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Es gab einmal eine wunderbare, längst vergangene Zeit, in der wir noch Briefe auf Papier schrieben, unseren Schwarm leibhaftig in der Tanzschule ansprachen und Freunde aus Fleisch und Blut besaßen, mit denen wir uns auch in einer echten Kneipe trafen. Heute überlassen wir unseren gesamten Alltag den Computern, Smartphones, Apps und sozialen Netzwerken. Wir simsen, posten, twittern und tindern - und vergessen dabei, wie das wahre Leben wirklich funktioniert. Dieses Buch ist ein augenzwinkerndes Plädoyer für die gute, alte analoge Welt, in der zwar alles noch ein bisschen langsamer funktionierte - in der wir uns dafür aber keine Gedanken darüber machen mussten, ob uns nach einem unüberlegten Satz ein Shitstorm droht, wir die Freundschaftsanfrage unseres unsympathischen Chefs annehmen sollen oder was eines Tages mit unserem digitalen Nachlass passiert. Dieses Buch ist der perfekte Lesestoff für alle, die froh wären, mit einem Handy nur telefonieren zu können, die nicht verstehen, was dieses seltsame Facebook mit einem Buch zu tun hat und die nur den Kopf darüber schütteln, dass man dank des Internets zum Millionär werden kann, nur weil man sich beim Singen in der Badewanne selber filmt.
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Seitenzahl: 201
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5. Auflage 2022
© 2017 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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80799 München
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Dieses Buch ist eine völlig überarbeitete Neuauflage des Titels Like mich am Arsch – Wie unsere Gesellschaft durch Smartphones, Computerspiele und soziale Netzwerke vereinsamt und verblödet.
Redaktion: Antje Steinhäuser
Umschlaggestaltung: Melanie Melzer
Umschlagabbildung: Illustration: © Melanie Melzer, Hintergrundbild: © sl_photo/Shutterstock
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN Print: 978-3-7423-0048-5
ISBN E-Book (PDF): 978-3-95971-432-7
ISBN E-Book (EPUB, Mobi): 978-3-95971-433-4
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Impressum
Vorwort von Monika Gruber
Weil unser soziales Netzwerk früher draußen war
Weil das Smartphone nichts mehr mit einem Telefon zu tun hat
Weil wir uns nicht mehr auf unseren Verstand verlassen
Weil »Facebook« nichts zu verschenken hatte
Weil wir trotz 1000 Freunden womöglich allein bleiben
Weil ein Käsebrot keinen Nachrichtenwert hat
Weil sich ein blöder Spruch nicht mehr zurückholen lässt
Weil jedes Urlaubsfoto brandgefährlich werden kann
Weil wir auf »Tinder« nicht die wahre Liebe finden
Weil auf »YouTube« viel zu viele unnütze Dinge zu sehen sind
Weil uns die Technik sogar krank machen kann
Weil das digitale Erbe sogar nach dem Tod Probleme bereitet
Eigentlich mag ich es ja nicht, wenn Leute immer sagen: »Früher war alles besser!« Aber mal unter uns Analog-Brüdern und -Schwestern, die noch wissen, was ein Commodore 64 war: Es stimmt! Ich bin mir ziemlich sicher, seit ich vor Kurzem ein junges Mädchen auf dem Fahrrad gesehen habe, das offensichtlich eine so innige Verbindung zu seinem Smartphone hatte, dass es die Augen nicht vom Display wenden konnte – bis sich ihm ein tapferer Laternenpfahl in den Weg stellte, um zu verhindern, dass das arme Mädel kopfüber in den neben dem Radweg liegenden Fluss stürzte.
