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Die Schwestern Enne und Suse wachsen in den 1970ern in einem Dorf in Vorpommern auf, wo es kaum mehr gibt als die Fahrradfähre nach Usedom und das so abgelegen ist, dass Fremde schon einmal befürchten, »über den Rand zu kippen«. Suse ist oft krank und Enne muss zurückstecken, weil die Sorge und Zuwendung der Eltern vor allem Suse gilt, was das Verhältnis der beiden Schwestern nicht ganz einfach macht. Es gibt nur wenige Momente der Nähe zwischen ihnen.
Als 1989 Ungarn die Grenzen öffnet, nutzt Suse die Chance und verschwindet in den Westen. Sie lässt nie wieder von sich hören, die Familie rätselt jahrzehntelang darüber, was aus ihr geworden ist. Enne versucht sich in Berlin als Schauspielerin, aber der große Durchbruch bleibt aus und sie geht wieder zurück in ihr Heimatdorf. Dreißig Jahre nach Suses Verschwinden zieht eine geheimnisvolle Frau Pohl bei Enne gegenüber ein und die Gerüchte, wer das sein könnte, schießen ins Kraut …
Helga Bürster erzählt in ihrem neuen Roman von einer, die geblieben ist. Und immer wieder auch von den Nachwirkungen der Wende, vom Verschwinden und vom Bleiben, von Identität und Identitätsverlust.
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Helga Bürster
Eine andere Zeit
Roman
Insel Verlag
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Die Liedzeile auf Seite 170 stammt aus dem Lied Als ich fortging der Gruppe Karussell. Text: Gisela Steineckert, Amiga 1987Die Geschichte und die Figuren sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit wahren Begebenheiten und Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.Die Arbeit am vorliegenden Roman wurde gefördert im Rahmen des Stipendienprogramms der VG Bild-Kunst in NEUSTART KULTUR der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
eBook Insel Verlag Berlin 2023
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4965.
© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022
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eISBN 978-3-458-77319-1
www.suhrkamp.de
Eine andere Zeit
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
1. Sommer 2019
2
3. Sommer 1974
4
5
6
7
8
9. Sommer 2019
10. Herbst 1977
11
12
13. Winter 1977/78
14. Winter 1978
15
16. Sommer 2019
17. Sommer 1979
18. Herbst 1981
19
20. Sommer 2019
21. Herbst 1987
22
23
24. Herbst 1989
25
26. Sommer 2019
27. Herbst 1989
28
29
30. Sommer 1990
31. Sommer 2019
32
33
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35
Informationen zum Buch
Sommer 2019
Im Haus gegenüber wohnte wieder jemand. Oder auch nicht. Es war Dorfgespräch. Enne hatte Licht gesehen, Christina auch, aber die sah auch Geister. Einige vermuteten einen Obdachlosen, der sich ein frühes Winterquartier genommen hatte, schließlich ging der Sommer dem Ende entgegen. Warum sollte so jemand kein leerstehendes Haus in Beschlag nehmen, das sowieso keiner haben wollte, wegen der alten Geschichten und weil es nur noch vom Efeu zusammengehalten wurde. Sich auf Dauer zu verstecken, würde hier allerdings kaum funktionieren, denn sie waren aufeinander angewiesen. Das hatten auch die Neuen schnell kapiert. Es gab keinen Laden, keinen Arzt, keine Sparkasse, nur die Weite und das Nichts. Genau das hatten die Neuen gesucht, nur mussten sie dann auch damit zurechtkommen. Zu tun gab es genug. Die Neuen werkelten gern an ihren Häusern herum und das war gut so, denn die Alten machten das auch, da konnte man sich austauschen und lernte sich kennen. Die Neuen malten auch oder schrieben Bücher, das musste man ihnen wohl zugestehen, auch wenn es für nichts gut war, wie Albrecht fand. Enne hatte auch so einen Hang zum Nutzlosen. Sie erzählte Geschichten, aber sie zog auch Gemüse. Das eine wog das andere auf und so kamen sie über die Runden.
Als die Mauer fiel, waren so viele abgehauen, sich die Welt angucken und drüben gutes Geld verdienen. Nur Enne war hiergeblieben, um die Lücke zu schließen, die Suse hinterließ. Sie hatte zugesehen, wie das Leben aus dem kleinen Fischerdorf heraussickerte, ebenso wie aus ihrer Mutter. Lore begriff alles das nicht. Enne hätte sie das zugetraut, einfach zu verschwinden. Suse nicht. Nun war Enne geblieben. Das Leben war unberechenbar. Es kehrte sogar zurück.
