ANDREAS HOCK
EIN SPIEL DAUERT 90 MILLIONEN
ANDREAS HOCK
WIE DER KOMMERZ UNSEREM FUSSBALL DIE SEELE RAUBT
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Taschenbuchausgabe
1. Auflage 2018
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Pößneck Printed in Germany
ISBN Print 978-3-7423-0011-9
ISBN E-Book (PDF) 978-3-95971-372-6
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95971-373-3
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INHALT
Vorwort von Peter Neururer
Das Vorspiel
oder: Wie bei mir alles begann
Weil die Helden von Bern nicht unsterblich waren
oder: Die seltsame Verwandlung von Sportlern zu Popstars
Weil Wormatia Worms das Geld ausging
oder: Das Zeitalter der Sponsoren
Weil Wolfgang Vöge einen Kreuzbandriss erlitt
oder: Die verhängnisvolle Rolle der Berater
Weil Günter Eichberg nicht mehr frieren wollte
oder: Der Abschied von der Stadionkultur
Weil Ulli Potofski eine neue Epoche ausrief
oder: Die mediale Inszenierung einer Sportart
Weil ein katholischer Professor nicht aufgeben mochte
oder: Das Ende der Loyalität
Weil Dietmar Hopp keinen Trainer in der Halbzeit entlassen würde
oder: Das Aussterben der Patriarchen
Die Nachspielzeit
oder: Weil in Katar kein Rasen wächst
VORWORT
VON PETER NEURURER
Um vorab eins klarzustellen: Ich liebe den Fußball! Das meine ich ernst, darüber hinaus liebe ich nur noch meine Frau und meine beiden Kinder. Aber ich bin ein Fußballverrückter, der Fußball ist mein Leben. Ich gehöre zu den Menschen, die sich an sieben Tagen in der Woche von mittags bis abends Spiele im Fernsehen anschauen können, ohne dass es ihnen dabei langweilig wird. Ich gehe gern in die Stadien und beobachte mit Freude, wie temporeich dieser Sport geworden ist und auf welch hohem technischem Niveau heute in der Bundesliga gespielt wird. Das Problem ist nur: Ich bin nicht der Maßstab.
Denn ich bin Trainer, seit meinem 29. Lebensjahr. Ich habe schlimme Niederlagen erlitten, Mannschaften vor dem Abstieg gerettet und den VfL Bochum in den Europapokal geführt. Mir sind in all den Jahren unzählige irre Geschichten passiert, und ich bin in ein paar schmutzige Intrigen hineingeraten. Manchmal hatte ein einfacher Handschlag mit einem Präsidenten länger Bestand als jeder Vertrag, und manchmal besaß der bereits unterschriebene Kontrakt eines Managers nicht einmal den Wert des Papiers, auf dem er gedruckt war. Ich kann also, ganz ohne Übertreibung, durchaus behaupten, dass ich schon so gut wie alles im Fußball erlebt habe.
Aber noch nie habe ich mir solch große Sorgen um ihn gemacht wie heute. Ich befürchte nämlich, dass er sich immer weiter von der Basis entfernt. Dass die Fans in den Kurven bald nichts mehr anfangen können mit dem, was unten auf dem Platz passiert.
Das fängt schon damit an, dass es kaum noch Spieler gibt, die einen Bezug zu dem Verein besitzen, für den sie gerade auflaufen. Man glaubt ja immer, Loyalität und regionale Verbundenheit gab es zuletzt in den Fünfzigerjahren. Aber als ich 1989 bei Schalke anfing, standen dort zum Beispiel Werner Vollack, Ingo Anderbrügge, Carsten Marquardt, Michael Wollitz oder Peter Sendscheid im Kader, um nur einige zu nennen. Vollack kam aus Duisburg, Anderbrügge aus Datteln, Marquardt aus Oberhausen, Wollitz aus Brakel und Sendscheid aus Niederbardenberg. Diese Jungs brannten für S04, weil ihnen der Verein, das Trikot, das Logo wirklich noch etwas bedeuteten. Die kannten alle die Region und wussten, was die Leute im Stadion dachten und fühlten. Da war jemand wie Jürgen Luginger, der mit einem bayerischen Akzent sprach, in der Truppe schon ein Exot, und Ausländer hatten wir genau drei.
