Ein völlig anderes Leben - Lisa Quentin - E-Book
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Ein völlig anderes Leben E-Book

Lisa Quentin

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Beschreibung

Jetzt habe ich niemanden mehr, ist Jules erster Gedanke, als ihre Mutter stirbt. Doch dann findet sie bei der Wohnungsauflösung Unterlagen, die darauf hindeuten, dass sie adoptiert wurde. Jule, die sich ihrer Mutter nie wirklich nah gefühlt hat, beginnt ihre gesamte Vergangenheit zu hinterfragen: den überstürzten Umzug in den Westen, den Kontaktabbruch des Vaters, das Verschwinden der Schwester sowie das beharrliche Schweigen ihrer Mutter dazu. Hätte sie heute ein völlig anderes Leben, wäre sie bei ihrer richtigen Familie aufgewachsen? Wäre sie glücklich? Jule weiß, sie muss ihre leibliche Mutter finden und zur Rede stellen. Und ahnt dabei nicht, dass sie nicht die Einzige ist, die jahrelang nach Antworten gesucht hat…

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MOBI

Seitenzahl: 328

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Buch

Jetzt habe ich niemanden mehr ist Jules erster Gedanke, als ihre Mutter stirbt. Doch dann findet sie bei der Wohnungsauflösung Unterlagen, die darauf hindeuten, dass sie adoptiert wurde. Jule, die sich ihrer Mutter nie wirklich nah gefühlt hat, beginnt ihre gesamte Vergangenheit zu hinterfragen: den überstürzten Umzug in den Westen, den Kontaktabbruch des Vaters, das Verschwinden der Schwester sowie das beharrliche Schweigen ihrer Mutter dazu. Hätte sie heute ein völlig anderes Leben, wäre sie bei ihrer richtigen Familie aufgewachsen? Wäre sie glücklich? Jule weiß, sie muss ihre leibliche Mutter finden und zur Rede stellen. Und ahnt dabei nicht, dass sie nicht die Einzige ist, die jahrelang nach Antworten gesucht hat …

Weitere Informationen zu Lisa Quentin finden Sie am Ende des Buches.

Lisa Quentin

Ein völlig anderes Leben

Roman

Originalausgabe

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © der Originalausgabe März 2022

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign GbR

Umschlagmotiv: © DEEPOL by plainpicture und buxarchiv

CN · Herstellung: Han

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-27994-3V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Johannes

Prolog

Das Haus atmet im Gleichtakt. Ein tiefer Seufzer im alten Gebälk, ein leises Surren aus der Küche, irgendwoher ein feines Knistern. Dann wird das Haus ganz still, schmiegt seine festen Arme um uns und trägt uns behutsam durch die Nacht.

Meine Tochter schläft unten im Wohnzimmer, eingewickelt in meine wärmste, in meine weichste Decke. Ich liege oben in meinem Bett unter der Dachschräge. Der Große Wagen funkelt silbrig durch das Fenster über mir. Ich blinzele nicht, halte meine Augen geöffnet, bis die einzelnen Sternenpunkte zu einem großen Strahlen verschmelzen. Die Müdigkeit zieht an mir, doch ich werde nicht schlafen. Zu groß, zu überwältigend ist die neue Wahrheit, und keine Sekunde möchte ich davon verpassen. In jede Zelle meines Körpers soll die Gewissheit sickern, dass wir zusammen sind, in Sicherheit hinter roten warmen Backsteinmauern.

Möge meine Tochter für immer so geborgen sein. Möge sie gesund sein und stark und in Leichtigkeit leben. Möge sie glücklich sein. Ich schicke meine Wünsche gen Himmel, wo sie sich vereinen mit den Milliarden Wünschen anderer Mütter, die für ihre Töchter um genau dasselbe bitten.

Auch meine Mutter schickte ihre Träume für mich dorthin. Ich habe lange nicht mehr an sie gedacht, an diese stille, starke Frau, an ihre Liebe zu mir, derer ich mir stets sicher sein konnte. Nach über zwanzig Jahren vermisse ich meine Mutter plötzlich, als hätte ich sie erst gestern verloren. So gerne würde ich die Freude über meine Tochter mit ihr teilen.

Nun blinzele ich doch, das Sternenstrahlen vor meinen Augen verwässert, und lautlos rutscht eine Träne über meine Wange. Eine zweite folgt.

Mutterliebe, denke ich, Mutterliebe hält die Schichten meines Lebens zusammen, hält mich zusammen. Und was passiert ist, gilt nicht mehr. Was mir angetan wurde, darf nicht länger mein Leben bestimmen. Nur noch im Jetzt und nur noch nach vorne will ich leben, in der Gewissheit, dass meine Tochter bei mir ist.

Sie heute zu sehen, sie zu berühren, war überwältigend. Eisblaue Augen – als ob ich in den Spiegel sehe. Ihr Mund, der das Lachen ihrer Großmutter formt. Ihre Nase, die der ihres Vaters ähnelt. Die Art, wie sie sich die widerspenstigen dunkelblonden Haare aus dem Gesicht streicht. Ich erkenne mein Leben in ihr.

Und ich sehe den einzigartigen Menschen in ihr. Ihren Mut, ihre Stärke, ihre Güte. Aber auch, wie sehr sie gelitten hat. Bei aller Vertrautheit ist sie mir doch fremd.

Ich möchte nach unten gehen, nachschauen, ob alles in Ordnung ist, ihr noch näher sein. Treppenstufe für Treppenstufe möchte ich hinuntersteigen, dann den Flur entlang ins Wohnzimmer schleichen. Selbst im Dunkeln ist mir dieses Haus vertraut. Ich kenne jede Fuge hier, kann jeder Unebenheit ausweichen, jedem Knarzen der Dielen. Ich möchte zu ihr gehen, mich lautlos auf die Sofakante setzen und sie anschauen. Ihr schlafendes Gesicht erkunden, nachsehen, was sie träumt.

Ich richte mich auf, die Füße schon am Boden, da wird mir klar, wie abwegig dieser Wunsch ist. Ich kann nicht zu ihr gehen. Man hat uns der Jahre beraubt, in denen das möglich gewesen wäre, in denen ich an der Seite meiner schlafenden Tochter hätte wachen können, ihr einen Kuss aufs wirre Haar hauchen, die Decke richten.

