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Warum delivern Media-Agencys so gerne Ideas? Wie verkaufen uns die Fernsehmacher für dumm – und warum fällt selbst eine so altmodische Institution wie die Kirche plötzlich auf das Blabla wichtigtuerischer PR-Agenturen herein? Um all dies zu beantworten, taucht Andreas Hock noch tiefer in linguistische Abgründe hinab. Dabei ist das perfekte Buch für alle entstanden, die keine Lust mehr haben, bei Hotlines anzurufen, sich bei der Kaffeebestellung duzen zu lassen und sich mit Hate Speech aus dem Internet herumzuärgern! Rund die Hälfte aller weltweit gesprochenen Sprachen ist vom Verschwinden bedroht. Soweit ist es bei uns glücklicherweise noch nicht, dennoch sollten wir uns ein wenig mehr darum bemühen, die Sprache der Dichter und Denker zu schützen – schon allein so vong Prinzip her.
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Seitenzahl: 201
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de/ abrufbar.
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Wichtiger Hinweis
Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.
Originalausgabe
3. Auflage 2024
© 2017 by riva Verlag,
ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
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Redaktion: Antje Steinhäuser
Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch
Umschlagabbildung: Grafissimo/iStockphoto.com, sl_photo/Shutterstock.com
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN Print 978-3-7423-0251-9
ISBN E-Book (PDF) 978-3-95971-708-3
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95971-709-0
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Vorwort
Weil ein Schweizer eine folgenschwere Idee hatte
Weil uns nach Halloween auch noch der »Black Friday« heimsuchte
Weil man uns bei der Kaffeebestellung plötzlich duzte
Weil die Kirche »Luther Activities« entdeckte
Weil wir nicht so viel Mut besaßen wie die Franzosen
Weil VW seine Wurzeln verleugnete
Weil die Happy Hour nicht jeden glücklich machte
Weil wir keinen Negerkuss mehr essen durften
Weil ein Fernsehsender meinte, uns entertainen zu müssen
Weil viele Zeitungen am falschen Ende sparten
Weil Wellness die gute, alte Kur ersetzte
Weil es selbst in Bayern keine Feuerwehrmänner mehr gab
Weil die Kosmetikindustrie nur noch ein Bodyfeeling kannte
Weil das Internet eine ganz hässliche Sprache kreierte
Weil die Maus nicht im Pfeffer begraben lag
Weil selbst eine Party noch lange kein Event darstellte
Weil wir unsere Dialekte nicht schützten
Weil Hipster ihre Haare lieber im Barbershop schneiden ließen
Weil wir die Briefe nicht aufhoben, die wir bekamen
Weil sogar Capri-Sonne umbenannt wurde
Weil Sportreporter auf einmal Quatsch erzählten
Weil Media-Agencys so gerne Ideas deliverten
Weil manches Wort vom Grundsatz her keinen Sinn ergab
Weil der Eismann doch keinen Respekt verdiente
Weil ein gelbes Gesicht keine Kommunikation ersetzen konnte
Quellen
Vielleicht kennen Sie das Gefühl: Radiohören kann – ganz unabhängig von etwaigen sprachlichen Unzulänglichkeiten – bisweilen ein großes Ärgernis darstellen. Steht man beispielsweise in einem zwanzig Kilometer langen Autobahnstau aufgrund einer Totalsperre nach einem Lastwagenunfall und muss Lieder wie »Drive« von den Cars, »Life is a Highway« von Tom Cochrane oder »On the Road again« von Willie Nelson über sich ergehen lassen, dann braucht man schon eine ganze Menge Selbstbeherrschung, um nicht unmittelbare Gewalt gegen das Empfangsgerät anzuwenden. Dasselbe gilt für Situationen, in denen nahezu pathologisch gut gelaunte Moderatoren, die heutzutage selten eine Morgensendung, dafür aber umso häufiger eine »Morning-Show« moderieren, von Agenturen zugelieferte Witze erzählen, während man im morgendlichen Pendelwahnsinn bei Schneeregen hinter einem Streugutfahrzeug hertuckern muss.