Heute grasen die reichen Klubs ab der D-Jugend bundesweit alles ab, was geradeaus laufen und gegen einen Ball treten kann, und stecken sie in Internate, wo sie dann zu regelrechten Fußballmaschinen ausgebildet werden, denen es im Grunde egal ist, wo sie einmal unter Vertrag stehen. Und die ärmeren Vereine kaufen eben auf der ganzen Welt fertige Kicker ein, weil sie sich die teure Jugendarbeit nicht mehr leisten können. Im Extremfall kommt dann eine Mannschaft dabei heraus, die ohne einen einzigen deutschen Spieler antritt – wie etwa Eintracht Frankfurt in der abgelaufenen Saison. Bei Erfolg ist das den Leuten vielleicht noch egal. Identifikation sieht trotzdem anders aus. Da braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn die Funktionäre nur noch von »Spielermaterial« sprechen, einem Begriff, bei dem ich das Kotzen kriege, weil es immer noch um Menschen geht. Aber Material lässt sich halt beliebig austauschen.
Dass da irgendwann auch die Moral auf der Strecke bleibt, ist eine logische Konsequenz. Ich will gar nicht vom vielen Geld reden, das mittlerweile im Fußball im Umlauf ist – ich gönne wirklich jedem das Gehalt, das er verdient, und dass Ablösesummen wie im Fall Neymar einfach nur pervers sind, habe ich schon oft genug gesagt. Aber wenn ein Verein von manchen seiner Spieler nur noch verarscht und erpresst wird, damit sie zum nächstbesten Klub weiterziehen können, dann müssen wir uns alle nicht wundern, wenn der Ton insgesamt rauer wird, wenn in sozialen Netzwerken anonyme Anfeindungen auf der untersten Schiene ausgesprochen werden oder wenn Ultragruppen die eigene Mannschaft bedrohen. Früher gab es noch einen direkten Bezug zwischen Spielern und Fans. Diese gegenseitige Akzeptanz hat in vielerlei Hinsicht geholfen. Wer da zu abgehoben war, wurde schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Dafür herrschten auch in den Blöcken noch der nötige Respekt und Anstand, wenn die Leistung stimmte.
Auch die zerstückelten Anstoßzeiten halte ich für gefährlich. Unabhängig davon, dass das zu Riesenstress in der Familie einerseits und zu einer totalen Übersättigung selbst bei hartgesottenen Anhängern andererseits führen kann, wenn an jedem Tag der Woche irgendeine Partie übertragen wird: Dass die Bundesliga in aller Regel am Samstag um halb vier gespielt hat, hatte schon seinen Sinn. Dem DFB war damals noch der Amateurfußball wichtig, denn von dort kamen ja die meisten Talente. Und für viele Menschen besaß es eine verdammt große emotionale Bedeutung, ihre Heimatteams zu unterstützen, auch wenn sie sich ansonsten für die Bundesliga begeisterten. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass die berühmten Bocholter Derbys zwischen dem 1. FC und dem FC Olympia in den Siebzigerjahren vor 10 000 Zuschauern und mehr stattfanden – je nachdem, in welchem Stadion am Hünting man gegeneinander spielte. Ausverkauft war aber immer. Auch damals waren viele Bocholter sicherlich Schalke-, Gladbach- oder Dortmund-Fans. Aber die Profis kamen erst an die Reihe, wenn die Amateure fertig waren.
Doch wenn bloß wegen des Fernsehens in der ersten und zweiten Liga um 13 Uhr oder demnächst vielleicht sogar noch früher angepfiffen wird, dann geht das nicht mehr. Dann stehen in Bocholt und anderswo in den unteren Klassen noch hundertfünfzig Unentwegte auf dem Graswall und erinnern sich wehmütig an die guten alten Zeiten. Der Rest sitzt zwangsläufig in den schicken Arenen oder vor der Glotze und vergisst, dass es auch etwas anderes gibt als das, was auf Sky übertragen wird: das nämlich, was über viele Jahrzehnte hinweg die Seele des Fußballs ausgemacht hat. Davon mal ganz abgesehen, ist für die Spieler solch ein Hochleistungssport zur Mittagszeit sogar richtiggehend ungesund – es sei denn, sie werfen sich zum Frühstück die nötigen Kohlehydrate wie Nudeln oder Reis ein, aber wer will das schon? In England jedenfalls reichen die Anstoßzeiten künftig vom Vormittag bis zum späten Abend. Das ist doch alles nicht mehr normal!
