?
Partridge räusperte sich und verkündete: »Mr. Christopher Cynster wartet unten, Miss, und verlangt Sir Humphrey zu sprechen.«
»Nun, das kann er nicht.«
Partridge neigte den Kopf in seiner vorsichtigen Art und Weise, die andeutete, dass er daran zweifelte.
»Mr. Christopher ist der älteste Sohn der Cynsters von Walkhurst Manor, Miss. Sie haben Mr. Cynster senior und Mrs Cynster – Mr. Christophers Eltern – schon mehrmals getroffen.«
Unbehagen machte sich in Ellen breit. »Ich dachte, sie wären nach Amerika gereist.«
Partridge senkte den Kopf. »In der Tat, Miss. Und Mr. Christopher ist in seiner Eigenschaft als ältester Sohn nach Hause zurückgekehrt, um das Gut zu verwalten.«
Und er macht das zweifellos auch viel besser als ich hier.
Sie erhob sich. »Wie dem auch sei …«
»Mr. Cynster ist hier, weil es einen … Zwischenfall mit den Ziegen gegeben hat, Miss.«
Sie hatte Robbie gebeten, die Ziegen auf ein Feld zu bringen, während der Stall der eigensinnigen Tiere repariert wurde.
»Was für ein Zwischenfall war das?«, fragte sie mit wachsender Sorge.
»Ich glaube, die Herde ist auf eines der Hopfenfelder des Nachbaranwesens geraten. Auf eines, wo der Hopfen gerade blüht.«
Man brauchte ihr nicht zu sagen, dass das nicht gut war. Sie hatte bereits festgestellt, dass Ziegen so ziemlich alles fraßen.
Ellen unterdrückte den Drang, die Augen zu schließen und zu stöhnen. Stattdessen trat sie geschmeidig hinter dem Schreibtisch hervor.
»Ich werde mit Ihnen kommen und dann selbst mit Mr. Cynster sprechen.« Sie hatte die Besuche seiner Eltern überstanden, also würde sie mit denen des Sohnes auch fertigwerden. »Sir Humphrey muss deswegen nicht gestört werden.«
Sie fegte an Partridge vorbei zur Tür. »Wo haben Sie Mr. Cynster warten lassen?«
Partridge drehte sich um und folgte ihr.
»In der Eingangshalle, Miss.«
Dem Himmel sei Dank.
Sie öffnete die Tür, trat in den Korridor, bog nach rechts ab – und prallte gegen eine Wand. Eine Wand aus soliden Muskeln.
»Oh!« Sie wäre getaumelt, hätten nicht kräftige Hände ihre Unterarme gepackt und sie gestützt.
Ihre Sinne reagierten heftig, und ihre Nerven kribbelten. Unter seinem festen Griff schien ihre Haut zu brennen.
Sie hielt inne und blickte auf – in zwei achatbraune Augen. Mittelbraun, von Moosgrün und Karamell durchsetzt, und unter kerzengeraden dunkelbraunen Augenbrauen weiteten sich diese verführerischen Augen und bannten ihren Blick …
Die Zeit schien stillzustehen. Sie konnte plötzlich nicht mehr atmen, ihre Lunge schien auf eine höchst merkwürdige Weise verkrampft zu sein.
Und sie konnte nicht aufhören hinzusehen.
Doch noch während sie in diese faszinierenden Augen blickte, verhärtete sich deren Ausdruck, wurde schärfer. Dann stieg in ihren grünbraunen Tiefen so etwas wie Misstrauen auf.
Nein – bloß keinen Verdacht schöpfen lassen!
Sie schluckte und zwang ihre Lunge, wenigstens so viel zu arbeiten, dass ihr nicht schwindelig wurde. Dann versuchte sie, wieder zu Verstand zu kommen und ihre Gedanken zu sortieren.
Christopher konnte nicht anders, als die Vision vor ihm unablässig anzustarren. Er hatte diesen Blitz reiner Empfindung gespürt, als sie zusammengestoßen waren. Der Schauer, der sie beide überlaufen hatte, als er ihre Arme gepackt hatte, hatte die Bedeutung ohne jeden Zweifel bestätigt.
Alle seine Sinne waren auf sie eingestellt. Wenn es um Frauen ging, war er ein erfahrener Jäger, und all seine Instinkte hatten sich unerbittlich und unerschütterlich auf sie fokussiert.
Er sah, wie sich ihre Augen weiteten, ihre Pupillen verengten. Er sah, wie die verräterische Anspannung ihren Atem stocken ließ, während die Sekunden verstrichen und er sie weiter festhielt – weil er es noch nicht geschafft hatte, seine Finger zu entspannen und sie loszulassen.
Er wusste genau, was diese Zeichen bei ihr und auch die Symptome, die ihn quälten, zu bedeuten hatten, aber …
Unmöglich.
Sie sah aus wie eine Puppe, die ein junges Mädchen in ihre buntesten Kleider gehüllt hatte. Haare von der Farbe reifenden Weizens bildeten einen Lockenkranz um ihren Kopf. Jemand hatte versucht, die seidige Masse zu einem Knoten hochzustecken, aber zahlreiche Locken waren ihm entkommen, schwangen um ihr Gesicht und ihre Schultern – und konkurrierten mit den herabhängenden Enden von zahlreichen Bändern, die um den Knoten gewickelt waren.
Das so umrahmte Gesicht war ein Oval wie gemeißelt, perfekt in allen Feinheiten und von einem milchig rosigen Teint, der so unverfälscht und makellos war, dass er wie gemalt aussah, so als wäre diese Lady wirklich eine zum Leben erweckte Porzellanpuppe.
Große haselnussbraune Augen mit grünen Sprenkeln, umrahmt von langen braunen Wimpern, sowie üppige, volle blassrosa Lippen taten nichts, um der beunruhigend perfekten Illusion entgegenzuwirken. Der schlanke Hals der Lady endete in zierlichen Schlüsselbeinen und einer Figur, die er aufgrund ihres Zusammenstoßes so gut kannte, dass er sie als »hinreißend kurvig« beschreiben konnte. Doch das Puppenthema setzte sich fort. Denn diese Kurven waren in ein Kleid gehüllt, das er niemals an einer Frau aus Fleisch und Blut erwartet hätte – wenn er es nicht mit eigenen Augen sehen würde.