Wenn man heute in der U-Bahn oder auch in einem Restaurant sitzt und seine Mitmenschen beobachtet (ich nenne es immer »People-TV«), kann man davon ausgehen, dass man dabei der Einzige ist. Anstatt sich miteinander zu unterhalten oder zumindest das Essen zu genießen, starren vier Personen auf einer Bank oder an einem Tisch auf ihre jeweiligen Telefone oder Tablets. Ganze Konzerte von Künstlern von Weltruf (Zitat aus Helmut Dietls Monaco Franze) schauen sich die Besucher nicht mehr vor Ort an, sondern glotzen wie Autisten auf das Display. Auf der heimischen Couch lässt sich das Konzerterlebnis schließlich am nächsten Tag viel intensiver empfinden, als wenn oben genannter Künstler leibhaftig und in Lebensgröße vor einem steht.
Ja, manche stürzen sogar über Klippen zu Tode bei dem Versuch, das perfekte Selfie für die Daheimgebliebenen zu schießen. Und nichts bringt diese Süchtigen wieder ins analoge Leben zurück, weil man halt dummerweise nicht davon ausgehen kann, dass der Mensch wie eine Katze mehrere Leben hat: weder gutes Zureden noch Geschichten von früher, als Geschichten noch gelesen wurden und nicht auf »YouTube« anzuschauen waren, noch starkes Schütteln oder Abwatschen. Ich habe alles ausprobiert!
Dass »Facebook« und E-Mails blöd, blind und einsam machen, vermute ich schon lange, und bei der Lektüre von Andreas Hocks Buch fiel mir wieder eine Studie ein, die ich vor Kurzem gelesen habe: Der Jetztzeit-Homo-sapiens wird durch das ständige, ja krankhafte Checken seiner Mails stärker abgelenkt als durch Kiffen – und entwickelt sich dadurch quasi zum »Homo demens«. (Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass diese Studie weder frei erfunden noch von mir ist!).
Eine andere Untersuchung besagt, dass wir alle 11 Minuten unsere Mails beziehungsweise unsere SMSen überprüfen und danach ungefähr 15 Minuten brauchen, um uns wieder auf die ursprüngliche Tätigkeit zu konzentrieren. Schade nur, dass das zeitlich nicht ganz aufgehen kann. Diese Studie hatte wohl auch der Maler beherzigt, den ich neulich dabei beobachtete, wie er eine Hauswand strich: In der einen Hand hielt er den Pinsel, mit dem er monoton die Wand auf und ab wischte, in der anderen sein Smartphone, mit dem er genauso monoton nach seinen Nachrichten wischte. Sie dürfen raten, wohin sein Blick gewandt war. Kleiner Tipp: Es war nicht die zu streichende Wand!
Und die Menschheit ist nicht nur dabei, zu verblöden und zu vereinsamen. Sie ist auch sehr gut darin, sich selber zu belügen, denn absurderweise kämpfen gerade die Deutschen immer sehr energisch und vehement gegen digitale Überwachung und Spionage, um gleichzeitig im Netz hemmungs- und bedenkenlos blankzuziehen: Jede Pore, jeder (Waden-)Krampf, jede Puls-Amplitude, jeder Anflug eines Beziehungsstatus, jeder von Cappuccino durchfeuchtete Cappuccinotassenuntersetzer aus Papier, jeder Floh im Pelz eines Haustieres – ach, die Liste ließe sich fortführen von hier bis an den leider sehr selfie-tauglichen Hafen von Portofino – wird mittels Smartphone oder dieser gerade sehr populären Überwachungsarmbänder an Krankenkassen, Fast-Food-Ketten, Marktforscher, den eigenen Chef und andere weitergegeben. Nur damit in Silicon Valley ein paar Computer-Nerds den digitalen Beweis unserer eigentlich doch so sympathischen Unvollkommenheit haben. Eine Schwäche, die es auszumerzen gilt bei den zu entwickelnden künstlichen Wesen, die wahrscheinlich in nicht allzu ferner Zukunft unsere schöne Welt bevölkern werden. Und gerade deshalb sollten wir die Zeit, in der wir gerade leben, nicht nur als Sklaven der Technik verbringen, denn das Einzigartige daran ist laut eines US-Wissenschaftlers, dass »wir später sagen werden, dass wir noch Menschen sein durften«.
