Hatschi! - Andreas Hock - E-Book

Hatschi! E-Book

Andreas Hock

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Beschreibung

Mediziner schätzen: 20 bis 30 Millionen Menschen in Deutschland leiden an Allergien. Andreas Hock erklärt hintergründig, gut recherchiert und mit einer Prise Humor die alltäglichen Hürden, die Pollen und Co errichten können. "Wenn für andere Menschen der Frühling beginnt, beginnt für mich eine achtmonatige Leidenszeit: kaum eine Pflanze, kaum ein Baum, auf die mein Körper nicht überreagiert. Ein Bissen von einer Kiwi oder die Berührung einer Katze könnten mich umbringen. Und mein Hautarzt finanziert mit meinen ständigen Desensibilisierungen mindestens zwei Planstellen …" Andreas Hock beschreibt den Alltag eines Allergikers so komisch, so selbstironisch und so böse wie kein Heuschnupfenpatient vor ihm. Dabei schildert er den Wahnsinn einer Gesellschaft, die sich mit ihrer Hygienesucht zugrunde richtet - und so für Milliardenumsätze in der Pharmaindustrie sorgt.

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Seitenzahl: 280

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Andreas Hock

HATSCHi

Aus dem verschnupften Lebeneines tapferen Allergikers

PLASSEN

VERLAG

Copyright © 2015 by Andreas Hock

Copyright der deutschen Ausgabe 2015: © Börsenmedien AG, Kulmbach

Coverillustration: Timo WuerzCovergestaltung: Holger SchiffelholzGestaltung und Satz: Franziska IglerHerstellung: Daniela FreitagLektorat: Hildegard BrendelDruck: GGP Media GmbH, Pößneck

eISBN 978-3-86470-261-7

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks,der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbankenoder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 • 95305 KulmbachTel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444E-Mail: [email protected]/plassenverlag

Inhalt

Vorwort

Warum dieses Buch?

Kapitel 1:

Für eine Allergie ist es nie zu spät

Kapitel 2:

Sie sind der Meinung: Das ist Spritze!

Kapitel 3:

Reif für die Insel

Kapitel 4:

Ein unerwarteter Umzug

Kapitel 5:

Kuren mit Kamillengeschmack

Kapitel 6:

Herr Blüm, die Reform und der Rauch

Kapitel 7:

Mit mir ist nicht gut Kirschen essen

Kapitel 8:

Eigenblut tut selten gut

Kapitel 9:

Es ist nicht alles schlecht

Kapitel 10:

Schatz, ich muss mein Spray holen

Vorwort

Warum diesesBuch?

Es ist der erste milde Tag heuer. Im beinahe schon ungewohnt gewordenen Sonnenlicht zeigen die Bäume ihr zartes, neues Grün. Aus der Erde schieben sich vorsichtig Krokusse und Gänseblümchen. Die Betreiber der Straßencafés räumen eilig ihre Terrassenmöbel ins Freie. Die ganze Stadt scheint unterwegs zu sein, um nach dem kalten Grau der vergangenen Monate ein bisschen UV-Strahlung abzubekommen. Und ich sitze in meiner Wohnung und weiß: Jetzt geht die ganze Scheiße wieder los!

Ich bin Allergiker. Aber ich will kein Mitleid! Denn eine Allergie ist echt nichts Besonderes: Mein Schicksal teilen über 30 Millionen andere Menschen alleine in Deutschland. Das sind sieben Millionen mehr, als die katholische Kirche Mitglieder hat. Und immer noch fünf Millionen mehr, als es Rentner gibt. Nach den Erwerbstätigen stellen wir, zumindest statistisch gesehen, hierzulande die stärkste demografische Gruppe! Gemessen an den Ergebnissen der letzten Bundestagswahlen könnten wir also problemlos die Macht übernehmen, wenn sich alle Heuschnupfengeplagten, Stauballergiker und chronischen Asthmatiker in einer Partei zusammentäten. Dann könnten wir zum Beispiel endlich dafür sorgen, dass Birken flächendeckend gefällt und Grasflächen bebaut werden. Und wir könnten durchsetzen, die Haustierhaltung ebenso unter Strafe zu stellen wie das Inverkehrbringen von Beifuß und anderem Teufelszeug.

Trotz unserer quantitativen Wucht habe ich allerdings den Eindruck, dass uns keiner so richtig ernst nimmt. Gut, seit ein paar Jahren muss auf den Packungen von Lebensmitteln irgendwo unten draufstehen, wenn sie zum Beispiel „Spuren von Haselnüssen“ enthalten – wobei man sich unabhängig davon durchaus fragen kann, was „Spuren von Haselnüssen“ in einer Tomatencremesuppe oder eine Tube Senf verloren haben. Gleichwohl gibt es weit und breit keine allergikerfreundlichen Bäckereien oder Bahn-Abteile, und die entsprechenden zwei oder drei Zimmer, die in manchen Hotels für uns notgedrungen ausgewiesen werden, mögen vielleicht statt des üblichen Wollteppichs einen zerkratzten Parkettboden haben. Dafür liegen sie unter Garantie entweder direkt am Aufzugsschacht oder haben statt eines Meerblicks direkten Zugang zum Hinterhof.