Es hatte eine hübsche seegrüne Farbe und bestand aus leichtem, sommerlichem Tuch. Mehrere Schichten von Rüschen schmückten den sittsamen Ausschnitt, und weitere befanden sich an Taille und Saum. Der Rock war modisch weit geschnitten, aber die Kombination aus schmaler weißer Spitze und dunkelgrünen Bändern, die jede Rüsche einfassten, machte jeden Versuch von Eleganz zunichte.
Doch trotz des Augenscheins, der ihm sagte, dass diese junge Lady die schlimmste Sorte frivoler Weiblichkeit repräsentierte, bestanden seine Sinne weiterhin darauf, dass sie eine kostbare und unbezahlbare Perle war.
Er hätte fast den Kopf geschüttelt, um seiner Verwirrung Herr zu werden. Ganz gleich, was seine offensichtlich verwirrten Instinkte ihm einzureden versuchten, er würde einer Lady wie ihr niemals den Hof machen.
Dieser Entschluss ermöglichte es ihm endlich, den Griff zu lockern und sie loszulassen. Er ließ die Arme sinken, sorgte dafür, dass seine Miene ausdruckslos war, und nickte ihr kurz zu.
»Guten Morgen. Ich bitte um Entschuldigung. Ich bin auf der Suche nach Sir Humphrey.«
Er wollte an ihr vorbeigehen, aber sie versperrte ihm mit einem Schritt den Weg.
»Also …« Sie holte tief Luft und hob das Kinn. »Ich bedaure, aber Sir Humphrey empfängt keinen Besuch.«
Was, zum Teufel, ist hier los?
Christopher bedachte diese forsche Frau mit einem finsteren Blick. Er hatte Bigfield House schon lange nicht mehr besucht, und das wenige, was er davon gesehen hatte, als er die Ziegen zurückbrachte, ließ darauf schließen, dass hier nicht mehr alles so reibungslos lief, wie es sollte. Er hatte sich gefragt, ob Sir Humphrey den Dingen vielleicht einfach freien Lauf ließ.
Er öffnete den Mund, um auf einem Gespräch mit seinem Nachbarn zu bestehen, aber die Lady – wer zum Teufel ist sie überhaupt? – schob sich entschlossen zwischen ihn und die Tür des Arbeitszimmers.
»Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein?«, bot sie an.
Der Blick, den er ihr zuwarf, sagte sehr deutlich: Das wage ich ernsthaft zu bezweifeln.
Ellen bändigte ihren aufsteigenden Zorn und hielt ihren Blick auf Christopher Cynsters attraktives Gesicht gerichtet, wobei sie sich bemühte, weiterhin freundlich zu wirken. Die wie gemeißelten, aristokratischen Züge, die breiten Schultern, die schmale Taille und die langen Beine, gehüllt in die typisch ländliche Kleidung eines Gentlemans, eine gut geschnittene Reitjacke, Wildlederhose und hohe Stiefel. All das gepaart mit einer Aura streng kontrollierter körperlicher Kraft und arroganter Selbstsicherheit, stellte zweifellos eine starke Ablenkung dar. Aber ungeachtet ihrer albernen Reaktion auf seine Berührung, war sie, wie er schon merken würde, aus härterem Holz geschnitzt.
Sie hätte ahnen müssen, dass der älteste Sohn der Cynsters ein Londoner Lebemann war – ein Alphawolf, so lautete ihre erfahrene Einschätzung.
Sie reckte ihr Kinn ein Stück höher.
»Gibt es ein bestimmtes Thema, das Sie mit meinem Onkel besprechen möchten?«, fragte sie ruhig.
Seine dunklen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, und er neigte den Kopf, als er sie studierte.
»Ihr Onkel?«
»In der Tat.« Sie hob eine Braue. »Ich bin Sir Humphreys Nichte – Miss Ellen Martingale.«
Er hielt ihren Blick eine Sekunde, doch seine Miene verriet nichts. Dann nickte er leicht.
»Miss Martingale.« Er schien einen Entschluss gefasst zu haben. »Ich bin wegen Sir Humphreys Ziegen hier«, fuhr er dann fort. »Ich weiß, dass sie sein ganzer Stolz sind, aber die Herde hat sich befreit und den Feldweg überquert, dann ist sie in eines der Hopfenfelder meines Anwesens eingefallen. Wie Sie sicher wissen, fängt der Hopfen in dieser Gegend gerade an zu blühen. Das ist eine sehr kritische Phase, in der die Ziegen leider besonders von der Ernte angezogen werden.«
Er betrachtete sie forschend, als wollte er abschätzen, wie viel sie verstanden hatte.
Sie erwiderte seinen Blick scheinbar gleichmütig, während ihre Gedanken sich fast überschlugen.
Er presste kurz die Lippen zusammen.
»Meine Männer und ich haben die letzte Stunde damit verbracht, die Ziegen zusammenzutreiben und sie nach Bigfield House zurückzubringen.«
»Ah.« Sie blinzelte. »Der Ziegenstall wird gerade repariert, deshalb waren diese elenden Tiere nicht eingesperrt.« Sie blickte über eine seiner breiten Schultern und runzelte die Stirn. »Ich dachte, mein Bruder hätte die Ziegen auf das vordere Feld gebracht – das auf unserer Seite des Weges.«
»Das mag er ja getan haben, aber man kann Ziegen nicht auf einem Feld halten, das nur von einer Hecke begrenzt wird. Jedenfalls nicht, wenn sie auf der anderen Seite reifenden Hopfen wittern. Die Tiere haben sich durch Ihre Hecke auf den Weg gedrängt und dann auch die Hecke auf unserer Seite durchbrochen, um an unseren Hopfen zu gelangen.«
Ellen spürte, wie ihre Augen rund wurden und ihre Lippen ein tonloses »Oh« formten.
Cynster schien sich zusammenzureißen, um sie nicht finster anzustarren.
»Es war purer Zufall, dass mein Gutsverwalter sie kurz darauf entdeckt hat. Wir konnten sie wieder hinaustreiben, bevor sie allzu viel Schaden angerichtet haben«, räumte er dann zu ihrer Überraschung ein.
Eine versöhnliche Antwort war sicherlich der beste Weg, um weiterzukommen. Sie verschränkte die Hände vor der Brust.