Andreas Hock ist ein genauer Beobachter, der es versteht, humorvoll und selbstironisch den digitalen Quantensprung und seine sozialen (oder vielmehr seine asozialen) Auswirkungen unterhaltsam zu beschreiben. Und zwar so, dass auch ein technisch wenig versierter Zeitgenosse (also ich) seinen Schilderungen folgen kann – auch wenn ich noch nie in meinem Leben von Spielen gehört habe, die »Pong« oder »Donkey Kong« hießen. Da er – wie ich auch – aber noch die Zeiten erlebt hat,
in denen man zwar weniger als 200 »Freunde« hatte, aber trotzdem nicht einsam war, in denen man die Bravo oder den kicker mit aufs Klo genommen hat und nicht das Laptop, in denen man das Essen bei der aussterbenden Spezies Kellner anstatt per App bei einem Lieferservice bestellt hat und dazu Föhnfrisur und die »gute« Hose trug statt Speckhaare und löchrige Sweatpants,in denen man das Objekt seiner Begierde ganz in echt ins Kino oder zum Tanzen eingeladen hat, anstatt es über Mausklicks über Herrn Tinder finden zu lassen, in denen man sich mit gestammelten Worten und unter Tränen von seinem Freund beziehungsweise seiner Freundin getrennt hat anstatt per SMS,kommt uns sehr vieles heutzutage völlig absurd, unsinnig und irgendwie befremdlich vor.
Schon klar, kein Mensch möchte mehr nachts ohne Mobiltelefon im Auto unterwegs sein, weil: Falls etwas passiert, ist Hilfe nicht weit. Kein Mensch möchte mehr Familienangehörige längere Zeit im Ausland wissen, ohne regelmäßig mit ihnen skypen zu können. Und kein Mensch möchte plötzlich nicht mehr die Möglichkeit haben, seinen Freunden zu schreiben: »Meld dich doch mal wieder ... vermisse dich!« oder: »Sorry, verspäte mich um fünf Minuten!«
Denn es ist toll – keine Frage – zu jeder Zeit über alle Distanz mit den Menschen, die einem etwas bedeuten, Kontakt halten zu können. Darauf folgt nämlich meist das wirklich Wunderbare, und das ist dann doch wieder ziemlich Old-School: Zeit mit den Lieben zu verbringen, gemeinsam zu lachen, zu essen, zu diskutieren, sich zu streiten und sich zu umarmen, sich an den Händen zu halten, sich in die Augen zu sehen. Und dazu braucht man überhaupt kein Tablet, kein Smartphone, kein Pokémon und kein Instagram. Oder wie mein Lieblingssänger – nach Frank Sinatra – Mr. Tony Bennett es so schön formulierte: »Was gut ist, bleibt einfach gut, und man kann und muss es nicht ändern!«
Schön, dass uns Andreas Hock daran so amüsant und tiefgründig erinnert: An ihm ist wirklich ein großer Schriftsteller verlorengegangen!
Als ich neun oder zehn war, sah der größte und wichtigste Teil meiner Freizeit und selbstverständlich auch der meiner Freunde noch folgendermaßen aus: Wir schleuderten, sobald wir aus der Schule wieder nach Hause kamen, den Ranzen in die Ecke, schlangen eilig das Mittagessen hinunter, versicherten unseren Müttern, die Hausaufgaben schon in der Freistunde zwischen Mathe und Geschichte erledigt zu haben – und dann sahen wir zu, dass wir rechtzeitig auf den Bolzplatz gelangten. Wenn wir nicht früh genug dort waren, spielten stattdessen eine Menge anderer Jungs auf der Wiese hinter dem Gemeindehaus Fußball. Sie nannten sich wie wir Rummenigge, Kaltz und Briegel, und die Aussichten, dass sie vor der Dämmerung aufhörten, waren denkbar schlecht.