Es ist absolut ungerecht, dass es inzwischen in jedem Dorfsupermarkt ein halbes Dutzend Regalmeter voll mit glutenfreien Lebensmitteln gibt, obwohl gerade einmal zwei bis vier Prozent der Bevölkerung Gluten nicht vertragen, was auch immer das überhaupt sein soll. Und bei uns um die Ecke hat neulich bereits das zweite rein vegane Restaurant aufgemacht, für das ein alt eingesessenes griechisches Lokal weichen musste, in dem man mehr als 40 Jahre lang für kleines Geld bergeweise saftig gegrilltes Schweinefleisch auf den Teller bekommen hat! Offenbar ist es eben weitaus schicker, keine Gluten essen zu können und sich tierischen Produkten zu verweigern als auf Kümmel, Muskatnuss oder Apfelsinen zu reagieren.

Dabei gibt es so viele Facetten unserer schönen, kleinen Krankheit! Laut einer aktuellen Erhebung der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft reagieren 43 Prozent der Allergiker auf Pollen, 20 Prozent auf Hausstaubmilben, 20 Prozent auf Nahrungsmittel, 18 Prozent auf Tierhaare, 15 Prozent auf Metalle, Duftstoffe und Chemikalien, 14 Prozent auf Medikamente, neun Prozent auf Bienen- oder Wespenstiche sowie fünf Prozent auf UV-Licht. Wenn die Mathematiker unter Ihnen jetzt einwenden, dass diese Zahlen doch weit über 100 Prozent ergeben, dann haben sie recht: Die meisten Allergie-Patienten geben sich nämlich nicht mit nur einer läppischen Unverträglichkeit zufrieden! Über Birken, Gräser, Pferde und Nüsse hinaus wehrt sich beispielsweise mein persönliches Immunsystem seit vielen Jahren auch tapfer gegen Blumen aller Art, die meisten Sorten Obst, Penicillin sowie einige andere Errungenschaften der Pharmaforschung. Dazu kommen erfrischend unvermittelt auftretende Unverträglichkeiten gegen mir bis dato unbekannte Zusatzstoffe in Lebensmitteln oder eine Menge Gewürze, welche die Funktion meiner Bronchien von einer Sekunde auf die andere ziemlich aus dem Takt bringen können. Wahrscheinlich vertrage ich auch viele andere Dinge nicht, von denen ich noch gar nichts weiß.

Irgendwann werde ich diese glücklicherweise aber noch herausfinden: Denn wenn ich etwas berühre oder einatme und meine Augen innerhalb weniger Sekunden monsunartig zu tränen beginnen, mein Gesicht auf die Größe eine Wassermelone anschwillt und meine Atemwege rasseln wie eine hyperaktive Klapperschlangenfamilie bei der gemeinsamen Beutesuche, dann darf ich mir sicher sein: Auch von diesem Zeug solltest Du künftig lieber die Finger lassen! Neulich erst hat mich der Genuss einer handelsüblichen Flugmango fast umgebracht. Und das, obwohl ich die letzten zwanzig Jahre problemlos Mangos in jedweder Verarbeitungsform essen konnte. Schade – wieder ein Lebensmittel weniger. Langsam wird’s echt eng.

Ja, es ist echt nervig, weite Teile der warmen Jahreszeit in einem pollensicheren Raum zu verbringen, Vitamine und Ballaststoffe allenfalls in Tablettenform zu sich nehmen zu können, Urlaube nach dem Frühblüherkalender zu planen oder hübschen Frauen mit einer Vorliebe für Hauskatzen niemals zu nahe kommen zu dürfen. Andererseits muss ich fairerweise auch sagen, dass meine zahlreichen Labilitäten immer noch besser sind als wirklich schlimme Krankheiten wie Krebs, Multiple Sklerose, Parkinson oder etwas Ähnliches. Was würde etwa ein Mukopolysaccharidose-Patient wohl für eine kleine Hausstaubmilben-Allergie geben! Also trage ich mein persönliches Päckchen mit Fassung – und versuche einfach, darüber zu lachen.

Zumal ich es selbst im Vergleich zu manchem Leidensgenossen eigentlich noch gut erwischt habe: Es gibt mittlerweile Hyperempfindlichkeiten gegen ein paar Tausend verschiedene Umweltstoffe. Blöd gelaufen ist es für die Betroffenen etwa, wenn die Haut gegen den geringsten Sonnenstrahl rebelliert oder der Allergologe des Vertrauens eine Aguagene Urtikaria diagnostiziert, was gleichbedeutend ist mit einer chronischen Wasserunverträglichkeit. Es wurden auch schon Allergien gegen Kälte, Gummi, den eigenen Schweiß und – allen Ernstes – gegen Geldscheine nachgewiesen! All das ist wirklich übel, und zwar nicht nur, wenn man Polarforscher, Taucher, Leistungssportler oder wenigstens Supermarktkassiererin werden möchte.

Sicher hat sich jeder Allergiker schon tausend Mal gefragt, warum der eigene Körper so bescheuert ist und auf die vollkommen harmlosen Antigene reagiert als würde er von einer Armee aggressiver Killerviren angegriffen. Nun – eine allein gültige Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Wenn es sie gäbe, wäre derjenige, der sie gefunden hätte, wahrscheinlich Medizinnobelpreisträger. Dafür stünden unzählige Ärzte, Tausende Apotheker und ganze Pharmakonzerne vor der Pleite. Schon aus diesem Grund können wir getrost davon ausgehen, dass die Lösung all unserer Probleme noch etwas auf sich warten lässt. Dafür lässt sich mit dem Thema einfach zu viel Kohle verdienen. Ich zum Beispiel habe zusammen mit meiner bemitleidenswerten Krankenkasse bestimmt schon zwei Planstellen bei diversen Antihistamin-Herstellern finanziert. Und bisher hat sich auch noch jeder meiner Hautärzte für meine jahrelange Treue bedankt.