»Es tut mir schrecklich leid«, erwiderte sie dann ernst. »Ich versichere Ihnen, dass es nicht wieder vorkommen wird.«
Beinahe hätte Christopher verächtlich geschnaubt. Ihre zur Schau gestellte Demut besänftigte ihn nicht gerade. Er wollte immer noch mit Sir Humphrey sprechen.
»Das darf nicht wieder vorkommen. Aber als ich die Ziegen in den Stall zurückbrachte … Gewiss, ich habe gesehen, dass er jetzt repariert und in gutem Zustand ist. Dennoch musste ich feststellen, dass das Stalldach dringend einer Reparatur bedarf und der hintere Zaun baufällig ist und ersetzt werden muss. Also habe ich Hopper auf beide Missstände aufmerksam gemacht.« Er hielt inne und holte tief Luft, bevor er weitersprach. »Ich weiß, dass die Mitarbeiter Sir Humphrey gegenüber lobenswert loyal sind, und ich habe nicht versucht, sie weiter zu befragen. Anscheinend mangelt es ihnen an Achtsamkeit für Details.«
Er sah Miss Ellen Martingale in die hübschen Augen.
»Deshalb wollte ich mit Sir Humphrey selbst sprechen«, beendete er dann seine Erklärung.
Er wollte an ihr vorbeigehen, doch sie trat ihm blitzschnell wieder in den Weg. Ihre Augen funkelten.
»Wie ich bereits erwähnt habe, empfängt mein Onkel keinen Besuch«, fuhr sie ihn an.
Er sah sie hochmütig an. »Ach, kommen Sie mir wieder damit?«
Ohne weitere Vorwarnung umfasste er ihre Taille, hob sie hoch, drehte sich mit ihr um und setzte sie hinter sich auf dem Läufer wieder ab. Dann ließ er sie schnell los, fuhr auf dem Absatz herum und marschierte ins Arbeitszimmer.
»Sir Humphrey?« Christopher suchte den Raum ab. Zu dieser Jahres- und Tageszeit hatte er erwartet, Sir Humphrey hinter dem großen Schreibtisch vorzufinden.
Die Tischplatte war mit Konten und Geschäftsbüchern übersät, aber dahinter saß kein Sir Humphrey, der sich über sie beugte.
Ein aufgeregtes Rascheln von Röcken und Petticoats kündigte die Ankunft seiner Möchtegernaufpasserin an.
Zu seiner Überraschung packte sie seinen Ärmel und riss ihn fast herum. Ihre Augen funkelten vor Wut, sie stemmte die Hände in die Hüften und hätte sichtlich am liebsten mit dem Fuß aufgestampft.
»Wie können Sie es wagen, Sir!«, rief sie empört, dann deutete sie mit der Hand in Richtung des Schreibtisches. »Wie Sie jetzt mit eigenen Augen sehen können, ist mein Onkel, wie ich Ihnen bereits versichert habe, nicht bereit, Sie zu empfangen!«
Anstatt weiter auf den Schreibtisch zu starren, betrachtete Christopher ihre geröteten Wangen und ihre strahlenden Augen. Hinter ihrer Wut verbarg sich etwas, was eher Angst zu sein schien.
Irgendetwas war hier im Gange …
»Ihr Onkel kennt mich schon mein ganzes Leben lang. Ob er Besuch empfängt oder nicht, ich werde ihn sprechen.« Mit diesen Worten eilte er zügig zur Tür.
Wie vorauszusehen war, lief sie ihm hinterher und blieb ihm auf den Fersen, als er durch den Korridor schritt.
»Wohin gehen Sie?«
»Das weiß ich noch nicht.« Er warf ihr einen Blick zu. »Warum sagen Sie es mir nicht?«
»Sie können hier nicht einfach so reinplatzen!«
»Wie Sie sehen, kann ich.«
Weiter vorne in der Eingangshalle entdeckte Christopher Partridge, den Butler.
»Partridge, wo ist Ihr Master?«, rief Christopher, während er sich dem Eingang näherte.
Er hörte ein empörtes Keuchen hinter sich und trat rasch zur Seite, um die empörte Frau zu verdecken, die dem Butler ein Zeichen geben wollte.
Wie er gehofft hatte, reagierte Partridge instinktiv auf seine autoritäre Stimme.
»Im Wintergarten, Sir.«
»Danke.« Vergeblich versuchte Christopher, die Selbstgefälligkeit aus seinem Tonfall herauszuhalten.
Hinter sich hörte er ein nachdrückliches »Verdammt!«.
Aber er hatte sich bereits umgedreht und joggte geradezu in Richtung des Wintergartens, der sich am Ende eines langen Flurs, praktisch auf der Rückseite des Hauses, befand.
Er ignorierte die gemurmelten Verwünschungen und die trappelnden Schritte hinter sich. Dann spürte er ein zaghaftes Zerren an seiner Jacke und missachtete auch das.
Der Wintergarten war groß und bestand aus riesigen Fenstern in weiß gestrichenen Holzrahmen. Er erblickte den grauhaarigen Kopf von Sir Humphrey, der über der Lehne eines Korbstuhls herausragte, der vor den großen Fenstern am Ende des Raumes stand. Sonnenschein strömte herein und badete den Stuhl und den Mann darin in seinem Licht.
Christopher wurde langsamer, als er sich näherte. Sein Instinkt veranlasste ihn, erst hinzusehen, bevor er angriff.
Er näherte sich dem Stuhl und sah Sir Humphrey, der auf die wogenden Rasenflächen, die hellen Gartenbeete und das grün-goldene Flickwerk der Obstgärten und Felder dahinter blickte.
Sir Humphreys Gesichtsausdruck wirkte ruhig, und seine Lippen waren leicht verzogen.
Christopher ging weiter, dorthin, wo Sir Humphrey ihn sehen musste.
»Sir Humphrey?«
»He?« Sir Humphrey sah zu Christopher auf.
Das Fehlen jeglichen Wiedererkennens in den fahlen blauen Augen des alten Mannes bereitete Christopher Unbehagen. Er streckte eine Hand aus.
»Ich heiße Christopher, Sir. Christopher Cynster.«
Er hatte Sir Humphrey das letzte Mal vor einem Jahr gesehen. Die körperlichen Veränderungen waren zwar offensichtlich, aber nicht direkt besorgniserregend. Der leere Blick aus den blauen Augen hingegen war zutiefst beunruhigend.
