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Jean-Antoine About ist der wenig präsentable Held dieser großen kleinen Erzählung, und sein Name ist Programm: Er ist "à bout", am Ende, fertig mit sich und der Welt. Oder zumindest fast; denn als eines Tages ein Telegramm seiner vor vielen Jahren verstoßenen Tochter Edmonde eintrifft, schöpft der verwahrloste alte Mann Hoffnung auf ein gemeinsames Leben, auf Liebe und Vergebung. Er lässt sein Leben Revue passieren: seine jungen Jahre, in denen er Außergewöhnliches zu vollbringen hoffte, seine Ehe mit der wesentlich jüngeren Marthe, seine Hingabe an sein einziges Kind, die Tochter Edmonde – eine Geschichte des Scheiterns. Und dann kommt die Tochter zurück. Wiederum geht der Protagonist "à bout", bis zum Äußersten. "Emmanuel Bove ist längst kein Geheimtipp mehr. Wem es gelingt, dieses große Stück Literatur in die Hände zu bekommen, der wird es entdecken – empfinden – und sich verlieben." [Quelle: Julia Franck, tip] Zum Weiterlesen: "Emmanuel Bove. Eine Biographie" von Raymond Cousse und Jean-Luc Bitton ISBN 9783860347096
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Seitenzahl: 84
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Jean-Antoine About ist der wenig präsentable Held dieser großen kleinen Erzählung, und sein Name ist Programm: Er ist »à bout«, am Ende, fertig mit sich und der Welt. Oder zumindest fast; denn als eines Tages ein Telegramm seiner vor vielen Jahren verstoßenen Tochter Edmonde eintrifft, schöpft der verwahrloste alte Mann Hoffnung auf ein gemeinsames Leben, auf Liebe und Vergebung. Er lässt sein Leben Revue passieren: seine jungen Jahre, in denen er Außergewöhnliches zu vollbringen hoffte, seine Ehe mit der wesentlich jüngeren Marthe, seine Hingabe an sein einziges Kind, die Tochter Edmonde – eine Geschichte des Scheiterns.
Und dann kommt die Tochter zurück. Wiederum geht der Protagonist »à bout«, bis zum Äußersten.
»Emmanuel Bove ist längst kein Geheimtipp mehr. Wem es gelingt, dieses große Stück Literatur in die Hände zu bekommen, der wird es entdecken – empfinden – und sich verlieben.« (Julia Franck in tip)
Mehr zum Autor und seinem Werk unter www.emmanuelbove.de
1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling »Meine Freunde« hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.
Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.
Gabriela Zehnder, geboren 1955, ist freiberufliche literarische Übersetzerin aus dem Französischen und Italienischen und lebt in der italienischen Schweiz. Sie übersetzte Autoren wie Ignacio Ramonet, Jean-Luc Benoziglio, Muriel Barbery, René Laporte, Adrien Pasquali, Etienne Barilier, Giuliana Pelli Grandini, Corinna Bille u. a.
Ein Vater und seine Tochter
Roman
Aus dem Französischenvon Gabriela Zehnder
Edition diá
Jean-Antoine About galt im Stadtviertel der Place Vintimille als wunderlicher Mann. Sein Alter war schwierig zu bestimmen. »Ich bin sicher, er ist gut und gern sechzig«, sagten die einen. Andere sahen in ihm einen Mann reiferen Alters, der vorzeitig gealtert war. Obschon er zu Beginn des Jahrhunderts in dieses Viertel gezogen war, kannte man ihn erst seit fünf, sechs Jahren vom Sehen. Seine unordentliche Kleidung, sein schmutziges Äußeres, sein verstörter Gesichtsausdruck hatten die Leute auf ihn aufmerksam gemacht. Was aber den kleinen Ladeninhabern der umliegenden Straßen vor allem keine Ruhe ließ, war die Tatsache, dass er in einem Bürgerhaus wohnte, über dessen Fassade sich im zweiten und fünften Stockwerk der ganzen Länge nach ein Balkon zog.
Dieses Haus, in dem Jean-Antoine About eine der zwei Wohnungen in der vierten Etage bewohnte, stand in einer Straße in unmittelbarer Nähe des Square Vintimille, und tatsächlich erblickte er einen Teil des Gitters und die ersten Baumgruppen des kleinen Parks, wenn er sich aus dem Fenster lehnte. Oft stand er mit aufgestützten Armen am hintersten Fenster der Wohnung. Es gehörte zu einem Zimmer, dessen abgeschrägte Wand das Nachbarhaus berührte und daher unpraktisch war. Aus diesem Grund war der Raum auch als Badezimmer eingerichtet worden und diente nun als Abstellkammer.