Heute wäre es unangemessen.

Meine Tochter ist eine erwachsene Frau.

ERSTER TEIL Davor

Am Anfang das Ende

Der Anruf kam gegen halb zehn, kurz nachdem Jule in der Agentur angekommen war. Es war noch ruhig im Büro, nur der Rechner ratterte sich schon wach. Sie starrte in ihren Becher, dem Aquarell aus Kaffee und warmer Milch hinterher, als ihr Handy vibrierte. Es war ein neuer Arzt, den sie noch nicht kannte.

Der Zustand ihrer Mutter habe sich über Nacht verschlechtert. Organversagen. Eingeschränkte Hirnfunktionen.

Natürlich, sie würde sich sofort auf den Weg machen. Nein, sie brauche nicht lange.

Sie fuhr den Rechner wieder herunter, ging zu Laurenz und sagte ihm, dass sie gehen müsse. Er nickte, ohne von seinem Bildschirm aufzusehen, und sie lief los, raus aus dem Glasbunker, zur U-Bahn-Station. Der Regen kam von vorne, kam er in Hamburg immer, nie von oben. Es war, als wüsste der Regen in Hamburg überhaupt nicht, dass es auch senkrecht ging.

Drei Minuten warten.

Ausreichend Zeit für ihre Gedanken, um zu gären, aufzuquellen und ihr das Hirn mit Angst zu verkleben. Seit sie denken konnte, waren sie zu zweit gewesen, Anke und Jule, der Torso einer verstümmelten Familie. Vorsichtshalber hatten sie sich fest miteinander verwoben, die Nähte ihrer Identitäten aufgetrennt und zu einem rauen, grobmaschigen Stoff verknüpft, der ihr Leben geworden war.

Es hatte gut gehalten, bis sich der Krebs in Ankes Körper verbissen hatte, ihn immer poröser werden ließ und heute nun das wahr machte, wovor Jule sich seit Jahren fürchtete: Wenn ihre Mutter jetzt starb, hatte sie niemanden mehr.

In einer Welt, die bald acht Milliarden Menschen beheimatete, würde Jule allein sein. Ein isolierter Mensch inmitten einer komplexen Matrix aus Beziehungen und Verwandtschaften. Wie schwerelos würde sie durch die Welt treiben.

Als sich die Türen der Bahn öffneten, stieg Jule gegen den Strom der Büromenschen ein, mit angehaltenem Atem in die abgestandene Berufsverkehrsluft. Sie setzte sich gegenüber einer Frau mit einem kleinen Mädchen auf dem Schoß und sortierte ihre langen Beine unter den Sitz. Mutter und Tochter schauten aus dem Fenster, und das Mädchen rieb eine Haarsträhne der Frau zwischen den Fingern. Jule folgte ihren Blicken zur Hafenkante, zur stolzen Rickmer Rickmers, den Partydampfern und Barkassen, zum lächerlichen Schaufelraddampfer. Nirgends war die Hansestadt unehrlicher als hier.

Die Frau küsste ihr Kind auf den Scheitel, das Mädchen lächelte und vergrub sein Gesicht im großen Schal der Mutter.

Schnell schaute Jule auf das grau gesprenkelte Linoleum zu ihren Füßen. Womöglich würde sonst etwas aus ihr herausbrechen, das sie oben im Büro fest nach unten gedrückt hatte, das auf keinen Fall hier und besser auch nicht heute herauskommen durfte. Sie biss sich mit den Backenzähnen auf die Innenseite der Wange. Schloss die Augen, als der Schmerz stärker wurde und alles in ihr schrie, sie solle aufhören. Doch sie hörte nicht auf, presste die Lippen fest aufeinander, damit kein Ton nach außen drang, biss weiter, so lange, bis sie nichts anderes mehr spüren konnte als den grellen, kreischenden Schmerz und sie einen Moment Ruhe fand. Dann der vertraute Geschmack von Blut. Sie musste aufhören, lockerte den Kiefer, versuchte die Vereinbarung einzuhalten, die sie mit sich selbst getroffen hatte.

Sie sah nicht mehr zu der Frau und dem Kind, nur noch nach unten, und verband die Linoleumpunkte auf dem Boden zu Mustern und Figuren.

Einmal hatte sie umsteigen müssen, dann waren es noch zehn Minuten Fußweg zur Klinik. Ihre Sneakers schmatzten auf den Schneeresten. In der vergangenen Woche hatte es geschneit, mehrere Zentimeter hoch. Busse und Bahnen waren augenblicklich ausgefallen, Menschen schlitterten über die vereisten Straßen. Der Winter traf die Stadt immer unvorbereitet. Über Nacht waren die Temperaturen aber wieder gestiegen, und seit heute Morgen sog der Regen an den zurückgebliebenen Schneehaufen, die sich an Hauswände und Bordsteine drängten.

Auf den ersten Metern durch das trostlose Labyrinth der Klinikflure hinterließ Jule nasse Abdrücke. Sie bewegte sich zügig durch den Desinfektionsgeruch, der alles mit Hoffnungslosigkeit infizierte. Schon lange musste sie niemanden mehr nach dem Weg fragen. In den letzten vier Jahren war sie so oft hier gewesen, sie kannte die Dienstpläne der Ärzte und Schwestern auf der Station, wusste, wann sie welche Reinigungskraft auf welchem Flur antreffen würde, und an welchem Hintereingang die Pfleger zum Rauchen zusammenstanden. Sie hatte Weihnachten im Krankenhaus verbracht und an Silvester mit den Schwestern auf das neue Jahr angestoßen. Alles hier war ihr so verdammt vertraut.

Jule konnte nicht sagen, wie lange sie schon an Ankes Bett saß. Das Grau draußen hatte eine dunklere Schattierung angenommen, richtig finster war es aber noch nicht. Stundenlang hatte sie Ankes Hand gehalten, die sich spröde und kühl anfühlte. Es gab keine Maschinen und Geräte mehr, kein Netz, keinen doppelten Boden. Nur eine Infusion mit Schmerzmitteln, so hatte Anke es gewollt.