Natürlich gab es nicht nur den Fußball in unserem Leben. Wir beschäftigten uns in den Sommern auch noch mit dem Bau von Staudämmen und Baumhäusern, wir schwammen gemeinsam im Baggersee um die Wette oder absolvierten Fahrradrennen auf selbst angelegten Hindernisparcours. In den Wintern konstruierten wir an den ganz unwirtlichen Tagen notgedrungen Wolkenkratzer aus Pappkartons oder holten die uralte Märklin-Eisenbahn aus dem Keller, deren Landschaften und Gebäude noch mein längst verstorbener Großvater Herbert zusammengeleimt hatte. Ansonsten gingen wir Schlittschuh laufen auf dem zugefrorenen Stadtparkweiher, duellierten uns bei wilden Schneeballschlachten und warteten ungeduldig, bis es endlich wieder wärmer wurde.
Es war, das kann ich aus heutiger Sicht mit voller Überzeugung sagen, eine wunderschöne und aufregende Zeit, in der ich selbstverständlich bereits in einem sozialen Netzwerk Mitglied war: Meines bestand hauptsächlich aus Alex, Basti oder Markus und traf sich mit mir im Freien.
Das Komische ist: Wenn ich das aufschreibe, hört es sich beinahe so an, als hätte ich als kleiner Bub in einer von der Außenwelt abgeschnittenen Einöde gelebt oder sei beim Spielen über die letzten Schuttberge des Zweiten Weltkriegs geklettert, aber dem war freilich nicht so. Ich bin Mitte der Siebzigerjahre in einer Großstadt geboren und aufgewachsen – und musste insofern glücklicherweise auch keinerlei existenzielle Entbehrungen erleiden: Es stand immer ausreichend zu essen auf dem Tisch, meine Kleidung stammte nicht vom Roten Kreuz, sondern aus dem Kaufhaus, und in den Italien-Urlaub fuhren wir auch. In unserem Haushalt gab es zwei Telefone, zwei Fernseher, einen VHS-Videorekorder und sogar einen Mikrowellenherd. Auch die modernen Medien spielten in meiner Familie durchaus eine Rolle. So saßen wir samstagabends gemeinsam vor dem Fernseher und guckten Sendungen wie Einer wird gewinnen, Auf los geht’s los oder Wetten, dass …?. Das Praktische daran wiederum war, dass man dadurch automatisch ausreichenden Gesprächsstoff für den gesamten Schulmontag und mindestens die kleine Pause am Dienstag besaß. Und es war verdammt noch mal total spektakulär, wenn Joachim Fuchsberger im Pyjama moderierte, ein Mann eine Wärmflasche aufblies oder Cher in Strapsen auftrat.
Fuchsberger und seine Kollegen Hans-Joachim Kulenkampff, Frank Elstner, Rudi Carrell oder Thomas Gottschalk, die nicht nur meine Generation so nachhaltig unterhielten, könnten sich heute mit einer Flugabwehrkanone in die Erdumlaufbahn schießen lassen, es würde auf dem Schulhof nicht einmal den spießigsten Klassenstreber aus der ersten Reihe interessieren – angesichts des Angebots an sich in groteskem Tempo abwechselnden Abnormitäten und Irrwitzigkeiten, die vor allem das Internet nach zwei, drei Klicks für jedermann parat hält. Nur: Internet gab es eben noch keines, als ich klein war. Technisch gesehen könnte man also sagen, dass ich zu einer der letzten Generationen gehöre, deren Kindheit eher analog ablief. Was für ein Glück das tatsächlich war, konnte ich zum damaligen Zeitpunkt noch nicht wissen.
Obwohl auch auf mich zugegebenermaßen bald eine vollkommen neuartige Erfindung einen zunehmenden Reiz ausübte: Wenn ich mit meinen Eltern an einem unserer sonntäglichen Familienausflüge in einer Gaststätte mit einem besonders innovationsfreudigen Wirt einkehrte und mein Vater einen großzügigen Tag erwischte, drückte er mir nach dem Mittagessen ein oder zwei Mark in die Hand. Das Geld steckte ich umgehend in einen dieser futuristischen Arcade-Apparate, die seit einiger Zeit meistens irgendwo in der Nähe der Toiletten herumstanden.