Dann weiteten sich Sir Humphreys Augen, und Erkennen blitzte darin auf. Strahlend drückte er Christopher die Hand.
»Ausgezeichnet! Willkommen, mein Junge! Gut, dass Sie vorbeikommen.« Er blickte sich um und deutete dann auf einen Stuhl. »Hier – setzen Sie sich.«
Während er nach dem Stuhl griff, warf Christopher einen kurzen Blick auf Miss Martingale. Sie hielt sich im Hintergrund, außer Sichtweite von Sir Humphrey, und rang die Hände.
Nachdem er den Stuhl näher an Sir Humphrey herangezogen hatte, setzte sich Christopher und beugte sich vor.
Der alte Mann lächelte immer noch. »Gut, dass Sie vorbeikommen, Vane.«
Christopher stutzte, dann korrigierte er den alten Mann freundlich.
»Ich heiße Christopher, Sir. Mein Vater und meine Mutter befinden sich auf einer Reise durch Amerika – sie haben Sie vor ihrer Abreise besucht.«
Aber warum hatten seine Eltern nicht gesehen, was er jetzt sah, und ihn vorgewarnt?
»Ach?« Sir Humphrey runzelte die Stirn. »Amerika … oh ja, ich erinnere mich. Sie wollen jemanden besuchen, nicht wahr?«
Er hat keine Ahnung und versucht, es zu verbergen.
»Mein Vater erkundigt sich nach neuen landwirtschaftlichen Geräten und Techniken, während Mama sich nur die Gegend anschaut«, antwortete Christopher zuvorkommend.
Sir Humphrey nickte. »Und Sie halten hier die Stellung, während sie weg sind, ja?«
Das hatten seine Eltern sicher erwähnt.
»Ja.« Christopher nickte.
»Sie brauchen also einen Rat? Ist es das, was Sie hierhergeführt hat?«
Christopher warf einen Blick auf Miss Martingale. Sie stand jetzt mit verschränkten Armen da. Sowohl ihre Haltung als auch ihre Miene strahlten gereizte Resignation aus.
»Ich bin gekommen, weil Ihre Ziegen ausgebrochen sind«, erwiderte er behutsam. »Ich habe sie zurückgebracht.«
»Meine Ziegen?« Sir Humphreys Blick hellte sich auf. »Ah, die hatte ich fast vergessen!« Er konzentrierte sich auf Christopher. »Sind sie … gesund?«
»Es geht ihnen ganz gut, Sir«, versicherte Christopher, als er merkte, wie aufgeregt der alte Mann mit einem Mal wirkte. »Obwohl …« Er sah wieder zu Miss Martingale und stellte erleichtert fest, dass ihre Arme wieder entspannt herabhingen und sie jetzt langsam auf ihren Onkel zuging. »Ich sollte wohl erwähnen, dass ihre Hufe dringend beschnitten werden müssen.«
»Oh.« Sir Humphreys Augen trübten sich vor verwirrter Sorge.
»Kein Grund zur Sorge.« Miss Martingale legte ihrem Onkel eine Hand auf die Schulter. »Ich werde mit Hopper sprechen. Er wird veranlassen, dass sich um die Ziegen gekümmert wird.«
Sir Humphrey blickte zu seiner Nichte auf, und seine Gesichtszüge entspannten sich. Lächelnd hob er eine knorrige Hand und tätschelte die ihre.
»Ich danke dir, meine Liebe. Dass ich mich auf dich und die anderen verlassen kann, beruhigt mich wirklich sehr.«
Als Sir Humphreys Blick wieder zu ihm zurückkehrte, erhob sich Christopher und reichte ihm die Hand.
»Ich werde Sie jetzt verlassen, Sir. Es war schön, Sie wiederzusehen.«
»In der Tat, in der Tat.« Sir Humphrey ergriff seine Hand mit einem erstaunlich festen Griff. »Ich danke Ihnen für Ihren Besuch, Vane. Schön, dass wir Zeit hatten, uns auszutauschen. Ich nehme an, wir sehen uns beim Treffen nächste Woche, ja? Grüßen Sie Patience von mir.«
Angesichts der Ernsthaftigkeit in Sir Humphreys Blick gelang Christopher ein beruhigendes Lächeln.
»Ja, natürlich«, versprach er und warf Miss Martingale einen Blick zu. »Bis zum nächsten Mal, Sir.«
Mit diesen Worten ging er langsam zur Tür des Wintergartens. Dort blieb er stehen und drehte sich um.
Miss Martingale beugte sich fürsorglich über ihren Onkel und beruhigte ihn. Schließlich richtete sie sich auf und ging auf Christopher zu.
Er wartete, bis sie dicht bei ihm stand.
»Was, zum Teufel, ist hier los?«, fragte er dann leise.
Ihre Lippen zogen sich zu einer dünnen Linie zusammen, und ihr Blick wurde hart wie ein Diamant. Sie musterte ihn schweigend und abschätzend.
»Da Sie ja so schrecklich neugierig sind«, lenkte sie schließlich ein, »kommen Sie mit ins Arbeitszimmer, und ich werde Ihnen sagen, was Sie wissen müssen.«
Beinahe hätte er sich verächtlich über ihre anmaßende Art geäußert. Doch in ihrer Stimme – ihrer Haltung – lag eine Stärke, die er noch nie bei einer Frau gesehen hatte.
Sie mochte wie eine Puppe aussehen, aber hinter der irritierenden Fassade steckte blanker Stahl, und sein Instinkt warnte ihn davor, sie herablassend zu behandeln. Das wäre ein schwerwiegender Fehler.
Er trat zurück, um sie vor sich durch die Tür gehen zu lassen, und folgte ihr dann durch den Korridor.
Ellen ließ sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch sinken und beobachtete, wie ihr unerwarteter und unerwünschter Besucher einen Sessel heranzog und sich niederließ. Jede Bewegung wurde mit einer gewissen Anmut ausgeführt. Wenn sie schon unbedingt einen neugierigen Nachbarn in ihrem Alter haben musste, fand sie es höchst unfair, dass er sie auch noch optisch – und auf viele andere Arten – so sehr ablenkte. Immerhin hatte sie auch ohne ihn schon genug um die Ohren.
