Generation Kohl - Andreas Hock - E-Book

Generation Kohl E-Book

Andreas Hock

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Beschreibung

Ob man ihn nun mochte oder nicht: Mit Helmut Kohl, dem am längsten amtierenden Bundeskanzler Deutschlands, verbindet eine ganze Generation die Erinnerung an eine besondere Zeit. Damals konnten wir noch zwischen Gut und Böse unterscheiden und auch ohne Facebook und Tinder entstanden Freundschaften fürs Leben. Für die meisten Familien war der gemeinsame Samstagabend heilig und der zweiwöchige Adriaurlaub war der Höhepunkt eines jeden Jahres. Es war eine Zeit des Friedens und der Sicherheit. Andreas Hock erzählt anhand von politischen Ereignissen und persönlichen Erlebnissen aus einer Ära, deren tatsächliche Bedeutung wir erst jetzt, nach dem Tod Helmut Kohls, wirklich ermessen können. Generation Kohl ist ein Buch für alle, die sich angesichts der extremen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts und einer immer hektischer werdenden globalisierten Welt ein bisschen nach der langweiligen guten alten Zeit sehnen ...

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Seitenzahl: 235

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Originalausgabe

1. Auflage 2018

© 2018 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Antje Steinhäuser

Umschlaggestaltung: Manuela Amode

Umschlagabbildung: shutterstock/Diana Talion

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print 978-3-7423-0453-7

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95971-984-1

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95971-985-8

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter:

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

»Kohl wird nie Kanzler werden.

Er ist total unfähig.

Ihm fehlen die charakterlichen,

die geistigen und politischen Voraussetzungen.

Ihm fehlt alles dafür!«

Franz Josef Strauß, 1976

»Entscheidend ist, was hinten rauskommt.«

Helmut Kohl, 1984

Inhalt

Vorwort

Konstruktives Misstrauensvotum

Gnade der späten Geburt

Bonner Runde

Grüße aus Oggersheim

Stammtisch im Maternus

Strickjacke und Saumagen

Epilog

Quellen

Vorwort

Dass Helmut Kohl, zumindest für mich, ausgerechnet auf einem Brauereifest starb, war einigermaßen paradox. Schließlich war er bekennender Weintrinker, und es ist nicht bekannt, dass er in seinem geliebten »Deidesheimer Hof« oder irgendwo sonst jemals ein Pils oder ein Hefeweizen bestellt hätte. Aber die Nachricht von seinem Tod erreichte mich nun mal genau dort: Wir saßen zwischen einer Bühne, auf der die amtierende Hopfenkönigin einen kleinen, volkstümlichen Tanz vorführte, und einem Stand, an dem ein tätowierter Enddreißiger mit Vollbart und zwei Ohrlöchern in Untertellergröße irgendeine Craftbeer-Sorte ausschenkte, die sich »God’s own Piss« nannte und fünf Euro pro Glas kostete. Es war keine Frage, was einem Mann wie Kohl wohl besser gefallen hätte, das tanzende Mädchen mit seiner goldenen Schärpe oder die Herrgottspisse. Aber schon vor der traurigen Neuigkeit war auch ich leicht befremdet darüber, dass man selbst mit einem Bier inzwischen ungestraft Blasphemie treiben konnte. Ich betrachtete leicht beseelt die Hopfenkönigin und fragte mich ernsthaft, ob ich in den letzten Jahren womöglich ein bisschen altmodisch, bieder oder spießig geworden war. Die Antwort lautete offenbar in allen drei Punkten: Ja. Vielleicht war ich das aber auch schon immer und bemerkte es nur nicht.

Zuvor war unsere Stimmung ausgelassen. Zumindest so ausgelassen, wie sie eben sein konnte in diesen Zeiten – auf einer Veranstaltung mit ein paar Tausend dicht aneinandergedrängter, argloser Menschen. Am Eingang standen erstmals Sicherheitsmitarbeiter mit Tränengaspistolen, sie trugen Schlagstöcke und schusssichere Westen. Wir mussten unsere Rucksäcke öffnen und auf Handfeuerwaffen, Bomben oder was weiß ich für ein Zeug durchsuchen lassen, das kein normaler Mensch einfach mit sich herumtragen würde. Und auf der einzigen Zufahrtstraße hatte der Veranstalter mehrere schwere Betonpoller aufstellen lassen, um zu verhindern, dass ein Lastwagen in die Menge raste, die sich gerade gepflegt betrank.