Nun sind die Sender, beziehungsweise deren Entscheidungsträger, natürlich nicht für einen möglicherweise unpassenden Moment verantwortlich. Doch auch die fortschreitende Digitalisierung des Rundfunks, die es sogar dem Besitzer eines fünfundzwanzig Jahre alten Fiat Uno mit einer Viertelmillion Kilometer auf dem Tacho zumindest theoretisch ermöglicht, in Berchtesgaden den »Offenen Kanal Lübeck« rauschunterdrückt und glockenklar zu empfangen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten der bundesweit über vierhundert zugelassenen Stationen denselben belanglosen Mist spielen.
Aber warum erzähle ich Ihnen das? Nun, auch ich saß an einem trüben Freitagnachmittag vor einigen Jahren in meinem Wagen und navigierte mich ebenso entnervt durch den Berufsverkehr wie durch die Speicherliste meines Autoradios. War ich etwa dem neuen Titel von Justin Bieber gerade noch durch einen beherzten Druck auf die Programmwechseltaste entkommen, landete ich stattdessen wahlweise bei Miley Cyrus, Taylor Swift oder erneut bei Justin Bieber, wenn auch der junge Mann nun ein anderes Stück als soeben bei der Konkurrenz zum Besten gab. Nach weiteren verzweifelten Versuchen, dem gerade so angesagten wie austauschbaren, vorwiegend englischsprachigen Popmusik-Einerlei zu entkommen, erwischte ich durch Zufall einen Sender, in dem etwas Außergewöhnliches vor sich ging: Es wurde, ich konnte es kaum glauben, ernsthaft und ausdauernd geredet!
Mitten auf der hoffnungslos überlasteten Stadtautobahn geriet ich in eine unüberhörbar emotional aufgeladene Debatte über unsere Sprache. Gespannt wartete ich, ob das Gespräch zwischen einem Schriftsteller, einem Historiker und einem Germanistikprofessor durch das übliche, belanglose Hitparaden-Gedudel unterbrochen wurde, aber das war erstaunlicherweise nicht der Fall. Und so durfte ich eine geschlagene Stunde lang einem recht interessanten Diskurs darüber lauschen, ob unser gegenwärtiges Deutsch nun dem Untergang geweiht war oder noch Hoffnung bestand. Am Ende der Sendung herrschte weitgehend Einigkeit über Ersteres, und der Moderator verabschiedete sich mit dem Schlusssatz, dass dies eine Sondersendung anlässlich des morgigen »Tages der deutschen Sprache« gewesen sei. Ein Tag, von dem ich noch nie in meinem gesamten Leben gehört hatte.
Mit all den Aktions- und Gedenktagen war dies ja ohnehin so eine Sache: Ich wusste zwar aufgrund der Vorliebe meiner Frau, dass es immer im August einen »Weltkatzentag« gab. Ab und an las ich auf den letzten Seiten meiner Tageszeitung von einem »Tag des Wasserspülklosetts«, einem »Internationalen Tag der Handtasche« oder dem »Glühbirnenaustausch-Tag«. Es gab schlimme Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder AIDS mit eigenen Gedenktagen und nach Ländern unterteilte Vorlieben, die an bestimmten Tagen zelebriert wurden – wie den schwedischen »Tag der Zimtschnecke«, den »Tag des Eierkuchens« in Frankreich oder den »Dan Kravate«, den kroatischen »Krawattentag«. Von einem »Tag der deutschen Sprache« aber, der immerhin seit 2001 an jedem zweiten Samstag im September begangen wurde, wusste und las ich noch nie etwas. Und weil ich davon ausging, dass ich mit dieser Wissenslücke nicht alleine war, wurde ich traurig. Ich fand, dass es sich hierbei im Gegensatz zum »Welttag der Schwertschlucker« (am jeweils letzten Samstag im Februar) um einen sehr sinnvollen Aktionstag handelte. Und diese Sinnhaftigkeit musste umso mehr betont werden, wenn man sich einfach nur mal in seiner näheren Umgebung umschaute und umhörte.