Flüsternd hatte Jule ihr versichert, dass es in Ordnung sei zu gehen. Dass sie genug gekämpft hätte. Dass sie, Jule, zurechtkommen würde. Sie hatte versucht, in diesen letzten Stunden alles zu vergessen, was nicht gut gewesen war, und die Lücken mit schönen Erinnerungen zu füllen:

Wie sie als Kind manchmal in Ankes Bett schlafen durfte, ihre Mutter sie fest umarmt hielt und ihr Wenn es dich nicht gäbe sich als warmes Gefühl in Jules Bauch ausbreitete.

Wie sie gemeinsam ihre neue Adresse geübt hatten, wenn sie wieder einmal umgezogen waren. Karpfenweg 8, schielend und mit Fischmund. Königsallee 211, wie die Nummer der Feuerwehr, nur andersrum.

Oder wie sie bis zuletzt sonntagabends bei Anke gewesen war, zu Schnittchen und Tatort. Wie sie nebeneinander auf dem Sofa gesessen hatten, sich der Nähe der anderen gewiss, und es ganz egal gewesen war, wer ermittelte.

Jule stellte sich vor, dass Anke noch einmal die Augen öffnen und sie anlächeln würde, einen letzten Seufzer ausstoßen und dann friedlich gehen würde.

Aber Anke starb nicht.

Sie röchelte wie eine Ertrinkende, immer wieder setzte ihr Atem aus, sie stöhnte und verzog das Gesicht. Einmal begann sie zu zittern, erst ein leichtes Vibrieren, dann ein heftiges Zucken des ganzen Körpers. Dazu gab sie kehlige Laute von sich, Speichel rann aus ihren Mundwinkeln. Jule drückte und drückte den Knopf, weil aber niemand kam, stürzte sie hinaus auf den Flur, horchte und folgte der Richtung, aus der das Quietschen von Schwesternschuhen zu hören war.

»Schnell!«, rief Jule. »Irgendetwas passiert.«

Schwester Elena folgte ihr. Sie war eine große Frau mit warmem Blick und entschlossenen Bewegungen, die Anke und Jule schon lange kannte. Sie umrundete das Bett und drehte am Rädchen der Infusionsflasche. Schnell entspannte sich der verkrampfte Körper. Elena wartete noch einen Moment, dann zog sie behutsam das Laken glatt und strich Anke über den Handrücken. »Mehr können wir nicht tun«, sagte sie und berührte beim Rausgehen kurz Jules Schulter.

Jule setzte sich zurück ans Bett und fuhr mit den Fingerspitzen den Faltenzug des stumpfen Lakens nach. Hier zu sitzen, ohnmächtig, nur warten zu können – das alles erinnerte sie an früher, an Zeiten, an die sie lieber nicht denken wollte.

Phasen, in denen Anke tagelang in ihrem Bett verschwunden war. Nichts gegessen, viel geweint und durch Jule hindurchgesehen hatte. Jule hatte nach der Schule auf der leeren Seite des Ehebetts gesessen und ihrer Mutter lustige Geschichten erzählt, die sie draußen erlebt oder erfunden hatte.

Diese Tage, manchmal Wochen, in denen Jule die Wohnung in Ordnung hielt, einkaufen ging und sich besonders anstrengte, damit niemand Fragen stellte. Nie hatte sie gewusst, wie lange es diesmal dauern würde.

Doch selbst in guten Phasen, wenn Anke zur Arbeit ging, es schaffte, einzukaufen und aufzuräumen, manchmal sogar Jules Hausaufgaben durchsah oder sie nach den neuen Klassenkameraden fragte, also das tat, was andere Mütter auch taten, hörte ihre Traurigkeit nicht auf.

Die Traurigkeit veränderte nur ihre Form, war nicht mehr flüssig und heiß, sondern wurde zu etwas, das Anke von innen auskleidete, sie kantig und kühl werden ließ, ihre Bewegungen hölzern machte, ihre Sätze kurz.

Schluss damit, dachte Jule. Nicht heute. Sie ließ ihren Blick über die beigefarbenen Fronten der Schränke schweifen, über die schweren braunen Vorhänge, den kleinen Tisch, den anderen Stuhl. Die Wände waren kahl, vor dem Fenster war nur blassgraue Großstadtnacht.

Das Sterben zog sich noch mehrere Stunden hin. Anke wollte und wollte sich nicht geschlagen geben, bäumte sich auf, spie das letzte bisschen Leben aus ihren Zellen.

Stirbt man, wie man lebt?, überlegte Jule. Ist »friedlich entschlafen« das Privileg der Dankbaren? Und blieb für eine Frau wie ihre Mutter, die stets um des Überlebens willen gelebt hatte, die immer auf der Hut gewesen war, keinen Genuss und keine Lust kannte, die ständig gearbeitet hatte, Ordnung verlangte und Leichtigkeit misstraute – blieb für so eine Frau nur ein zäher Tod wie dieser?

Als es dann endlich so weit war, fühlte Jule nichts außer Erleichterung. Zu keinem anderen Gefühl war sie mehr in der Lage. Ihr Vorrat an Angst, Trauer und Verzweiflung war in diesem entscheidenden Moment aufgebraucht, hatte sich erschöpft in den zahllosen Nächten, in denen sie wach gelegen und die Dämonen von sich ferngehalten hatte. Wie sehr sie sich auch anstrengte, sie war nicht angemessen betroffen, als das Zimmer plötzlich von einer tiefen Ruhe erfüllt wurde. Als Schwester Elena ihr Ankes kleinen braunen Rollkoffer übergab und sie zum Abschied umarmte. Als der Arzt ihr die Formalitäten erklärte. Jule nickte einfach, verstand nichts und dachte an ihr Bett. An seine Wärme und Weichheit. Daran, wie es sich anfühlte, auf dem Bauch zu liegen, die Arme unter das Kissen zu schieben, den Kopf abzulegen, die Augen zu schließen und wegzusinken.

Sie verließ das Krankenhauszimmer, und da drang doch noch ein Gefühl zu ihr durch – ein Erstaunen. Einfach gehen, den toten Mutterkörper zurücklassen, im Wissen, ihn nie wiederzusehen, das war doch absurd. Jule hätte lachen können, wenn da nicht dieser dicke Pfropf aus Erschöpfung ihre Kehle verstopft hätte.