Ich persönlich glaubte eher nicht, dass dieses Fest, auf dem ein paar Dutzend lokale Brauereien sowie ein gotteslästerlicher Rocker ihre Spezialitäten ausschenkten und auf dem sich an jedem Tag ein neuer Ochse namens Herbert an einem Grillspieß drehte, tatsächlich im Fokus des islamistischen Terrors stand. Aber man konnte heutzutage ja nie wissen – und allein die Tatsache, dass die Organisatoren derartige Maßnahmen umsetzten, war der unumstößliche Beweis, dass irgendwie etwas aus den Fugen geraten war.

Als Erster bekam Matthias die Mitteilung. Auf seinem Smartphone waren die »Push«-Nachrichten der Bild-Zeitung aktiviert, und so erhielt er alle Eilmeldungen immer sofort auf den Startbildschirm. Noch bevor Matthias etwas dazu sagen konnte, checkte Thorsten gewohnheitsmäßig wie alle ein bis zwei Minuten die Seite von Spiegel-Online und las ebenfalls im Live-Ticker von Kohls Tod. Und in Ollis Twitter-Account liefen zeitgleich die ersten Stellungnahmen anderer Politiker und weiterer besonders mitteilungsbedürftiger Menschen zu dem traurigen Ereignis auf. Vermutlich war der Altkanzler noch nicht einmal kalt, als das ganze Land bereits Bescheid darüber wusste, was da vor ein paar Stunden in Oggersheim passiert war. Es geschieht ja alles in Echtzeit heutzutage und gelegentlich sogar noch etwas schneller. Das muss man auch nicht immer unbedingt nur gut finden.

Früher hätten wir, wären wir gemeinsam auf einem Brauereifest oder ähnlich freudvollen Anlässen unterwegs gewesen, auch eine derartig wichtige Meldung allenfalls am Abend aus den »Tagesthemen« oder dem »Heute Journal« erfahren oder – wenn es mal wieder etwas später geworden war und wir ermüdet von guten Gesprächen und vermutlich fünf bis zehn alkoholhaltigen Getränken ins Bett fielen – aus der Zeitung oder dem Radio am nächsten Morgen. Nun aber saßen wir alle wie selbstverständlich mit unseren griffbereiten Mobiltelefonen am Tisch, was uns schon längst nicht mehr auffiel – und nahmen dank unserer LTE-tauglichen Datenverbindung mit dreihundert MBit pro Sekunde permanent am mal mehr und mal weniger wichtigen Weltgeschehen teil. Und wenn wir einmal nicht alle paar Sekunden im Internet nachguckten, ob sich die Erde auch wirklich noch drehte, welchen Fußballer irgendein Ölscheichverein als Nächstes für eine Ablösesumme in Höhe des Bruttoinlandsproduktes eines Dritteweltstaates verpflichten wollte oder wo sich wieder ein Arschloch in die Luft sprengte, dann fotografierten wir unser Essen und stellten es auf Facebook.

»Ach, der Kohl ist tot«, sagte Matthias.

»Weiß ich schon«, sagte Thorsten.

»Hab’s auch gerade mitbekommen«, sagte Olli.

Ich sagte nichts. Unter dem Tisch schaute aber auch ich auf mein Handy, las die Meldung und schluckte. Es stimmte also, und auch, wenn man angesichts von Kohls Zustand eigentlich seit Jahren täglich mit dieser Nachricht rechnen musste, war meine Stimmung einigermaßen im Keller. So kurios es mir auch vorkam, aber ich war tatsächlich: traurig. Ich wusste überhaupt nicht warum, schließlich stand Helmut Kohl schon lange nicht mehr im Vordergrund des öffentlichen Bewusstseins. Noch dazu war er ein Pflegefall, eine unwirklich gewordene Erscheinung aus der Vergangenheit, und ich konnte auch nicht gerade behaupten, dass ich näher mit dem Mann bekannt war – von einer, wenn auch denkwürdigen, einzigen persönlichen Begegnung einmal abgesehen. Aber in diesem Augenblick fühlte ich mich, als sei ein kleines Stück meines Lebens mit Kohl zusammen in seinem Oggersheimer Bungalow gestorben: Ich trauerte um das allerletzte Stückchen kindliche Unbeschwertheit, das von früher übrig geblieben war und das noch nicht von den zweifelhaften Errungenschaften des einundzwanzigsten Jahrhunderts wie der ständigen Erreichbarkeit, dem strapaziösen Überangebot an Freizeitmöglichkeiten oder zuletzt einer permanenten Terror-Angst verdrängt worden war.

