Inhaltsverzeichnis
Buch
Autoren
Franz Alt – Vorwort: Ist eine bessere Welt möglich?
Der Kapitalismus frisst seine Kunden
Die Armen sind kreativ
Was ist konkret und praktisch Entwicklung?
Franz Alt – Entwicklungspolitik ist Friedenspolitik
Wird aus dem Seebeben ein Weltbeben?
Entwicklung und Wohlstand oderStatus quo und Chaos?
Reichtum verpflichtet – zu was?
Ein Projekt der Hoffnung: der globale Marshallplan
Was ist ökosoziale Marktwirtschaft?
Kampfflieger statt Brot
Was ist eigentlich Armut?
Keine Entwicklung ohne solare Energien
Entwicklung braucht Demokratie und Bildung
Rosi Gollmann – Praktische Entwicklungszusammenarbeit mit menschlichem Gesicht
»Aus dem Seebeben wurde ein Weltbeben« – den Katastrophen eine Zukunft abtrotzen
Auf der Suche nach einer besseren Welt – ein Streifzug durch die Geschichte
Der globale Marshallplan – ein Weg zu einer besseren Welt?
Geburtsstunde der Andheri-Hilfe – am Anfang stand das Mitleid
Entwicklung ist weiblich – von Waisenhaushilfe zur Frauenförderung
Das Los indischer Straßenkinder – Kinder ohne Kindheit
Die Straße trennt nicht mehr – Unberührbare in der indischen Gesellschaft
Ureinwohner – traditionelle Stammeskulturen im Aufbruch in die Moderne
Das grausame Gesicht der Lepra – »Ihr habt uns unsere Würde wiedergegeben«
Vom Glück, zu sehen – Blindheit muss kein Schicksal sein
»Anerkennung brauchen wir,nicht untätiges Bemitleiden« – Förderung junger ...
Die Welt in unseren Händen – ohne Bewahrung der Schöpfung keine bessere Welt
Wasser ist Leben – das »Lebensmittel Nr. 1«
Frieden hat viele Gesichter – Entwicklungsarbeit ist Friedensarbeit
Rupert Neudeck – Von Lügen, Lobbys und echter Hilfe
Der Tsunami und die Verheißungen des Frühlings 2005
Die Menschenretter von Cap Anamur und den Grünhelmen
Der Anfang vom Ende einer ganzen Waffengattung
Gefahren durch eine außer Rand und Band geratene Supermacht
Frauenrechte, Männerrollen
Das Heer der Banker und Berater
»Nachhaltigkeit« und andere Modewörter
Internationale Menschenrechtsverletzungen
Der Kampf gegen Ausbeutung und Sklaverei
Ein Volk von Helfern und Spendern
Heraus aus den Hauptstädten – zurück in die Dörfer
Der Kampf gegen Armut, Hunger und Krankheit in der Welt
Das Millenniumsprogramm: die Halbierung der extremen Weltarmut
Internationales Recht und globale Gerechtigkeit
Wie wir die Millenniumsziele doch noch erreichen können
Die Jahre bis 2015 nicht nur für Wachstum nutzen
Zwei wegweisende Beispiele
Botschaften für die bessere Welt
Literaturangaben
Copyright
Buch
Den Reichen kann es künftig nur gut gehen, wenn es den Armen dieser Welt besser geht. Deshalb fordern Alt, Gollmann und Neudeck insbesondere von den europäischen Ländern eine aktive und erfolgreiche Reformbegleitung in den Ländern der Dritten Welt. Neben Finanztransfers geht es vor allem um wirkungsvolle Unterstützung durch Hilfe zur Selbsthilfe.
Drei engagierte Autoren berichten aus verschiedenen Blickwinkeln. Rosi Gollmann von ihrer Basisarbeit auf dem indischen Subkontinent; Rupert Neudeck von seiner heroischen Hilfe an Katastrophenbrennpunkten; der Fernsehjournalist Franz Alt vor dem Hintergrund seiner Vorortrecherchen zu zahlreichen Filmen von den Problemen der Armen. Drei unterschiedliche Perspektiven auf ein Problem. »Eine bessere Welt ist möglich« ist ein ebenso eindringlicher wie fundierter Bericht zu Ursachen und Lösungsmöglichkeiten des Nord-Süd-Konflikts.
