Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann? - Andreas Hock - E-Book + Hörbuch

Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann? E-Book und Hörbuch

Andreas Hock

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  • Herausgeber: Riva
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Es war einmal eine Sprache , die vor lauter Poesie und Wohlklang die Menschen zu Tränen rührte. Die von Dichtern und Denkern immer weiter perfektioniert wurde. Die um ein Haar auf der ganzen Welt gesprochen worden wäre. Das aber ist lange her – und ein für alle Mal vorbei. Heute ist Deutsch ein linguistisches Auslaufmodell! Wie konnte es nur so weit kommen, dass unsere Kids zwar wissen, wer der Babo ist – aber keine Ahnung haben, wer dieser Goethe war? Warum wundern wir uns nicht, wenn uns die Werbung von Care Companys, Createurs d'Automobiles oder Sense and Simplicity erzählt? Und wieso, verdammt noch mal, nennen wir unsere Kinder Justin, Cheyenne oder Jeremy? Andreas Hock fand Antworten auf diese und viele anderen Fragen über den Niedergang unserer Sprache – der eigentlich vor Hunderten von Jahren schon begann und an dem nicht nur Friedrich der Große, Adolf Hitler oder Helmut Kohl Schuld sind. Sondern voll wir alle, ey!

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Seitenzahl: 208

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Zeit:5 Std. 4 min

Sprecher:Lukas Piloty
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Taschenbuchausgabe
15. Auflage 2022
 
© 2014 by riva Verlag,
ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
 
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
 
Redaktion: Antje Steinhäuser
Umschlaggestaltung: Maria Verdorfer
Umschlagabbildung: unter Verwendung von iStock
Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern
 
ISBN Print 978-3-86883-549-6
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86413-523-1
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86413-524-8
 
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.rivaverlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter
www.m-vg.de

Inhalt

Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort von Prof. Dr. Hellmuth Karasek
Weil uns schon am Anfang der Spaß verging
Weil die Fruchtbringende Gesellschaft nicht durchgehalten hat
Weil die Berliner lieber auf dem Trottoir laufen wollten
Weil kein Schüler je Karl May in der Schule lesen durfte
Weil Muhlenberg dagegenstimmte
Weil uns die Grimms Märchen erzählten
Weil es in Preußen zu viele Beamte gab
Weil der Größte Feldherr aller Zeiten herrschte
Weil unsere Großväter Chewing Gum und Elvis liebten
Weil die Beat­generation nicht mehr reden wollte wie ihre Eltern
Weil in den Kommunen zu viel gelabert wurde
Weil wir uns Goethe von der falschen Seite her näherten
Weil Disney mehr Bumm! war als Dürrenmatt
Weil wir alles abkürzen wollten
Weil wir verlernten, Briefe zu schreiben
Weil Politiker plötzlich um den heißen Brei herumredeten
Weil Statements auf einmal gesprayt wurden
Weil alles nur noch geil war
Weil ein Holländer Deutschlands erster Showmaster war
Weil Berta’s Snack’s zwei Apostrophe zu viel hatte
Weil wir ein Volk wurden
Weil Wichtigtuer das Lean Management erfanden
Weil wir Döner nur mit scharf aßen
Weil der Kevinismus um sich griff
Weil die Politik das Gender-Mainstreaming beschloss
Weil Fußballer zu sprechen begannen
Weil der Coffee to go nach Deutschland kam
Weil nicht nur Jil Sander Bullshit redete
Weil die E-Mail vom Segen zum Fluch wurde
Weil der deutsche Schlager auch keine Lösung war
Weil uns die Bahn zum Infopoint schickte
Weil RTL2 auf Sendung ging
Weil wir die SMS entdeckten
Weil der Schlussverkauf zum Sale wurde
Weil Bushido und Kollegas Erfolg hatten
Weil die Rechtschreibreform in die Hose ging
Weil Georg einen Jaguar fuhr
Weil Artikel voll spackig wurden
Weil wir zu zwitschern begannen
Weil wir diese schönen Wörter nicht mehr verwendeten
Über den Autor