Aber er hatte ihren Onkel gesehen und wirkte jetzt so sachlich und konzentriert wie ein Richter. Er würde jede Menge Fragen haben, und sie musste entscheiden, wie viel sie preisgeben wollte.
Kann ich ihm vertrauen?
Sie wünschte, sie hätte Hopper oder Vickers oder sogar Partridge um Rat fragen können. Aber Cynster saß jetzt hier vor ihr, und sie musste ihrem Urteilsvermögen trauen.
Unverhohlen musterte sie ihn, und nach einem Moment zog er langsam eine dunkle Augenbraue hoch. Auf diese lässige, arrogante Art fragte er sie wortlos, ob sie sich sattgesehen hätte.
Sie verzog leicht das Gesicht. Der Eindruck, den sie bei dem Gespräch im Konservatorium gewonnen hatte, und noch mehr seine Reaktion auf den Zustand ihres Onkels sagten ihr, dass Christopher Cynster ein ehrenwerter Gentleman war und niemand, der das Unglück anderer ausnutzte.
Wer weiß? Vielleicht ist er ja sogar eine Hilfe.
Offenbar verlor er angesichts ihres Zögerns allmählich die Geduld.
»Als ich Sir Humphrey das letzte Mal sah – zugegebenermaßen vor über einem Jahr –, war er gesund und munter«, ergriff er das Wort. »Er hatte seine Ländereien und sein Anwesen im Blick. Ich weiß, dass meine Eltern ihn besucht haben, bevor sie abreisten, und das war vor nicht ganz zwei Monaten. Sie haben es mir erzählt, verloren aber kein Wort darüber, dass Ihr Onkel … Schwierigkeiten hat.« Seine Stimme wurde härter. »Aber jetzt sehe ich, dass er mit seinen Gedanken … nicht bei der Sache ist.«
Ellen unterdrückte einen Seufzer. Sie würde nicht viel, wenn überhaupt etwas, vor ihm verbergen können.
»Wir – also mein jüngerer Bruder Robert, Sir Humphreys Erbe, unsere Tante mütterlicherseits und ich – leben seit Oktober letzten Jahres im Haushalt meines Onkels.«
Cynsters Miene verfinsterte sich. »Und warum, wenn ich fragen darf?«
»In erster Linie, weil Sir Humphrey es wünschte. Er war mein Vormund und der meines Bruders, seit unser Vater, Sir Humphreys älterer Bruder, 1844 gestorben ist. Wir hatten ein Haus in Belgravia. Unsere Mutter wurde in London geboren und ist dort aufgewachsen; sie wollte dortbleiben, vor allem wegen des gesellschaftlichen Trubels. Doch im Sommer 1849 erkrankte sie an einem Fieber und starb ebenfalls. Nach unserem Trauerjahr drängte uns Sir Humphrey – weil Robbie wie gesagt sein Erbe ist – mit der Unterstützung von Vickers, dem Anwalt der Familie, das Haus in London zu verkaufen. Um dann zusammen mit unserer verwitweten Tante, die viele Jahre bei uns gewohnt hatte und die Sir Humphrey gut kannte, hierher nach Bigfield House zu ziehen.« Sie zuckte leicht mit den Schultern. »Robbie und ich waren einverstanden, ebenso unsere Tante Emma. Keiner von uns mochte London so sehr wie Mama. Also haben wir alles verkauft und sind nach Kent gezogen, in diesen Haushalt.«
Sie hielt kurz inne.
»Es schien für alle das Vernünftigste zu sein«, fuhr sie dann fort. »Wir waren der Meinung, dass Robbie so genug Zeit bekommen würde, um zu lernen, wie man das Anwesen verwaltet.«
»Dazu gehört auch das Wissen darum, wie man Ziegen sicher einzäunt«, warf Cynster trocken ein.
»Und das wäre noch das Geringste«, erwiderte sie bissig. »Robbie ist erst zwanzig und reitet gut, aber damit sind seine Kenntnisse über das Landleben auch bereits erschöpft. Hopper und die Landarbeiter, die Obstbauern und Hirten wissen alles, was nötig ist, das hat man mir versichert, aber sie sind ebenso wie ich damit überfordert, die Dinge hier zu organisieren.« Sie holte Luft, hob ihr Kinn und sah Cynster herausfordernd an. »Seit wir gemerkt haben, dass Onkel Humphrey nicht mehr in der Lage ist, das Gut zu leiten.« Er musterte sie einen Moment.
»Was ist passiert?«, fragte er dann.
»Nichts Dramatisches – und das war Teil des Problems.« Sie dachte zurück an ihre Ankunft und die Wochen und Monate danach. »Als wir uns hier einrichteten, schien mein Onkel noch ganz normal zu sein. Jedenfalls wirkte er auf uns so – und auf alle anderen auch. Tante Emma kennt Humphrey schon fast ihr ganzes Leben lang, und sie hat nichts bemerkt. Keiner der Mitarbeiter hegte einen Verdacht, und wie Sie wahrscheinlich wissen, sind die meisten der leitenden Angestellten seit Jahrzehnten in Bigfield. Sie sind meinem Onkel gegenüber sehr loyal und sorgen sich um ihn. Nicht einmal Vickers, der Humphrey die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens gekannt und eng mit ihm zusammengearbeitet hat, ahnte, dass die geistigen Fähigkeiten meines Onkels nachließen. Wie Sie gesehen haben, ist er körperlich noch ganz gut beieinander. Anfangs waren es nur Kleinigkeiten, Gedächtnislücken, unter denen jeder leiden kann. Zum Beispiel sprach er Robbie mit dem Namen meines Vaters an. Sein Zustand verschlechterte sich nur allmählich, und wir vermuten stark, dass Onkel Humphrey seine Schwierigkeiten sehr gut zu verbergen wusste.«
Sie machte eine Pause.