Dieses Buch also soll all denen Mut machen, für die eine mehrmonatige Leidenszeit beginnt, während andere die Picknickdecke aus der Truhe holen und sich fröhlich auf die nächste Liegewiese knallen. Es soll diejenigen zum Lachen bringen, die ihre Hoffnung in aufwendige Desensibilisierungen, eklige Eigenblutbehandlungen, nervige Akupunktursitzungen und weitere, nicht von der Kasse anerkannte Therapieverfahren gesetzt haben und dennoch stets von März bis September zwei Klinikpackungen Taschentücher und einen halben Liter Augentropfen aufbrauchen. Und es soll aufzeigen, dass das Leben auch ohne Südfrüchte, Kleintiere oder Laubbäume lebenswert sein kann. Ganz ehrlich: Kiwis schmecken eh beschissen, Kaninchen machen nur Dreck – und wer braucht heute schon einen eigenen Garten?

Kapitel 1

Für eine Allergie ist es nie zu spät

Es gibt zweifelsohne eine ganze Menge schlimmer Dinge, an denen wir Menschen schon von Geburt an leiden und somit nichts dagegen unternehmen können: Mukoviszidose etwa, eine garstige Stoffwechselstörung, die entsteht, weil beim siebten Chromosomenpaar etwas nicht so zusammenpasst, wie es eigentlich sollte. Oder das Retinoblastom, ein bösartiger Tumor in der Netzhaut des Auges, ursächlich angesiedelt auf Chromosom 13. Erstaunlicherweise vorwiegend im US-Bundesstaat Pennsylvania tritt die sogenannte Ahornsirupkrankheit auf. Hier liegt der Fehler auf Chromosom 6 und führt dazu, dass die betroffenen Säuglinge die Aufnahme der Nahrung verweigern. Neben diesen drei furchtbaren Erbkrankheiten sind heutzutage noch weit über hundert teilweise recht bizarre andere Gen-Defekte bekannt. Der menschliche Organismus ist eben eine wahnsinnig komplizierte Angelegenheit. Da kann selbst der Natur schon mal hier und dort ein kleiner Konstruktionsfehler unterlaufen. Das ist zwar für die Betroffenen und ihre Angehörigen fatal. Es lässt sich aber leider kaum vermeiden: Wo gehobelt wird, da fallen eben Späne.

An vielen anderen Gebrechen wiederum sind wir schlichtweg selber schuld: Wer über fünfzig Jahre hinweg jeden Tag genüsslich eine Schachtel Kippen inhaliert, braucht sich nicht zu wundern, wenn er irgendwann Lungenkrebs bekommt. Die gute, alte Diabetes vom Typ II entsteht allzu oft eben dann, wenn man sich tagaus, tagein nur vom Fernseher bis zum Auto bewegt und dazu seine Finger nicht von Schokolade, Pralinen und Schwarzwälder Kirschtorten lassen kann. Und dass Fettleber, Darm- und Bauchspeicheldrüsenkrebs sowie etliche Herzerkrankungen in den allermeisten Fällen halt daher kommen, weil die Leidtragenden viel zu viel gesoffen haben, kann jeder Landarzt bestätigen. Man kann sich also mit dem entsprechenden Lebenswandel auch ganz ohne Gen-Defekt problemlos vom kerngesunden Menschen zum todkranken Wrack downgraden.

Bei den Allergien liegt die Wahrheit jedoch irgendwo in der Mitte. Ein Teil der Ursachen mag den meisten Experten zufolge auch hier in den Genen liegen. Ein anderer Teil jedoch scheint einem einfach zuzufliegen, ohne dass man letztlich exakt weiß, warum. Viele Fachärzte machen ständigen Stress als eine der Ursachen aus oder ein fehlerhaftes Abstillen. Die Umweltverschmutzung mag ihren Teil dazu beitragen, dass es in jedem Jahr ein paar Hunderttausend Neuerkrankungen gibt und vielleicht auch unsere übertriebene Reinlichkeit. Manchmal aber trifft keiner der bekannten Auslöser zu – und ein Bäcker, der sein Berufsleben lang tonnenweise Mehl verarbeitet hat, kann von einem Tag auf den anderen zum Zöliakie-Patient werden. Oder ein leidenschaftlicher Naturbursche mit einem Dutzend Wandernadeln am Spazierstock ein schniefender Heuschnupfenpatient mit chronischer Bronchitis und Kuraufenthalten ausschließlich noch auf Helgoland.

Die gute Nachricht ist: Eine Allergie kann einfach verschwinden! Medizinisch heißt das Ganze „spontane Toleranzinduktion“. Zwar ist die ein veritables Wunder. Doch es soll wirklich ab und an Leute geben, die plötzlich aufwachen und befreit aufatmen können, obwohl unter ihrem Schlafzimmerfenster im Nachbarsgarten der weiße Flieder wieder blüht, der sie bis dato noch jeden bisherigen Sommer gequält hat. Vor allem bei Kindern ist diese erstaunliche Selbstheilung möglich: Rund 15 Prozent der Betroffenen, so schätzen Mediziner, sind vor dem Erreichen der Pubertät ihre Pein wieder los.