Nach all den einsamen Jahren brannte in den Fenstern der hastig verlassenen Häuser wieder Licht. Dieser winzige Ort mitten im Nirgendwo zog die Sehnsüchtigen an. Christina kam als Erste. Die Kusine aus dem Westen hatte schon immer vom Kamp geträumt. Das zog Kreise. Nach ihr kamen die Einsiedler, Künstler und Macher. Die kauften eine Bruchbude nach der anderen weg, um sie wieder herzurichten. Da konnte man nur staunen. Nun siedelte ein bunter Haufen auf dem Kamp. Enne versorgte sie alle mit Pflaumenmus. Es war ja genug da und man musste die Neuen bei Laune halten, damit die nicht wieder fortzogen.
Eddy war damals skeptisch gewesen wegen der vielen Fremden, die ins Dorf kamen. Albrecht sowieso, denn was wussten die schon, aber es wurde alles gut. Gemeinsam bauten sie das Kulturhaus wieder auf. Eddy holte den alten Trecker aus dem Schuppen, den er damals, Anfang der Neunziger, vor dem Verschrotten gerettet hatte. Den konnte man noch für alles Mögliche gebrauchen, um alte Scheunen abzureißen oder Gräben für Fundamente auszuheben. Eddy mauerte auch, verlegte Leitungen und reparierte alte Türen und Fenster. Er war in seinem Element. Nur das Akkordeon stand sich weiter auf dem Dachboden kaputt. Enne hatte gehofft, dass er es in die Hand nähme, um sich endlich um die kaputten Tasten zu kümmern, damit sie zusammen Musik machen konnten, vielleicht auf einem der Dorffeste, die sie wieder feierten. Nochmal die alten Lieder singen, die die Neuen bestimmt nicht kannten, das wünschte sich Enne.
So wie damals. Früher. Vorher.
Sie dachte jetzt oft solche Worte.
Als die Fähre wieder fuhr, feierten sie ein Fest, da hätte es gepasst, aber Eddy weigerte sich, auch nur einen Ton zu spielen. Ruben, dieser verrückte Typ aus Hamburg, hatte sein altes Boot umgerüstet. Der war von der Nordsee rübergekommen, um was Neues zu machen. In seinem alten Leben hatte er Computer programmiert, nun war er Fährmann. Es sprach sich schnell herum, dass man sich vom Kamp wieder nach Usedom übersetzen lassen konnte. Das eine zog das andere nach sich. Bald stellte jemand einen Imbisswagen an den Hafen. Cola, Pommes, Bratwurst. Enne baute in den Sommermonaten den alten Tapeziertisch unterm Pflaumenbaum auf. An den Wochenenden bot sie Kaffee und Selbstgebackenes an, für die Kinder Limonade und Saft, alles gegen eine Spende. Manchmal setzte sich Christina dazu mit ihren Tinkturen und Salben, mit den selbstgestrickten Socken und der Wolle, alles pflanzengefärbt und handgesponnen. Sie hielt sich zwei Schafe, weil die Sache mit den Geistern zum Leben nicht reichte.
Die Sommer waren jetzt schön und heiter, sie saßen oft zusammen am Hafen, wenn die Arbeit getan war, und guckten sich die Augen an den Sonnenuntergängen tranig. Die Weinflaschen kreisten, Enne erzählte Geschichten. Gute Tage waren das. Da fiel das Leben leicht.
Später im Jahr, wenn die Gäste ausblieben und die Nebel kamen, wenn man anfing, die Spinnweben aus den Schornsteinen zu fegen und Feuer in den Öfen anzuzünden, zeigte sich, wer für das Ende der Welt wirklich taugte. Manche zogen in die Berliner Zweitwohnung. Andere überwinterten auf La Gomera. Wenn die Dunkelheit aus den schweren Böden kroch und sich auf die Gemüter legte, blieben nur die Mutigen.
Aber nun war noch August, der Winter fern und der Herbst spät dran, denn dieser Sommer war zäh. Sonst hingen am Morgen schon die Tautropfen wie Wäsche an den Spinnenfäden, aber es war viel zu trocken, das Land eine Steppe.
Enne fand in diesen Nächten keinen Schlaf. Also hatte sie wieder Obst eingekocht, statt das Bett umzurühren und sich von einer Seite auf die andere zu wälzen. Die Früchte platzten schon auf. Es wurde höchste Zeit, sie zu verarbeiten. Bis zum Morgen hatte sie in der Küche gestanden, die Arme bis zu den Ellenbogen in den Pflaumen wie davor schon in den Himbeeren, Johannisbeeren und Heidelbeeren. Sie hatte darüber nachgedacht, was sie gesehen hatte, in einer anderen durchwachten Nacht vor ein paar Tagen. Sie hatte das nicht geträumt. Die Gestalt war um Almas Haus geschlichen und dann hatte sie hinter den Fenstern ein Licht gesehen, wie von einer Taschenlampe. Am nächsten Tag hatte sie Eddy davon erzählt. Der meinte, das sei nur ein Tier und reflektierter Mondschein gewesen. Er dachte das immer noch, denn sollte tatsächlich jemand eingezogen sein, hätte man das doch längst mitbekommen. Auch ein Eremit musste mal einkaufen gehen.