Nachdem die Sendung vorüber war, fielen mir plötzlich all die sprachlichen Anspruchslosigkeiten und entsetzlichen Wortgebilde auf, die alleine entlang meines restlichen Heimwegs auf mich und andere anspruchslos gewordene Endverbraucher lauerten und denen ich vorher längst keine Beachtung mehr geschenkt hatte. Ich las auf großflächigen Plakaten von einem »Maximum Taste«, den man offenkundig erlebte, wenn man nur Pepsi-Cola trank. Ich musste mir Renaults »Créateur d’Automobiles« im Geiste übersetzen, um zu begreifen, dass da ein Automobilbauer allen Ernstes mit dem Wort »Automobilbauer« für sich warb. Und ich wunderte mich, warum die deutsche Lufthansa mitten in Deutschland damit prahlte, dass es »No better Way to Fly« gäbe, obwohl man mit ihr doch einfach »auf eine bessere Weise fliegen« hätte können. Mein Blick fiel auf Schilder von »Back Shops«, »Handy Stores«, »Designer Outlets«, »Hair Companys« oder »City Pubs«. Schlussendlich fuhr neben mir noch ein Lieferwagen mit örtlichem Kennzeichen, auf dessen Heckklappe der Spruch »From Store to Door« gedruckt war und der dann an der Ausfahrt zum »International Convention Center« unserer Stadt rechts abbog.
Zu Hause musste ich nachforschen, was es mit diesem »Tag der deutschen Sprache« auf sich hatte. Ich stieß auf gleich mehrere Initiatoren, die es sich zum Ziel machten, das Bewusstsein für unsere Muttersprache wieder zu stärken. Es ging ihnen darum, dass man nicht jeden sprachlichen Unsinn unkritisch übernehmen sollte, dass man zumindest die grundlegendsten Schreibregeln nicht vergaß und dass man wieder etwas mehr Augenmerk auf eine gepflegte Ausdrucksweise legen möge. Dabei stellte ich fest, dass ich mich rein sprachlich gesehen keinen Deut besser verhielt als die meisten anderen meiner Mitmenschen: Ich sah meine E-Mails durch und bemerkte einen erschreckenden Verzicht auf die Unterscheidung von Groß- und Kleinschreibung. Auch verwendete ich gedankenlos dutzendfach englische Begriffe in meinem Wortschatz und holte mir gelegentlich, ohne mich über die Bezeichnung zu ärgern oder auch nur darüber nachzudenken, ein Mietfahrrad bei »Rent a Bike«, wenn ich keine Lust hatte, mit der »Tram« zu fahren, wie unsere Straßenbahn auf den offiziellen Hinweisschildern genannt wurde, was mir gar nicht aufgefallen war. So konnte es nicht weitergehen.
Am folgenden Tag, dem eigentlichen Aktionstag, bemühte ich mich nach Kräften, meine Sprache zumindest diesem feierlichen Anlass entsprechend von Anglizismen und ähnlichem Lingualmüll zu befreien, was mir natürlich nur unzureichend gelang. Das stellte ich schon beim ungefähr dritten oder vierten »Okay, cool« meinerseits fest, und erst danach zwang ich mich, schlicht »Jawohl« zu sagen, wenn ich meinem Gesprächspartner zustimmen wollte. Auch boykottierte ich leider für die dringend benötigte Autowäsche weder den örtlichen Anbieter »Mr. Wash«, noch verzichtete ich anschließend auf den »Refill« meines »Coffee to go«, weil ich so müde war. Und auch die »Customer-Hotline« meines »Handy-Providers« rief ich am Nachmittag notgedrungen an, weil mein Mobiltelefon wieder einmal abspackte, wie man heutzutage zu sagen pflegte, wenn ein technischer Defekt vorlag. Immerhin verweigerte ich am Abend den »Blockbuster« auf Pro7, aber nur, weil wir bei Freunden zum Essen eingeladen waren.