Vorwort von Prof. Dr. Hellmuth Karasek

Was für ein Glück für die deutsche Schriftsprache, dass Luther die Bibel gerade übersetzte, als die Buchdruckerkunst erfunden wurde. So war das Transportmedium für die Sprache gefunden, man sprach fortan im Dialekt, wie einem der Schnabel gewachsen war, und nach der Schrift, wie in der Kirche gepredigt wurde. Und wie Luther das neue Deutsch auf seiner herrlichen Sprachorgel preludiert hat! »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.« Das ist wunderschön, aber inzwischen total veraltet. Der wunderbare Konjunktiv irrealis ist längst abgestorben oder durch ein »würde« ersetzt, »tönend Erz« und »klingende Schelle« versteht kein Mensch mehr, es sind die Glocken und das Glöcklein. Und »hätte der Liebe nicht«, dieser Genitivus partitivus, der noch in alten Liedern (»voll des süßen Weines«) oder im Englischen (»a cup of tea«) vorkommt, ist praktisch gestorben.

Wie hat sich später Goethe selbst beschrieben:

Vom Vater hab ich die Statur, Des Lebens ernstes Führen, Von Mütterchen die Frohnatur Und Lust zu fabulieren. Urahnherr war der Schönsten hold, Das spukt so hin und wieder, Urahnfrau liebte Schmuck und Gold, Das zuckt wohl durch die Glieder. Sind nun die Elemente nicht Aus dem Komplex zu trennen, Was ist denn an dem ganzen Wicht Original zu nennen?

Schön, aber heute völlig außer Gebrauch. Der »Urahnherr« wäre der Großvater, die »Frohnatur« des Mütterchens wäre ihre gute Laune – wobei Goethe der Schöpfer des schönen Wortes »Frohnatur« ist –, die »Statur« des Vaters wäre ebenfalls ein Fremdwort, die Figur oder der Status. Und dass er vom Vater »des Lebens ernstes Führen« hat, wäre ein Genitivus possessivus.

Kurzum: Die deutsche Sprache hat sich gewandelt, sie wandelt sich ständig, und Pessimisten zufolge, die wir alle sind, zumindest, was die Sprache anlangt, nicht zum Guten. Andreas Hocks ebenso vergnügliches wie lehrhaftes Buch heißt dann auch im Untertitel: »Über den Niedergang unserer Sprache«. Mal abgesehen vom Niedergang, möchte ich hier bemerken, gibt es natürlich einen wunderbaren Aufschwung durch den Abfall der Hochsprache und das Aufblühen der Dialekte und Mundarten neben ihr, wozu ich das »Schaffner-Englisch«, das Wienerisch der slawischsprachigen Einwanderer und das gerade wieder kräftig erstarkende Plattdeutsch rechnen möchte. Wer das Plattdeutsch liebt, kann es schon bei den Brüdern Grimm im Märchen »Von dem Fischer un syner Frau« und »De Has un de Swinegel« finden: »Ick bün all dor.« Hock gibt seiner rasanten Geschichte der serpentinenhaften und kurvenreichen Entwicklung der deutschen Sprache den Titel, der auf dem Titelbild über dem verzweifelt die Augen verdrehenden Geheimrat Goethe als Wortblase schwebt: »Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann?«, womit er nicht nur die dem Süddeutschen falsch entlehnte Konjunktion »wo« bemüht, sondern auch die moderne und falsche Superlativitis »der Einzigste«. Wir sprechen heute ja nicht nur von »Mega-Superstars«, »Pop-Titanen« und »Schlager-Giganten«, sondern übertreiben dabei wie die Kesselflicker und Marktschreier, indem wir das »Meistgekaufteste« und das »Vielbeschworenste« neben das »Supergeilste« und das »Superaffengeilste« stellen. Andreas Hock stößt bei dem Wort »superaffengeil« mit leichter Befremdung auf, dass es auch auf die Oma anwendbar ist. Etwa: »Ich hab die superaffengeilste Oma der Welt.«

Von den ersten Sprachvereinen, die im Flickerlteppich-Deutschland sich im anhaltinischen Dessau bildeten, im Zeichen der Palme übrigens, und sich um eine gemeinsame deutsche Sprache bemühten, geht es durch die Franzosentümelei Friedrichs des Großen, der auch noch die Hugenotten zur Sprachhilfe rief (Chamisso, Fontane) und den Deutschen nicht nur das Trottoir und die Matrone bescherte, durch das Bürokratendeutsch (Beispiele gefällig? »Grunddienstbarkeitsbewilligungserklärung«, »Abstandseinhaltungserfassungsvorrichtung«, »Kostenzusageübernahmeverpflichtung«) über die martialische Großmannssucht von Hitlers gebellten Reden bis zur Gegenwart.