Am Morgen hatte Enne einen Korb gepackt. Drei Gläser von dem frisch gekochten Pflaumenmus. Sie hatte ihn vor die Tür gestellt, weil keiner aufmachte, trotz Klopfen und Rufen. Nun war Mittag und der Korb stand gut sichtbar vor der wild wuchernden Ligusterhecke, direkt an der Straße. Sie ging ihn holen. Der Korb war leer. Sie blieb am Zaun stehen und winkte zu den blinden Fenstern hin.
»Hallo? Ich bin Enne! Ich wohne gegenüber! Wenn Sie irgendwas brauchen, sagen Sie einfach Bescheid!«
Nichts regte sich. Die Tür blieb verschlossen, hinter den Fenstern hingen die alten Gardinen wie Lappen und auf der Fensterbank standen dieselben toten Topfblumen, aber jemand hatte das Mus genommen. Dieser Jemand mochte also Pflaumenmus, aber keine Nachbarn. Es fühlte sich verkehrt an, nur hatte sie keiner zu diesem Willkommensgruß gezwungen.
Christina kam mit dem Rad gefahren. Sie trug eines ihrer bunten Wallekleider, es schlotterte um ihren hageren Körper. Sie kniff die Augen zusammen, weil die Sonne sie blendete. Hinter der faltigen Haut ahnte man noch das jugendliche Gesicht. Das Haar trug sie lang und offen, es hatte nun die Farbe von angelaufenem Silber. Enne dachte, dass Suse im Alter auch so aussehen musste. Es hatte da immer eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Kusinen gegeben, bis auf die Augen. Suses hatten die Farbe von Bernstein gehabt. Christinas waren hellbraun wie die von Enne.
Christina stieg vom Rad und sah auf den Korb in Ennes Hand.
»Kommst du vom großen Unbekannten?«
»Wer sagt, dass es ein Mann ist? Könnte ja auch eine Frau sein.«
Christina schloss kurz die Augen und guckte dann bedeutsam. »Ich sehe einen Mann.«
Sie sah alles Mögliche, wenn sie nicht hinsah, auch Tote, jedenfalls behauptete sie das. Jetzt lief ihr von der Hitze der Schweiß in die Augen, sie wischte mit dem Arm darüber.
»Wo warst du?«, wollte Enne wissen.
»Kräuter sammeln. Breitwegerich. Ist gut gegen Husten und Erkältung. Und dann noch –«
Bevor Christina ihr jedes Unkraut aufzählte, das sie gesammelt hatte, fiel Enne ihr ins Wort.
»Unser spezieller Mensch da hat übrigens mein Pflaumenmus genommen. Es gibt ihn. Oder sie.«
»Weiß ich doch.«
Christina stieg wieder auf, sie stützte sich mit einem Fuß ab. »Kommst du später auf einen Tee? Ich hab Kuchen.«
»Mal sehen.«
Enne ging nach Hause. Es kränkte sie, dass man sie hatte abblitzen lassen. Sie dachte, dass es sowas früher nicht gegeben hätte. Da hätte man sich wenigstens bedankt. Wieder so ein Früher. Nun gut, sie war bald sechzig. Da durfte sie alte Gedanken haben.
Albrecht kam von seinem Rundgang, sein Hund trottete hinter ihm her. Er blieb vor dem offenen Küchenfenster stehen, aus dem Enne ihm zuwinkte.
»Moin!« Albrecht kraulte die graue Hundeschnauze. »Und?«
»Ja, nix! Tee?«
»Hab noch zu tun. Muss da hinten einen Baum wegmachen, der hängt halb übern Weg. Bevor was passiert. Diese blöden Biber.«
Es war eine Plage mit den Viechern und auch mit den Waschbären.
»Eddy hat übrigens einen gefangen«, sagte Enne und senkte dabei die Stimme. Es sollte keiner mitbekommen, denn es war verboten, nur kletterten die Biester nachts in die Obstbäume und fraßen sie leer.
»Lebt der noch?«
»Sitzt in der Fuchsfalle und die steht im Schuppen.«
Albrecht nickte. »Ich komm später mal rüber.«
Er würde seine Flinte mitbringen. Dann hob er die Hand zum Gruß und schlappte in seinen schweren Gummistiefeln davon, die er selbst bei größter Hitze trug. Der Hund saß da und rührte sich nicht.
»Bobby!«
Das Tier stand mühsam auf und trabte hinter seinem Herrn her. Schon im Gehen drehte Albrecht sich noch einmal um. »Hast du unseren neuen Nachbarn jetzt eigentlich gesehen?«
»Ne.«
»Warum fragst du nicht die Post, ob da jemand haust?«
»Da drüben?«, fragte Franz später, als er mit dem gelben Wagen mitten auf der Straße parkte, weil hier selten einer vorbei wollte. Er reichte ihr einen Stapel Werbung. Sie warf nur einen flüchtigen Blick darauf.