Worüber ich mich auch richtig ärgern kann, ist, dass Fußball heute oft wie eine komplizierte Wissenschaft verkauft wird. Und diejenigen, die meinen, eine Ahnung zu haben, glauben auch noch, das Exklusivrecht darauf zu besitzen. So wird heute hochtrabend von »falscher Neun« und »Doppel-Sechs« doziert, von »Pressing« und »Gegenpressing«, von »Vertikalpässen«, »horizontaler Raumaufteilung« und anderem theoretischem Tinnef. Das kapieren vielleicht einige Schlauberger, die meisten normalen Leute aber längst nicht mehr. Dabei ist das Spiel an sich gleich geblieben, seit ich 1987 bei Rot-Weiß Essen meinen ersten Job im Profifußball angenommen habe. Natürlich hat die Geschwindigkeit zugenommen und sind andere Systeme hinzugekommen. Aber es geht im Kern immer noch darum, ein Tor mehr zu schießen als der Gegner; es geht um Sieg, Unentschieden oder Niederlage. So einfach ist das. Aber so mancher selbst ernannte Konzepttrainer will das nicht begreifen. Ich bin mal gespannt, wie viele von denen in dreißig Jahren noch im Geschäft sind, so wie es Erich Ribbeck, Christoph Daum, Otto Rehhagel oder, bei aller Bescheidenheit, auch ich geschafft haben. Wir hätten auch von »Variabilität«, »flacher Vier« und »Umschaltbewegungen« reden können und bei den Pressekonferenzen Phrasen dreschen. Aber wir wollten lieber verstanden werden.
Wir brauchten auch keine aufwendigen Datenbanken von einer mit zehn Fachkräften bestückten Scouting-Brigade, um zu wissen, wer am besten wo eingesetzt werden kann. Wir verließen uns auf unsere Augen, unser Bauchgefühl und unsere Menschenkenntnis. Und ich mich zusätzlich auf meine dreitausendsechshundert Dossiers über alle Spieler, die ich jemals in meiner Laufbahn beobachtet habe. Weil ich mit so manchen technischen Neuerungen auf Kriegsfuß stehe, habe ich die Informationen im Lauf der Zeit allesamt auf Band gesprochen, und ein Freund hat sie mir irgendwann in eine Datei auf meinem Computer gezogen. So wurde ich gewissermaßen autodidaktisch zum allerersten »Laptoptrainer«, lange bevor dieser bescheuerte Begriff aufgekommen ist.
Es wird ja immer beklagt, dass es keine echten Typen im Fußball mehr gibt. Das glaube ich gar nicht. Ich denke nur, dass sich die Typen einfach nicht mehr zu erkennen geben dürfen. Egal, ob Spieler oder Trainer: Wer heute ein Sturschädel mit Ecken und Kanten ist, der wird von der Medienabteilung seines Vereins abgeschliffen und weichgespült. Und wer ausnahmsweise mal nach einem Spiel um die Häuser zieht, der findet sich ein paar Stunden später auf einem unscharfen Foto im Internet wieder, am besten noch versehen mit dem Hinweis, dreißig Pils getrunken zu haben – was zumindest in meinem Fall schon mal nicht sein kann, weil ich viel lieber Rotwein mag. Und weil da verständlicherweise keiner Bock drauf hat, bleibt man eben lieber unter sich. Auch dadurch ist eine Parallelwelt entstanden, die dem Fußball ganz sicher nicht gutgetan hat.
Wenn ich die Uhr zurückdrehen könnte und zwei Wünsche frei hätte, dann würde ich das Bosman-Urteil aufheben, das Verträge im Grunde obsolet und die ganze Beraterbranche erst richtig reich gemacht hat. Und ich würde die unsäglichen Anstoßzeiten wieder vereinheitlichen. Auch wenn einige Leute gerne behaupten, ich hätte nicht alle Latten am Zaun, weiß aber selbst ich, dass das leider nicht funktionieren wird. Deswegen ist die Richtung, in die es geht, leider glasklar: Wenn hier die Märkte ausgereizt sind und den hiesigen Fernsehsendern der letzte Cent aus der Tasche gepresst worden ist, dann orientiert man sich halt am Ausland und sammelt dort die Kohle ein, für noch mehr Zugeständnisse, die wir alle machen müssen. Die Engländer bekommen für den TV-Rechte-Verkauf nach China bis 2022 rund sechshundert Millionen Euro, da wird es nicht mehr lange dauern, bis die ersten Premier-League-Spiele in Peking oder Shanghai stattfinden. Und Frankreich verlegt gleich seinen ganzen Supercup nach Fernost, damit die Chinesen die französische Liga auch ganz toll finden. Spätestens, wenn so etwas bei uns passiert, bin ich sicher, dass die Stimmung in Deutschland kippt – und sich die Straße ihren Fußball zurückholt: den Fußball, den auch ich noch kennen- und lieben gelernt habe, als ich einst in diesem Geschäft anfing.