»Schließlich wurde uns klar, dass Humphrey zeitweise tatsächlich dachte, Robbie sei unser Vater«, sprach sie dann weiter. »Humphrey lebte in diesen Zeiten offenbar in der Vergangenheit. Vickers glaubt jetzt, dass Humphrey ein gewisses Gespür dafür hatte, dass seine Fähigkeiten nachließen, und er deshalb so nachdrücklich darauf bestand, dass wir London verließen und zu ihm zogen.«
»Er hat seinen eigenen Niedergang vorausgesehen?«
»Das glaubt jedenfalls Vickers, und es mag sein, dass er recht hat. Es gibt immer noch Tage, an denen man meinen könnte, Humphrey sei wieder ganz der Alte, aber am nächsten Tag hat er sich dann wieder zurückgezogen.« Sie deutete auf den Wintergarten. »Sie haben ja selbst gesehen, wie er ist – er lebt mehr in seinen Erinnerungen als in der realen Welt.«
Cynster wirkte aufrichtig beunruhigt. »Ich kann nicht glauben, dass meine Eltern nicht gemerkt haben, dass mit ihm etwas nicht stimmt.«
»Humphrey hat sich bei ihrem Besuch zusammengerissen.« Sie lächelte schwach. »Er hat sich sehr bemüht, konzentriert zu bleiben. Es gibt Phasen, in denen ihm das gelingt, aber je mehr Zeit verstreicht, desto schwerer fällt es ihm.«
Cynster hielt ihren Blick lange fest.
»Sie versuchen, den Zustand Ihres Onkels vor der Nachbarschaft zu verbergen«, meinte er dann.
Ellen legte den Kopf schief. »Nicht so sehr vor den Nachbarn als vielmehr vor den Zwischenhändlern, an die das Anwesen seine Waren verkauft: unsere Hühner, Früchte und Feldfrüchte.« Sie beobachtete Cynster genau, während sie weiterredete. »Hopper zufolge besteht sehr wohl die Möglichkeit, dass sie es ausnutzen, wenn Humphreys Zustand bekannt wird und kein erfahrener Mann an seine Stelle tritt.« Sie hielt inne und versuchte, seine Reaktion abzuschätzen. »Vickers ist damit einverstanden, also versuche ich, hier die Stellung zu halten und die Entscheidungen zu treffen, die Tag für Tag anfallen, während Robbie sein Bestes tut, um sich sozusagen von Grund auf einzuarbeiten.«
Aus der Aufmerksamkeit und Besorgnis, die Cynster erkennen ließ, schloss sie, dass Hopper und Vickers sich nicht geirrt hatten. Sie rieb sich die Stirn, weil die Kopfschmerzen von vorhin noch nachwirkten.
»Wir alle, Vickers eingeschlossen, dachten, Robbie hätte mindestens fünf Jahre Zeit, um zu lernen, wie man das Anwesen verwaltet, bevor er die Nachfolge von Onkel Humphrey antritt. Aber es ist anders gekommen, und wir tun alle unser Bestes, um die Situation so gut wie möglich zu meistern, was bedeutet: so wie Humphrey es gewollt und erwartet hätte.«
Als Cynster nichts sagte, sondern stirnrunzelnd ins Leere starrte, wurde ihr Ton etwas schärfer.
»Ich versichere Ihnen, dass wir das schaffen werden – so oder so. Und nun, wenn Ihre Neugierde befriedigt ist, erlauben Sie mir vielleicht, mit den Berechnungen fortzufahren.«
Woher ihr plötzlich aufwallender Zorn kam, konnte sie nicht sagen, aber sie war sich sicher, gegen wen er sich richtete.
Christopher hörte die unterschwellige Wut in ihren Worten. Sie rührte vermutlich daher, dass sie gezwungen worden war, all diese Informationen preiszugeben. Und sie war nicht die Art von Frau, die sich gerne zu etwas zwingen ließ, geschweige denn eine solche Schwäche bei einem Onkel, den sie offensichtlich sehr mochte, einräumen musste.
Aber ihre Enthüllungen hatten ihm viel zu denken gegeben; er brauchte Zeit, um sich über alle möglichen Konsequenzen klar zu werden. Unter den gegebenen Umständen beschloss er, ihre Verabschiedung zu akzeptieren, ganz gleich wie lapidar sie ausgesprochen worden war.
Also richtete er sich auf. »Danke, dass Sie so offen zu mir waren.«
Sie begegnete seinem Blick und kämpfte, wie er vermutete, darum, ihre Augen nicht zusammenzukneifen.
Er unterdrückte ein Lächeln, wurde dann aber wieder sachlich. Kurz zögerte er, doch dann fühlte er sich zu einer weiteren Erläuterung gezwungen.
»Unsere Familien kennen sich seit Jahrzehnten. Das Gut und Bigfield House haben sich in Notlagen immer gegenseitig unterstützt. Wenn wir Ihnen in diesem Fall helfen können, genügt ein Wort.«
Sie sah ihm in die Augen und erkannte dort vermutlich, dass er seine Worte aufrichtig meinte. Jedenfalls neigte sie den Kopf mit einer Anmut, die angesichts der um ihre Ohren wippenden Bänder bemerkenswert war.
»Ich danke Ihnen für das Angebot. Wenn wir Hilfe brauchen, werde ich daran denken.«
Er bemerkte sehr wohl, dass sie nicht gesagt hatte, dass sie ihn um Hilfe bitten würde. Aber er hatte gesagt, was er zu sagen hatte, und sie auch, also nickte er zum Abschied.
»Ich finde selbst hinaus.«
Sie sprang nicht etwa auf und bestand darauf, ihn zur Tür zu bringen. Stattdessen blieb sie, wo sie war, und sah ihm ungeniert nach, als er ging.
Auf dem Gang und außer Sichtweite schüttelte Christopher den Kopf. Dann durchquerte er die Halle und trat durch die offene Haustür in die Nachmittagssonne.
Am Fuße der Treppe wartete ein Stallknecht, der die Zügel von Christophers grauem Jagdpferd Storm umklammerte. Nachdem er die Zügel genommen und sich bei dem Jungen bedankt hatte, trat Christopher an Storms Seite – und hielt inne.
Trotz seiner anfänglichen Erwartungen, die durch ihren puppenhaften Firlefanz geweckt worden waren, hatte er bei Miss Ellen Martingale nicht das geringste Anzeichen dafür entdeckt, dass sie sich für ihn interessieren könnte.
In Anbetracht ihres Status als unverheiratete junge Frau, die ihr erstes Erröten zweifellos schon lange hinter sich hatte, war das allein schon merkwürdig. Doch hinzu kam noch, dass sie mit keiner noch so kleinen Geste signalisiert hatte, der gewaltigen Anziehungskraft, die so unerwartet zwischen ihnen entstanden war, nachgehen zu wollen. Vielmehr hatte sie ihr Bestes gegeben, um so zu tun, als gäbe es diese Anziehungskraft überhaupt nicht.