Da taucht die Sprache der Graffiti auf, deren Botschaften erst toll, dann abgenudelt klingen, wie der folgende Graffito selbst zeigt: »Der Klügere gibt so lange nach, bis er der Dumme ist.« Mir gefällt am besten die Descartes-Variante: »Ich denke, also bin ich hier falsch.« Natürlich kommt die Ami-Sprache vor, die ihren Siegeszug mit Coca-Cola und Kreppsohlenschuhen begann und über die Popmusik bis zum Internet, der Mode, der Werbung, der Bankenwelt und dem »Cappuccino to go« (heißt: im Pappbecher zum Mitnehmen) fortsetzt. Ich glaube, »okay«, ob man es nun okay oder o. k. schreibt, ist das meistgebrauchte Zustimmungswort, zumindest in Amerika und Europa. Dagegen hat das russische »charascho« immer noch keine Chance. Irgendwann kam die Wiedervereinigung, und glücklicherweise hat sich ein Wort nicht durchgesetzt, der »Schokoladenhohlkörper«. Damit war im unchristlichen Osten der Osterhase gemeint, der im Westen »Lindt-« oder »Milka-Hase« heißen müsste, wenn es mit rechten Werbebegriffen zuginge. Und auch das ostdeutsche »Zellstofftaschentuch« musste zugunsten des »Tempo-Taschentuchs«, das einer Nürnberger Papierfabrik seinen Namen verdankt, weichen. »Tempo« hat sich gegen das Original »Kleenex« durchgesetzt. Der »Sarotti-Mohr« dagegen ist aus Gründen politischer Korrektheit ausgestorben. Wie die »Sättigungsbeilage« im Osten aus esskulturellen Gründen. Warum im Osten ausgerechnet der »Broiler« (vom englischen »to broil« hergeleitet) das »Brathendl« (bayrisch) ersetzt hat, ist eines der Rätsel der Sprache.

Weil uns schon am Anfang der Spaß verging

In der allerersten Deutschunterrichtsstunde unseres Lebens blickten wir aufgeregt an die große Tafel, die nur ein paar Meter vor uns hing und uns doch so weit entfernt schien. Wir sahen: ein großes und ein kleines A, ein großes und ein kleines B sowie ein großes und ein kleines C. Das war alles, was wir an diesem richtungsweisenden Tag von unserer Grundschullehrerin beigebracht bekamen. Natürlich blieb es nicht dabei: Zum ABC kamen schnell weitere Buchstaben dazu. Erst essenziell wichtige wie das E oder das S, dann weniger gebräuchliche wie das V oder das J. Und schließlich lernten wir in diesen Anfangszeiten unserer linguistischen Menschwerdung noch, dass es auch ein X, ein Y und das lustige Q gab, das wir allerdings schon kannten, weil unsere Eltern immer bei Quelle bestellten.

Was wir noch nicht wussten: Um die Sprache wirklich zu erlernen, von der wir glaubten, dass wir sie seit unserem dritten Lebensjahr eigentlich ganz passabel beherrschten, waren noch ungeahnte Anstrengungen fällig. Also mussten wir Wörter nach ihrer Länge und nach ihrer Wortart ordnen. Wir lernten Gedichte auswendig, die sich nicht wirklich reimten, in denen dafür merkwürdige Tiere vorkamen. Wir verinnerlichten, dass es dem S und dem T wehtat, wenn man die beiden trennte, und dass das Wort »nämlich« unter keinen Umständen in der Mitte ein H enthalten durfte. Wir quälten uns durch Diktate, in denen ein Kind namens Thomas ausschließlich Mohrrüben und Beerenkuchen aß.