Alles in allem schien es kein Wunder, dass der »Tag der deutschen Sprache« versandete. Unabhängig von der Allgegenwart der sprachlichen Beliebigkeit um uns herum gab es in meiner Heimatstadt keine Veranstaltung, keinen Zeitungsartikel und keine sonstigen Aktionen, die ein paar mehr Menschen Sinn und Zweck dieses eigentlich dringend notwendigen Tages hätten vermitteln können. Stattdessen las ich in der Lokalpresse einen ausführlichen Bericht über den Welt-Mettbrötchen-Tag, samt eines dazugehörigen Ratgebers, wie man Mett am besten im Kühlschrank aufbewahren sollte.
Also beschloss ich, ein Buch über das Thema zu schreiben – über die Sprache, nicht über die Mettwurst, versteht sich. Immerhin war ich Journalist und als solcher doch beruflich gewissermaßen mit meiner Muttersprache verwachsen. Und so entstand Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann?, dessen Fortsetzung Sie nun in den Händen halten. Ich schreibe das deshalb an dieser Stelle, weil mich der, nun ja, durchaus erfreuliche Erfolg des Büchleins einerseits dahingehend beruhigt hat, dass es doch noch einige andere Sprachinteressierte zu geben schien, die nicht alle Entgleisungen klaglos hinnehmen wollten. Andererseits hat sich, das muss man leider sagen, der Zustand unserer Sprache seitdem nicht wirklich verbessert. Und so erscheint die Zeit reif für dieses zweite Buch, in dem ich nicht versäumen möchte, darauf hinzuweisen, dass die nächsten »Tage der deutschen Sprache« am 8. September 2018, dem 14. September 2019 sowie dem 12. September 2020 stattfinden. Vielleicht tragen Sie sich diese Termine ja mal vorsorglich in den Kalender ein.
Sie müssen übrigens nicht den ersten Teil gelesen haben, um die folgenden Seiten zu verstehen. Die hier geschilderten sprachlichen Missgriffe stehen allesamt für sich, und wenn Sie nach der Lektüre immer noch keine Magen-, Kopf- oder Ohrenschmerzen haben von all den gedankenlos verwendeten Anglizismen und anderen linguistischen Irrungen unserer seltsamen Zeit, dann dürfen Sie sich gerne den Vorgängerband ebenfalls zulegen. Ich würde mich darüber freuen! Und es wäre schön, wenn sich noch ein paar Menschen mehr für die Pflege unserer deutschen Sprache begeistern würden; der Sprache, die einmal die der Dichter und Denker war. Gedichtet wird zwar noch immer, mit dem Denken jedoch sieht es oft nicht mehr ganz so rosig aus.
Nicht, dass man sich des Deutschen eines Tages am 21. Februar entsinnen muss, dem sogenannten »Welttag der Muttersprache«. Der wird seit einigen Jahrzehnten von der UNESCO organisiert, die anlässlich dieses Datums immer wieder besorgt darauf hinweist, dass gegenwärtig rund die Hälfte aller weltweit gesprochenen Sprachen vom Verschwinden bedroht ist. Soweit ist es bei uns glücklicherweise noch nicht. Aber wenn dem einst so sein sollte, dann tröstet uns vermutlich auch keine Zimtschnecke, kein Eierkuchen und schon gar kein Mettbrötchen mehr.