Nach einem Moment, in dem er ihre jüngste Interaktion Revue passieren ließ, schnaubte Christopher leise, setzte seine Stiefelspitze in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel. Dann nahm er die Zügel und trieb Storm die Einfahrt hinunter.
Er hätte auf den Gedanken kommen können, dass er sein Gespür verlor, aber er wusste, dass es nicht daran lag. Nein, es war Miss Ellen Martingale. Sie war ein seltsamer Vogel – ganz anders als jede andere Lady ihres Standes. Sogar anders als jede Lady, die er in seinem Leben getroffen hatte.
Am folgenden Nachmittag saß Christopher wieder im Sattel. Sein großer Schimmel Storm brauchte regelmäßig Bewegung, und Christopher fand, dass ein Ritt von einer Stunde über seine Felder zudem eine hervorragende Möglichkeit war, sich auf dem Laufenden zu halten.
Diesem Umstand war es zu verdanken, dass er den Streit mit anhörte, der auf dem Feldweg zwischen Bigfield House und den Feldern des Guts entbrannte.
Er lenkte Storm von dem Feld, neben dem er galoppiert war, auf den Karrenweg. Als er sich der Geräuschquelle näherte, erkannte Christopher zwei männliche Stimmen. Die reifere der beiden kam ihm bekannt vor, auch wenn er sie nicht sofort zuordnen konnte. Sie war tief, ruhig und kontrolliert. Die andere Stimme war jugendlicher, schriller und aggressiver.
Als er um die nächste Kurve bog, bot sich Christopher ein Anblick, den er, wenn auch nicht an diesem Tag, so doch in Bälde erwartet hatte. Eine lange Reihe bunt bemalter Planwagen stand auf dem Weg. Der vorderste Wagen, der in leuchtenden Rot- und Goldtönen gehalten war, schien gerade auf die Wiese einbiegen zu wollen, die an den Bach grenzte, der die Felder von Bigfield House durchzog.
Obwohl die Wiese zum Anwesen gehörte, diente das Feld in dieser Jahreszeit, in der das Heu bereits abgeerntet war, als traditioneller Zwischenhalt für die Roma-Karawane. Sie versorgte die Bauernhöfe der Umgebung mit Arbeitskräften für die Hopfen- und Apfelernte.
Heute jedoch verhinderte ein junger Gentleman auf einem langbeinigen Rotschimmel, dass die Wagen auf die Wiese fuhren.
Erfreut stellte Christopher fest, dass sich hinter dem ersten Wagen neun weitere aufgereiht hatten. Als der junge Mann lautstark verkündete: »Ich wiederhole, Sie können hier kein Lager aufschlagen!«, trieb Christopher Storm weiter.
Der Mann, der auf der Bank des ersten Wagens saß und die Zügel locker in der Hand hielt, seufzte.
»Und ich sage es noch einmal«, erwiderte er, »wir schlagen unser Lager immer auf dem Feld von Sir Humphrey auf. Natürlich muss ich mit ihm sprechen …«
»Das können Sie nicht!«, erwiderte der junge Mann. »Mein Onkel empfängt zurzeit keinen Besuch.«
Der Kutscher wirkte gereizt.
Völlig auf ihr Streitgespräch konzentriert, hatte keiner der beiden Männer bemerkt, dass sich Christopher näherte, wohl aber die ältere Frau, die ebenfalls auf dem Kutschbock saß. Gracella, die in bunte Schals gehüllte Matriarchin des Clans, bemerkte Christophers Blick, nickte ihm gebieterisch zu und zupfte ihren Enkel am Ärmel.
Als Aaron sich umschaute, sah er Christopher, und sein finsteres Gesicht hellte sich auf.
»Ah … Cynster. Sehr erfreut!« Er streckte eine Hand aus.
Während er Storm neben dem Wagen zügelte, setzte Christopher sein charmantestes Lächeln auf und verbeugte sich halb vor der stämmigen, älteren Frau.
»Gracella. Sie und die Ihren sind hier herzlich willkommen.«
Hoheitsvoll wie Königin Victoria neigte Gracella ihr Haupt. Ihr Gesicht trug noch Spuren verblasster Schönheit, ihr Ausdruck war unaufgeregt und doch wach. Ihre dunklen Augen sahen alles und schienen einen ganzen Schatz an Erfahrung zu enthalten.
Immer noch lächelnd – er war wirklich froh, den Roma-Clan zu sehen –, beugte sich Christopher vor und drückte Aaron die Hand.
»Aaron. Sie und Ihre Sippe sind ein willkommener Anblick.«
Aaron schnaubte und deutete auf den jungen Reiter. »Vielleicht können Sie diesem Gentleman hier erklären, dass wir die Wiese als Lagerplatz benutzen dürfen.«
Christopher hatte seinen Blick bereits auf den jüngeren Mann gerichtet.
»Robert Martingale?«, riet er, immer noch freundlich lächelnd.
Der junge Mann blinzelte verblüfft, dann nickte er argwöhnisch. »Ja.«
»Ich habe Ihre Schwester gestern kennengelernt, und sie hat von Ihnen gesprochen. Ich bin Christopher Cynster, der derzeitige Verwalter des Guts.« Christopher trieb Storm ein Stück weiter und streckte seine Hand aus.
Bei der Nachricht, dass Christopher ein Nachbar war, entspannte sich Martingale sichtlich. Ein Anflug von Erleichterung zeigte sich in seinen Augen, als er Christophers Hand ergriff.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Sir. Meine Schwester hat erwähnt, dass Sie vorbeigekommen sind.« Die Erinnerung an den Grund von Christophers Besuch trieb das Blut in Roberts blasse Wangen. »Ich muss mich wegen der Ziegen entschuldigen, Sir. Ich hatte keine Ahnung, dass sie so … entschlossen sein können. Und so zerstörerisch.«
Christopher lachte leise. »Wie es aussieht, ist kein wirklicher Schaden entstanden. Ihre Schwester hat mir erklärt, dass Sie beide als Stadtmenschen erst lernen müssen, wie die Dinge auf dem Lande gehandhabt werden.«
Er hatte das sowohl für Aaron und Gracella als auch für Robert gesagt. Die Bemerkung gab ihm zudem die Gelegenheit, die Sackgasse anzusprechen, in die sie sich hineinmanövriert hatten.