Am schlimmsten aber war, dass wir unsere Deutschhefte jedes Mal mit vielen roten Strichen am Rand zurückbekamen, obwohl wir uns bei der Schilderung unserer schönsten Ferienerlebnisse wirklich Mühe gegeben hatten: Wir schrieben von den Sandburgen und den Wanderungen im Watt, vom strahlend blauen Himmel und von dem schlimmen Unwetter, das wir an einem Tag erlebten. Wir gaben wirklich alles, was literarisch im Alter von neun oder zehn Jahren möglich war, doch unter unserem emotionalen, spannenden und vollkommen authentischen Text stand lediglich: »Zu viele Flüchtigkeitsfehler. Gerade noch Note 3!« Das war’s. Anscheinend war dieses oberflächliche Kriterium das Einzige, das zählte. Wie armselig war das denn?

Sagen wir es ganz ehrlich: Der Deutschunterricht gehörte zum Langweiligsten, was von Montag früh, 8 Uhr, bis Freitagmittag, 13 Uhr, in unserem Leben passierte. Eine Studie ergab bereits vor einigen Jahren, dass fast 60 Prozent aller in deutschen Schulen gelesenen Texte von Arbeitsblättern stammten und nur 13 Prozent aus Büchern. Dass aber ein Arbeitsblatt aus einer stinkenden Matrize eine nachhaltige Faszination für eine ganze Sprache entfachen konnte, war eher unwahrscheinlich. Und wenn wir mal etwas aus einem Buch lasen, dann das, was der jeweilige Lehrer für interessant hielt. Dabei gab es offenbar so viel zu entdecken – alleine der Buchladen in unserer Stadt bestand aus drei Stockwerken! Doch den literarischen Helden einer anständigen Kindheit, die von Erich Kästner stammten, Paul Maar oder Ellis Kaut, mussten wir uns von selbst nähern, wenn wir das überhaupt wollten. Wenn nicht, setzten wir uns eben vor die Glotze. Das interessierte in der Schule auch niemanden.

Außerdem hat keiner unserer Lehrer wenigstens versucht uns zu erklären, warum wir überhaupt Deutsch sprachen – und nicht Französisch, Englisch, Italienisch oder Spanisch wie die Menschen in den Ländern, in die wir mit unseren Eltern in den Urlaub fuhren. Keiner vermittelte uns in dieser entwicklungspsychologisch so wichtigen Zeit, dass unsere Sprache nicht nur aus Aufsätzen bestand und Wörtern, die möglichst viele Konsonanten enthielten. Niemand beruhigte uns, dass diese verdammte Grammatik, die sich im Laufe vieler Jahrhunderte aus einem Gemisch grober Dialekte herausgebildet hatte, durchaus einen Sinn ergab; dass sie unsere Sprache erst zu dem machte, was sie war – etwas ganz Besonderes.

Dabei hätte es uns wirklich interessiert, warum es 3000 Jahre dauerte von der ersten germanischen Lautverschiebung bis zu dem Zeitpunkt, als die deutsche Standardsprache erstmals einheitlich geregelt wurde. Es wäre sicher auch spannend gewesen zu hören, wie es Karl der Große geschafft hatte, eine Volkssprache zu etablieren, die von Baiern, Alemannen oder Franken gleichermaßen verstanden wurde. Es war schade, dass uns niemand zutraute zu verstehen, was Wolfram von Eschenbach oder Walther von der Vogelweide mit ihrem Minnesang zur Entwicklung des Mittelhochdeutschen beigetragen hatten. Und wie genau die vielen slawischen, italienischen oder lateinischen Begriffe in unseren Wortschatz Einzug gehalten hatten, blieb ebenso im Unklaren wie die Bedeutung der allermeisten jener rund 75.000 Wörter, die wir im weiteren Laufe unseres Lebens verwenden sollten.

Kurzum: In Sachen Deutsch war irgendwie von Anfang an der Wurm drin. Gut, das war in Mathematik auch der Fall. Aber in Mathe bestand die Hoffnung, dass wir später einmal einen Beruf ausübten, für den wir das Zeug nicht mehr brauchten. Deutsch aber, so viel war sicher, würden wir noch brauchen – sehr sogar. Aber das war den Verantwortlichen egal: Wir wurden weitgehend allein gelassen mit Dativ, Akkusativ oder Nominativ, mit Pronomen, Artikeln und Hilfsverben, mit Plusquamperfekt und Infinitiv. So wie uns das Selbstverständlichste überhaupt, unsere Muttersprache, beigebracht werden sollte, machte es einfach keinen Spaß. Und das konnte auf Dauer nicht gut gehen!