Als ich später am Abend nach Hause kam, suchte ich in meinem Büroschrank nach einem Buch, das ich recht weit hinten fand – zwischen jenen Büchern, die ich schon längst aussortieren oder zumindest bei eBay verkaufen wollte. Es war der erste Teil der Memoiren von Helmut Kohl, die »Erinnerungen 1930-1982«. Ich wischte den Staub der vergangenen dreizehn Jahre vom Gesicht des Altkanzlers, schlug den Wälzer auf, den ich niemals über das Kapitel »Student in Frankfurt und Heidelberg« hinaus gelesen hatte, und blickte auf die Widmung, die Kohl mir einst in schnörkelloser Schrift hineinschrieb. »Für Andreas Hock, in guter Erinnerung und mit den besten Wünschen« las ich da neben dem in römischen Zahlen verfassten Datum »29. April 2004«. Dabei dachte ich nach, welche Erinnerung ich eigentlich an diesen so außergewöhnlichen wie umstrittenen Politiker besaß, an dem sich immerhin vier SPD-Kanzlerkandidaten und sechs Parteichefs die Zähne ausbissen.

***

Ich wurde 1974 geboren. Als Kohl im Herbst 1982 an die Macht kam, ging ich gerade in die zweite Klasse und begann erst langsam zu begreifen, dass das Leben nicht nur aus Spielen im Freien, der Biene Maja im Fernsehen, Sommerferien in Österreich und den Besuchen im Schrebergarten meines Patenonkels bestand. Die Bundestagswahl 1987 fand ausgerechnet in jener Woche statt, in der ich mich unsterblich in Susanne Fuchs verliebte, die kurz zuvor auf unsere Schule gekommen war; eine Liebe, die leider unerwidert blieb und die mir beinahe und zum ersten Mal das Herz aus dem Leib zu reißen drohte. Die deutsche Einheit erlebte ich dann als ungestümer Teenager, der sich ­anschickte, mit einem uralten und illegal fahrtüchtig gemachten Vespa-Roller wenn schon nicht die Welt, dann doch wenigstens das nähere Umland zu erobern. Den Wahlsieg über Rudolf Scharping 1994 bekam ich gar nicht live im TV mit, weil ich zu diesem Zeitpunkt die Sonntagabendschicht an der Bar im örtlichen Kino übernahm – um dringend benötigtes Geld zu verdienen, weil ich kurz zuvor von zu Hause ausgezogen war. Und Helmut Kohls unwürdiger Abgang vier Jahre später, als niemand ihn mehr wirklich ertragen mochte, markierte schließlich auch einen Wendepunkt in meinem Leben. Ich hatte unmittelbar zuvor mein Jurastudium geschmissen und wollte Journalist werden.

Das alles hatte mit Helmut Kohl natürlich überhaupt nichts zu tun – und hing für mich doch auf eine seltsame Weise mit dem Bundeskanzler zusammen, der meine vielleicht wichtigsten Jahre prägte. Ob es auch die schönsten waren, vermag ich nicht mit Sicherheit zu sagen. Manchmal, in besonders wehmütigen Momenten, wenn ich mich dabei ertappe, wie sich die Sorgen über die Zukunft und der Stress der Gegenwart unheilvoll miteinander vermengen, scheint es mir, als sei das Deutschland der Achtziger und frühen Neunziger ein Land gewesen, in dem in Rhein, Main und Donau kein verbracktes Abwasser, sondern Milch und Honig flossen. Ein Land ohne größere Probleme und innere Spannungen, in dem sich alle Menschen gegenseitig respektierten, jeder einer geregelten Arbeit nachging und genug Geld für alle dabei abfiel, sodass man zweiwöchige Urlaube in Italien ebenso selbstverständlich bezahlen konnte wie den neuen Nordmende-Fernseher, einen Videorecorder oder alle sechs oder sieben Jahre ein neues Auto. In anderen Momenten wiederum, beim Betrachten einiger alter Fotos aus jenen Tagen zum Beispiel, schaudert es mich beim Gedanken an diese Zeit, die grauenvolle Moden hervorbrachte, in der unser Wald zu sterben drohte und wir uns keine Pilze mehr zu essen trauten, weil in Russland ein Atomreaktor explodiert war.