Nur eines weiß ich noch nicht genau: ob ich mich davor fürchten oder mich doch eher darüber freuen soll.
DAS VORSPIEL
ODER: WIE BEI MIR ALLES BEGANN
Mein allererstes Bundesligaspiel sah ich an einem Samstag, natürlich einem Samstag. Ich war neun Jahre alt. Es war der 3. Dezember 1983, ein grässlicher Tag, kalt und regnerisch und grau. Die Mannschaft, deretwegen mein Vater und ich ins Stadion gegangen waren, war die Mannschaft unserer Heimatstadt. Wir lebten in Nürnberg. Dementsprechend lautete die Logik meines Vaters: Wenn man sich schon für Fußball interessiert, so gibt es keinen vernünftigen Grund, sich nicht für den 1. FC Nürnberg zu interessieren. Ich sah das etwas anders: Der Hamburger SV war gerade deutlich erfolgreicher, auch Borussia Mönchengladbach war gut im Geschäft und erst recht Bayern München, mit dem sagenhaften Karl-Heinz Rummenigge im Sturm und dem verwegenen Jean-Marie Pfaff im Tor, Meister 1980 und 1981. Aber das alles zählte für meinen Vater nicht – auch nicht, dass mein Lieblingsspieler, der flinke Pierre Littbarski, beim 1. FC Köln unter Vertrag stand. Nach Meinung meines Vaters hatten wir einfach Pech, nicht in Hamburg, Mönchengladbach, München oder Köln zu wohnen, wo man sich selbstverständlich für Hamburg, Mönchengladbach, München oder Köln begeistern dürfe – sondern eben in Nürnberg. Hier gab es nun mal keinen Pfaff und keinen Rummenigge und auch keinen Littbarski, hier gab es Spieler wie Werner Habiger, Stefan Lottermann und Norbert Blabl. Außerdem war der Club mit neun Titeln immerhin deutscher Rekordmeister. Natürlich wusste mein Vater, dass der letzte Meistertitel der Nürnberger über ein Vierteljahrhundert zurücklag, ein Triumph aus einer Zeit, in der selbst er noch jung war.
Doch für ihn war die Vereinswahl ein Schicksal, das es nicht zu hinterfragen galt: Wer in Nürnberg lebte, wurde Anhänger des 1. FC Nürnberg – keine Diskussion. Ich lernte: Man konnte sich seinen Verein nicht einfach so aussuchen wie zum Beispiel ein Lieblingsbuch oder eine Lieblingshörspielkassette. Also versuchte ich das Ganze positiv zu sehen: Immerhin ging es uns auch nicht schlechter als zum Beispiel den Offenbachern, den Braunschweigern oder den Bochumern, deren Mannschaften im Moment ähnlich erfolglos spielten wie der 1. FCN. Was sollten da erst die Menschen aus Gelsenkirchen, Solingen, Saarbrücken oder Berlin sagen! Die musste man ja vergleichsweise sogar bemitleiden, denn deren Klubs befanden sich in der zweiten Liga. Zweite Liga – das erschien mir gleichbedeutend mit dem Verschwinden von der Bildfläche: Es gab von dort so gut wie keine Fernsehbilder, und wahrscheinlich hatten die Vereine kaum Zuschauer und auch keine richtigen Stadien, sondern nur Sportplätze, ungefähr so wie der TSV der Freiwilligen Feuerwehr aus unserem Viertel. Zumindest vermutete ich das.
Mein Vater hatte zuvor schon öfter versucht, mich zu meinem ersten Stadionbesuch zu überreden. Und nun war es ausgerechnet dieser nasskalte Wintertag geworden. Seit der Weltmeisterschaft 1982 war ich nicht nur Littbarski-Fan, ich schwärmte vor allem für Paolo Rossi, den feschen Torschützenkönig der Italiener, der folgerichtig seit eineinhalb Jahren in meinem Zimmer als Bravo-Poster hing. Vielleicht hatte mein Vater deshalb Angst, dass ich in Sachen Fußballleidenschaft eine Dummheit begehen und doch einem Team aus einer anderen Stadt oder gar einem anderen Land zujubeln könnte. Und wahrscheinlich ahnte er, dass die Erfolgserlebnisse, die einem fußballbegeisterten Nürnberger Kind Appetit auf mehr machten, bald noch dünner gesät sein würden. Schließlich hatten wir es mit einem Heimatverein zu tun, der seine besten Jahre schon mehrere Jahrzehnte hinter sich und, wie es aussah, eine eher düstere Zukunft vor sich hatte.