Weil die Fruchtbringende Gesellschaft nicht durchgehalten hat

Trotz seiner schwierigen Entstehungsgeschichte und all der Irrungen und Wirrungen auf dem Weg zu einer einheitlichen Sprache wäre es einigen außergewöhnlichen und idealistischen Geistesarbeitern um ein Haar gelungen, die deutsche Sprache für alle Zeiten in ihrer Gesamtheit zu schützen, zu bewahren und behutsam weiterzuentwickeln. Es war vor 400 Jahren, lange vor dem ersten Duden, der Gründung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder einem CSU-geführten bayerischen Kultusministerium, als sich eine ebenfalls recht illustre und dennoch ernst zu nehmende intellektuelle Vereinigung um die Belange unseres Wortguts verdient machte: die »Fruchtbringende Gesellschaft«.

Diese Institution hatte es zum Ziel, Deutsch sowohl als Sprache von Forschern als auch von Dichtern zu etablieren und vor allem: zu fördern. Das ergab Sinn. Denn überall in den kleinen Staaten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation herrschten bis dahin recht eigenwillige Mundarten und unverständliche Dialekte vor, sodass von einer einheitlichen Sprache im wahrsten Sinne des Wortes nicht die Rede sein konnte. Außerdem gab es bis dato alle relevanten Schriften einzig und allein auf Latein. Dieser Umstand schloss nicht nur einen Gutteil selbst der gebildeten Bevölkerung von allen wissenschaftlichen Erkenntnissen aus und schuf so eine ziemlich kleine und arrogante Bildungselite. Er ging auch dem umtriebigen Fürsten Ludwig von Anhalt-Köthen gehörig auf die Nerven.

Der hochintelligente Regent aus Dessau war schon in jungen Jahren weit herumgekommen: Sein Vater schickte ihn mit zarten 17 erst zum Anschauungsunterricht nach Großbritannien, Frankreich und in die Niederlande. Später musste der Adelsspross auch noch in die Schweiz, nach Österreich, Ungarn und schließlich nach Italien. Selbst für unsere heutigen globalisierten Maßstäbe hätte Ludwig eine Unmenge an Prämienpunkten auf dem fürstlichen Meilenkonto gehabt. Für damalige Verhältnisse jedoch war der junge Mann ein Weltenbummler geradezu Kolumbus’schen Ausmaßes. Und überall dort, wo er sich gerade aufhielt, interessierte er sich in erster Linie dafür, wie es die jeweilige Obrigkeit mit der Kultivierung ihrer Landessprache hielt. Besonders beeindruckt hat ihn dabei seine letzte Station.

In Florenz bekam Ludwig unmittelbaren Anschauungsunterricht, wie es die dortigen Gelehrten im Gegensatz zum linguistisch wilden Heimatreich mit ihrer Sprache hielten: Sie hegten und pflegten sie! Dafür wurde bereits im Jahr 1583 eine neuartige Bildungsstätte ins Leben gerufen, die Accademia della Crusca. Das war die allererste Sprachgesellschaft der Welt, die nach der Doktrin handelte, die Spreu vom Weizen zu trennen. Was also schädlich für die Reinheit der Sprache war, flog kurzerhand raus. Nach einigen Monaten intensiven Studiums vor Ort schaffte es der beeindruckte Juniorfürst, als erstes deutsches Mitglied überhaupt in die sagenhafte Akademie aufgenommen zu werden. Dort beobachtete er unter anderem, wie die Florentiner Wissenschaftler ein erstes umfängliches italienisches Wörterbuch herausbrachten, um ihre wohlklingende lingua auch den einfacheren Menschen näherzubringen und diese sprachlich zu erziehen.