»Nun sag schon. Wohnt da wer?«
»Tja. Kann schon sein.«
Er grinste und ließ sie zappeln.
»Na gut. Dann behalt das eben für dich. Ist nicht so wichtig.«
Enne wandte sich um. Da lenkte er ein. »Na schön. Du hast ja recht. Da drüben wohnt tatsächlich jemand.«
»Wer!«
»Eine Frau.«
»Echt?«
»Ich hab ihr gerade einen Brief zugestellt.«
»Und?«
»Ja, nichts und!«
Er steckte die Daumen in den Hosenbund und wippte mit den Füßen. Da kam er wieder zum Vorschein, dieser Franz-wichtig, den Enne so gut kannte. Früher hatte er sie noch damit beeindrucken können.
»Jetzt spuck's schon aus! Wie heißt sie?«
»Postgeheimnis.«
Enne verdrehte die Augen. Mit den Geheimnissen der Post nahm Franz es so genau, wie es ihm gerade passte.
»Na gut. Sie heißt Ilse Pohl. Aber das hast du nicht von mir.«
Das war seine Art, sich zu rächen. An der Welt. Und am Jobcenter. Dass er überhaupt Zusteller geworden war, lag nämlich an dem Sachbearbeiter dort. Der hatte ihn da reingedrängt, nachdem es mit der Musik nicht geklappt hatte. Die Post war seine letzte Chance gewesen. Enne fand, es hätte ihn schlimmer treffen können, so wie Eddy. Eine Weile hatte der sich nach der Schließung der LPG noch mit einer kleinen Werkstatt über Wasser gehalten, hatte Trabbigetriebe zusammengefriemelt und Mofas frisiert. Nur wollte dann keiner den alten Schrott mehr fahren. Die neuen Autos interessierten Eddy nicht. Zu viel Elektronik. Statt sich unter den Wagen zu legen und den Motor abzuhorchen, steckte man jetzt ein Kabel in eine Buchse und las den Fehler per Computer aus. Er hatte nicht mal einen, aus Prinzip. Er weigerte sich, so ein Düüvelstüüg anzuschaffen. Stattdessen schraubte er kaputte Rasenmäher, Nähmaschinen und Toaster auseinander und baute sie wieder zusammen, so dass sie noch eine Weile funktionierten. Ihm kam nichts Neues ins Haus. Was sich partout nicht reparieren ließ, wurde aus dem Gebrauchtwarenladen geholt und ersetzt. Er glaubte, dass sich die Dinge durch stetigen Gebrauch eine Seele anverdienten, wie sein geliebter Trecker, ein RS 04 mit Wasserkühlung, Baujahr 1956. Die neuen Ungetüme, die man jetzt auf den Äckern sah, liefen vielleicht besser, aber das waren nur tote Monster.
Es kam bei den Neuen gut an. Sie rannten ihm die Bude ein mit ihrem nostalgischen Schrott, den sie auf Ebay ersteigerten. Christina hatte ihm ein Grammofon gebracht, an dem die Kurbel abgebrochen war. Sie sammelte Schellackplatten, alte Aufnahmen mit Stimmen aus dem Jenseits, von vor hundert Jahren. Ein elendes Gejaule war das, wenn man Enne fragte. Eddy war es egal, was Christina hörte, ihn interessierte nur das Gerät. Er reparierte auch das. Nur sein altes Akkordeon blieb kaputt. Enne würde das nie verstehen.
»Willst du nicht wenigstens auf einen schnellen Kaffee mit reinkommen?«, fragte sie Franz. Er lehnte ab. Er habe eine sehr spezielle Fracht und müsse deshalb schnell weiter. »Ein halbes Schwein. Gekühlte Ware. Was die Leute so alles bestellen. Grüß Eddy!«
»Na dann.« Enne hob die Hand zum Abschied. »Beeil dich lieber, bevor dir die halben Schweine noch weglaufen.«
Der Postwagen wendete und fuhr aus dem Dorf, dann kam Eddy auf seinem klapprigen Fahrrad vom Deich herüber. Enne hörte das kaputte Kugellager schon knacken, bevor er um die Ecke bog. Am Lenker baumelte der alte Fischeimer, den er von Ennes Vater geerbt hatte. Unverwüstlich. Die Emaille war an den Rändern abgesplittert, darunter rostete das Eisen. Der Eimer war noch dicht. Eddy stieg vom Rad und deutete mit dem Kopf auf die Post, die Enne immer noch in der Hand hielt.
»Rechnungen?«
»Nur Werbung.«
»Gut.«
Er hob den Eimer vom Lenker und stellte ihn ab. Sofort strichen zwei Katzen um ihn herum. Eddy scheuchte sie fort.
»Ich soll dich von Franz grüßen«, sagte Enne, während sie die Schleie im Eimer begutachtete. Es hingen auch noch welche in der Räucherkammer.