Nürnberg, im Sommer 2017
Die erste Deutschlehrerin meines Lebens hieß Frau Baumgart. Sie trug nicht nur einen stets korrekt gebügelten, dunkelgrauen Faltenrock und die Verantwortung dafür, dass ich und die anderen neunundzwanzig Kinder meiner Klasse baldmöglichst eine weitgehend fehlerfreie Rechtschreibung erlernten. Sondern sie war auch zuständig für Heimat- und Sachkunde, Rechnen, Kunsterziehung, Religion und Musik. Lediglich in Sport unterrichtete uns Frau Schmidt-Rudloff, weil Frau Baumgart schon etwas älter war und einige Probleme mit der Hüfte hatte. Angesichts dieser im wahrsten Wortsinne Mehrfachbelastung unserer Universalerzieherin grenzte es an ein Wunder, dass wir alle zum Ende der zweiten Klasse mehr oder weniger fehlerfrei dazu in der Lage waren, einen richtigen Brief an unsere Eltern zu verfassen, wie es uns Frau Baumgart als Abschlussaufgabe auftrug. Ich hatte zwar keinen rechten Spaß am Briefeschreiben, aber bis auf ein oder zwei kleine Unzulänglichkeiten war das Ding tadellos. Das zumindest stand in roter Tinte darunter, was mich und meine Eltern sehr stolz machte und mir als Belohnung ein »Lustiges Taschenbuch« einbrachte.
In diesem Brief hatte ich Papa so geschrieben, wie es gehörte: mit einem harten »P« wie Paula am Anfang und natürlich in der Mitte, obwohl in meiner Heimat Franken überhaupt keine harten Konsonanten zu existieren schienen. Auch die anderen Wörter hatten so ihre Tücken, sie hörten sich teilweise ebenfalls etwas anders an als sie auf dem Papier aussahen: Dieses dämliche Dehnungs-H zum Beispiel ließ sich beim besten Willen nicht wahrnehmen, und auch der ordnungsgemäße Gebrauch des scharfen S war mir ein einziges Rätsel. Aber darüber dachten wir Kinder nicht weiter nach, denn das waren nun mal die Regeln, die es einzuhalten galt – warum auch immer. Wir und auch unsere Klassenlehrerin konnten nicht ahnen, dass wir eine der letzten Generationen waren, die noch richtig schreiben lernten.
Ein paar Hundert Kilometer südwestlich meiner Heimatstadt braute sich beinahe gleichzeitig zu meiner Grundschulzeit gehöriges Unheil zusammen. Schon einmal, vor rund hundert Jahren, hatte es einen verschrobenen Orthografie-Aktivisten gegeben, der sich die Vereinfachung der Rechtschreibung zu einer seiner Lebensaufgaben gemacht hatte. Carl Gustav Adolf Nagel hieß der seltsame Mann, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Wanderprediger auftrat, sich streng vegetarisch ernährte, eine eigene Partei gründete und seinen Namen in »gustaf« änderte, weil er Großbuchstaben am Anfang eines Wortes ebenso unnötig fand wie das V an sich. Er wurde zwischenzeitlich vom Amtsgericht entmündigt, heiratete drei Mal, und trat, zum Höhepunkt seines fragwürdigen Schaffens, mit seiner »kristlichen folkspartei« bei der Reichstagswahl 1924 an, bei der er auf 0,01 Prozent der Stimmen kam, was nicht einmal in der Weimarer Republik für ein Mandat reichte. Danach wurde es ruhig um gustaf nagel, die Nazis ließen ihn erst verhaften und später wieder frei, und 1952 starb er vereinsamt in der Nervenheilanstalt Uchtspringe.
Man sollte also meinen, dass das wissenschaftliche Erbe dieses Sonderlings in Vergessenheit geriet, aber dem war nicht so – im Gegenteil. Der Schweizer Pädagoge Jürgen Reichen machte sich zwei Jahrzehnte nach dem Tod Nagels eine von dessen Grundideen zu eigen, die vorsah, den Unterricht in den Schulen konsequent zu deregulieren. Es war die Zeit, in der die Philosophie einer antiautoritären Erziehung die Gesellschaften Europas erreichte: Wer seine Kinder zu sehr forderte, wer gar starre Richtlinien aufstellte und auch noch auf deren Einhaltung pochte, der galt plötzlich als reaktionär und behinderte praktisch sämtliche Entwicklungsmöglichkeiten und jegliches Kreativitätspotenzial junger Menschen. Etwas plump übersetzt bedeutete das, dass nun jedes Kind machen konnte, was es wollte.