»Oh.« Robert sah von Christopher zu den Roma. »Und ist das hier …«, er deutete auf die wartende Karawane, »… eines dieser Dinge auf dem Land?«
Aaron fletschte grinsend die Zähne.
Christopher warf ihm einen warnenden Blick zu, dann wandte er sich wieder an Robert.
»Das ist es allerdings.« Er bedeutete dem jungen Mann mit einem Winken, ihn zu begleiten, und trieb Storm weiter auf die Wiese. »Lassen wir die Wagen durch. Sie haben mein Wort, dass sie die Erlaubnis Ihres Onkels haben, wie sie behauptet haben. Dann können sie anfangen, sich einzurichten, während ich es Ihnen erkläre.«
Christopher warf einen Blick über die Schulter und sah, wie Robert sein Pferd wendete, um ihm zu folgen. Gracella nickte zustimmend, und Aaron lächelte erleichtert.
Nachdem er Storm an die Seite der Wiese gelenkt hatte, wartete Christopher, bis Robert sein Pferd neben ihm zügelte und die Wagen vorbeirumpelten, um eine natürliche Senke neben dem Bach anzusteuern. Dann faltete er die Hände auf dem Vorderzwiesel des Sattels.
»Alle Landbesitzer hier in der Gegend, ja sogar die meisten Landbesitzer in Kent, haben eine besondere Beziehung zu den verschiedenen Roma-Karawanen, die man während der Erntezeit in der Grafschaft antrifft. Die Ernte von Obst und Hopfen ist sehr arbeitsintensiv – wir alle brauchen zusätzliche Hilfskräfte, um unsere Ernten einzubringen. Und hier kommen die Sinti und Roma ins Spiel. Die Männer, die älteren Kinder und sogar einige ihrer Frauen helfen bei der Ernte mit. Roma reisen in der Regel in Großfamilien und kehren, ebenso wie dieser Clan hier, Jahr für Jahr zurück. Sie fahren immer dieselben Routen ab und helfen auf denselben Höfen.« Er deutete mit dem Kopf dorthin, wo Aaron mithilfe einiger anderer Männer seinen Wagen aufstellte. »Diese Großfamilie hat früher Aarons Vater angeführt, und laut meinem Vater war davor Aarons Großvater der Clanchef.«
Robert runzelte die Stirn. »Diese Roma-Familie hilft also bei der Ernte auf unserem Gut?«
»Nicht nur auf Bigfield. Obwohl Sir Humphrey und sein Vater vor ihm dieses Feld für ihr Lager zur Verfügung gestellt haben, hilft diese Gruppe auf fünf Gütern, solange sie hier sind. Dann ziehen sie in ein anderes Gebiet weiter, wo sie ebenfalls seit Jahrzehnten bei der Ernte helfen. In der Regel wandern sie von Osten nach Westen und von Süden nach Norden, wenn Getreide und Obst reif für die Ernte sind.« Christopher lachte. »Manchmal glaube ich, sie kennen unsere Felder besser als wir selbst.«
»Jedenfalls«, sagte Robbie, »kommen sie genau zum richtigen Zeitpunkt, um uns bei der Ernte von …« Er blickte Christopher an. »Was wird als Nächstes eingefahren?«
»Hopfen«, antwortete Christopher und unterdrückte ein Lächeln. »Aber es wird noch etwa eine Woche dauern, bis er wirklich reif ist. Ich gehe davon aus, dass Aaron und seine Leute in der Zwischenzeit den Entwhistles auf Grove Farm und den Huntlys auf Moreton Manor beim Beschneiden ihrer Kirschbäume helfen werden. Denn wenn das jetzt nicht erledigt wird, leidet die Ernte im nächsten Jahr darunter.«
»Werden diese Roma uns auch bei unseren Äpfeln helfen?«
Christopher nickte. »Dieser Clan bleibt in der Regel so lange, bis die Erntezeit hier in der Gegend zu Ende ist, und das ist sie normalerweise Anfang Oktober, je nach Wetterlage.« Er hielt kurz inne und fügte dann hinzu: »Wir können uns glücklich schätzen, sie hier zu haben. Es sind zuverlässige und vertrauenswürdige Helfer.«
»Ich verstehe.« Robert richtete sich in seinem Sattel auf. »Die Hilfe dieser Roma, die wir als Tagelöhner anheuern können, ist für die Ernte unerlässlich, und ohne sie wären wir in Schwierigkeiten.«
»Das fasst es kurz und treffend zusammen.« Christopher beobachtete, wie Robert die Lippen verzog und sich selbst zunickte.
»Wenn das so ist«, Robert schwang sich aus dem Sattel, »dann gehe ich besser zu ihnen und entschuldige mich.«
Darauf erwiderte Christopher nichts, aber auch er stieg ab und folgte Robert. Zielstrebig schritt der junge Mann über das Gras zu der Stelle, an der Aaron jetzt stand, die Hände in die Hüften gestemmt, und die Aufstellung der anderen Wagen in der flachen Senke anordnete.
Zwei Meter hinter Aaron saß Gracella auf einem Hocker vor dem Wohnwagen, den sie mit Aaron teilte.
Robert ging auf sie zu und war so klug, Gracella höflich zuzunicken, bevor er sich an Aaron wandte.
»Hören Sie«, begann Robert und wartete, bis Aaron ihn ansah. »Ich möchte mich entschuldigen.« Robert deutete auf den Zugang zur Wiese. »Ich habe das nicht gewusst, aber jetzt verstehe ich es.« Er streckte seine Hand aus. »Willkommen auf Bigfield House.«
Aarons Blick glitt zu Christopher, der einige Meter hinter Robert stehen geblieben war, dann breitete sich ein Grinsen auf seinem wettergegerbten Gesicht aus, und er ergriff Roberts Hand.
»Tja, wir alle müssen lernen. Am besten vergessen wir es einfach, was?«
Roberts erleichtertes Lächeln bestätigte seine relative Jugend.
»Danke.« Er winkte Gracella zu. »Ich lasse Sie jetzt allein«, sagte er dann, »damit Sie sich in Ruhe einrichten können.«