Die schlechte Nachricht aber lautet: Eine Allergie kann auch einfach so auftauchen – und das gerne noch im hohen Alter! Wer also meint, dass er durch die Entbehrungen der Nachkriegszeit oder die eiskalten Winter von früher physisch beinahe bis zur Unbesiegbarkeit gestählt wurde und daher stets ein wenig abschätzig auf die Wohlstandsmimosen von heute schaut, die nur mit Nasenspray und Augentropfen bewaffnet in den Biergarten gehen, der sollte sich nicht zu früh freuen: Das Risiko, im Seniorenalter an einer Allergie zu erkranken, liegt neuesten Studien zufolge bei 20 Prozent. Jeder fünfte Rentner kriegt also irgendwann einmal ebenfalls eine unerwartete Unverträglichkeit. Es kann also wirklich jeden treffen. Jederzeit.

In meinem Fall konnte ich auf knapp sieben gesundheitlich vollkommen unbeschwerte Jahre zurückblicken, bis mich die Allergiekeule mit voller Wucht traf: Meine Eltern und ich machten Urlaub in Südtirol, wie jeden Spätsommer. Auch im Frühjahr machten wir bereits Urlaub dort, und auf dem Rückweg holten wir meine Oma ab, die in Bad Gastein eine Kur absolvierte. So war es, seit ich denken konnte, und bislang konnte ich mich darüber nicht beschweren. Die Hotels, die mein Vater aussuchte, waren wirklich gut. Und die Orte, in denen die Hotels lagen, gefielen mir in aller Regel auch. Ich meine – ich sollte wie gesagt in Kürze sieben Jahre alt werden. Insofern war es vor allem wichtig, dass die Unterkünfte ein kleines Schwimmbad hatten, ob innen oder außen, und dass in den Dörfern ein paar anständige Spielplätze mit einer Rutschbahn und im Idealfall einem Klettergerüst zu finden waren. Ich hatte da keine großen Ansprüche.

Was mir aber wirklich wichtig war, das war die Gegend um die Orte mit den Hotels herum! Ich wusste nicht genau, warum das so war, aber ich musste ständig draußen sein. Ich bin in der Stadt aufgewachsen, aber in einem Viertel ganz nahe am Waldrand. Meine Freunde und ich konnten mit dem Rad innerhalb von fünf Minuten von unserer Straße aus zu den Feldern fahren und von den Feldern in nochmals fünf Minuten mitten in den Wald. Niemals, außer vielleicht wenn es draußen zweistellige Minusgrade hatte oder wie aus Eimern goss, verbrachten wir unsere Kindertage in irgendeinem Kinderzimmer. Viel lieber zogen wir unsere Gummistiefel an und machten uns auf den Weg ins Freie. Auf den Feldern spielten wir Verstecken, bauten Labyrinthe aus Stroh oder fingen Kröten ein. Im Wald kletterten wir wie die Affen, konstruierten Häuser aus Ästen und Blättern und sammelten Tannenzapfen. Das konnte manchmal drei, vier oder auch sechs Stunden dauern, ohne dass uns langweilig wurde oder wir Hunger und Durst bekamen. Wir bemerkten erst, wie spät es geworden war, wenn es langsam dämmerte. Erst dann lockte das Vorabendprogramm. Es gab in meiner Kindheit nicht viel anderes als die Natur und ein paar Zeichentrickserien.

Gut – ich musste zugeben, dass ich häufig erkältet war. Genauer gesagt konnte ich mich an keine einzige Woche in den letzten Jahren erinnern, in der mir mal nicht die Nase lief. Aber weil mein Vater bei einem großen Taschentuchproduzenten arbeitete, hatten wir diesbezüglich immer kartonweise Abhilfe im Haus, und so fiel die ganze Schnieferei nicht weiter auf! Eigentlich arbeitete er in der Verwaltung einer riesigen Firma, die als einen ihrer vielen Geschäftszweige Fabriken für Papierzeugs wie Taschentücher oder Küchenrollen besaß. Das war zwar aus Kindersicht etwas weniger aufregend als die Berufe der Väter meiner Freunde, die entweder Fernseher konstruierten oder ganze Häuser bauten. Aber es war praktisch, denn es sparte meinen Eltern eine ganze Menge Geld: Während man logischerweise nicht jeden Tag einen Fernseher oder gar ein Haus kaufen konnte, brauchte ich das Zeug, das mein Papa günstig mit nach Hause brachte, wirklich sehr, sehr oft.

Meine Mutter sowie mein Kinderarzt Dr. Hofmeister waren sich sicher: Wenn sich jemand pausenlos im Freien aufhielt wie ich, war ab und an ein kleiner Schnupfen nichts Dramatisches. „Was Dich nicht umbringt, macht Dich nur härter“, pflegte auch mein Onkel immer zu sagen. Und der musste es wissen, denn er hatte nur noch einen halben Magen. Dafür lebte er recht gut. Ein Schnupfen brachte mich da ganz bestimmt nicht um!

In jenem Südtirol-Urlaub, es mag vielleicht unser zehnter oder elfter gewesen sein, machte ich mir allerdings ein bisschen Sorgen, wie das alles wohl werden würde, wenn ich bald in die Schule käme. Man hörte da ja allerhand unschöne Dinge, vor allem, was die Zeit betraf, die man für diese Einrichtung aufwenden musste. Also beschloss ich, mich die letzten Sommertage vor dem unvermeidlichen Ernst des Lebens sicherheitshalber noch länger als ohnehin schon auf den weitläufigen Almen und den satten Wiesen aufzuhalten, die unterhalb der Berge lagen, wo meine Eltern und ich dieses Mal die letzten beiden Augustwochen verbrachten. Wahrscheinlich verschwamm so etwas in der Erinnerung immer etwas. Aber ich hätte schwören können, dass es in den vielen Jahren, die wir nun schon dorthin fuhren, keinen einzigen Tag auch nur einen Tropfen geregnet hatte.