Dieses Prinzip wollte Reichen auch auf die Deutschstunde übertragen. Er entwickelte zunächst das Konzept »Lesen durch Schreiben«, wonach die Schüler lernten, die Laute der Wörter herauszuhören und sie anhand einer eigens entwickelten Tabelle den einzelnen Buchstaben zuzuordnen. Eine Ente stand darin für das E, die Maus für ein M, und eine Ameise symbolisierte das A. So ging das weiter. Die für ein Kind oft furchtbar komplizierte Welt der Wörter war nun ein drolliger Tierpark mit einer Sonne darüber, denn diese kennzeichnete das S. Die Schüler sollten die Zeichen abmalen, zu einer Klangkette verbinden und sich auf diese Weise ganz nebenbei die Beziehung zwischen Laut und Bild erschließen. Der Gedanke war fast zu schön, um wahr zu sein, aber er war ernst gemeint. Und Jürgen Reichen war ein redegewandter Mann, der von seiner Methode voll und ganz überzeugt war und überall dafür warb, wo man ihn ließ. In den Klassen, die er in Basel unterrichtete, wechselten sich nun Fernsehteams aus Deutschland, Österreich und der Schweiz ab. In den Beiträgen nannte Reichen Diktate »totes Wissen« und unterstellte seinen weniger fortschrittlichen Kollegen eine »Zwangsneurose«.
Nach ein paar Modifikationen hatte er es gut zwei Jahrzehnte später tatsächlich geschafft, nahezu alle Zweifler umzustimmen. Selbst das gestrenge bayerische Kultusministerium, das sich als Lordsiegelbewahrer eines didaktischen Deutschunterrichts verstand, gab Reichens Ideen nach. Aus »Lesen durch Schreiben« war »Schreiben nach Gehör« geworden und wurde nach und nach ab den späten Neunzigerjahren an den meisten deutschsprachigen Grundschulen eingeführt. Die Kinder durften sich schriftlich nun von der Einschulung an zwei, manchmal drei Jahre lang so mitteilen, wie es ihnen gerade in den Sinn kam – oder wie es nach der Ameisen-, Sonnen- und Ententabelle am logischsten erschien. Und je nachdem, wo man eben aufwuchs, wurde der Vater zum »Fata«, zum »Fatta« oder zum »Fadder«, und die Mudda tat es ihm gleich, während die katse drausn im gardn schbilte.
Es wurde zwar eine Liste von »Lernwörtern« eingeführt, die die Kleinen sicher beherrschen mussten, aber darauf standen gerade einmal zwanzig oder dreißig Begriffe pro Jahr, das war ein schlechter Witz. Dafür gab es Deutschlehrer, die keine Diktate und keine anderen Schulaufgaben mehr schreiben ließen, weil sie sowieso nicht mehr wussten, wie sie den wirren Buchstabenwust bewerten sollten. Einige Pädagogen widersetzten sich und wurden von der Schulleitung abgemahnt, andere fügten sich und verzweifelten an ihrem Beruf. Sie durften nicht einmal die oft entsetzten Eltern ermahnen, ihre Kinder zu korrigieren, wenn diese mit Blättern voller Phantasiewörter nach Hause kamen, die alles waren, nur kein richtiges Deutsch. Jürgen Reichen hatte es mit seinem hübschen, jedoch leider kaum praxistauglichen Einfall wirklich geschafft. Er starb 2009 schwerkrank, aber vermutlich trotzdem zufrieden.