Trotzdem oder auch gerade deshalb ließ sich nicht leugnen, dass Helmut Kohl für mich und wahrscheinlich viele andere Altersgenossen auch weitaus mehr war als nur ein dicker Mann aus dem Fernsehen, der seine Brötchen damit verdiente, dass er ein paar Entscheidungen traf, über die sich unsere Eltern entweder aufregten oder sie guthießen. So wie Konrad Adenauer für die geschundene Nachkriegsgeneration nicht wegzudenken gewesen ist oder Willy Brandt für die Achtundsechziger, die genug hatten von Spießertum und allzu deutschen Tugenden, gehörte ich nun mal zur »Generation Kohl«, ob mir das nun passte oder nicht. Die Jahre 1982 bis 1998 – seine Jahre – prägten mein Leben wie keine andere Zeitspanne zuvor und danach, sie tun das bis heute und wahrscheinlich weit darüber hinaus. Und wenn ich genau darüber nachdenke, bin ich angesichts des gegenwärtigen Zustandes unserer Gesellschaft und der Herausforderungen unserer komplizierten Zeit eigentlich ganz froh darüber. Es hätte, das muss man aus heutiger Sicht so sagen, weitaus schlimmer kommen können.

Konstruktives Misstrauensvotum

Warum ich ab einem Herbsttag im Jahr 1982 plötzlich zur Generation Kohl gehörte

Als Helmut Schmidt am Freitag, den 1. Oktober 1982, nach einer sechsstündigen, emotional aufgeladenen Debatte mit zweihundertfünfunddreißig zu zweihundertsechsundfünfzig Stimmen sein Amt an seinen ungleich ungelenkeren Vornamensvetter verlor, bekam ich das gar nicht mit. Stattdessen freute ich mich wie verrückt auf das bevorstehende Wochenende. Die letzte Stunde bei Frau Wilms war vorüber, und ich stellte schon jetzt fest, dass im zweiten Schuljahr, das vor gerade erst drei Wochen begonnen hatte, ein anderer Wind wehte als im Jahr zuvor. Es gab nun nicht mehr ausschließlich schriftliche Beurteilungen, sondern echte Noten, was den Druck auf uns Kinder erheblich erhöhte. Neue Fächer wie Heimat- und Sachkunde oder Rechnen kamen hinzu, und die Hausaufgaben ließen sich auch nicht mehr mal eben mit einer Viertelstunde Tiere ausmalen erledigen, sondern erforderten bereits eine gewisse Sorgfalt und echte geistige Anstrengung. Kurzum: Die zweite Klasse sah nach jeder Menge Arbeit aus, und zu allem Übel war am Freitagmittag nun auch erst um 13 Uhr Schluss und nicht wie bislang um Viertel nach elf.

Ich hatte, wie für einen gerade noch Siebenjährigen vermutlich üblich, nicht die leiseste Ahnung von Politik. Das einzige überregionale Ereignis, das bislang überhaupt meine Beachtung fand, war die Hochzeit von Prinz Charles und Lady Diana ein Jahr zuvor, die live im Fernsehen übertragen wurde und die meine Mutter und meine Tante zu Tränen rührte. Ansonsten interessierte es mich einen feuchten Kehricht, was auf der Welt los war – und erst recht, was in den turbulenten letzten Wochen im fernen Bonn passierte; einer komischen Kleinstadt, die ich auch nur deshalb kannte, weil wir entfernte Verwandtschaft in der Ecke hatten und der Name jeden Abend mehrmals in den Fernsehnachrichten verlesen wurde, nach deren Ende ich stets ins Bett musste.

Es gab ja auch Wichtigeres zu tun, als die großen politischen Zusammenhänge zu verstehen: Neben den schon erwähnten schulischen Herausforderungen ging ich seit einiger Zeit begeistert in unseren lokalen Fußballverein, in dessen F-Jugend ich als verlässlicher Vorbereiter für Roman fungierte, den bulligen Mittelstürmer, der in meine Parallelklasse ging und zwar auf den Monat genauso alt war wie ich, aber einen Kopf größer und bestimmt zehn Kilo schwerer. Unsere Vorbilder waren Pierre Littbarski, Kalle Rummenigge und seit dem verlorenen WM-Endspiel sogar Paolo Rossi, der beim zurückliegenden Turnier in Spanien Torschützenkönig geworden war. Wir hatten zwei Mal Training die Woche, was schon mal jede Menge Zeit und Energie kostete. Und an den anderen Nachmittagen rief ich meine drei besten Freunde Olli, Thorsten und Matthias an und verabredete mich mit ihnen zum Staudammbauen, zum Bolzen auf der Obstwiese oder, bei schlechtem Wetter, zum Lego. Wir konnten sogar Stunden zubringen mit Beschäftigungen, für die es nicht mehr brauchte als unsere Hände. Ein bisschen Papierflieger falten, ein bisschen Basteln und Kommando Pimperle – so unkompliziert war Freizeit damals.