Dann stand sie in der kalten Nacht, das Krankenhaus im Rücken, und zündete sich eine Zigarette an. Eigentlich hatte sie schon lange aufgehört, aber heute war es egal. Tief inhalierte sie den beißenden Rauch, schaute nicht zurück und ging. Ihre Füße wurden nass, alles aufgelöst, kein einziger Schneerest zu sehen, dafür überall Pfützen. Sie zog den Koffer einfach durch sie hindurch, er schabte über den Fußweg, der Streusplitt knirschte zwischen den Rädern.

Als sie endlich zu Hause ankam, zog sie den Koffer hinter sich die Treppe hoch. Stufe für Stufe polterte er gegen die ausgetretenen Dielen bis in den vierten Stock. Dann fiel ihr ein, wie spät es war, und sie öffnete leise die Wohnungstür. Hoffte, dass ihre Mitbewohnerin Marie nicht zu Hause sein würde oder schon schlief. Jule wollte nicht reden, nichts erklären müssen, nicht getröstet werden.

Sie streifte sich die Schuhe ab, trug den Koffer in ihr Zimmer und stellte ihn in die Nische neben den Schrank. Es war verheißungsvoll ruhig in der Wohnung, nur das gelegentliche Rauschen vorbeifahrender Autos auf der nassen Straße war zu hören. Jule ging in die Küche und holte sich ein Glas Wasser. Zurück in ihrem Zimmer schaltete sie den Fernseher an. Es war egal, was lief, Hauptsache, es war bunt und es bewegte sich. Sie ließ die Jacke auf den Boden fallen, zog die Jeans aus, ging zur Kommode, wühlte sich durch Socken, BHs und Schlafanzüge, bis sie endlich die Packung mit den Schlaftabletten fand und sich drei aus dem Blister drückte. Eine war ausreichend, aber sie wollte kein Risiko eingehen.

Schlafen.

Nicht denken. Nicht spüren, was fehlte.

Nicht betrauern, was nie da gewesen war.

Wegsein.

Inselbegabung

Vier Jahre zuvor, als der Krebs das erste Mal diagnostiziert worden war, hatte Anke Jule einen braunen DIN-A4-Umschlag gegeben. Er war zugeklebt gewesen und mit »Wichtige Dokumente, Anke Hoff« beschriftet.

Anke hatte gerade die erste ambulante Chemotherapie hinter sich. Schmal und blass saß sie auf ihrem Sofa und schob Jule den Umschlag über die geblümte Wachstischdecke zu. »Da drin sind meine Geburtsurkunde, eine Patientenverfügung und eine Generalvollmacht. Außerdem eine Auflistung aller Versicherungen, die du kündigen musst. Ich möchte eine anonyme Beerdigung, dann musst du dich nicht um die Grabpflege kümmern. Ich habe schon beim Ohlsdorfer Friedhof nachgefragt. Es ist unkompliziert, sobald ich tot bin, musst du dort einfach nur Bescheid geben, dann kümmern sie sich um alles. Ich möchte keine Feier, keine Gäste.«

Jule starrte auf den angebissenen Keks in ihrer Hand und begutachtete das Muster, das ihre Zähne hinterlassen hatten. Sie wollte den Umschlag nicht nehmen, weigerte sich zu akzeptieren, was ihre Mutter gerade tat und sagte.

»Hörst du mir zu? Juliane, das ist wichtig. Diese Unterlagen werden dir helfen.« Anke schob den Umschlag noch ein Stück in Jules Richtung, es waren nur noch Millimeter zwischen Keks und Papier. Sie sprach jetzt über Fristen und Paragrafen, über Versicherungspolicen und Erbschaftssteuer. Jule sah Anke noch immer nicht ins Gesicht und atmete gegen die aufsteigende Übelkeit an. Mit welcher Abgeklärtheit ihre Mutter sich um alle Formalitäten gekümmert hatte. Wie ambitioniert sie ihr Leben abwickelte. Dabei gab es doch noch Heilungschancen. Dass sie einfach so aufgab, ihren Tod einfach so hinnahm, war nichts weniger als Verrat. Jule rang nach Worten, um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen, blinzelte die Tränen weg.

»Nun stell dich nicht so an.« Mühsam hievte sich Anke von der Couch und ging mit unsicheren Schritten zur Wohnzimmertür. »Für dich noch einen Kaffee?«

Jule war froh, dass sie den Umschlag wiedergefunden hatte. Er steckte in der Ablage ihres Schreibtischs, im Wichtig-Stapel, und enthielt neben den Unterlagen und Listen 3.000 Euro in bar, die Jule für die Kosten der Beerdigung verwenden sollte.

Anke hatte Post-its an die einzelnen Dokumente geklebt, auf denen sie den jeweiligen Verwendungszweck vermerkt hatte. Und weil sie alles so gut vorbereitet hatte, alles so reibungslos klappte, konnte Anke schon drei Tage nach ihrem Tod bestattet werden. Beisetzung in Bestzeit.

Jule hatte freibekommen, Sonderurlaub, der ihr im Todesfall eines Elternteils zustand. Sie hatte ihn direkt bei der Personalabteilung eingereicht, nicht bei Laurenz, damit er sie nicht so mitleidig ansehen würde.

Als es so weit war, fuhr sie zum Ohlsdorfer Friedhof und stand allein auf der mit Schneeflaum bedeckten Freifläche. Der Friedhofsmitarbeiter ließ die Urne in das Loch hinab, Jule betrachtete die angelaufenen Erdschichten und konnte nicht fassen, dass das Ankes Ende sein sollte. Diese Frau, an deren Fäden sie zeitlebens gehangen hatte wie eine Marionette, die nie nur Mutter, sondern oft auch Aufgabe gewesen war, voller Widersprüche und Ängste, fragil und fordernd, an deren Ansprüchen Jule zahllose Male gescheitert war, die bis zuletzt mit einem einzigen, kritischen Blick einen Tumult an Emotionen bei ihr auslösen konnte. Diese Frau, die das Zentrum von Jules Leben gewesen war, verschwand nun sang- und klanglos in einem Erdloch?

»Mein Beileid«, sagte der Mann und schüttelte Jule eilig die Hand. Es war keine Hand zum Festhalten, sondern eine, die Jule abschüttelte.