Als plötzlich daheim in Dessau nach einigen undurchsichtigen Erbteilungen die Regierungsgeschäfte riefen, reiste der nun amtierende Fürst, der kurz zuvor von den norditalienischen Sprachbewahrern aufgrund seiner unbändigen Leidenschaft für die Sache den Ehrentitel »Der Entzündete« erhalten hatte, wieder zurück. Dort entzündete er sich dann zunächst mächtig darüber, dass es weit und breit kein deutsches Gegenstück zur lieb gewonnenen Accademia gab. Nach einem üppigen Abendessen ausgerechnet anlässlich der Beerdigung seiner Schwester entschloss sich Ludwig beim Verdauungsschnaps auf Vorschlag seines Hofmarschalls im Beisein einiger Gleichgesinnter trotzig zur Gründung der »Fruchtbringenden Gesellschaft«. Das war 1617.

Als unverwechselbares Logo diente den neuen Freunden des gepflegten Deutsch eine Kokospalme. Die wirkte seinerzeit nicht nur so geheimnisvoll und exotisch, wie die im Volksmund »Fruchtbringer« genannten Aktivisten sich selber sahen. Man glaubte nebenbei auch, dass die Palme so vielseitig einsetzbar war wie kein anderer Baum – und sah in ihm daher ein ideales Symbol für die universale Nützlichkeit der neuen Vereinigung. Es war demnach nebenbei eines der ersten Markenzeichen überhaupt.

Schnell sprach sich der kuriose Palmenklub in der gesamten Gegend herum. Ihm schlossen sich dutzendweise andere sprach- und sendungsbewusste Adelige an und baten bei Fürst Ludwig, der als Prinzipal praktisch alleine über die neuen Mitglieder entscheiden konnte, um die Aufnahme. Binnen weniger Jahre waren fast 900 damalige Meinungsmultiplikatoren in der »Fruchtbringenden Gesellschaft« aktiv. Dass die erlauchten Neulinge zunächst einige seltsame Rituale zu absolvieren hatten – so mussten sie sich auf einem Drehstuhl von allen Anwesenden reihum verspotten lassen oder ein ziemlich ekelhaftes Gebräu aus einem Pokal trinken –, tat der Ernsthaftigkeit der Sache keinen Abbruch. Immerhin war das letztlich entscheidende Aufnahmekriterium für die dauerhafte Mitgliedschaft eine Rede in fehlerfreiem Deutsch – ein Ritual, von dem heute leider nicht mehr viel übrig geblieben ist.

Die wohlhabenden »Fruchtbringer«, zu denen sich bald auch hochrangige Militärs, einflussreiche Gelehrte und bekannte Schriftsteller gesellten, sollten jedenfalls gemäß ihrer Satzung »Die hochdeutsche Sprache in ihren rechten Wesen und Standt ohne Einmischung frembder außländischer Wort auffs möglichste und thunlichste erhalten uñ sich so wohl der besten Außsprache im reden alß der reinesten Art im schreiben uñ Reimen befleißigen«. Wer jetzt aufgeregt aufbegehrt, dass dieser ausgerechnet von den ach so tollen Sprachwissenschaftlern verfasste Satz voller Rechtschreibfehler steckt, der sei beruhigt: So und nicht anders schrieb man das damals eben.

Im Klartext bedeutete dieser Auftrag: Die Mitglieder fungierten als ­Mäzene. Sie sponserten zum Beispiel begabte Nachwuchsdichter, die sie für würdig genug erachteten. Sie verlegten Wörterbücher und stifteten diese an Bibliotheken oder Lehranstalten. Sie beauftragten Gymnasiallehrer, eine neue Grammatik auf Basis der Ziele der »Fruchtbringenden Gesellschaft« zu entwickeln. Und sie wetterten, wo immer sie konnten, öffentlich gegen die Verwässerung ihrer geliebten Muttersprache durch unverständliche oder unnötige oder schlimmstenfalls unverständliche und unnötige Fremdwörter aus dem Italienischen oder dem Französischen!