»Ihr habt geredet?«
»Ich hab ihn was gefragt.«
»Ging's um das da?« Er nickte zu Almas Haus hinüber. Wie gut er sie kannte.
»Sie heißt Ilse Pohl. Hat Franz mir erzählt.«
Einen kleinen Triumph konnte Enne sich nicht verkneifen. »Ich hatte also recht!«
Eddy lehnte sein Rad gegen den Pflaumenbaum und setzte sich auf die Bank, die darunter stand. In letzter Zeit sah er oft müde aus. Er schlief schlecht, wie sie.
»Soll ich dir was zu trinken bringen?«
»Ne. Lass man.«
Wie er da saß, zusammengesunken und grau. Enne setzte sich neben ihn. Er sah sie an, mit seinem schiefen Lächeln, das sie rührte. Sie dachte, dass sie ihm jetzt gerne den Arm um die Schultern legen wollte, aber sie ließ es bleiben. Ihr lag zu viel auf der Zunge. Es ging um Suse. Das machte sie besser mit sich alleine aus. Oder nicht?
Sie sah ihn von der Seite an. Er hielt den Kopf gesenkt, die Hände, breit und abgearbeitet, lagen auf seinen Oberschenkeln. Wann war er so grau geworden? Sie hatte das gar nicht mitbekommen.
»Morgen«, sagte er und Enne wusste sofort, was er meinte. Suse war damals am neunzehnten August verschwunden.
Eddy rieb sich die Stirn. Er war heute schon sehr früh losgegangen. »Ich kann mich nicht mehr an ihre Stimme erinnern«, sagte er.
Enne dachte, dass sie eigentlich immer noch wütend war.
Ilse Pohl ging auf dem Deich spazieren. Das hatte Enne geträumt, nachdem sie kurz in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Frau Pohl trug in dem Traum einen dunklen Kapuzenmantel, so einen hatte Suse auch gehabt, damals, in ihrer schwärzesten Zeit. Ein Grufti auf dem platten Land. Auf so etwas hatte nur Suse kommen können, weil sie schon immer mit dem Tod geliebäugelt hatte. Schließlich war sie ihm als Kind oft genug von der Schippe gesprungen. Mit ihren Marotten hatte sie alle zur Verzweiflung getrieben, vor allem Lore. Solche Menschen vermisste man am meisten. Das alles ging Enne durch den Kopf, als sie oben in ihrem alten Bett lag und die Decke anstarrte, bis ihr die Augen tränten. Ein Stockwerk drunter schlief Eddy. In dieser Nacht gehörten sie nicht zusammen, wenn sie das überhaupt jemals getan hatten.
Sie hielt es nicht länger aus in dem alten Kinderzimmer. Im Halbschlaf meinte sie, Suses Augen schimmern zu sehen. Sie schlich die Treppe hinunter und zählte dabei die Stufen, vierzehn waren es. Sie machte kein Geräusch, denn sie kannte jede knarrende Holzdiele. Bis zur Küchentür und am Schlafzimmer vorbei waren es weitere neun Schritte, nur stand der leere Korb im Weg, den sie gestern Mittag von der Straße geholt hatte. Sie trat dagegen, er schlitterte über den Boden, machte nur mäßigen Lärm. Sie blieb vor der Schlafzimmertür stehen und horchte, ob Eddy davon aufgewacht war. Die Tür stand immer einen Spalt offen, damit Olle rein und raus konnte, Eddys klappriger Kater. Gerade hatte sie Eddy noch leise schnarchen hören, nun war es still. Nur den Kater hörte sie, wie der sich putzte. Der lag wohl wieder am Fußende.
»Eddy?« Sie flüsterte seinen Namen, um ihn nicht zu wecken, falls er doch noch schlief. Er antwortete nicht. Der Kater sprang vom Bett. Er schlich in den Flur, strich um Ennes Beine und schritt mit hoch erhobenem Schwanz, die Spitze abgeknickt, in die Küche, wo er durchs offenstehende Fenster verschwand, um Mäuse zu jagen oder den Mond anzujaulen.
Im letzten Herbst hatte Eddy das Tier aus der Peene geangelt und mit nach Hause gebracht. Eigentlich war so etwas Ennes Part. Sie fütterte die wilden Katzen durch den Winter und bereitete ihnen ein Strohlager im Schuppen, gleich neben dem Trecker, weil Eddy dat Veehtüügs nicht in der Wohnung haben wollte. Was er dann ausgerechnet an dem mageren Kater fand, der so jämmerlich klagen konnte, wusste Enne auch nicht. Jedenfalls hatte das Haus nun einen Ton mehr. Enne kannte sie alle, die vergangenen und die gegenwärtigen. Die quietschenden Bettfedern, wenn Eddy sich umdrehte, das Knacken in den Holzbalken, das Klopfen in den Wasserrohren, das Getrappel der Mäuse in den Zwischendecken, das Klappern von Lores Stricknadeln, lange her und immer noch so präsent, als hätte sie es gestern zum letzten Mal gehört, ebenso das Schweigen des Vaters oder Magdas lautes Lachen. Das alles hatte eine Spur hinterlassen, wie die Rillen auf Christinas Schellackplatten. Nur Suses Stimme verblasste in dem Chor, da ging es Enne wie Eddy. Sie hatte Mühe, sich an Suses Stimme zu erinnern. Seit wann war das so? Sie wusste es nicht.