Eine Untersuchung des Kultusministeriums in Mecklenburg-Vorpommern aus dem Jahr 2015 ergab, dass 37 Prozent der Grundschüler dort den Mindeststandard der deutschen Rechtschreibung verfehlten und nur rund ein Drittel aller Kinder halbwegs passabel schreiben konnte. In anderen Ländern sahen die Ergebnisse nicht besser aus, im Gegenteil. Aktuelle Schätzungen von Experten gehen davon aus, dass heute knapp die Hälfte aller Viertklässler eine eklatante Rechtschreibschwäche hat, von der man noch gar nicht weiß, wie sie sich später einmal auswirken wird. Tausende Lehrkräfte und Eltern in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen sammelten derweil Unterschriften gegen Reichens Ideen. Und eine Studie des Siegener Germanistik-Professors Wolfgang Steinig aus dem Jahr 2012 ergab, dass Schülern im Jahr 1972 durchschnittlich sieben Fehler pro hundert Wörter unterliefen und vierzig Jahre später bereits siebzehn. Das konnte kein Zufall sein.
Es besteht der begründete Verdacht, dass womöglich eine Generation von Analphabeten heranwächst, denen man die haarsträubenden Fehler erst wieder mühsam abgewöhnen muss, wenn man sie eines Tages in die Realität oder zumindest ins Berufsleben entlassen möchte. Schon jetzt kommen zahllose Studenten mit katastrophalen schriftlichen Deutschkenntnissen an die Unis und lassen Professoren an ihren Bewertungskriterien verzweifeln – rund 50 Prozent der gegenwärtigen Erstsemester haben Erhebungen zufolge eine allenfalls lückenhafte Orthografie. Dabei darf es als gesichert gelten, dass mancher pingelige Personalchef auch in einigen Jahren noch einen gewissen Wert darauf legt, dass sich der Bewerber nicht für eine Stelle als »elegdrigger« bewirbt, sondern als Elektriker. Besonders benachteiligt sind ausländische Kinder, die sich ohnehin erst einmal in der neuen Sprache zurechtfinden müssen und die sie dann auch noch derart fehlerhaft zu schreiben lernen. Wie das manchmal eben so ist mit der schönen Theorie: Reichens Methode klang aus seinem Mund und auf dem Papier deutlich besser, als sie in den Schulen funktionierte. Mehr noch: Sie ist, das lässt sich behaupten nach all dem, was man heute weiß, grandios gescheitert.
Meine allseits geschätzte Frau Baumgart dagegen hat von Herrn Reichen und seinen komischen Einfällen nichts mehr mitbekommen – und sie hätte vermutlich auch nicht viel davon gehalten. Sie wusste, dass das Lernen nicht immer ein Spiel sein und dass Schule und Unterricht ihren Schützlingen leider auch nicht immer nur Spaß bereiten konnte, obwohl sie sich wirklich alle Mühe gab. Sie pflegte einen ganz anderen, wahrscheinlich völlig unpädagogischen und wissenschaftlich ganz sicher nicht gesicherten Lehransatz, uns beizubringen, wie wir die Wörter möglichst richtig zu Papier brachten: Wer in ihren Deutschaufgaben zu viele Fehler machte, mehr als sie selbst beim besten Willen tolerieren konnte, der bekam trotzdem eine Belohnung: ein winzigkleines Bonbon. Der schmeckte gut, aber er hatte sich nach nicht einmal einer Minute im Mund aufgelöst. Wer aber fehlerfrei blieb, der erhielt einen großen Lutscher, der beinahe die ganze Deutschstunde lang nach Kirsche, Orange oder Apfel schmeckte. Das mochte zwar aus rein zahnmedizinischer Sicht fragwürdig erscheinen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass wir am Ende der zweiten Klasse nicht zuletzt wegen dieser Lutscher allesamt schreiben konnten.
Schon in den letzten Jahren bemerkte ich immer gegen Mitte November, dass im hiesigen Einzelhandel etwas Seltsames vor sich ging. Der Winterschlussverkauf, der aus unerfindlichen Gründen längst nicht mehr so genannt wurde, sondern der wahlweise und vermutlich dem jeweiligen Lagerbestand nach dem »Final-Fall-Sale«, (also dem abschließenden Herbstverkauf) dem »Pre-X-MAS-Sale« (dem vorgezogenen Weihnachtsverkauf) oder eben bloß dem »Winter-Sale« weichen musste, bekam einen inoffiziellen Vorläufer verpasst. Jedenfalls häuften sich in den Wochen rund um den kalendarischen Winteranfang die sprachlichen Entgleisungen an den gerade zu dieser Zeit an sprachlichen Entgleisungen ohnehin nicht armen Schaufensterfronten in unseren Innenstädten.