Eines der Spiele, die damals praktisch die halbe Welt eroberten, hieß »Pong« und bestand aus einem schwarzen Bildschirm, der durch eine gestrichelte Linie in der Mitte geteilt war. Auf der linken und der rechten Seite befand sich je ein etwa drei Zentimeter langer Balken, den man nach oben und unten bewegen konnte und der in der Fachsprache »Schläger« genannt wurde. Damit musste der Spieler ein einzelnes Pixel, das aussah wie ein Würfel, aber einen Ball darstellen sollte, abwehren und so auf die Seite des Gegners befördern. Für mich und meine Altersgenossen war diese Maschine mit den Ausmaßen einer Kühl-/Gefrierkombination nicht weniger als ein technisches Wunder. Uns beschlich eine leise Ahnung, dass diese riesigen Dinger unser Freizeitverhalten für immer verändern würden.
Kaum standen die Teile flächendeckend herum und wurden um harmlose Spielereien wie »Pac-Man«, »Donkey Kong« oder »Scramble« erweitert, kündigte sich nämlich schon die nächste bahnbrechende Entwicklung an: die Konsole für zu Hause. Auf der konnte man ebenfalls »Pong« spielen, aber auch »Super-Pong« oder gar »Quadrapong« und natürlich einiges mehr. Bald eroberten »Atari 2600«, »Coleco Gemini« oder MBs »Vectrex« erst unsere Wunschzettel und dann unsere Kinderzimmer. Und spätestens nachdem wir sie das erste Mal an den heimischen Fernseher angeschlossen hatten, war jedem klar, dass endgültig eine neue Ära begonnen hatte. Dass es innerhalb weniger Jahre möglich war, eine sogar noch ausgefeiltere Technik von einem mannshohen Konstrukt in ein gerade mal schuhschachtelgroßes Gerät zu übertragen, schien aus damaliger Sicht zwar kaum nachvollziehbar, war aber unglaublich faszinierend.
Dabei sah es für einen kurzen Moment so aus, als sei das Genre der Videospiele nur eine kurze Episode des aufkommenden Digitalzeitalters. Man schrieb das Jahr 1983, als sich Seltsames ereignete: Noch kurz zuvor hatte die durch stete Weiterentwicklung in Sachen Speicher und Grafik ziemlich euphorisierte Branche einen neuen Umsatzrekord aufgestellt und sagenhafte drei Milliarden Dollar erlöst. Doch beinahe von einem Tag auf den anderen ging so gut wie gar nichts mehr: Die Einnahmen sanken innerhalb eines einzigen Jahres um unglaubliche 97 Prozent auf gerade noch 100 Millionen US-Dollar.
Dutzende Unternehmen gingen im Sog dieses berüchtigten »Video Game Crash« pleite. Die betroffenen Firmen hatten schlichtweg übersehen, dass mittlerweile ebenfalls immer mehr bezahlbare Heimcomputer auf den Markt drängten. Die waren zwar nicht unbedingt zum Vergnügen gedacht, aber die Spiele, die es dafür gab, waren deutlich günstiger. Vor allem aber ließen sie sich im Gegensatz zu den für alle Konsolen notwendigen Steckmodulen problemlos kopieren.
Womöglich wäre die gesamte weitere Entwicklung auf dem Spielemarkt anders verlaufen, hätte nicht der Hersteller Commodore blitzartig auf den Niedergang der Konkurrenz reagiert und seine Marketingstrategie radikal geändert. Anstatt nämlich – wie eigentlich angedacht – das gerade zur Serienreife gebrachte Modell »Commodore 64« als praktische Lern- und Rechenhilfe zu bewerben, stellte man nun die Vorzüge des Pioniers aller »Personal Computer« als Spielgerät heraus und verkaufte ihn folgerichtig in Spielzeugläden und entsprechenden Kaufhaus-Abteilungen. Binnen weniger Jahre löste dank dieser Vorarbeit des Commodore 64 der PC die Konsole als Spaßmaschine ab.