Eine Zeit lang sah es tatsächlich so aus, als könnte durch die Anstrengungen nur einiger Hundert gut situierter Idealisten Deutsch dauerhaft vor unerfreulichen Einflüssen von außen geschützt werden. Mit ein bisschen Glück und etwas mehr Durchhaltevermögen der Aktivisten hätte ein einheitliches Deutsch dem Lateinischen und Griechischen – damals in etwa so bedeutend wie heute Englisch und Chinesisch – als Schriftsprache ebenbürtig werden können. Für die deutsche Sprache hätte dies bereits frühzeitig eine geistige Weichenstellung bedeutet. Doch es kam leider anders.

Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen starb im Jahr 1650. Sein Engagement konnte nur noch einige Jahre in gleichem Maß aufrechterhalten werden. Aber wie das meistens so war, wenn ein überaus charismatischer Anführer das Zeitliche segnete, ging es auch mit dieser Organisation unter den Nachfolgern steil bergab. Unter Wilhelm dem Schmackhaften begann bereits der unaufhaltsame Niedergang. Viele Mitglieder verzettelten sich in unwichtigen Detailfragen, anstatt das große Ganze im Auge zu behalten – so wie sie es von Ludwig vorgelebt bekommen hatten. Andere dagegen sahen sich weniger als Wissenszirkel denn als höfischer Eliteorden und ließen, man kann es nicht anders sagen, ihren Status ziemlich heraushängen.

Die Anerkennung innerhalb der Bevölkerung schwand rapide – und was noch viel schlimmer war: Auch mit dem Ansehen bei Dichtern und Denkern ging es steil bergab. Der letzte Vorsitzende der »Fruchtbringer« hieß August der Behutsame. Er ließ zwar rauschende Feste feiern und prahlte landauf, landab mit seinen zahlreichen Einladungen an mehr oder weniger bekannte Lyriker und Poeten. In der Wirkungsweise der Vereinigung jedoch wurde er seinem Namen voll gerecht: Vor lauter Behutsamkeit ging im Intellektuellenzirkel leider gar nichts mehr. 1680 löste sich die »Fruchtbringende Gesellschaft« auf. So bleibt als Fazit, dass ihr Gründer Ludwig von Anhalt-Köthen eine gute Idee hatte, die leider an der mangelnden Weitsicht und der Eitelkeit seiner Nachfolger scheiterte. Und das praktisch von jenem Moment an, ab dem er in seiner Gruft unterhalb der Köthener Jakobskirche lag. Angesichts des heutigen Zustandes unserer Sprache darf man vermuten, dass es dort unten ziemlich unruhig zugeht.

Erstaunlicherweise haben wir auch von der »Fruchtbringenden Gesellschaft« nie etwas im Deutschunterricht gehört. Dabei hätte es dieser visionäre Gedanke wirklich verdient, näher beleuchtet zu werden. Womöglich hätten wir so ein etwas ausgeprägteres Gefühl dafür entwickelt, was einer Sprache guttut und was eher nicht. Aber wahrscheinlich gab es für das Thema einfach kein Arbeitsblatt.

Weil die Berliner lieber auf dem Trottoir laufen wollten

Wer meint, die vielen Anglizismen, die uns im weiteren Verlauf dieses Buches leider noch allzu häufig begegnen werden, wären die ersten fremdartigen Einflüsse auf unsere schöne und doch so gepeinigte Sprache, dem sei hiermit beschieden: mitnichten! Dem Trend zu mehr oder weniger bescheuerten Begrifflichkeiten aus dem Angelsächsischen ging eine andere Mode weit voraus: Ohne Worte aus dem Französischen einzustreuen, traute man sich vor rund 300 Jahren gar nicht erst, den Mund aufzumachen, wollte man – Achtung – chic sein! Manch einer aus den vermeintlich besseren Kreisen unterhielt sich gar nur noch auf Französisch.

Schon seit dem frühen Mittelalter gelangten immer mal wieder französische Begriffe in unseren Wortschatz. Grund dafür waren vor allem die zahlreichen ausgiebigen Dienstreisen damaliger Kaufleute nach Frankreich, das als unumstrittenes Handels- und Kulturzentrum Europas galt. Und weil die historischen Touristen vor Ort bereits vorwiegend in Hôtels abstiegen, sich die Haare beim Friseur schneiden ließen und schlussendlich Parfum oder Café von ihren Einkaufstouren mit nach Hause brachten, bürgerten sich die Worte nach und nach auch bei uns ein.