Autoren
Franz Alt hat 20 Jahre lang als Leiter und Moderator von »Report Baden Baden« und danach 12 Jahre als Leiter der Zukunftsredaktion im SWR Entwicklungsprojekte vorgestellt, welche die Zuschauer so überzeugten, dass sie mehr als 100 Millionen Euro dafür spendeten.
Rosi Gollmann hat 1967 die »Andheri-Hilfe Bonn« gegründet und über 3 000 Entwicklungsprojekte in Indien, Bangladesch und Nepal erfolgreich realisiert. Ihr Prinzip: Hilfe zur Selbsthilfe.
Rupert Neudeck hat 1979 das »Komitee Cap Anamur – Deutsche Notärzte« begründet und 2002 die Hilfsorganisation »Grünhelme«. Cap Anamur engagierte sich in den letzten Jahren u.a. in Afghanistan, Sudan, Sierra Leone, Haiti, Kenia und Tschetschenien. Seinen unkonventionellen Aktivitäten verdanken Hunderttausende in Asien, Afrika und Lateinamerika ihr Leben. 2006 erhielt er für sein Engagement den Europäischen Sozialpreis.
Von Franz Alt ist im Goldmann Verlag außerdem erschienen:
Der ökologische Jesus (15156) · Agrarwende jetzt (15165)
Krieg um Öl oder Frieden durch die Sonne (15289)
Franz Alt
Vorwort: Ist eine bessere Welt möglich?
»Entwicklung kostet – keine Entwicklung kostet die Zukunft.«
Kreditanstalt für Wiederaufbau, Berlin
50 Jahre vor Erscheinen dieses Buches, 1955, wurde auf der Bandung-Konferenz in Indonesien der Begriff »Dritte Welt« geprägt. Erstmals trafen sich die Spitzenpolitiker von zwei Dritteln der Menschheit unter der Führung von Indien, China, Ägypten, Indonesien und Jugoslawien, um selbstbewusst nach Wegen aus ihrer Armut und weltpolitischen Bedeutungslosigkeit zu suchen. In der europäischen und US-amerikanischen Presse wurde dieses Treffen überwiegend als »Aufstand« gegen die weiße Weltherrschaft gewertet. Die Weltherrschaften in Washington und Moskau hatten sich Massenvernichtungswaffen beschafft, aber die Massenvernichtungswaffen in der »Dritten Welt«, nämlich Massenelend und Massenkrankheiten, übersehen.
Die Verdammten dieser Erde versuchten in Bandung erstmals eine Art Vereinte Nationen Asiens und Afrikas zu schaffen und sich vom Kolonialismus zu befreien – einige hatten sich gerade davon befreit.
Der Begriff »Dritte Welt« sollte bewusst an den französischen »Dritten Stand« aus dem 18. Jahrhundert erinnern. In der berühmten Kampfschrift der französischen Revolution im Jahr 1789 hatte es geheißen:
»Was ist der Dritte Stand? Alles.
Was ist er bis jetzt in der politischen Ordnung gewesen? Nichts.
Was verlangt er? Etwas zu sein.«
Auf der Bandung-Konferenz präsentierten sich die Länder der »Dritten Welt« als der »Dritte Stand« der Welt, der bislang »nichts« war, aber künftig »etwas zu sein« beanspruchte.
Was hat sich in den letzten 50 Jahren für die Dritte-Welt-Länder verändert? Die zweite, die kommunistisch geprägte Welt ist fast verschwunden, aber wir haben viel Grund, von einer vierten Welt, einer Welt der total Armen, zu sprechen. Noch immer verhungern täglich Zehntausende. Über 840 Millionen Menschen haben jeden Tag nicht genügend zu essen – das sind mehr Menschen als in allen EU-Staaten, in den USA, in Kanada und Japan zusammen leben. Viele Hoffnungen wurden enttäuscht und viele Prognosen widerlegt. Einige sozialistische Experimente sind zu Operettendiktaturen missraten und kapitalistische Ansätze zu unglaublichen Korruptionsaffären verkommen. In den USA, aber auch in Deutschland ist gegenwärtig das Entsetzen über gigantische Managergehälter, exorbitante Abfindungen, ja sogar Bilanzfälschungen groß. Korruption gibt es nicht nur in Entwicklungsländern.