Auch für mich, der sich bis dahin nahezu täglich in der Natur aufgehalten hatte, begann damit abermals eine neue Zeitrechnung: Mit zwölf bekam ich von meinen Eltern tatsächlich jenen C64, dessen Vorläufer noch gigantische Rechenmaschinen waren, für die in den Bürogebäuden eigene Etagen vorgesehen waren und von denen kein normaler Angestellter wirklich wusste, was sie eigentlich genau zu leisten vermochten. Die Anfänge dieser Erfindung lagen erstaunlicherweise bereits in den frühen Fünfzigerjahren, aber erst ab Mitte der Siebziger rückten die PCs mehr und mehr ins Bewusstsein der Menschen.
Auch die Firma, für die mein Vater arbeitete, setzte immer mehr dieser geheimnisvollen Geräte ein, sie sollten wohl die Buchhaltung entlasten und eine Menge Abrechnungen übernehmen. Aber so oft, wie mein Papa darüber schimpfte, konnte das ganze Zeug noch nicht ausgereift sein.
Jedenfalls kam besagter C64 schon 1982 auf den Markt, kostete seinerzeit aber noch aberwitzige 1200 Mark – was zu dieser Zeit in etwa dem Gegenwert einer fabrikneuen Vespa entsprach. Trotzdem wurde er schnell zum Bestseller, und als irgendwann der Preis in für meine Eltern einigermaßen akzeptable Regionen irgendwo unterhalb der 500-DM-Schwelle sank, war er ohne Zweifel das tollste Geburtstagsgeschenk, das ich bis dahin erhalten hatte. Dabei konnte ich bei Lichte besehen mit dem beigen Brotkasten kaum etwas anfangen – und zwar nicht etwa weil er im Vergleich zu den heutigen Potenzialen eines jeden handelsüblichen Billig-PCs allenfalls den Speicherplatz eines Bierdeckels besaß, sondern weil ich keinerlei Talent für etwaige Programmierkenntnisse in mir trug, die man für eine sinnvolle Nutzung des Apparats, der sich bis zu seiner Ausmusterung 17 Millionen Mal verkaufen sollte, durchaus brauchte. Stattdessen daddelte ich ausschließlich auf dem Ding herum.
Doch die Spiele, die ich nach und nach und ohne einen Pfennig Geld ausgeben zu müssen für meinen Commodore auf dem Pausenhof tauschte, nahmen schnell eine Menge Zeit in Anspruch. Ich saß nun nach der Schule immer öfter mit meinen Freunden auf dem Zimmer. Wir steuerten, vom sportlichen Ehrgeiz hinsichtlich eines neuen Highscores und vom Zauber des Neuen getrieben, einen blinkenden gelben Kreis durch ein Labyrinth, schossen unaufhörlich auf rote und blaue Kugeln oder versuchten, ein kleines Raumschiff durch eine ferne Galaxie zu steuern.
Es waren die Jahre, in denen unser guter, alter Bolzplatz immer öfter verwaist war – auch weil einige Gleichaltrige eine gewisse Passion für die Materie entfalteten, die Programmiersprache »Basic« erlernten, sie perfektionierten und schnell zu einer Art Pionieren auf diesem Gebiet wurden. Diese Jungs waren immer etwas blasser als wir, trugen schlecht sitzende Sweatshirts, dicke Brillen und vorwiegend Cordhosen. Wir nannten sie etwas abschätzig »Computerfreaks«, aber es waren wohl weniger die Vorfahren der späteren Nerds, sondern eher diejenigen, die für all die folgenden, bahnbrechenden Entwicklungen ernsthaft verantwortlich zeichnen sollten: Wer damals sein Faible für den Umgang mit Computern entdeckte, der konnte ganz Großes erreichen.