In dieser Nacht dachte sie, dass die Zeit gekommen war, die absurde Hoffnung auf eine Rückkehr endlich aufzugeben und sich von Suse zu verabschieden. All das Warten und die Ungewissheit sollten ein Ende haben. Suse war tot. Es musste ihr damals etwas zugestoßen sein. Anders ließ sich nicht erklären, warum sie sich nie wieder gemeldet hatte. Natürlich hatte Christina sie unter den Toten gesucht und gefunden, aber konnte man ihr glauben? Sie schickte Suse ins Licht, veranstaltete ihren Hokuspokus mit Räucherstäbchen und Klangschalen. Suse würde sich bedanken, wo sie doch die Dunkelheit immer bevorzugt hatte. Enne hatte schon länger darüber nachgedacht, nun fasste sie den Entschluss. Sie stellte sich einen schlichten Abschied vor. Sie würde Suse einen Brief schreiben und den in der Peene versenken. Vielleicht würde sie Papierschiffchen mit Teelichtern zu Wasser lassen. Und Blumen. Es sollte schon feierlich sein. Den Vater, den müsste sie aus dem Heim holen. Danach würden sie zusammensitzen bei Kaffee und Butterkuchen. Eddy, nun ja, den musste sie überzeugen. Da wurde die Sache schon wieder schwierig. Kein Wunder. Es ging ja auch um Suse.
Enne folgte dem Kater in die Küche, schloss die Tür hinter sich, öffnete das Fenster weit und atmete die kühle Nachtluft. Das Haus hatte noch immer die alten Sprossenfenster, einfach verglast, mit Oberlicht, zweiflügelig. Man konnte die Fenster mit einem Riegel außen festhaken. Eine Seite ließen sie bei der Sommerhitze immer offen stehen, damit das Haus die heißen Tage ausatmen konnte. Vor Dieben mussten sie sich nicht fürchten. Hier gab es nur alten Krempel. Wer so dumm war, bei ihnen einzusteigen, würde mit leeren Taschen umkehren müssen.
Enne öffnete auch den anderen Flügel und lehnte sich aus dem Fenster. Ein voller Mond stand am Himmel, es war fast so wie damals vor dreißig Jahren. Sie machte noch immer kein Licht, fand den Weg zum Küchenbuffet auch so. Da hing der Abreißkalender, gleich neben dem Schrank, mit einem dünnen Blättchen für jeden einzelnen Tag. Das musste so sein, weil es immer so gewesen war. Sie sah auf die Uhr, Mitternacht war längst vorbei und es wurde Zeit, den alten Tag in den Papierkorb zu werfen. Jetzt war der neunzehnte. Da hatte Suse rübergemacht, vor Eddys Augen. Keiner hatte etwas geahnt.
Enne versuchte immer wieder, sich zu erinnern, wann sie die Schwester das letzte Mal gesehen und ob sie da vielleicht etwas angedeutet hatte. Die Erinnerungen flutschten weg wie nasse Seife.
Sie lehnte sich nach draußen. Vom Wasser her roch es nach Tang. Sehen konnte man nur einen schmalen Streifen, Almas Haus stand im Weg. In der Nacht wirkte es mit all dem wuchernden Efeu wie ein schlafender Riese. Ein Paradies für Vögel. Die flogen da ein und aus. Es wäre längst unter den Ranken verschwunden, wenn Eddy sie nicht ab und an zurückschnitt, vor allem vor den Fenstern. Das war seine Art, an Suse zu denken, denn sie hatte oft in den verlassenen Räumen gesessen, auf Almas alten Möbeln. Sie und Alma. Sie hatten sich gemocht. Vielleicht hoffte Eddy, dass er sie eines Tages hier fand. Deshalb konnte er das Haus nicht vollständig verkommen lassen.
Der Riese öffnete ein Auge. Enne sah das Licht hinter einem der Fenster und erschrak so sehr, dass sie rückwärts gegen den Tisch prallte. Der Kerzenteller fiel zu Boden, die Wachsschicht zersplitterte. Sie behielt das Fenster im Blick. Ilse Pohls Schatten huschte hinter den Gardinen. Das Licht flackerte, eine Szene wie aus einem billigen Horrorstreifen, nur dass das hier echt war. Oder doch nur Einbildung? Sie schloss die Augen. Als sie wieder hinschaute, war alles dunkel. Wurde sie verrückt? Sah sie am Ende Geister wie ihre Kusine? Oder konnte Frau Pohl auch nicht schlafen und saß wie sie in der Küche? Sie hob die Hand und winkte hinüber. Alles blieb dunkel und still.