Auch von den Kreuzzügen kehrten viele hiesige Krieger stets mit ein paar Brocken Französisch auf der Zunge zurück. Mittels derer mussten sie sich notgedrungen mit ihren nicht des Mittelhochdeutschen mächtigen französischen Ritterkollegen verständigen, weil die sich jeglicher Fremdsprache ebenso standhaft verweigerten wie heute noch jeder einheimische Kellner in einem beliebigen Ausflugslokal am Strand von Nizza.

Während der Hugenottenkriege und auch im Dreißigjährigen Krieg wiederum waren die Protestanten in Frankreich nicht besonders wohlgelitten und fanden schließlich in einigen deutschen Gebieten Zuflucht. Mit den Glaubensflüchtlingen kamen denn auch eine Reihe weiterer Wörter zu uns, die wir teils unverändert, teils verfremdet auch heute noch verwenden. Wenn man zum Beispiel auf dem Trottoir zur nächsten Boutique flaniert, dann deshalb, weil die Berliner, die besonders viele Hugenotten aufnahmen, diese Ausdrucksweise deutlich eleganter fanden, als auf dem Bürgersteig ins nächste Ladengeschäft zu laufen. Selbst die Bulette heißt nur deshalb so, weil sie halt aussieht wie ein »Kügelchen« aus Hack.

»Das seind aber teutsche Galanterien, frembde Sprachen einzumischen«, stellte Liselotte von der Pfalz schon 1710 in einem Brief zerknirscht fest. Die arme Lotte wurde von ihrem Vater 40 Jahre zuvor an den französischen Hof geschickt, um den Bruder Ludwigs XIV. zu heiraten – und hatte irgendwann die Nase voll von den abgehobenen Sprachgebräuchen ihrer alten Heimat. Dass sie dabei selbst ein französisches Wort gebrauchte, um die Torheit ihrer Standes- und Volksgenossen anzuprangern, sei ihr verziehen! Wie recht die Dame hatte, wurde spätestens ein paar Jahre später deutlich: Mit der Amtszeit Friedrichs des Großen war es mit jeglicher überregionalen Bedeutung unserer Sprache passé!

Der Alte Fritz bezeichnete sich zwar – zumindest in seinen späten Regierungsjahren – ganz unprätentiös als »Ersten Diener des Staates«. Der Sprache dieses Staates aber beschied der vornehme Hohenzoller mit dem Faible fürs Linksrheinische, eher eine Sprache für ungehobelte Bauernknechte zu sein. Damit ging der Mann voll und ganz d’accord mit den meisten anderen Von und Zus seiner Zeit, in der die zarten Errungenschaften der »Fruchtbringer« längst in Vergessenheit geraten waren. Kein Wunder, dass sich Friedrich seine Freunde ebenfalls nicht vor der Haustüre suchte, sondern lieber in Paris: Die geistige Beziehung zu Voltaire, dem Vorzeigeliteraten der dortigen Haute-Volée, pflegte der König schon in verhältnismäßig jungen Jahren und verschlang dessen Werk mit Pläsier!

Dafür musste er allerdings Französisch lernen – was damals in Adelskreisen ohnehin üblich war: Die reichen Leute wollten sich auf diese Weise nicht nur vom ungebildeten, einsprachigen Pöbel abgrenzen. Sie hatten auch genug Zeit dafür, ihren Tag mit derartigen Studien zuzubringen. Und Voltaire selbst, der mit bürgerlichem Namen recht unspektakulär François-Marie Arouet hieß, sprach, schrieb und verstand ohnehin kein Wort Deutsch. Dennoch verstieg er sich zu der Frechheit, dass unsere Sprache nur für Soldaten und Pferde zur Verständigung geeignet sei. 1750 schließlich lud der pedantische Preußenherrscher seinen dichtenden Kompagnon sowie ein paar andere französische Besserverdiener auf sein Schloss ein, das er »Sanssouci« genannt hatte – weniger in der irrigen Hoffnung, dort ein sorgenfreies Regentenleben führen zu können als vielmehr deshalb, um mit der privilegierten Namensgebung in der erlauchten Clique ein bisschen anzugeben.