Hinter unserem Hotel befand sich eine riesige Liegewiese, auf die wir uns legten, wenn wir im Freibad des Hauses schwimmen gingen und nicht gerade Tischtennis spielten, denn es gab hier im Hotel gleich zwei fest installierte Tischtennisplatten. Am Ende der Liegewiese ging es einen sanften Hügel hinauf, auf dem oben ein alter Heuschober aus mächtigen, fast schwarzen Holzbalken stand. Darin lagerte ein ortsansässiger Bauer seine Heuballen. Der Spätsommer war natürlich auch in Südtirol Erntezeit. Ich hatte mich mit ein paar anderen Touristen-Kindern angefreundet. Mit den einheimischen Kindern, die rund um das Hotel wohnten, klappte die Verständigung nicht besonders gut. Sie nuschelten mehr, als sie sprachen, und sie nannten mich einen Schwigel. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Aber ich bildete mir irgendwie ein, dass sie uns Deutsche nicht besonders gut leiden konnten. Besonders gut verstand ich mich dagegen mit Christopher, dessen Familie am selben Tag wie wir angekommen war.

Eine unserer liebsten Beschäftigungen außer Tischtennisspielen war es, den Hügel hinter der Liegewiese hinaufzuklettern und den Heuschober zu entdecken. Christopher und ich konnten uns stundenlang in dem alten Gebäude aufhalten, indem wir uns in allen Winkeln versteckten, durch die kleinen Astlöcher in der Seitenwand hinunter auf die Liegewiese spähten oder die Leiter hinaufstiegen, die zu einer Art Zwischenboden reichte. Dort lagerten ein paar Gerätschaften wie verrostete Sicheln und zerlegte Holzfässer. Es knarzte, wo man auch hintrat. Das Beste an dem Schuppen aber war sein phänomenales Aroma: Es bestand aus einer Geruchsmischung aus altem Holz, frischem Gras und trockenem Heu. Ich überlegte mir allen Ernstes, ob es möglich war, diese Luft portionsweise in Tüten abzupacken. Zuhause in der Stadt konnte man damit bestimmt vielen Menschen eine Freude machen. Und wenn ich mir damit ein paar Mark dazuverdiente, wäre endlich das Zelt drin, das ich mir so sehr wünschte, um im Garten übernachten zu können. Darüber musste ich unbedingt mal mit meinen Eltern sprechen.

Als wir dieses Mal die Hütte betraten, roch es noch intensiver als sonst. Ein paar Zentner Heu mussten eben erst frisch hineingebracht worden sein. Während Christopher sich rücklings auf einen Ballen fallen ließ, strich ich über die Halme, die sich mir entgegenstreckten. Ich sog die Luft so tief ein, wie ich konnte. Als ich wieder ausatmen wollte, war mir, als würde gerade eine Fliege oder ein kleiner Käfer in meine Nase krabbeln.

„Haaaatschi!“

Mein Kopf fühlte sich plötzlich an, als hätte mir jemand eine Tüte Niespulver direkt ins Gehirn geschossen. Ich musste niesen wie noch nie in meinem Leben. Das konnte keine Fliege sein. Das war bestimmt etwas Größeres!

„Haaaaatschi!“

Nach ein paar Mal Niesen tat es schon richtiggehend weh. Aus meiner Nase lief der Rotz. Und wenn es nun doch kein Insekt war? Hatte ich mich am Ende beim Schwimmen erkältet? Ich wunderte mich, denn ich war bis auf eine seltsamerweise oft verstopfte Nase fast niemals krank, nicht einmal im tiefsten Winter. Das lag einzig und allein daran, weil ich mich so oft an der frischen Luft aufhielt, behauptete zumindest meine Mutter. Und weil Mütter, wie man wusste, so gut wie immer recht haben, gab es für mich keinen vernünftigen Grund, an dieser Behauptung zu zweifeln! Auch daher mochte ich das Gefühl, öfter als ein, zwei Mal niesen zu müssen, ganz und gar nicht – ich kannte es schlichtweg kaum. Ich hatte sogar etwas Angst davor, seit mir einer meiner Freunde zuhause mal erzählt hatte, dass einem kleinen Buben beide Augen aus dem Kopf gefallen waren, als er nicht mehr damit aufhören konnte. Angeblich war der Junge sogar daran gestorben. Das musste ja nun wirklich nicht sein!

„Hatschi! Haaatschi! Haaaatschi!“

Auch ich konnte gerade einfach nicht mehr aufhören. Ich wusste nicht, ob mir das bei meinem gefährlichen Niesanfall umgehend helfen würde, aber ich musste schleunigst wieder hinaus in die Sonne gehen, bevor mir auch noch die Augen herausfielen. Wahrscheinlich hatte ich tatsächlich etwas in die Nase bekommen, was dort nicht hineingehörte, was auch immer es sein würde. Draußen würde das Tier sicher besser herausfinden.

„Was’n los?“, rief Christopher, der sich mittlerweile aus dem Stroh ein Lager gebaut hatte.

„Muffdauerndniefen“, rief ich. „Fffgehwiederrauf.“

„Hab’ ich schon gehört, Mann. Aber ich komm’ mit“, sagte Christopher und ließ sich von mir hochziehen.

Als wir beide wieder vor dem Heuschober standen, hörte das Niesen tatsächlich schlagartig auf, ohne dass ich bemerkte, dass etwas herausflog oder -krabbelte. Dafür tropfte meine Nase nun wie ein kaputter Wasserhahn. Das konnte nur daran liegen, dass das unverschämte Insekt hinausgespült werden musste – ganz ähnlich, wie ich es schon ein paar Mal erlebt hatte, als mir beim Radfahren eine Mücke in ein Auge geflogen war.