»Coming Soon: Black Friday« stand da plötzlich großflächig zu lesen oder »Get ready for our special Black Friday« oder schlicht »Black Friday Sale«, und zwar wochentags- und wetterunabhängig über mindestens eineinhalb Monate. Meine bescheidenen Englisch-, Wirtschafts- und Geschichtskenntnisse reichten zwar aus, um zu wissen, dass am 25. Oktober 1929 die New Yorker Börse zusammengebrochen war, mit fraglos verheerenden Folgen nicht nur für die weltweite Ökonomie – sondern auch für Politik und Gesellschaft, denn eine der Konsequenzen dieses langfristig so ruinösen Tages war eben auch, dass in Europa nationalistische Parteien eine Argumentationsgrundlage für ihre Ideologie erhielten. Und das war das eigentliche Ereignis, das als »Black Friday« in die Weltgeschichte eingegangen ist.
Kurioserweise ist jener originale »Black Friday«, der auch in meinem Bewusstsein irgendwie fest verankert war, tatsächlich und nachweislich ein Donnerstag gewesen – und außerdem kannte, das wusste ich wiederum nicht, die Historie noch etliche andere »Black Fridays« in den vergangenen Jahrhunderten: den 6. Dezember 1745 etwa, an dem in London die so schockierende wie falsche Nachricht die Runde machte, französische Truppen stünden unmittelbar vor einer militärischen Invasion ins Königreich, weshalb die Menschen reihenweise in Panik die Banken stürmten. Oder den 14. Oktober 1881, an dem beim sogenannten »Unglück von Eyemouth« hundertneunundachtzig schottische Fischer aufgrund eines unvorhersehbaren Orkans ihr Leben ließen.
Dieser neuartige und höchst ominöse »Black Friday« jedoch, der sich nicht nur in meiner Heimatstadt als selbstklebender Schriftzug an Scheiben kleiner Herrenausstatter ebenso unübersehbar ankündigte wie auf markigen Schildern in den Auslagen großer Kaufhäuser und der als eigens entworfenes Logo sogar das Schaufenster eines beinahe zwei Jahrhunderte bestehenden Huthauses mitten in der Innenstadt zierte, hatte freilich nichts mit dem Kurssturz von 1929 zu tun und schon gar nichts mit dem schlimmsten Sturm aller Zeiten an Schottlands Ostküste. Vielmehr ist er das jüngste und sicherlich nicht letzte Beispiel dafür, dass unser Einzelhandel jeden noch so dümmlichen Werbequatsch aus den Vereinigten Staaten importiert und – was noch viel schlimmer ist – sich zu eigen macht.
Dort nämlich, in den USA, ist der »Black Friday« praktisch seit den Pioniertagen der Pilgerväter der Tag nach »Thanksgiving« – und weil dieser landesweite Feiertag stets auf den vierten Donnerstag im November fällt, gilt der darauffolgende Freitag eben nicht nur als Start in ein mit viel Tamtam begangenes Familienwochenende. Sondern auch und vor allem als Beginn der Weihnachtseinkaufsaison, an dem viele Menschen über viel Zeit verfügen, weil sie bei ihrem Arbeitgeber einen Brückentag eingereicht haben. Unabhängig davon, dass auch in Amerika die Bezeichnung »Black Friday« einen bloßen Reklamebegriff darstellt, kann man überdies mit Fug und Recht behaupten, dass ein solcher »Black Friday« in Europa, das an einem vollkommen anderen Tag des Jahres eine vollkommen andere Erntedanktradition begeht, absolut keinen Sinn ergibt.