Also nutzte mein Vater für meine »Premiere« eine der vermutlich letzten Gelegenheiten auf einen halbwegs sicheren Heimsieg. Das Nürnberger Team befand sich 1983 kurz vor dem Ende der Hinrunde mit neun Punkten auf dem 16. Tabellenplatz und hatte gerade beim HSV eine 0:4-Klatsche kassiert. Weil aber der Gegner an diesem Spieltag, der 1. FC Kaiserslautern, auch nicht viel besser dastand und bislang auswärts nur in Köln etwas reißen konnte, musste es heute einfach klappen – dachte zumindest mein Vater. Also hatte er am Frühstückstisch entschieden, dass ich ihn an diesem Nachmittag begleiten sollte. Ganz egal, wie beschissen das Wetter auch sein würde.
Meine Mutter meldete zwar die üblichen mütterlichen Bedenken wegen der fatalen Witterungsbedingungen und der damit verbundenen Erkältungsgefahr an, aber das spielte keine Rolle. Ich wollte ja auch endlich mal mit ins Stadion, und mein Vater hatte sicherlich seit meiner Geburt von diesem Augenblick geträumt: Mit dem einzigen Sohn zu einem echten Fußballspiel zu gehen – das war für echte Fans etwas viel Bedeutenderes als ein Haus zu bauen oder einen Baum zu pflanzen. Das war die Weitergabe einer heiligen Familientradition und in etwa so, als überreiche man ein unbezahlbar wertvolles Erbstück feierlich an die nächste Generation. Und meine goldene Taschenuhr, die schon mein Urgroßvater am Revers trug und später mein Opa und die zwei Weltkriege überstand, war nun mal dieser 1. FC Nürnberg. Den gab es immerhin auch schon seit dem Jahr 1900. Zwar kannte ich mich ein bisschen aus mit Fußball, weil ich vor der WM immer mit meinem Vater gemeinsam die Sportschau angeschaut und dabei mitbekommen hatte, wie sehr er sich dabei freute (was selten vorkam) oder ärgerte (was fast immer der Fall war). Daher waren mir auch die grundlegenden Gepflogenheiten bekannt: Ich wusste selbstverständlich, dass ein Spiel 90 Minuten dauerte und eine Mannschaft elf Spieler umfasste. Mir sagte der Begriff »Libero« etwas. Mir war ebenfalls klar, was eine Gelbe und was eine Rote Karte bedeuteten, und ich war einer der wenigen auf dem Schulhof, die penibel auf die Einhaltung der Abseitsregel achteten – was gar nicht so leicht war, wenn zwei Teams auf nur ein Tor spielten. Ich hatte allerdings keine Ahnung, was mich vor Ort, beim »Club« erwartete. In einem war ich mir sicher: Fußball im Fernsehen oder auf dem Pausenhof – das konnte unmöglich spannender sein, als ein Spiel live in einem Stadion zu sehen.
Schon auf dem Weg vom Parkplatz war ich aufgeregter als am ersten Schultag. Ich erkannte von Weitem die wegen des Nebels angeschalteten Flutlichtmasten, die das in meinen Augen riesige Bauwerk wie eine Art Raumschiff erscheinen ließen. Wir passierten etliche Imbissbuden, an denen es nach verbrannten Würsten und verschüttetem Bier roch und an denen gruppenweise Männer standen und lautstark diskutierten – und keine einzige Frau. Mit uns gemeinsam marschierten derweil eine Menge grimmiger Gestalten in Richtung der Lichtmasten. Alle rauchten, sie trugen zerschlissene Jeansjacken ohne Ärmel und mit unendlich vielen Aufnähern, und sie hatten ihre Schals nicht um den Hals geschlungen, sondern um beide Arme gebunden. Einigen hing eine Tröte um den Hals, wie man sie an den Lenkern von Fahrrädern oder Mofas befestigte, andere hatten rote Signalhupen dabei, die mit einer Gaskartusche betrieben wurden. Und bei manchen von ihnen erkannte ich, dass ihre Hände einen Schlagring umklammerten. Was ein Schlagring war, wusste ich, seitdem wir mit der Schule einen Besuch auf der Polizeiwache absolviert hatten und uns der für den pädagogischen Dienst eingeteilte Hauptwachtmeister die Asservatenkammer gezeigt hatte. Dieser Polizist hatte uns auch etwas von einem »Waffenverbot« erzählt. Daher wunderte ich mich, Schlagringe im Stadion zu sehen. Aber da außer mir das Ganze niemandem aufzufallen schien, vermutete ich, dass es schon seine Richtigkeit hatte.