An den meisten Wochenenden machten meine Eltern und ich zusammen mit meinen Großmüttern einen Ausflug. Meine Großväter waren beide tot, also nahmen wir die alten Witwen kurzerhand mit, und während wir zu dritt zwei oder drei Stunden einem roten Punkt oder einem blauen Kreuz folgten und dabei über Wiesen und durch Wälder wanderten, saßen meine Omas auf einer Bank, plauderten über Gott und die Welt, aßen mitgebrachten Kuchen und warteten. Danach fuhren wir zurück und kehrten gemeinsam in der Gastwirtschaft von Herrn Irion in unserem Viertel ein. Dort gab es nach herrschender Meinung die besten Rindsrouladen der Welt, die Frau Irion zubereitete, während ihr Mann jedes einzelne Pils mit der Präzision eines Bombenentschärfers zapfte. Ich liebte diese gemütlichen Tage und ich weiß, dass es entsetzlich verklärend klingen mag, aber genauso und nicht anders war das damals zu Beginn der Achtzigerjahre. Ganz ohne die vorherige Lektüre einer Zeitschrift wie »Landlust« fuhren wir einfach in die Natur und genossen diese. Ich könnte auch beim Geist meines eines Tages im Österreich-Urlaub vergessenen Stoff-Ottifanten schwören, dass es in den Sommern, in denen wir auf diese Weise unterwegs waren, immer warm gewesen ist, wohingegen im Winter monatelang mindestens ein Meter Schnee lag.

Wessen Verdienst dieses verlässliche Wetter seinerzeit war, lässt sich wahrscheinlich wissenschaftlich nicht belegen, aber unter Helmut Kohl ist es wenigstens nicht schlechter geworden. Immerhin hatte er im Jahr 1995, bei der ersten Klimakonferenz in Berlin, sogar das ehrgeizige Ziel ausgegeben, dass Deutschland bis 2005 ein Viertel weniger Klimagase ausstoßen wolle als 1990, und um ein Haar wäre dies Kohls drittes großes Leitthema geworden, nach der Einheit und Europa. Aber noch bevor er gegen Ende seiner Amtszeit zum Klimakanzler werden konnte, wandelte sich dummerweise ausgerechnet das Klima in Deutschland, und er wurde abgewählt. Zuvor – insbesondere während meiner Kindheit – spielte diese Problematik noch keine Rolle. Dass die Ozonschicht immer durchlässiger wurde, bemerkte man erst Ende der Achtziger. Unsere Kühlschränke und Haarspraydosen waren bis obenhin voll mit Treibhausgasen, und bei der Abkürzung FCKW hätten wir vermutlich zuerst an einen Fußballverein gedacht. Das war zwar blauäugig, aber damals konnten wir noch ganz arglos ein paar Stunden in der prallen Sonne spielen, ohne dass die Haut Blasen warf – und falls doch, war das auch kein großes Ding. Das Bewusstsein für einen pfleglicheren Umgang mit unserer Umwelt musste sich erst noch herausbilden.

Was ich aber trotz meiner kindlichen Unbefangenheit politischen Themen gegenüber durchaus mitbekommen hatte, war, dass mein Vater in der letzten Zeit bei der Lektüre seiner Morgenzeitung immer häufiger fluchte. Ich muss vielleicht vorausschicken, dass er 1940 geboren wurde und damit genau ein Jahrzehnt jünger war als Kohl. Aber auch er kannte aus eigener Erfahrung die Schrecken des zweiten Weltkrieges und die Folgen davon. Oft erzählte er mir von den panischen Ängsten, die er als Vier- oder Fünfjähriger in den endlos scheinenden Bombennächten durchleben musste, und noch vierzig Jahre später bekam er Gänsehaut, wenn er in einen Keller hinabstieg. Er schilderte mir auch immer wieder seinen beschwerlichen Schulweg, der ihn über Trümmerberge hinweg quer durch unsere Heimatstadt führte – eineinhalb Stunden hin, eineinhalb Stunden zurück, bei Wind und Wetter und mit den löchrigen Halbschuhen des zwei Jahre älteren Nachbarsjungen. Er berichtete von Melassebroten als einziger Mahlzeit, dem dürren Suppenhuhn, das seine Mutter drei Tage hintereinander auskochte und von seinem ersten Kaugummi, den er von einem pechschwarzen amerikanischen Soldaten geschenkt bekam, der auf einem Panzer saß und rauchte. Mein Vater nahm den Kaugummi und rannte weinend heim, weil er noch nie zuvor einen Farbigen gesehen hatte und sich fürchtete. Das alles erzählte er mir, seinem Sohn, für den die einzig reale Bedrohung die größeren Schüler auf dem Pausenhof waren.