Als ich noch stolz darüber nachdachte, wie bewundernswert schnell auch meine vielen Schürfwunden immer verheilten, wenn ich mir das Knie oder den Ellenbogen irgendwo aufgeschlagen hatte, stellte ich fest, dass auf einmal mein Gaumen juckte. Auch dieses unangenehme Gefühl kannte ich so nicht. Am Ende war mir das Drecksviech über die Nase in den Mund gekrabbelt und hatte mich gestochen. Ich sollte besser dringend einen Schluck Wasser trinken. Oder noch besser: ein Glas kalte Limonade. Dann würde sich das alles schon wieder beruhigen. Es half alles nichts: Wir mussten erstmal zum Hotel zurück.

„Laffunfwiederfurück“, schniefte ich. „Iffmuffwaftrinken!“

„Kein Problem“, rief Christopher und legte sich am Abhang in Position. „Rollerfässchen! Machst Du mit?“

Dieses lustige Spiel hatte er mir vor wenigen Tagen beigebracht. Es funktionierte so, dass man sich genau dort, wo der Weg, der zu dem Heuschober führte, in den Hang überging, kerzengerade und mit ausgestreckten Armen und Beinen hinlegen musste, um sich dann den Hügel hinunterrollen zu lassen. Dabei drehte man sich ungefähr dreißig, vierzig Mal um die eigene Achse, bis man unten auf der Liegewiese ankam. Die Sache war ein Heidenspaß, auch wenn mir jedes Mal danach mindestens fünf Minuten lang speiübel war.

„Wiedumeinft“, sagte ich und legte mich ein paar Meter von Christopher entfernt auf den Grasboden. Ich konnte zwar nicht mehr richtig sehen, weil meine Augen seltsamerweise innerhalb kürzester Zeit beachtlich zuschwollen, aber Hauptsache, ich würde schnell etwas zu trinken bekommen. Dann rollten wir beide los.

Als ich unten ankam, konnte ich nicht sofort aufstehen, weil mir noch zu schwindelig war. Ich fand es etwas gruselig, dass sich der Himmel über mir derart schnell drehte und sich auch sonst alles um mich herum bewegte, was ich durch die beiden Sehschlitze in meinem Gesicht erkennen konnte: das blecherne Hinweisschild mit der Aufschrift „Zum Hotel 150 Meter“, der kleine Abfallkorb, der am Rand der Liegewiese stand und sogar die Kühe, die weiter oben am Berg grasten. Andererseits war diese vorübergehende Benommenheit nicht unangenehm, bis auf die Übelkeit vielleicht. Ich stellte mir in jenen Momenten immer vor, dass ich mich auf einem riesigen Karussell befand, was für einen Siebenjährigen ein lustiger Gedanke war. Als das Schild dieses Mal zum dritten oder vierten Mal an mir vorbeifuhr, verfestigte sich allerdings mein Eindruck, auf einmal nicht mehr richtig atmen zu können. Das wiederum fühlte sich nicht so toll an, denn sehen und schlucken ging ja ebenfalls gerade nicht richtig gut.

„Noch mal?“, rief Christopher, der sich schon wieder aufgerappelt hatte und lachte, während er unsicheren Schrittes fort torkelte.

„Kchchch“, sagte ich, und jetzt bemerkte ich, dass ich wirklich nicht mehr allzu viel Luft bekam. Meine Nase war komplett dicht, der Gaumen juckte nach wie vor wie verrückt, aus der Nase rann der Schleim in Mengen, von denen ich nicht ansatzweise wusste, dass sie ein Körper in so kurzer Zeit produzieren konnte. Oder hatte ich den Mist irgendwo eingelagert? Wie auch immer: Irgendwie kamen aus meiner Brust auch noch komische Geräusche.

„Was’n jetzt? Komm endlich?“, schrie der schwankende Christopher, der sich schon wieder auf halbem Weg nach oben befand.

„Ch krg kn Lft mhr“, röchelte ich und bekam langsam, aber sicher etwas Angst. Christopher konnte mich nicht verstehen, aber immerhin machte er sich leicht missmutig auf den Weg zurück an die Stelle, an der ich gerade zu erblinden und ersticken drohte. Als er vor mir stand, blickte er mich entsetzt an.

„Verflixt, was ist denn mit Dir los?!“, brüllte er mit aufgerissenen Augen und rannte sofort wieder von mir weg, diesmal allerdings in Richtung Gebäude. Ich fand es nicht besonders nett, mich einfach hier liegen zu lassen, noch dazu in einer solch misslichen Lage. Aber mit einem Ohr hörte ich, wie er laut um Hilfe rief und sich seine Stimme dabei regelrecht überschlug. Jetzt wich meine leichte Angst einer nackten Panik! Vielleicht hatte sich beim Herunterrollen etwas Spitzes in meinen Hals gebohrt, eine Heugabel etwa oder ein Ast. Oder mein Kopf war aufgeplatzt, und das Gehirn lief heraus. Dann verlor ich das Bewusstsein.

„Um Himmels willen“, schrie meine Mutter, als ich wieder zu mir kam.

„Der ist ja ganz blau“, schrie mein Vater.

„Sag ich doch“, schrie Christopher.

„Lassen sie mich durch, ich bin Arzt“, sagte jemand, den ich noch nie zuvor gehört hatte. Sehen konnte ich ihn ja nicht mehr.