Mit frostigen Füßen, aufgebissenen Wangen und Gedanken aus Eis kehrte Jule in die WG zurück. Sie traf Marie in der Küche, trank einen Tee und nickte interessiert, als sie von ihrer Strafrechtvorlesung erzählte. Auch hier, nichts zum Festhalten.

Als Marie einmal den Raum verließ, gab Jule einen Schuss Rum in ihren Tee, weil weder Füße noch Gedanken wärmer oder weicher geworden waren. Und als Marie sich ganz verabschiedete, trank Jule den Rum ohne Tee. In hastigen Schlucken, bis die Flasche leer war, bis sie die Kälte und die Leere nicht mehr fühlte, gar nichts mehr spürte, bis auf den Schwindel, der ihr Leben war.

Der Gedanke an Ankes Tod festigte sich auch in den kommenden Tagen nicht. Er rutschte weg, verflüchtigte sich und verschwand.

Nur manchmal, wenn Jule sich bei den Überlegungen ertappte, ob Anke heute wohl einen ihrer guten oder schlechten Tage hatte. Ob sie anrufen müsste, um nach den Zwischentönen zu hören. Oder besser noch hinfahren, um sich selbst ein Bild zu machen. Dann fiel ihr ein, dass Anke tot war. Nicht mehr da. Unwiderruflich gegangen. Und ein Schmerz wie ein Schlag auf die Brust traf Jule, dass ihr die Luft wegblieb.

Dann half nur weitermachen, ganz egal was oder wie, nur weiter, weiter, weiter, nur nicht stillstehen, den Gedanken verscheuchen, damit er verschwand und weniger wirklich wurde.

Am besten gelang es Jule in der Agentur. Die superwichtigen To-dos mit absoluter Prio, asap mit Ausrufezeichen und die kollektive Panik, die in der Werbebranche zum guten Ton gehört, ließen keinen Zentimeter Platz, um an Anke erinnert zu werden. Die Atmosphäre im Büro glich der in einer Notaufnahme: Es wurde bis zum Extrem gearbeitet, die Grenzen des Aushaltbaren wurden weiter verschoben, es musste schnell gehen, ständig wurde ums Überleben der Ideen gekämpft.

Hatte Jule sich in den letzten Jahren innerlich ein wenig zurückgezogen, auf Dauer konnte man das ja nicht ertragen, warf sie sich jetzt mitten in die Arena. Sie feilte an Slogans, bis die Funken flogen, trieb Praktikanten und Junioren zu Bestleistungen an, schrieb seitenweise Claim-Entwürfe und übernahm sogar Longcopys, nur um nicht in die WG zu müssen. Wie zu Beginn ihrer Karriere verließ Jule als Letzte das Büro. Wagte sich erst kurz vor Mitternacht nach Hause, wenn sie darauf vertrauen konnte, dass die Müdigkeit sie zielgerichtet ins Bett führte.

Doch es gab immer noch die Zeiten dazwischen, die Probleme machten. In der Schlange vor der Supermarktkasse, in der U-Bahn, auf dem Nachhauseweg. Damit kein falsches Gefühl durchbrach, betäubte Jule sich mit Nachrichten, die besonders schrecklich waren. Artikel über Morde und Missbrauch, Reportagen zu Kriegen und Klimawandel – je abscheulicher die Informationen, desto länger hielten sie ihre Gedanken in Schach.

Doch dann näherte sich das Wochenende. Ab Donnerstag wuchs Jules Panik stündlich. Was sollte sie tun, zwei Tage lang allein im Vakuum ihrer Wohnung? Womit sollte sie die vielen Stunden füllen? Samstagvormittag gab es noch genügend in der Agentur zu tun, doch gegen Nachmittag verließen auch die Engagiertesten das Büro. Wer jetzt noch blieb, machte sich verdächtig, das Pendel schlug nun schnell in Richtung Einsamkeit aus.

Jule täuschte Geschäftigkeit vor, erzählte den Kollegen von einer Fotoausstellung, von einem ausgiebigen Sonntagsfrühstück mit ihrer Mitbewohnerin, von einem schönen Spaziergang durch den Park. Und natürlich musste sie noch Einkäufe erledigen, Wäsche waschen, aufräumen, alles, was man unter der Woche nicht geschafft hatte.

In der Bahn nach Hause überlegte sie, ob sie tatsächlich noch einkaufen gehen sollte. Doch allein der Gedanke daran, sich für eine Käsesorte entscheiden zu müssen, erschöpfte sie. Sie wollte nur ins Bett, sich die Decke über den Kopf ziehen, nichts mehr müssen.

Marie war an den Wochenenden selten da. Sie fuhr zu ihren Eltern nach Bad Oldesloe, wo sie mit Liebe, Lachen und Leichtigkeit aufgepumpt wurde, bis sie am Montag irgendwann glücksselig in die WG zurückschwebte.

Zu Hause angekommen, ließ Jule ihre Schuhe im Flur liegen, die Jacke auf dem Boden. Sie schaffte es gerade noch, die Waschmaschine anzustellen, danach versumpfte sie im Bett vor dem Fernseher. Sie aß eine Packung Kekse, nur einmal musste sie aufstehen, weil die Brösel piksten. Irgendwann schlief sie ein, die feuchte Wäsche hatte sie in der Maschine vergessen.

Als sie am Sonntag aufwachte, war es bereits Mittag. Sie hatte über vierzehn Stunden geschlafen, doch ausgeruht fühlte sie sich nicht. Sie hatte Durst, aber keine Lust aufzustehen, ihr Kopf tat weh, aber im Liegen ging es.

Sie überlegte, Laurenz anzurufen, und ärgerte sich sogleich über den Gedanken. Eine alte Gewohnheit, die sie dringend ablegen musste. Die Lücken mit Laurenz zu füllen, das musste ein für alle Male aufhören. Doch es reizte sie auszuprobieren, ob es noch funktionierte. Ob ihre Wirkung auf ihn noch dieselbe war.

Eigentlich war sie sich sicher, ein kurzer Anruf und er wäre gekommen, hätte den Nachmittag mit Aufmerksamkeit gefüllt. Hätte für sie gekocht und sie zum Lachen gebracht. Sie hätten sich unterhalten und geliebt. Am nächsten Morgen hätte er ihr einen Kaffee ans Bett gebracht, ihr die Haare aus dem Gesicht gestrichen und sie auf die Stirn geküsst.