Dergestalt geprägt und vermutlich zu jung, um die historische Leistung Konrad Adenauers für die junge Demokratie in der neuen Bundesrepublik Deutschland zu ermessen, wurde mein Vater in den frühen Sechzigerjahren auf seiner Universität politisch sozialisiert, was ihn fast folgerichtig zum glühenden Anhänger Willy Brandts werden ließ. Als Brandt wegen der Spionageaffäre um Günter Guillaume wenige Wochen vor meiner Geburt seinen Hut nehmen musste, war Helmut Schmidt für ihn die einzig logische Nachfolgelösung. Wieso sollte man jetzt neben dem Kapitän auch noch das Schiff wechseln – in einer Zeit, in der es nicht sicher schien, ob man morgen überhaupt noch tanken konnte und in der Gruppierungen wie die RAF oder die »Bewegung 2. Juni« mit Morden und Sprengstoffanschlägen Strafgefangene aus Gefängnissen freipressen wollten? Mein Vater war sicherlich kein ideologischer Linker, und er brachte auch nie dieselbe Begeisterung für Schmidt auf wie für Brandt, aber er schätzte diesen weltläufigen, hanseatischen Krisenmanager, der das Land pragmatisch durch den deutschen Herbst geführt hatte, und verspürte trotz steigender Arbeitslosigkeit und leerer Staatskassen keinerlei Ermüdungserscheinungen die sozialliberale Koalition betreffend.

Von all dem verstand ich damals freilich nichts, und auch dass mein Vater den Lagerwechsel der FDP bei mehr als einem Frühstück als biblischen Verrat betrachtete, begriff ich selbstverständlich nicht. Was ich aber selbst als Kind sehr schnell kapierte, war, dass er diesen neuen Mann an der Spitze unseres Landes nicht leiden konnte. An jenem geschichtsträchtigen Freitag jedenfalls regte er sich im Beisein von mir und meiner Mutter furchtbar über Helmut Kohl auf, nachdem er aus der Firma nach Hause gekommen war und ohne das Jackett auszuziehen und die Krawatte abzulegen, den Fernseher einschaltete. Dort lief gerade eine von Friedrich Nowottny moderierte Sondersendung, in der die Ereignisse des Tages nochmals rekapituliert wurden. Da Vater bei gutem Wetter immer zur Arbeit lief und dort weder über einen TV-Apparat, noch über ein Radiogerät verfügte, hatte er bis dahin gar nicht mitbekommen, wie die Abstimmung über das konstruktive Misstrauensvotum, das die CDU mit ihrem Oppositionsführer Kohl erzwungen hatte, denn eigentlich ausgegangen war. Er konnte es sich sicherlich denken, die Entwicklung hatte sich ja bereits seit dem Sommer abgezeichnet und bestimmte wochenlang die Nachrichten, aber die eigentliche Entscheidung, dass Deutschland nun einen neuen Bundeskanzler hatte, war ihm bis dato nicht bekannt.

Das muss man sich aus heutiger Sicht einmal vorstellen, dass ein derart relevantes Ereignis an einem Nachmittag stattfinden konnte und Millionen Menschen möglicherweise erst Stunden später davon erfuhren, weil sie eben in irgendeinem Büro saßen oder an einem Fließband standen oder einkaufen gingen und die Abendausgabe der Zeitung noch nicht verkauft wurde. Aber so war das damals, und während Vater gebannt auf den Bildschirm starrte und erst Schmidt und dann seinen einstigen Helden Brandt mit versteinerten Mienen und schmalen Lippen zu Kohl hinübergehen sah, um ihm zur Wahl zu gratulieren, fielen unschöne Worte, wie ich sie bis zu diesem Zeitpunkt aus seinem Mund noch nie gehört hatte.

Fortan sah er sich bemüßigt, meiner Mutter und auch mir seine Meinung über die weiteren Geschehnisse regelmäßig unaufgefordert mitzuteilen. Er schimpfte über die steigenden Spritpreise, die von knapp einer Mark zehn vor zwei Jahren nun die magische Schwelle von einer Mark vierzig überschritten hatten und schob die Schuld sogleich der neuen Bundesregierung zu. Wenn es so weiterging, würde am Ende noch dieser merkwürdige Schlagersänger recht behalten, der in seinem Lied davon tönte, es sei ihm scheißegal, wenn das Benzin eines Tages sogar zwei Mark zehn kostete und es damit mehrere Male zu Dieter Thomas Heck in die ZDF-Hitparade schaffte.