„Ich vermute, er hat irgendwas verschluckt“, sagte der Mann, der offenbar eine nasse Badehose trug oder nasse Haare hatte oder beides. Jedenfalls tropfte er mich total voll, während er mit seiner flachen Hand gegen meine Backe schlug.

„Kchchc“, sagte ich, aber er verstand mich offenbar ebenso wenig wie die anderen Anwesenden.

„Was ist mit Dir?“, brüllte meine Mutter.

„Sag doch was!“, brüllte Christopher.

„Was hast Du angestellt?“, brüllte mein Vater.

Der geheimnisvolle Mann zog derweil mit einer Hand an meiner Nase und mit der anderen an meinem Kinn. Offenbar versuchte er, mit bloßem Auge in meinen Mund hineinzusehen. Was sollte der denn da erkennen?

„Im Rachen ist anscheinend nichts! Wenn, dann sitzt das womöglich tiefer. Wir müssen vielleicht einen Luftröhrenschnitt machen. Ich hol’ schnell meinen Koffer aus dem Zimmer, da ist alles drin, was wir brauchen.“

Kurios, dachte ich: ein Arzt in einer Badehose, der auch noch seine Praxissachen in den Koffer gepackt hatte. Manche Leute konnten aber auch nie abschalten. So wie mein Vater, der auch immer irgendwelche Unterlagen aus dem Büro mit in den Urlaub nahm. Ich verstand nie, was er eigentlich genau machte. Sicher war nur, dass er in der Verwaltung eines bekannten Papiertaschentuchherstellers arbeitete.

Die Sache mit dem Luftröhrenschnitt hörte sich indes ganz und gar nicht gut an. Ich hatte natürlich keinen blassen Schimmer, was das war, mich aber neulich mit einem Brotmesser in den kleinen Finger geschnitten. Das wiederum hatte ganze vier Tage lang höllisch wehgetan, trotz eines dicken Pflasters, das mir meine Mutter professionell über die Kuppe klebte. So etwas würde sicher an der Luftröhre nicht angenehmer werden. Und das war äußerst ärgerlich, so kurz vor dem Ferienende. Allerdings machte mir meine missliche Lage mehr und mehr zu schaffen. Ich dämmerte immer wieder weg, und als ich wieder zu mir kam, hörte ich jedes Mal jemanden schreien. Es musste offensichtlich schnell etwas passieren, denn die doofe Situation schien keinem hier zu gefallen. Mir am allerwenigsten.

„Was um alles in der Welt habt ihr hier getrieben? Wie ist das passiert, Junge? Rede! Sag es!“, rief mein Vater und drehte sich zu Christopher.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Christopher und begann zu heulen. Was heult der denn jetzt, dachte ich. Wenn, dann müsste ich doch heulen. Aber ich konnte irgendwie nicht, weil die ganze zur Verfügung stehende Flüssigkeit schon aus meiner Nase tropfte.

„Wir sind nur da runtergerollt und …“

Christopher deutete auf den Heuschober oben auf dem Hügel.

„Da runtergerollt? Ja, seid Ihr noch ganz bei Trost? Kreuzdonnerwetter“, schrie mein Vater.

„Jetzt beruhige Dich doch. Das bringt doch jetzt nichts. Außerdem haben die das doch schon die ganze Zeit gemacht“, rief meine Mutter, die seit geraumer Zeit meine linke Hand hielt. „Das hat mit seinem Zustand sicher nichts zu tun. Schau lieber, wo der Arzt bleibt.“

„Hier bin ich wieder“, keuchte einen Augenblick später der Mann, der sich zwischenzeitlich anscheinend abgetrocknet hatte, weil er mich nicht mehr volltropfte. Und er hatte offensichtlich nicht nur seine Sachen aus dem Koffer geholt, sondern – soweit ich das erfasste – gleich den ganzen Koffer mitgebracht: einen dunklen Lederkoffer, den man oben aufklappen konnte, der mir aber für eine Reise fast ein bisschen klein schien. Er griff hinein und holte eine bestimmt daumendicke und ordentlich lange Spritze sowie ein kleines Glasfläschchen heraus. Dann zog er die Flüssigkeit aus dem Fläschchen auf. Ich sah immer noch nicht viel, aber das, was ich sah, sah echt nicht gut aus! Leider war ich im Vergleich zu Kerlen wie Christopher auch nicht besonders mutig, das musste ich zugeben. In Bezug auf Ärzte jedoch hielt ich mich immer recht wacker. Wenn ich aber etwas abgrundtief hasste, waren das: Spritzen!

Das war nicht immer so. Aber vor einigen Wochen war ich an einem Freitagabend ganz alleine zuhause, weil meine Eltern eine Einladung bei Bekannten angenommen hatten. Ich wusste, dass ich den Film im Fernsehen noch gar nicht hätte sehen dürfen – schon alleine wegen der Uhrzeit, zu der er drankam. Aber wie das manchmal so ist: Ich tat es trotzdem. Seitdem hatte ich einen Albtraum, der immer wiederkehrte: In diesem Traum stand ich in einem dunklen Raum und konnte mich nicht bewegen. Von vorne näherte sich eine dunkle Gestalt in einem weißen Kittel. Ich wollte wegrennen, schaffte es aber nicht. Die Gestalt hob eine Spritze an und fuchtelte damit vor meinem Gesicht herum. Kurz, bevor die Nadel in mein Auge stach, wachte ich jedes Mal auf. Es war grauenvoll. Ich hätte einfach ins Bett gehen sollen, anstatt um zehn Uhr abends noch einen auf erwachsen zu machen.