An der Einlasskontrolle stand inmitten eines zerbeulten Gittertores ein kleiner älterer Mann im Regen. Er trug eine weiße Armbinde, auf der in ausgeblichenen Buchstaben »Ordner« geschrieben stand. Das Männchen war klatschnass und machte keinerlei Anstalten, irgendjemanden zu kontrollieren – weder uns noch die Gestalten mit den Schlagringen. Stattdessen warf es nur einen flüchtigen Blick auf die Kinderkarte, die mein Vater kurz zuvor an einem der Kassenhäuschen erstanden hatte und auf das Ticket meines Vaters, das er wie üblich im Vorverkauf gekauft hatte – was vollkommen unnötig war, denn ausverkauft waren die Spiele wirklich nie. Der Ordner, der gerade rein gar nichts zu ordnen hatte, machte, ohne seine Hände aus der Hosentasche zu nehmen, eine missmutige Kopfbewegung, dass wir schnell weitergehen sollten. Auf dem Gittertor direkt neben ihm hing ein, wie ich fand, lustiges Schild.
»Offensichtlich alkoholisierte Besucher sind zwingend abzuweisen«, stand darauf. Aber auch daran hielt sich der Ordner nicht, denn kurz vor uns passierte ein etwa 16- oder 17-jähriger Junge den Eingang, der so besoffen war, dass er kaum geradeaus laufen konnte. Im Innenbereich schwankte er dann in Richtung des Bierstandes, den auch mein Vater zielstrebig ansteuerte. Dieser Stand setzte sich aus zwei hintereinander aufgestellten Biertischgarnituren zusammen, auf denen sich Unmengen von Plastikbechern verschiedenen Inhalts befanden. Die beiden Stoffschirme mit dem Aufdruck einer Nürnberger Brauerei konnten den Regen nur notdürftig zurückhalten, und am Ende des zweiten Biertisches saß ein weiterer kleiner älterer Mann auf einem Hocker, eine aufgeklappte Geldkassette vor sich, in die es genauso hineintropfte wie in die Becher.
»Ein Bier und eine Fanta, aber bitte unverdünnt«, sagte mein Vater.
»Vierfuffzig«, sagte der Mann hinter der Geldkassette, ohne über den Spruch meines Vaters zu lachen.
Mein Vater drückte mir die Fanta in die eine Hand, nahm meine andere und zog mich ein paar Meter weiter in Richtung unseres Blocks. Wir gingen eine steile Treppe nach oben, und als wir aus dem Aufgang herauskamen, direkt unter dem Werbeschild eines örtlichen Autohauses, erkannte ich, dass die Tribüne genau gegenüber die einzige im Stadion war, die ein Dach besaß. Über uns genauso wie über all den anderen Menschen im gesamten Rest des Bauwerks war lediglich der graue, wolkenverhangene Himmel zu sehen. Vereinzelt hatten die Leute Schirme dabei, aber die meisten standen im Regen und wurden nass – so wie der Mann am Einlass, so wie der Mann am Bierstand und so wie wie mein Vater und ich.
Aus Lautsprechern, die oberhalb jedes Blocks an dürren Holzstangen hingen, kamen blecherne Informationen, die ich nur zum Teil verstand. Es schien sich um organisatorische Hinweise zu handeln und natürlich um die beiden Mannschaftsaufstellungen, denn nach einer der Ansagen wurde von den meisten Leuten um uns herum freundlich applaudiert, nach einer anderen pfiffen alle lautstark auf ihren Fingern, auch mein Vater. Dann kamen die Spieler und der Schiedsrichter aufs Feld, und genau mit dem Anpfiff war meine Fanta leer, weil ich vor lauter Aufregung einen Schluck nach dem anderen getrunken hatte. Ich musste dringend aufs Klo, kaltes Wasser rann von meiner aufgequollenen Mütze hinunter in den Nacken und dann weiter Richtung Po. In der Umgebung roch es intensiv nach Zigaretten und klammer Kleidung. Der mittelalte Herr vor uns, der noch vor wenigen Augenblicken zwei Brötchen mit Lachsersatz und Zwiebeln in den Händen gehalten und in aberwitzigem Tempo verschlungen hatte, stieß kurz, aber deutlich hörbar auf. Und mein Herz klopfte vor Vorfreude bis zum Hals.