Jean-Antoine About hatte sich hier einen kleinen Winkel eingerichtet, worüber seine Frau, als sie sein Leben noch geteilt hatte, zu spötteln pflegte: »Du brauchst wohl immer einen kleinen Winkel! …«, oder: »Kannst du denn nicht leben ohne Verschlag?«
Von diesem Platz aus überschaute er ein Drittel des Squares, was ihn erbitterte, wenn sich ein Unfall ereignete oder ein Streit losbrach, denn in diesen Situationen bot sich seinen Augen nur eine der Parteien oder nur der vordere Teil eines Automobils dar. War er angekleidet, ging er dann hinaus, mischte sich unter die Schaulustigen und spähte zu den Fenstern hoch, um mit Handzeichen zu bedeuten, »es lohne sich herunterzukommen«. Doch diese Zeichen brauchten nur von ihm zu kommen, damit keiner der Mieter, die an die Fenster geeilt waren, sich rührte.
Man ging ihm aus dem Weg. Es gab Leute, die sich nach ihm umdrehten, wenn er vorbeiging, andere wichen aus wie bei Betrunkenen, von denen man befürchtet, sie könnten einen Schritt zur Seite tun. Er schaute die Frauen auf so unverschämte Art und Weise an, dass die Mütter, wenn er näher kam, ihre Töchter einschlossen, dass manche Passantin, um ihm zu trotzen, die Augen nicht niederschlug, während andere sich bemühten, ihn zu ignorieren. Er blieb vor den Geschäften stehen, um die Verkäuferinnen zu begaffen. Man sagte, er gehöre in Polizeigewahrsam. Mehrere Ladenbesitzer hatten ihm mit einer Tracht Prügel gedroht. Er verkehrte mit zwielichtigen Gestalten ohne abknöpfbaren Kragen und mit auffälligen Stiefeletten, in deren Gesellschaft er in Cafés gesehen worden war. Schließlich führte die Polizei auf die Bitte zahlreicher Bewohner des Stadtviertels, die eine Art Petition eingereicht hatten, eine Untersuchung durch. Doch sie ergab nichts.
Antoine About lebte allein mit einer alten Dienstmagd namens Nathalie, die er duzte, die er beschimpfte, der er jedoch völlige Freiheit ließ. Eine fixe Idee trieb ihn dazu, ihr den Hof zu machen. Er konnte ihr nicht gegenübertreten, ohne zu versuchen, sie mit einem anzüglichen kleinen Lachen um die Taille zu fassen. Sie wies ihn sanft zurecht. Wie ein Kind behandelt zu werden brachte ihn nicht in Harnisch. Geduldig versuchte er erneut, seine Dienstmagd zu küssen, ohne dass deren Weigerung ein Gefühl der Wut oder der Enttäuschung in ihm auslöste. Etwas wie Angst, wie Schwäche bewirkte, dass seine Annäherungsversuche harmlos blieben, und Nathalie nahm sie nicht ernst. So verging kein Tag, an dem er ihr, in der Vertiefung einer Tür verborgen, nicht auflauerte und sich auf sie stürzte.
Und sogar in der Nacht, wenn er nach Hause kam, versuchte er, in Nathalies Zimmer einzudringen, die es nicht versäumte, ihre Tür abzuschließen. Da klopfte er dann, flennte, rief: »Mach mir auf … Nathalie … ich liebe dich … mach mir auf …« Danach ging er zu Bett, ohne sich auszuziehen, ohne Licht zu machen, wie zu der Zeit, als er Kommis war und in einer Mansarde wohnte.
Eines Morgens, als er sich anschickte auszugehen und immer wieder zu Nathalie sagte: »Was machst du nur? Bist du noch nicht bereit!« – denn er ging gern mit ihr die Treppe hinunter aus Angst vor den Concierges und vor den Geschäftsinhabern der unmittelbaren Umgebung – und als er ihr mit den Worten drohte: »Ich werde dich davonjagen wie eine Hündin … wie eine Hündin …«, klingelte es. Er ging zur Tür und sagte: »Heute öffne ich selber.« Eine Frau in schwarzem Kittel hielt ihm ein Telegramm hin. Seine Gesichtszüge veränderten sich. Eine innere Erschütterung ließ seine blassen Wangen leicht erröten. Er wurde ganz aufgeregt. Dennoch stieg im Durcheinander seines Geistes der Gedanke an die Oberfläche, man sollte ein Trinkgeld geben.