Er war verbindlich und liebevoll, lustig und entspannt. Doch nie genügte ihm, was sie im Augenblick hatten. Er wollte mehr, wollte Pläne, wollte Zukunft, wollte ein gemeinsames Schild auf einem Briefkasten. Schon als er es zum ersten Mal ansprach, hatte Jule ihm erklärt, sie sei nicht fürs Bleiben gemacht, das müsse er verstehen. Nur so und niemals anders würde es zwischen ihnen sein. Nur so oder gar nicht.

Er war gekränkt gewesen, hatte aber schließlich genommen, was sie ihm von sich gegeben hatte. Seitdem hatte er nicht nach mehr gefragt. Doch sie wusste, dass sich seine Gefühle nicht verändert hatten, dass er irgendwann wieder davon sprechen würde.

Abstand war die wichtigste Regel. Sie durfte nur nicht einknicken.

Gegen vier aß sie Nudeln mit Mayonnaise, etwas anderes gaben die Vorräte nicht her. Sie hätte zum Supermarkt im Bahnhof gehen können, der auch am Sonntag geöffnet hatte. Aber sie hatte sich nicht aufraffen können, zu müde, zu schlapp und eigentlich auch egal. Sie hatte sowieso keinen Hunger gehabt, nur der Blick auf die Uhr hatte sie daran erinnert, dass sie etwas essen musste. Du bist viel zu dünn, hallten Ankes Worte in ihr nach.

Sie aß wütend, sie aß viel. Danach fühlte sie sich miserabel. Schließlich steckte sie sich den Finger in den Hals. Sie würgte über der Kloschüssel, befreite sich von Nudeln, Mayo, Tränen und spülte alles weg.

Jetzt bloß nicht die Kontrolle verlieren. Stattdessen: laufen gehen. Ihrem Körper etwas Gutes tun, Bewegung, frische Luft, Endorphine. Sie kramte ihre alten Laufschuhe hervor, war ein bisschen stolz auf sich, hatte sie das Ruder doch offensichtlich noch mal rumgerissen.

Ihre Gelenke knirschten, der letzte Lauf war lange her, aber eine Runde an der Elbe, das musste machbar sein. Blöd nur, dass die Gedanken die Gelegenheit nutzten: War sie wirklich nur traurig, weil Anke tot war, oder nicht auch erleichtert? Es gab niemanden mehr, um den sie sich kümmern musste, niemanden mehr, der nörgelte, forderte oder verbot. Was sollte sie machen mit dieser neuen Freiheit?

Ein Gedankenorkan, dem Jule nur entkam, indem sie schneller lief, noch schneller, so schnell, dass sie nicht mehr denken konnte, dass die Winterluft scharf in den Lungen brannte, sie heftiges Seitenstechen bekam, dass die Muskeln schmerzten, ihr ganzer Körper »Aufhören!« schrie, sie nur noch ihn hörte und keine Fragen mehr, weiterlief, weiter, weiter, weiter.

Wieder zu Hause, ließ sie sich in den Sessel fallen. Fror in den durchgeschwitzten Laufklamotten, fühlte sich aber nicht in der Lage, unter die Dusche zu gehen. Irgendwann döste sie ein, wechselte mitten in der Nacht vom Sessel ins Bett.

Am nächsten Morgen wachte sie in ihren Laufsachen auf und fühlte sich erbärmlich. Aber zum Glück war es Montag, und in der Agentur wartete schon das nächste wichtige Projekt auf sie. Das Wochenende war überstanden. Vielleicht waren ihre Ängste umsonst gewesen, überlegte sie. Ein Leben ohne Anke war möglich. Es gab ein Danach. Sie war mittendrin und noch aufrecht, nicht zusammengebrochen. Überhaupt besaß sie doch ein beachtliches Talent zu funktionieren. Eine Inselbegabung, wenn sie ehrlich war. Denn leider haperte es am ganzen Rest.

Was schmerzt, wird weggeschnitten

Nach zwei Wochen mehrten sich Anrufe und E-Mails von Ankes Vermieter, sogar ein Einschreiben schickte er. Er wollte wissen, wann die Wohnung wieder vermietet werden könne. Die erste Nachricht war mitfühlend. Die nächste fragend. Dann fordernd. Schließlich drohte er mit Räumung.

Weiter hinauszögern konnte Jule es nicht, sie musste sich dem stellen, was Anke nicht für sie geregelt hatte. Sie musste ihre Hinterlassenschaften sichten, hergeben, was nicht von Wert war, verkaufen, was sich zu Geld machen ließ, behalten, was ihr etwas bedeutete.

Es war Freitagnachmittag, und sie hatte eher Schluss gemacht, war einfach gegangen, ohne Laurenz um Erlaubnis zu fragen. Ein Arzttermin, würde sie erklären, wenn er am Montag doch noch nachfragen sollte, am besten Gynäkologe, dann würde er nicht weiter nachhaken. Auf dem Weg zur U-Bahn hatte sie inständig gehofft, dass irgendetwas Schicksalhaftes sie abhalten würde (die Bahn ausfallen, der Schlüssel abbrechen, die Tür klemmen). Doch nichts stellte sich ihr an diesem diesig-grauen Februartag in den Weg.

Sie betrat Ankes Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Alles sah aus wie immer. So, als würde Anke gleich zurückkommen. Nur das Ticken der Uhren war zu hören. Der Sekundenzeiger der Standuhr im Wohnzimmer lief nicht im Takt mit dem der Küchenuhr. Die Standuhr tickte tief und kräftig, die Küchenuhr sprunghaft hinterher. Jule lauschte dem vertrauten Versatz. Tick-tick, tick-tick. Ansonsten war es still. Eine Stille, die in den Ohren summte.

Ankes Tod war hier so viel realer. Alles hatte einen Bezug zu ihr und seinen Sinn mit ihr verloren. Wozu war diese Kaffeemaschine noch gut, wenn es niemanden mehr gab, der Kaffee trank? Wozu der Schal an der Garderobe, wenn er nicht mehr getragen wurde? Die Existenz dieser Wohnung fühlte sich grundfalsch an.