Ich ging voll in dem Moment auf: Das hier also war das erste Fußballspiel, das ich aus unmittelbarer Nähe verfolgte, gemeinsam mit meinem Vater. Schon in diesem Moment wusste ich, dass ich gerade etwas erlebte, das ich nie wieder vergessen würde. Und tatsächlich reihe ich diesen ersten Stadionbesuch heute, als Erwachsener, direkt neben prägenden Ereignissen wie dem ersten Schultag, der heiligen Kommunion und dem ersten Kuss ein.
Dass das Spiel für den 1. FC Nürnberg alles andere als gut lief, hatte mich offenbar nicht abgeschreckt: Schon zur Pause stand es 0:2.
»Ich hol’ mir jetzt noch ein Bier, sonst hält man den Mist ja überhaupt nicht aus«, sagte mein Vater, als wir unseren Block zusammen mit ein paar Dutzend anderer missmutiger Fans verließen. »Magst du auch noch was trinken?«
»Ich nehm’ noch eine Fanta«, sagte ich. Doch bevor ich auch nur einen weiteren Tropfen Flüssigkeit zu mir nehmen konnte, musste ich erst mal zur Toilette.
Während sich mein Vater wieder zu dem beschirmten Biertisch begab, suchte ich einen Ort, an dem ich ungestört meine Fanta loswerden konnte. Aber: Ich fand keinen. Es gab einen baufälligen Unterstand mit der Aufschrift »Pissoir«, aber dort standen so viele rauchende Männer mit ärmellosen Jeansjacken an, dass ich mich nicht hineintraute. Ich wollte mich aber auch nicht zu weit vom Biertisch entfernen, denn irgendwie sah hinter den grauen Blöcken mit den steilen Treppen alles vollkommen identisch aus, und ich hatte Angst, meinen Vater zu verlieren. Also schob ich mich in ein neben dem Pissoir wucherndes Gebüsch. Ich zog meine Hose herunter und hörte beim Pinkeln, wie neben mir jemand heftig würgte. Vor lauter Ekel vermied ich es, näher hinzusehen. Als ich fertig war, bemerkte ich, dass mir der betrunkene 17-Jährige, den wir vorhin am Eingang gesehen hatten, direkt auf die Schuhe gekotzt hatte und nun, mit all seinen Schals und der vollgebrochenen Jacke, zusammengerollt auf dem nassen Boden lag. Dass man im Fußballstadion Menschen traf, die einem im Grundschulalltag eher nicht über den Weg liefen, war mir zu diesem Zeitpunkt längst klar. Toll und aufregend fand ich die Atmosphäre trotzdem.
Mein Vater war angesichts des Spielstands inzwischen ziemlich bedient. Als wir wieder unseren Stehplatz aus der ersten Halbzeit eingenommen hatten, wenn auch etwas weiter vom immer noch aufstoßenden Fischbrötchenmann entfernt, schimpfte er unaufhörlich in seinen Bierbecher hinein. Das 0:3 gut vier Minuten nach Wiederanpfiff kommentierte er noch mit einem entnervten Kopfschütteln, aber beim 0:4 exakt 60 Sekunden später, nachdem ein orientierungsloser Nürnberger bereits beim eigenen Anstoß den Ball an den Gegner verloren hatte, war er außer er sich. Er beschimpfte den Trainer – einen gewissen Herrn Kröner, der erst seit 41 Tagen im Amt war – als »Versager« und »Vollidiot«. Und er sagte auch noch weitaus schlimmere Wörter, die ich noch nie aus seinem Mund gehört hatte.