»Das schafft der Kohl auch noch«, prophezeite mein Vater.

»Aber dann ist nix mehr mit ,Ich geb’ Gas, ich will Spaß.’ Dann ist Schluss mit lustig!«

Die weiterhin schlechten Konjunkturdaten, die Mieterhöhung, ja selbst die Mitteilung seines Arbeitgebers, in diesem Jahr das Weihnachtsgeld leider halbieren zu müssen, konnten ja nur mit dem dicken Mann aus der Pfalz und seiner unfähigen Mannschaft zusammenhängen. Als Kohl im Dezember seinerseits die Vertrauensfrage stellte, die Schmidt ein paar Monate zuvor noch bestanden hatte, und diese erwartungsgemäß verlor, grenzte das für meinen Vater an einen justizrelevanten Betrug. Es wurde jedoch niemand dafür angeklagt; stattdessen war klar, dass der Bundestag im kommenden Jahr neu gewählt werden würde. Und obwohl mich Politik nach wie vor nicht interessierte, hatte ich einige Dinge von jetzt an auf dem Schirm:

Erstens hatte unser Land, soweit begriff ich das Ganze dann schon, einen neuen Chef, den mein Vater nicht mochte – weil dieser anscheinend dafür gesorgt hatte, dass er weniger Weihnachtsgeschenke kaufen konnte. Damit fand zweitens auch ich Helmut Kohl doof, denn die Sparmaßnahme der Firma würde sich natürlich auf mich auswirken, wo ich doch das Piratenschiff von Playmobil, Zubehör für meine Märklin-Modelleisenbahn, vor allem aber jede Menge E.T.-Fanartikel auf meinen Wunschzettel schreiben wollte, nachdem ich Mitte Dezember mit meiner Klasse am letzten Schultag vor den Ferien diesen spektakulären Film anschaute, von dem gerade die halbe Welt sprach und in dem ein Fahrrad fliegen konnte, ohne dass die Zuschauer bemerkten, wie die Macher das angestellt hatten. Und drittens schien es sich bei dieser Politik um eine überaus ernste Angelegenheit zu handeln, denn wann immer ich nun vor dem Zubettgehen die Nachrichten zusammen mit meinen Eltern ansehen musste, sah ich in den Berichten über die Geschehnisse in Bonn nie einen der Beteiligten lachen, und mein Vater und meine Mutter lachten ebenso wenig darüber.

Das änderte sich im nächsten Jahr. Unmittelbar nach Silvester bemerkte ich, dass in unserer Stadt auf einmal jede Menge Poster hingen, auf denen jeweils ein einzelner Mensch abgebildet war, der sich bemühte, ein sehr freundliches Gesicht zu machen. Etwas Derartiges war mir noch nie zuvor aufgefallen: Ich kannte nur die Reklame, die auf der Litfaßsäule in unserer Straße oder auf den Plakatwänden auf dem Weg zur Schule klebte. Darauf stand dann, dass ein blonder, gutaussehender Mann meilenweit für Camel Filter gehen würde (was ich seltsam fand, wo doch in jeder Straße ein Zigarettenautomat hing), dass man Persil aus Liebe zur Wäsche benutzen sollte (was meine Mutter auch tat) oder dass ein Glas Hohes C Gesundheit für den ganzen Tag bedeutete (was sich spätestens seit meiner Lungenentzündung im Vorjahr als dreiste Lüge herausstellte). Nun aber las ich überall ganz andere Botschaften, die nichts mit Rauchen, Waschen oder Orangensaft zu tun hatten. Zumindest vordergründig.

Der Mann, den mein Vater noch immer nicht mochte, warb mit dem Satz »Arbeit, Frieden, Zukunft – miteinander schaffen wir’s«. Ich fand, dass das ganz vernünftig klang. Miteinander war doch schon mal besser als vorher, wo es ganz offensichtlich eher gegeneinander gegangen war. Auf dem Poster sah Kohl noch dazu recht vertrauenerweckend aus mit seiner hohen Stirn, den grauen Schläfen und einem Brillengestell, wie es auch für meinen Vater alle zwei Jahre anstandslos von der Krankenkasse bezahlt wurde. Die SPD, also die Partei, die gerade den wichtigen Chefposten in Deutschland verloren hatte, ging nun nicht mehr mit Helmut Schmidt ins Rennen, sondern einem gewissen Hans-Jochen Vogel, der ebenfalls nicht unsympathisch rüberkam, der aber endlos lange Sprüche auf seine Plakate drucken ließ. »Durch Kürzungen der Arbeit muss die Arbeitszeit gerechter verteilt werden. Dazu gehört auch ein neues Arbeitszeitgesetz. Wenn ich Bundeskanzler bin, werden wir es unverzüglich einbringen«, hieß es bei ihm zum Beispiel, was bedeutete, dass auf der Reklame kaum noch Platz für sein Gesicht war. Oder: »Ich bitte die Wähler um Vollmacht, ja um den Auftrag, im Namen der Bundesrepublik Deutschland alles zu tun, damit die Stationierung von Raketen überflüssig wird.«