Sie schob den Stuhl näher ans Fenster, damit sie den Himmel sehen konnte und zugleich das Haus im Blick hatte. Da rasten gleich mehrere Sternschnuppen in die Atmosphäre. Die fielen in diesen Tagen wie Regentropfen. In manchen Nächten konnte man meinen, der ganze Himmel sinke auf die Erde herab, und wenn es keine Sternschnuppen zu sehen gab, dann etwas anderes. Es war viel Bewegung da oben. Satelliten flogen hintereinander her, in exakten Abständen, wie Perlen auf einer Schnur. Flugzeuge waren auch unterwegs. Die roten Lichter blinkten ganz weit oben. Für die Toten, auch für Suse, gab es im Himmel keinen Platz mehr, der war voll mit Weltraumschrott.
Es konnte auch sein, dass sie noch lebte. Möglicherweise saß sie in einem der Flugzeuge, die gerade über den Kamp flogen, nicht ahnend, dass es hier unten Leute gab, die an sie dachten. Vor allem Eddy. Er ging immer noch die Wege, die er und Suse damals gegangen waren. Er stand in den Ruinen der Ställe und Scheunen, in denen sie gemeinsam gearbeitet hatten. Nun wuchsen Birken aus den Fensterlöchern. Er riss sie aus und räumte den Unrat weg, leere Flaschen, Vogelkadaver und Papiermüll von Schnellrestaurants, achtlos weggeworfen. Später kam er dann die alte Straße hoch. Die hörte immer noch drei Kilometer vor dem Ortsschild auf. Wie oft hatte man ihnen versprochen, sie endlich zu reparieren. Über geborstene Betonplatten ging es weiter, vorbei an nassen Wiesen, wo sich Schilfgras im Wind wiegte. Auf einem ausgeblichenen Baumgerippe hockten Kormorane wie Geier. Wer sich nicht auskannte, kehrte hier um, weil er fürchtete, hinter der nächsten Wegbiegung über den Rand zu kippen.
Enne holte das gute Papier aus dem Schrank. Bütten, handgeschöpft. Sie legte sich alles zurecht, Papier und Füller. Dann horchte sie auf das Haus, das heute Nacht in Quinten sang. Suses Ton fehlte. Draußen schlug keine Leine gegen einen Bootsmast, kein Käuzchen schrie, keine Katze jaulte. Der Kamp hielt die Luft an. Vielleicht konnte sie endlich frei sein von den alten Stimmen. Sie wollte ihren Seelenfrieden zurück, nun, wo sich in ihrem Leben wieder etwas bewegte. Eddy wusste noch nichts davon.
Sie schrieb.
Liebe Su …
Die Feder stolperte über eine Delle in der Tischplatte und stanzte ein Loch ins Papier, mitten in den Namen.
Enne schaute fassungslos darauf und drückte mit dem Finger die ausgefranste Stelle glatt. Schöner wurde es dadurch nicht. Sie hätte ein frisches Blatt nehmen können, stattdessen malte sie eine Blume um das Loch, wie damals in der Schule. Daran erinnerte sie sich wieder.
Dann stand Eddy plötzlich in der Küche, wie gerufen. Sie hatte ihn gar nicht gehört. In seinem Gesicht zuckten Schatten, die kamen vom Kerzenlicht, die Flamme tanzte im Luftzug.
»Was sitzt'n hier im Dustern?«, fragte er, ging zum Kühlschrank und öffnete ihn. Er nahm die Milch heraus und trank gleich aus dem Tetrapak. Sie hasste diese Angewohnheit.
»Ich schreibe einen Brief.«
Er kam an den Tisch und blickte ihr über die Schulter. Sie fühlte sich ertappt. Andererseits musste er irgendwann erfahren, was sie vorhatte. Warum nicht jetzt?
»Was hältst du von einer Seebestattung? Also, etwas in der Art.«
Er ging ans Fenster, schaute hinaus. Verlegen und etwas ratlos fuhr sie mit dem Finger über die Tischplatte. Die Scharte, in der sie mit dem Füller hängengeblieben war, ging auf ihre Kappe. Damals hatte Eddy auch in dieser Küche gestanden, vollkommen unerwartet. Reiner Zufall, dass sie hier gewesen war an einem spielfreien Tag. Sie wohnte damals noch in Anklam und arbeitete an dem kleinen Theater. An diesem Tag war sie spontan gekommen, denn es war Erntezeit gewesen. Die Eltern standen auf dem Acker und im Haus blieb viel Arbeit liegen. Sie kochte. Gerade goss sie Kartoffeln für das Mittagessen ab, als Eddy in die Küche kam.