Und erst recht das, was Jule in den kommenden Tagen bewältigen musste. Anke war unnahbar gewesen, niemals wäre Jule einfach so an die Sachen ihrer Mutter gegangen, als Kind nicht und schon gar nicht als Erwachsene, die nur noch sonntags zu Besuch kam. Jetzt all ihre Besitztümer zu durchforsten, jedes Detail ans Tageslicht zu zerren – es erschien ihr geradezu unmöglich.

Als Erstes schaltete Jule das Radio in der Küche und den Fernseher im Wohnzimmer an, danach drehte sie die Heizkörper hoch, ihre Jacke behielt sie vorerst an. Es würde dauern, bis sich die in Ankes Abwesenheit kalt gewordenen Räume wieder aufgewärmt hätten. Der lange, dunkle Flur. Das karge Wohnzimmer, das Schlafzimmer. Die Küche mit dem kleinen Esstisch. Alles war penibel ordentlich. Nicht modern, aber gepflegt. Robuste Möbel, die schon viele Male auf- und wieder abgebaut worden waren. Wenige Besitztümer, die sich leicht in Kisten verpacken ließen. Die Gesetze des Nomadenlebens hatten für Anke bis zuletzt gegolten.

Jule bereute kurz, Maries Angebot, bei der Wohnungsauflösung zu helfen, ausgeschlagen zu haben. Nachdem Jule in den letzten Tagen kein einziges Mal ins Krankenhaus gefahren war, hatte sie gefragt, ob mit Anke alles in Ordnung sei. »Ordnung ist relativ«, hatte Jule gesagt und versucht, es nicht so dramatisch klingen zu lassen. »Sie ist letzte Woche gestorben.«

Marie hatte sie erschrocken angesehen, Jule dann an sich gezogen und umarmt. »Das tut mir so, so leid für dich«, hatte sie gesagt, und Jule war fast die Luft weggeblieben. So viel Nähe und Mitgefühl vertrug sie nicht.

Seitdem bot Marie ständig ihre Hilfe an. Sie könnte für Jule einkaufen, ihre Wäsche waschen, in ihrem Zimmer saugen. Jule war das alles zu viel, sie lehnte konsequent ab.

Als sie jetzt aber in der stillen, klammen Wohnung ihrer toten Mutter stand, kam ihr die zu bewältigende Aufgabe unlösbar vor. Zusammen mit Marie wäre es sicherlich ein wenig erträglicher gewesen. Aber Anke hätte es nicht gefallen, dass eine Fremde all ihre Sachen begutachtete. Überhaupt hatte Anke nicht verstanden, warum Jule nicht endlich aus dieser WG auszog und sich etwas Eigenes suchte.

»Wenn es am Geld liegt, sag es. Ich habe etwas für dich zurückgelegt.«

Es lag nicht am Geld. Es lag an Menschen wie Marie, die Jule sich aussuchen konnte und von deren Nähe sie profitierte. Ungefährliche, planbare Menschen, die abends da waren, wenn sie nach Hause kam. Mit denen sie reden konnte, auch wenn sie ihnen nichts zu sagen hatte. Menschen, die ihr das Gefühl von Gesellschaft gaben, selbst wenn sie nichts verband.

Marie wohnte seit drei Jahren bei ihr. Sie studierte Jura, konnte stundenlang lernen und anschließend alles auswendig wiedergeben. Jule mochte sie. Ihre naive, strebsame Art. Marie wollte gefallen, das machte sie angenehm vorhersehbar.

Nachdem damals aus Jules erster Mitbewohnerin, Isa, eine Freundin geworden war, vielleicht die einzige, die sie je hatte, und weil sie Isas Auszug kaum verkraftet hatte, schwor sie sich, nie wieder jemanden so tief in ihr Leben und ihr Herz zu lassen.

Jule begann in der Küche, dem am wenigsten persönlichen Raum. Sie hatte sich vorgenommen, Zimmer für Zimmer durchzugehen. Die Sachen, die sich verkaufen ließen, stapelte sie in einer Ecke des Wohnzimmers. Die Sachen, die sie spenden würde, in einer anderen. Und die, die auf den Müll kamen, im Flur.

Sie nahm jeden Gegenstand in die Hand. Die Inventur dessen, was von Ankes Leben übrig geblieben war. Meist praktische Gegenstände, nichts Verspieltes, nichts Gefälliges, nur das Nötigste.

Die Küche war schnell erledigt. Geschirr, Töpfe und Pfannen würde sie spenden, die wenigen Vorräte würde sie mit in die WG nehmen. Bei den Kochbüchern überlegte sie kurz, beschloss dann aber, sie wegzuschmeißen. Sie waren alt und vergilbt, wer interessierte sich heute noch für ein DDR-Kochbuch von 1974?

Als Nächstes kam das Schlafzimmer dran. Jule streifte Blusen, Kleider und Strickjacken von Bügeln, klassische Schnitte, gedeckte Farben. Sie faltete alles zusammen und verstaute die Garderobe ihrer Mutter in großen Plastiktüten, die sie unter der Spüle gefunden hatte. Irgendjemand würde sich darüber freuen.

Es war seltsam, Ankes Kleidung zu berühren. Obwohl Jule die Sachen oft an ihr gesehen hatte, wusste sie nicht, wie sie sich anfühlten.

Das Bett abzuziehen, war schwer. Der Kopfkissenbezug roch so stark nach Anke, dass Jule ihr Gesicht in den Stoff drücken wollte, um einzuatmen, was ihr immer gefehlt hatte. Sie beeilte sich, packte Decke und Kopfkissen in eine Tüte fürs Sozialkaufhaus, Laken und Bezug würde sie wegschmeißen.

Danach brauchte sie eine Pause. Öffnete das Fenster im Wohnzimmer, setzte sich auf die Fensterbank, rauchte eine Zigarette und trank große Schlucke vom Likör, den sie hinten im Küchenschrank gefunden hatte. Er steckte noch in Cellophan, war wohl ein Geschenk gewesen.

Anke hatte weder geraucht noch getrunken und hätte daher von Jule verlangt, sofort damit aufzuhören. Sorge war die einzige Form ihrer Zuneigung gewesen. Sie hatte sich um Jules Aussehen, Gesundheit und berufliche Entwicklung gesorgt. Vor allem aber um Jules Körper. Er war zu dünn und zu groß. Er war kränklich und schlapp. Kam Jule sonntagabends zum Tatort-Schauen zu Anke, lautete ihre Begrüßung jedes Mal: »Du siehst aber schlecht aus.«

Jule nahm noch einen großen Schluck Likör. Zuckrig, fruchtig, scharf rann er die Kehle hinunter, dann einen tiefen Zug von der Zigarette. Sie paffte Wölkchen in die feuchte Winterluft, sah ihnen zu, wie sie sich auf die Straße senkten.