Die meisten anderen der – wie der Lautsprecher zwischenzeitlich verkündete – 10 500 Zuschauer, die sich im knapp sechs Mal so viele Menschen fassenden Städtischen Stadion verloren, schimpften nun ebenfalls und riefen Dinge, für die ich in der Schule mindestens zwei Wochen hätte nachsitzen müssen. Auf den Treppen setzte eine regelrechte Wanderungsbewegung ein, die Leute schoben sich Richtung Ausgang, sie schleuderten ihre Bierbecher auf den Boden, und einige warfen sogar ihre schönen Schals in den Dreck. Eine Stimmung, als hätte jeder der Männer um uns herum gerade erfahren, dass ihn seine Frau mit seinem allerbesten Freund betrog. Nur ich fand das Ganze immer noch spannend. Dass die Niederlage gegen einen direkten Mitkonkurrenten um den Abstieg richtungsweisend war, dass die Tabellensituation sich dadurch dramatisch verschlechterte, dass Herr Kröner noch am selben Abend entlassen wurde – all das konnte ich ja nicht wissen.
Mein Vater wollte jetzt ebenfalls gehen.
»Dieser elende Scheißverein«, fluchte er auf dem Weg zum Parkplatz. Warum bloß hatte er mich ausgerechnet an diesem ungeeignetsten aller ersten Tage ins Stadion mitgenommen? Wie sollte sich ein Junge, der gerade in die zweite Klasse ging, für Fußball im Allgemeinen und diesen Verein im Besonderen begeistern, nachdem er einen solchen Mist vorgesetzt bekommen hatte? Warum nur hatte er nicht auf meine Mutter gehört und das Spiel lieber daheim im geheizten Wohnzimmer bei einer Tasse Kakao verfolgt – vor dem Radio, das man einfach ausschalten konnte, wenn einen die Übertragung aus den Stadien der Fußball-Bundesliga zu sehr aufregte? Wahrscheinlich wären sogar die Mathehausaufgaben oder ein Besuch bei Großtante Lissy im Altenheim angenehmer für mich gewesen als dieser Dreck. Das alles sagte er leise in sich hinein, aber laut genug, dass ich es hören konnte. Und dann sagte er noch etwas: einen Satz, den ich nie wieder aus dem Kopf bekommen und noch ungefähr eintausend weitere Male hören und später dann weitaus öfter selber sagen würde:
»Das war das allerletzte Mal!« Danach liefen wir schweigend durch den Regen zu unserem Auto.
Natürlich war es das nicht, das allerletzte Mal, im Gegenteil. Es war der Anfang – wenn auch ein Anfang, wie er beschissener nicht hätte verlaufen können. Obwohl das Spiel, wie wir auf der Heimfahrt im Autoradio erfuhren, nur noch 3:4 aus Nürnberger Sicht endete, weil Kaiserslautern nach der überraschend hohen Führung ebenfalls sehr leichtfertig wurde. Aber diese Ergebniskosmetik half ja trotzdem nichts, und auch die weiteren Spiele in dieser Saison unter dem neuen Trainer Heinz Höher waren eine reine Qual. Nichtsdestotrotz gingen mein Vater und ich jedes Mal zusammen ins Stadion.
»Ich hab’ für den Quatsch bezahlt, also schaue ich ihn mir auch an«, sagte er, als wolle er sich für den Besuch bei mir rechtfertigen. Ich verstand nicht, warum er sich immerfort Karten kaufte, wenn er doch meistens nach dem Spiel über das Gesehene schimpfte. Niemand zwang ihn, zum Fußball zu gehen, im Gegenteil – meine Mutter zum Beispiel riet ihm regelmäßig mit dem Hinweis auf seine angeschlagene Gesundheit davon ab, aber er hörte nicht auf sie. Es sollte Jahre dauern, bis ich sein seltsames Verhalten nachvollziehen konnte. Mein Vater hatte noch die guten Zeiten erlebt, die Sechzigerjahre mit zwei Meisterschaften und einem 7:3-Erfolg gegen Bayern München, als Sepp Maier kreidebleich und mit Tränen in den Augen vom Platz marschierte. Aber es gab auch schon schlechtere Tage, ein Jahrzehnt Zweite Liga und jedes Mal aufs Neue eine Enttäuschung in der Aufstiegsrunde. Ein Fußballfan zu sein, das war offenbar eine Mischkalkulation.
»Das hier«, meinte er eines Tages zu mir, als wir wieder einmal ohne wirkliche Aussicht auf Erfolg zu einem Heimspiel liefen, »ist ein langfristiges Projekt. Keine Modeerscheinung wie der Zauberwürfel oder diese komischen Ghostbusters. Das musst du dir merken.«
Und das tat ich.