»Schon zurück aus Ungarn?«
Er und Suse waren frisch verlobt, sie hatten sich auf die Reise gefreut.
»Suse ist rüber.«
Sie hatte das für einen Scherz gehalten und gelacht.
»Ja. Klar. Suse haut in den Westen ab.«
»Die ist weg, Enne. Mit den ganzen anderen Leuten. Hat mich einfach stehen lassen.«
Er klang so fassungslos, so ungläubig, dass Enne ihn gern getröstet hätte, aber was er sagte, konnte nicht stimmen.
»Das ist nicht wahr, oder?«
Eddy hatte nur den Kopf geschüttelt.
Da war plötzlich eine Wut in ihr gewesen. Wie konnte Suse nur. Sie alle hier allein zu lassen. Der Topf mit den heißen Kartoffeln war ihr aus den Händen gerutscht, mit der Kante auf die Tischplatte geknallt und hatte die Delle ins Holz geschlagen. Die Kartoffeln waren Eddy in den Schoß gerollt. Wie gut, dass sie das Wasser da schon abgegossen hatte.
Enne starrte wieder auf den angefangenen Brief und die alberne Blume. Sie wusste nicht, womit sie beginnen sollte. So wurde das nichts. Sie musste an den Anfang zurück und sich alles nochmal ins Gedächtnis rufen.
Sommer 1974
An einem Samstagabend im Juni reckte Hans Jendrich die Faust zum sozialistischen Gruß. Es war ein ungewohntes Bild. Der Vater ließ die Hände sonst fest in den Hosentaschen, wenn es politisch wurde, egal, zu welcher Seite hin. Er war für keine zu haben. Kannste alle in einen Sack stecken, triffste immer den Richtigen.
Dass Enne gute Taten für den Sozialismus vollbringen wollte, wie es im vierten Gebot stand, das nahm er hin. Nur manchmal konnte er sich eine Bemerkung nicht verkneifen. Dass es noch ein elftes Gebot gäbe, nämlich, dass man sich nicht erwischen lassen solle. Er fand das witzig. Enne nicht. Es hatte keinen Sinn, mit dem Vater über eine bessere Gesellschaft zu diskutieren und darüber, dass sie an den Sozialismus glaubte. Überhaupt mussten sie viel Geduld miteinander haben und am besten die Politik außen vor lassen. Das war Ennes ganz persönliches zwölftes Gebot und schwer einzuhalten, denn sie sagte gern, was sie dachte. Als sie ihn noch kurz vor Anpfiff nach einer Spende fragte, wieder mal, denn es wurde in der Schule ständig für irgendetwas gesammelt, Vietnam, Angola, Angela Davis, da drückte er ihr eher widerwillig zwei Mark in die Hand. »Kannst ja mal vorschlagen, dass ihr das nächste Mal für unsere LPG sammelt. Der Trecker macht's nicht mehr lange und ihr schickt das Geld ins Ausland zu diesen Kommunisten!«
»Wenn du das blöd findest, warum gibst du mir dann zwei Mark?«, hatte Enne gefragt.
»Damit du verdammt nochmal keinen Ärger kriegst!«, hatte Lore den Vater verteidigt. Enne nannte ihre Mutter immer nur beim Vornamen, es hatte sich so ergeben. Dass sie sich hinter ihren Mann stellte, kam eher selten vor. Sogar Suse schaute auf.
Enne legte das Geld auf den Tisch. »Das ist doch falsch.«
Der Vater schob es ihr wieder hin. »Freeden un een Kanten Brot«, sagte er. »Das is' alles, was der Mensch braucht. Wirst du auch noch lernen. Und jetzt steck das Geld ein!«
Das reichte Enne nicht als Erklärung. Sie wollte eine bessere Gesellschaft und ihren Beitrag dazu leisten und wenn der Vater das missbilligte, wollte sie sein Geld nicht. Das sagte sie auch, aber außer Suse hörte keiner mehr zu, denn das Spiel wurde gerade angepfiffen.
Enne war kurz davor, zu gehen, sie interessierte sich sowieso nicht besonders für Fußball, aber heute spielte ihre kleine DDR gegen die BRD. David gegen Goliath. Sie entschloss sich, ihren Stolz herunterzuschlucken. Was sollte sie auch sonst machen. Der Kamp war wie leergefegt. Sogar Lore hatte sich dazugesetzt, wo sie doch sonst immer im Haus herumpusselte, wenn der Fernseher lief und der Vater Willi Schwabes Rumpelkammer guckte. Heute guckte Lore mit, aber einfach nur dazusitzen, das widerstrebte ihr dann doch. Sie strickte oder besser: Ihre Hände erledigten das von ganz allein. Sie musste nicht einmal hinsehen, wenn eine Masche von der Nadel fiel. Ihre Hände strickten auch noch weiter,