Das verstand doch kein Mensch, das leuchtete selbst einem Kind wie mir ein, ganz abgesehen von so komplizierten Wörtern wie »Arbeitszeitgesetz« oder »Stationierung«, unter denen ich mir ohnehin nichts vorstellen konnte. Außerdem kannte ich nur Raketen, die im Himmel jede Menge bunter Farben erzeugten, aber die meinte Herr Vogel ­bestimmt nicht, und so befürchtete ich, dass er alleine wegen seiner langen Sätze keine Chance bei der Wahl hatte und machte mir ernsthafte Sorgen um den häuslichen Frieden. Außerdem gab es noch die Partei, die erst Helmut Schmidt und nun Helmut Kohl unterstützte. Und die schrieb einfach »Deutschland braucht die FDP« auf ihre Werbung. Warum, das sagte sie zwar nicht, aber die Behauptung schien zu stimmen, denn ohne den Mann mit den lustigen großen Ohren, der auf den FDP-Plakaten zu sehen war, und seine Kollegen konnte wohl keiner der beiden anderen der neue Kanzler werden, warum auch immer.

In der Fußgängerzone in unserer Innenstadt standen nun auch ständig aufgeregte Leute an wackeligen Tresen mit windschiefen Sonnenschirmen herum und verteilten wahlweise rote, blaue oder gelbe Luftballons, dazu packenweise Handzettel und, wenn man Glück hatte, noch eine kleine Packung Bonbons, Gummibären oder einen Riegel Schokolade. Ich fand das prima, denn wann immer ich mit meinen Eltern samstags in die Stadt ging, konnte ich ein bisschen was abstauben von all dem Süßkram. Eines Tages bemerkte ich vor dem Hertie-Kaufhaus ein paar auf den ersten Blick eher grimmige Gestalten, die bei näherem Hinsehen aber durchweg gutmütig wirkten und mich und die anderen Passanten herzlich anlächelten. Die Männer trugen ausnahmslos einen Vollbart, Cord- oder Latzhosen und grobe Strickpullover und erinnerten mich stark an Malte, den Ehemann meiner Cousine, der es mit seiner Bratsche immerhin zum Berufsmusiker bei den Symphonikern geschafft hatte. Ein paar Frauen mit rötlichen Haaren, weißer Haut und langen Röcken hielten sich ebenfalls an dem Stand auf. Sie erinnerten mich an niemanden, den ich kannte, höchstens ein bisschen an Bibi Blocksberg, und sie verteilten Blumen an die Passanten sowie kleine Anstecker. Auch mir drückte eine der netten Damen so ein Ding in die Hand, auf dem draufstand, dass man zur Atomkraft »Nein Danke« sagen sollte. Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte, wollte aber nicht unhöflich sein. Also nahm ich das Geschenk an und befestigte es mithilfe der Sicherheitsnadel auf der Rückseite an meiner Jacke.

»Was ist denn das?«, fragte mein Vater, als er aus dem kleinen Buchladen von Herrn Fritz gegenüber zurück zum Hertie-Eingang kam und auf meine Brust blickte. Sein Blick verfinsterte sich.

»Keine Ahnung. Das hab’ ich von denen geschenkt bekommen«, sagte ich stolz und deutete auf die Blumenverteilerinnen nebenan, die mir freundlich zuwinkten.

»Nimm das gefälligst ab! ,Atomkraft Nein Danke’ – dass ich nicht lache«, fauchte er. »Was glauben denn diese Gammler, wo der Strom für ihre Kühlschränke herkommen soll? Am besten von der Sonne oder vom Wind oder was?«

»Keine Ahnung. Was ist denn eine Atomkraft?«, fragte ich.

»Das ist etwas sehr Sinnvolles, mein Junge«, sagte mein Vater und warf den Anstecker schwungvoll in den Papierkorb. »Die sorgt nämlich dafür, dass deine elektrische Eisenbahn immer fahren kann.«