„Eine Sache versuche ich noch“, sagte der Mann ernst und rammte mir das Ding in den Oberarm.

„Aua“, sagte ich. Ich konnte ja doch noch sprechen!

„Das ist starkes Kollision. Vielleicht hilft das!“

Ich kapierte natürlich auch diesmal nicht, was der Typ meinte. Konnten diese Ärzte nicht einfach mal so reden, dass man es auch verstand? Bevor ich aber näher darüber nachdenken konnte, was Kollision wohl sein würde, zog er eine zweite Spritze auf, die sogar noch dicker und länger war als die erste und stach sie mir in den Bauch. Ich schrie laut auf, und meine Mutter schrie nun auch wieder. Der Doktor erklärte ihr, was er mir nun verabreicht hatte. Es klang so ähnlich wie Adrena-Benzin. Vielleicht war Adrena eine italienische Tankstellenfirma?

„Wenn er jetzt immer noch nicht atmen kann, dann müssen wir schneiden. Dann hat er tatsächlich irgendwas im Hals. Ich hab’ im Hotel schon Bescheid gesagt. Der Notarzt ist auf dem Weg!“

Als ich nach einer erneuten kleinen Ohnmacht aufwachte, weinte nicht nur Christopher, sondern inzwischen auch noch meine Mutter. Mein Vater war dagegen weniger berührt. Er war glutrot angelaufen und schnaufte nun fast genauso tief wie ich. Dafür konnte ich auf ein Mal beinahe unbeschwert Luft holen. Ich japste ein paar Mal und musste stutzen – es funktionierte wirklich alles wieder. Was für ein herrliches Gefühl! So bewusst hatte ich das auch noch nicht wahrgenommen. Der Arzt musste mir eine wahre Wundermedizin verabreicht haben. Vielleicht handelte es sich bei Kollision und Benzin ja um etwas Ähnliches wie den Zaubertrank aus den Asterix-Comics, die ich mir so gern anschaute. Nun fühlte ich mich wieder einigermaßen gut – auch, weil sich das Hinweisschild wieder an mir vorbei bewegte, wenn auch langsamer als vorhin.

„Der Junge hatte ganz offensichtlich einen knallergischen Schock“, sagte der Mann mit der Badehose und den Spritzen. „Leidet er irgendwie an Astra oder so etwas?“

„Nicht, dass ich wüsste“, sagte meine Mutter, die immer noch meine Hand hielt und sich nur langsam wieder beruhigte. „Er hat noch nie solche Probleme gehabt. Sind Sie sicher, dass er nichts verschluckt hat?“

„Was für einen Schock?“, fragte mein Vater leicht verärgert. „Was, meinen Sie, hat der gehabt?“

„Einen knallergischen Schock. Er muss irgendetwas gegessen oder angefasst haben, gegen das er überreagiert. Kollision und Adrena-Benzin haben sofort gewirkt, also kann es nichts gewesen sein, was die Luftröhre blockiert hat. Aber wir müssen auf jeden Fall warten, bis der Notarzt kommt. Dann soll der entscheiden, was man da weiter machen kann. Wahrscheinlich muss er eine Nacht im Krankenhaus bleiben.“

Och nö, dachte ich. Es ging doch schon wieder.

„Nicht, dass das noch mal passiert.“

Eventuell war das mit dem Krankenhaus doch keine ganz schlechte Idee. Ich hatte zwar keine Lust auf die Schule, aber der Angelegenheit durch Ableben entziehen wollte ich mich natürlich auch nicht. Außerdem konnte ich dadurch daheim eine echte Hammerstory erzählen.

Eine Stunde später saßen mein Vater, meine Mutter und ich im Flur des Brunecker Spitals. Christopher wollte auch mitkommen. Aber im Krankenwagen war nur Platz für eine Begleitperson, und mein Vater wollte ihn nicht in unserem Auto mitnehmen, in dem er dem Rotkreuz-Fahrzeug hinterherfuhr. Ich hatte mich derweil wieder einigermaßen erholt. Doch ich fühlte mich so erschöpft, als wäre ich den gesamten Tag und die Nacht zuvor den Hügel hinter dem Hotel hoch-und wieder runtergerannt. Ich konnte mir das Geschehen nicht erklären! Ich hatte noch nicht eine Sekunde meines bisherigen Lebens Schwierigkeiten mit der Atmung gehabt. Selbst die Lungenentzündung, die ich mir mit Zweieinhalb einfing, weil ich mich aus Versehen in der Gefriertruhe eingeschlossen hatte, war nach Auskunft meiner Mutter einigermaßen glimpflich verlaufen. Geraucht hatte ich im Gegensatz zu meinem Vater auch noch nie. Es gab also keine plausible Begründung für meinen Zusammenbruch. Ich hatte mich vorher doch nur in dem Heuschober aufgehalten. Und daran konnte es ganz sicher nicht liegen.

„So, Sie können jetzt reinkommen“, sagte eine junge Ärztin, die ganz anders sprach als die Einheimischen und auch viel feiner aussah.

„Dr. Elisabeth Pircher, ich bin zuständig für innere Medizin“, stellte sich die Frau vor. Sie beugte sich zu mir herunter und setzte ein mitleidiges Gesicht auf.

„Das war ja ein ganz schön großer Schrecken in den Sommerferien, den Du Deinen Eltern da bereitet hast! Na dann komm mal mit, wir machen noch ein paar Tests und schauen, ob es Dir wieder gut geht.“