Sie brauchte kein schlechtes Gewissen mehr zu haben, sie schuldete niemandem mehr Rechenschaft. Ab jetzt war es allein ihre Entscheidung, was sie ihrem langen, schlappen Körper antat.

Gestärkt von ihrer Pause, gelöst vom Likör, widmete sie sich dem Wohnzimmer und erweiterte ihr Sortiersystem um die Kategorie »Persönliches/Erinnerungen«. Jene Dinge, die sie behalten würde.

Anlass dazu gab ihr die Kuschelkatze Minka, die sie in einer Schublade der Kommode fand. Sie war in dünnes Papier eingeschlagen wie ein besonders kostbarer Gegenstand. Jule hatte nicht gewusst, dass Anke sie aufbewahrt hatte, und sie überkam ein sentimentales Gefühl, als sie der alten Mieze über das struppige Polyesterfell strich. Minka war ihr in Kindertagen eine treue Freundin gewesen. Dass Jule sie bei ihrem Auszug achtlos zurückgelassen hatte, machte ihr jetzt ein schlechtes Gewissen. Dass Anke sie so sorgsam aufbewahrt hatte, umso mehr.

Jule legte auch ein Fotoalbum zu den Dingen, die sie behalten wollte. Sie blätterte es durch und sah sich selbst, winzig klein, ein rosiges Bündel in weißem Mull. Später mit kurzen Hosen und großen Brillen. Bei Schulausflügen mit mehr Lücken als Zähnen im Mund. Sie hatte die Bilder lange nicht betrachtet.

Bei einem Foto von ihrer Abi-Feier blieb sie hängen. Es war eines der wenigen, das Anke und sie zusammen zeigte. Blass und in einem zu kurzen Hosenanzug überragte sie ihre Mutter um einen Kopf. Die trug ein dunkles Kleid, stand aufrecht neben Jule und blickte ernst. Irgendein Fremder hatte das Bild gemacht, vermutlich die Eltern eines Mitschülers, die es von sich aus angeboten hatten. Anke war alleinerziehend, natürlich half man da, wäre doch schade, würde man den besonderen Moment nicht festhalten. Niemals hätte Anke einen Unbekannten darum gebeten, eher hätten sie sich zu Hause vor dem Selbstauslöser verrenkt. Überhaupt konnte sich Jule nicht daran erinnern, dass Anke jemals Hilfe von jemandem angenommen hatte.

»Wir schaffen das allein«, war das Credo ihrer Kindheit.

Sie schafften es. Alles schafften sie allein. Umzüge, Schularbeiten, Krankheiten. Mussten es schaffen, weil sie außer sich niemanden hatten und Anke keinen heranließ.

Wütend klappte Jule das Album zu, genug davon, es war Vergangenheit. Dabei rutschte es ihr aus den Händen, fiel zu Boden und blieb mit aufgefächerten Seiten vor ihr liegen. Jule kniete sich hin, schlug es erneut zu und stand auf.

Und da lag es: ein Familienfoto mit Georg, Anke, Jule und Marlene. Aufgenommen an einem sonnigen Tag in einem Park oder einem Garten; Blumen flankierten das Bild. Die ganze Familie trug kurzärmelig. Marlene hielt ein mit Schokolade überzogenes Eis und strahlte. Georg hatte seinen Arm um Anke gelegt und lächelte ganz selbstverständlich. »Das ist meine Familie«, sagte sein Blick. Und Jule? Nicht älter als zwei, war nur im Profil zu erkennen, turnte auf Ankes Arm und fiel fast seitlich aus dem Bild.

Jules Herz schlug schneller. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es noch ein Foto gab. Und dass es so unschuldig zwischen den anderen klemmte, so als wäre diese vollständige Familie tatsächlich einmal Realität gewesen, etwas, das man bedenkenlos in ein Album klebte.

Georg und Marlene waren Vergangenheit. Mehr noch, sie existierten nicht mehr. Sorgsam waren sie aus ihrem Leben getilgt worden. Es war eines der unausgesprochenen Gesetze zwischen Anke und Jule gewesen: Alles, was schmerzt, wird weggeschnitten.

Spurrinnen

Wenn ich meine Geschichte erzähle, und das tue ich mittlerweile oft, stelle ich mir vor, ich erzählte sie dir. Weil du die Einzige bist, für die sie wichtig ist.

Die anderen sind nur Touristen. Sie kommen und staunen, nehmen am Ende vielleicht ein Stück Beklemmung mit, einen Brocken Schauder, ein Klümpchen Wut. So wie sie auch Teile der Berliner Mauer mitnehmen, die es immer noch zu kaufen gibt. Souvenirs der Vergangenheit, die daran erinnern, was überwunden ist.

Weil für dich und mich aber nichts überwunden ist, musst du alles wissen. Jedes Wort ist für dich bestimmt, jeden Gedanken möchte ich mit dir teilen. Damit du irgendwann einmal die ganze Wahrheit kennst.

Heute heißt es ja, es war nicht alles schlecht in der DDR. Das Miteinander damals und die soziale Sicherheit sind den Menschen in guter Erinnerung geblieben. Auch ich glaube mittlerweile, dass es sich gut in der DDR leben ließ – vorausgesetzt, man kollidierte nicht mit dem System, vorausgesetzt, man bewegte sich in den vorgezeichneten Bahnen.

Die Spurrinnen meiner Geschichte waren aber schon lange vor meiner Geburt vom Schicksal geprägt, sodass ich gar nicht anders konnte, als mit dem System zu kollidieren, sodass ein anderes Leben für mich undenkbar gewesen wäre.

Ich hadere nicht mehr damit. Ich habe meinen Frieden und meine Freiheit darin gefunden, meine Geschichte zu akzeptieren und diese mir zugeschriebene Rolle bestmöglich zu besetzen – die dem Schicksal trotzende, tragische Heldin, das bin ich, deine Mutter.