Auch ich verlor einen meiner Kumpels gewissermaßen an die Maschinen: Während ich mich darüber ärgerte, dass man während der Ladezeit von »Olympic Games« problemlos um den gesamten Block hätte spazieren gehen können, brachte sich Christian bei, wie man Programme schrieb, die aus den lahmen Kisten und ihrem Zubehör das Maximum herausholten. Bereits seine Datasette bewegte sich deutlich schneller als alle anderen, und kurz darauf standen zwei Diskettenlaufwerke nebeneinander auf seinem Schreibtisch, die sich gegenseitig zu beschleunigen schienen. Irgendwann genügte ihm dieses Privileg nicht mehr. Also entwickelte er nachts, wenn seine Eltern schliefen, professionelle Software, mit deren Hilfe richtige Unternehmen ihre Produktionsabläufe optimieren konnten.
Er war so alt wie ich und seit jeher schlechter in der Schule, aber wenn ich mich nun mit ihm unterhielt, verstand ich nur noch Bahnhof: Ich kapierte ja nicht einmal die einfachen Codes, die man aus den damals schwer angesagten Computer-Zeitschriften abtippen konnte. Christian war auch der einzige Mitschüler, den ich kannte, der sich einen sündteuren Computer mit dem lustigen Namen »Apple Macintosh« kaufte, weil sich damit angeblich leichter arbeiten ließ. Und nicht einmal zwei Jahre vor dem Abi meldete er sich von heute auf morgen von der Schule ab. Ich sah ihn nie wieder, las aber viel später von ihm, nachdem ihm Microsoft für seine kleine Software-Firma zehn Millionen Euro überwiesen hatte. Ich war nicht einmal sonderlich überrascht über diese Meldung, doch Christian war die absolute Ausnahme in meinem Freundeskreis.
Glücklicherweise bestimmte der C64 und später sein deutlich schnellerer und technisch anspruchsvollerer Nachfolger »Amiga«, den ich mir mühsam binnen mehrerer Jahre zusammensparte, mein Leben nicht vollends. Ich besaß keine zwei Diskettenlaufwerke und verbrachte auch die Nächte nicht vor dem Monitor. Schon meine Eltern hätten dies niemals zugelassen: Von meinem Vater gab es bereits nach einer gut einstündigen Spielerunde eine ordentliche Standpauke, dass sich das wahre Leben sicherlich nicht in einem neumodischen Plastikkasten abspiele, sondern draußen vor der Tür. Und meine Kumpels sorgten dafür, dass dieser Satz stimmte. Zwar besaßen die inzwischen auch alle einen PC, aber wir waren uns einig darin, dass es noch etwas ganz anderes gab neben der Elektronik.
Mit der Pubertät nämlich rückte der gerade erst in unserer Gegenwart aufgepoppte technische Fortschritt schon wieder in den Hintergrund. Wir trafen uns nun lieber beinahe allabendlich am stillgelegten Straßenbahn-Haltestellenhäuschen, vor dem wir uns gegenseitig voller Stolz unsere frisierten Roller oder die getunten Mofas vorführten, um die wenigen anwesenden Mädchen zu beeindrucken. An den Wochenenden lernten wir in der Tanzschule die richtigen Schritte für einen langsamen Walzer oder gingen anderweitig aus. Dank unserer ausgeklügelten Telefonlawine musste jeder nur einen einzigen Anruf tätigen, um am Ende bis zu 20 Leute zusammenzutrommeln, die stets zuverlässig und ohne große Verspätungen am vereinbarten Treffpunkt auftauchten. Gelegentlich kickten wir nun sogar wieder auf unserem alten Bolzplatz; die überschüssige Energie und das ganze Testosteron, die wir als Teenager unvermittelt in uns spürten, mussten ja irgendwie heraus – und nach zweimal 30 Minuten am Kleinfeld war das auch der Fall.