»Nathalie … Nathalie … bring einen Franc.«
Er nahm das Telegramm entgegen. Die alte Dienstmagd hatte die Tür wieder geschlossen und stand neben ihm.
»Ist es für Sie oder für mich?«, fragte sie.
Er las die Anschrift und antwortete:
»Ich weiß nicht.«
»So lesen Sie doch.«
Wieder schlug er die Augen nieder.
»Ich glaube, es ist für mich.«
»Ist es nun für Sie oder für mich?«
Er riss es auf. Mit einem Blick überflog er die einzige Zeile, die darauf geschrieben stand. Er stotterte: »Es ist für mich.« Sein Gesicht bedeckte sich mit einer leichten Schweißschicht. Er wollte eine ungezwungene Haltung einnehmen, das Telegramm wieder zusammenfalten, doch seine Finger zitterten.
»Worum geht es?«, fragte Nathalie.
Er antwortete nicht. Sie nahm ihm das Telegramm aus den Händen und las: Bin krank. Verzeih. Komme heute Abend nach Hause. Edmonde.
Antoine About ging in sein Zimmer. Er war trunken vor Glück. Zuweilen bewirkte eine Art Gedächtnisverlust, dass er das Telegramm seiner Tochter für Sekunden vergaß. Ihm schien dann, als herrsche finstere Nacht um ihn und als gebe es, irgendwo in dieser Nacht, eine Tür, die er nur aufzuziehen brauche, damit das Licht wieder hereinströme. Alsbald begann eine wahnwitzige Sucherei. Er griff sich mit der Hand an die Stirn. Er stellte sich vor, er ginge mit ausgestreckten Armen vorwärts, wobei er bald stolperte, bald steckenblieb, und er müsste nur auf einen Türknauf stoßen, um diesen Alptraum zu verlassen. Nach einer Weile fand er diesen Knauf. Er zog und zog … und erinnerte sich an alles.
»Ich bin krank«, sagte das Telegramm. In seinem Hirn, in dem es seit mehreren Jahren so ruhig gewesen war, stießen die Vorstellung von Krankheit, die Unentschlossenheit in Bezug auf die Haltung, die er einnehmen sollte, und eine mit Härte vermischte Freude aufeinander. Er stellte sich vor, sein Kind sei von einer Geschlechtskrankheit befallen, ebenjener, vor der er am meisten Angst gehabt hatte für sie, eine Angst, die einer der Gründe für seine Unversöhnlichkeit gewesen war. »Bestimmt ist es das …«, dachte er. Der Gedanke, dass, wenn dem so war, seine Tochter die Sache immerhin nicht zur Sprache gebracht hatte, beruhigte ihn. Dann befiel ihn erneut Unruhe bei der Erinnerung an Edmondes Neigung, sich zu demütigen. »Sie will noch mehr leiden. Sie ist krank. Sie will es mich wissen lassen und mich, als Gipfel der Demütigung, anflehen, sie ein zweites Mal zu verstoßen.«
Wieder wurde es Nacht im Hirn von Antoine About. Es folgten das gleiche Umhertasten, die gleichen verzweifelten Anstrengungen, ans Licht zu gelangen. Er hatte Angst hinzuscheiden wie die Sterbenden am Tag vor den Festtagen. In der Ferne seiner Seele gewahrte er das Glück ähnlich einem leuchtenden Band. Und er plagte sich ab, schlug sich selbst, um wieder zu sich zu kommen.
Schließlich ging er ins Zimmer seiner Tochter, in dem die Fensterläden seit deren Weggang nicht geschlossen worden waren. Auf in einer Ecke gestapelten Reisekoffern lagen Frauenschuhe, deren Inneres grau war von einer flockigen Staubschicht. Ein Tuch bedeckte das Bett. Zwei Rahmen ohne Fotografien hingen an der Wand. Zum ersten Mal öffnete Antoine About das Fenster. Er rief die Dienstmagd:
»Nathalie … komm … komm schnell …«
Das Fieber hatte ihn ganz plötzlich befallen. Er wusste nicht mehr, was er tat. Er begann, kreuz und quer durch die Wohnung zu gehen, ohne innehalten zu können. Jetzt wünschte er sehnlichst, dass alles vor Sauberkeit blitzen und diese Unordnung verschwinden möge, die seinen eigenen Verfall verriet.