Bei allem, was wir so anstellten, war wichtig, dass wir es nicht alleine taten. Wir waren uns dessen wahrscheinlich nicht bewusst, aber selbst die Zeit am Computer verbrachten wir niemals ohne einen Mitspieler. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass diese Art von Spiel alleine Spaß machte, also bildeten wir Teams, die sich in regelrechten Wettbewerben in den jeweiligen Programmen maßen, wir schrieben unsere Ergebnisse fein säuberlich in endlose Tabellen, die wir über Monate hinweg verglichen, und wir redeten die ganze Zeit miteinander, selbst mit dem Joystick in der Hand. Und wenn auf dem Bildschirm einmal zu oft die nervige Nachricht »Game over« erschien, dann schalteten wir eben aus und unternahmen etwas anderes. Ich habe nie so viel mit Gleichaltrigen unternommen wie in jenen Jahren, nicht zuvor und auch nicht hinterher. Es waren vielleicht die letzten Jahre einer Jugend, wie sie – bei allen Problemen und Sorgen, die man auch damals selbstverständlich hatte – unbeschwerter nicht sein konnte. Und wie sie es nie mehr werden würde.
So verklärt das klingen mag: Die diesbezüglichen Erinnerungen meiner Eltern sind sogar weitaus romantischer, obwohl die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen zu deren Kindheit sehr viel schwieriger waren als bei mir. Aber sie schwärmen noch immer davon, dass der Zusammenhalt, das Gemeinschaftsgefühl und die Kameradschaft genau dann am größten waren, als es am wenigsten Ablenkung gab. Mein Vater etwa sehnte sich jedes Mal den Sonntagnachmittag herbei, wenn seine Familie vom Kirchgang nach Hause zurückgekehrt, das Mittagessen verdaut und der Mittagsschlaf absolviert war – und sein Papa endlich für die Kinder Zeit fand. Sie setzten sich also zu viert auf den Wohnzimmerboden, packten ein zerfleddertes »Mensch ärgere Dich nicht«-Brett aus und spielten leidenschaftlich und ohne eine Minute Pause, bis es dunkel wurde und meine Großmutter mit strengem Blick auf die Bettruhe hinwies. Dass ein solch unspektakuläres Würfelspiel über Jahre hinweg den Höhepunkt einer entbehrungsreichen Woche darstellte, treibt mir Tränen der Rührung in die Augen – und einem heutigen Teenager vermutlich Tränen der Belustigung.
Für einen Neun- oder Zehnjährigen des fortschreitenden 21. Jahrhunderts ist eine Welt ohne das Internet und all seine rasanten Begleiterscheinungen schlicht unvorstellbar. Es wachsen längst die ersten Generationen heran, die es nie erlebt haben, dass es einmal eine Zeit gab, in der ein Computer ein nützliches Hilfsmittel im Büro war oder eben ein netter Zeitvertreib mit harmlosen Spielereien – und ein Telefon ein total unspektakuläres Utensil, mit dem man bestenfalls von zu Hause oder zur Not auch von einer übel riechenden, gelben Metall-Glas-Kabine aus mit anderen Menschen telefonieren konnte und sonst nichts. Eine Zeit, in der man seinen Schwarm mit pochendem Herzen direkt ansprechen oder wenigstens einen originellen Brief schreiben musste, wenn man ihn kennenlernen wollte. Eine Zeit, in der man sich die Erlebnisse der vergangenen Woche am Freitag- oder Samstagabend in launiger Runde erzählte; in der man ein geheimes Tagebuch führte, das niemals jemand anderes lesen durfte – und in der Freundschaft ein wirklich hohes Gut war; das höchste vielleicht, das es gab.
Das Kuriose daran ist, dass diese Zeit aus der Sichtweise heutiger Jugendlicher vermutlich irgendwann zwischen dem Spätmittelalter und dem Beginn des 20. Jahrhunderts angesiedelt sein muss. Tatsächlich aber haben ich und meine Klassenkameraden nachweislich weder Napoleon noch Carl Benz persönlich kennengelernt. Auch wir verfügten bereits über elektrischen Strom, Farbfernsehen und Kunststoff-Turnschuhe. Wir freuten uns über technische Neuerungen wie den Walkman oder die CD, wir staunten über die atemberaubenden Spezialeffekte in so spektakulären Filmen wie ET, Ghostbusters oder Gremlins, und ein kleines Rennauto im Maßstab 1:16 ließ sich ganz ohne Verbindungskabel mittels einer Funk-Bedienung fernsteuern. Es war nicht alles schlecht!