Und dennoch vertrauen die Autoren dieses Buches aufgrund ihrer positiven entwicklungspolitischen Erfahrungen darauf, dass eine bessere Welt möglich ist. Nötig ist sie ohnehin.
Lateinamerika, Asien und Afrika sind zwar nach wie vor die Kontinente der Armen, aber es sind keine armen Kontinente. UNO-Experten haben am Ende des 20. Jahrhunderts errechnet, dass auf unserer Erde 12 Milliarden Menschen ein gutes Leben ohne Hunger und Elend führen können. Aber unsere reiche Welt ist ethisch arm und politisch fantasielos. Papst Johannes Paul II. erklärte eine Politik für »bankrott«, die nicht verhindert, dass im 21. Jahrhundert noch eine Milliarde Menschen hungern.
Der Kapitalismus frisst seine Kunden
So wie früher der real existierende Sozialismus seine Kinder fraß, so frisst heute der real existierende Kapitalismus seine Kunden. Kapitalisten, die ihre Kunden nicht anständig bezahlen, denken nicht einmal daran, wer eigentlich ihre Produkte kaufen soll.
Der heutige Kapitalismus ist – ökologisch, sozial und ökonomisch – ein unerträglich primitives Selbstmordsystem. Dieses System gibt Lenin Recht, der gesagt hat, Kapitalisten seien so dumm, dass »sie uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufhängen«. Weil dieser Kapitalismus ein Anschlag auf den gesunden Menschenverstand ist, züchtet er – wie die dümmsten Kälber – seine Metzger selber. Dümmer geht’s nimmer. Kapitalisten sind ganz banale Banditen, die das genaue Gegenteil dessen treiben, was sozial-ökologische Marktwirtschaft meint: Ihr Gott ist Geld, aber nicht eine sozial gerechte und ökologische Ökonomie. Wenn Banken Milliarden verdienen und zugleich Mitarbeiter entlassen wollen, dann sind ihre Bosse und die hinter ihnen agierenden Analysten menschlich einfach dekadent. Ein Markt ohne Ordnung führt offensichtlich ins Chaos – im Westen und im Osten, im Süden und im Norden. Eine Marktwirtschaft ohne soziale und ökologische Balance degeneriert zu einem System gesellschaftlicher Verantwortungslosigkeit.
Ist Entwicklung möglich? Können wir den Hunger eines Tages ins Museum der Geschichte stellen? Können wir wenigstens bis zum Jahr 2015 die Zahl der Hungernden und Verhungernden auf unserer Welt halbieren – wie die UNO es beschlossen und versprochen hat?
Und vor allem: Welche Strategien brauchen wir, um diese hehren Ziele zu erreichen? Reicht eine Verdoppelung der Gelder für Entwicklungspolitik, wie sie seit 30 Jahren gefordert und zugesichert, aber bis heute nie erreicht, weil nie ernsthaft versucht wurde? Könnte heute ein globaler Marshallplan für die Dritte Welt so hilfreich sein wie der Marshallplan der USA, der nach 1945 dem zerstörten Europa auf die Beine geholfen hat?
Bieten die Tsunami-Katastrophe und die folgende weltweite Hilfsbereitschaft der Gesellschaften und der Politik erstmals die Chance für eine globale Entwicklung, die diesen Namen verdient?
Die vier reichsten US-amerikanischen Männer verfügen heute über mehr Geld als die eine Milliarde der Ärmsten. Über eine Milliarde Menschen in Entwicklungsländern müssen von weniger als einem Dollar Einkommen pro Tag leben. Und etwa die Hälfte der Menschheit wird von den Vereinten Nationen als arm eingestuft. Der jordanische Prinz El Hassan bin Talal hat darauf hingewiesen, dass die US-Wirtschaft jährlich Pflanzenproben und -samen aus den Ländern außerhalb der USA im Wert von 66 Milliarden US-Dollar bezieht, ohne dafür zu bezahlen. Diese Summe entspricht etwa den Reingewinnen der gesamten arabischen Welt aus dem Verkauf von Rohöl pro Jahr. Das alles ist im Zeitalter der Globalisierung möglich, aber ist es auch gerecht? Nur Gerechtigkeit dient dem Leben, weil sie auf das Recht der anderen aufmerksam macht und den eigenen Vorteil nicht verabsolutiert.
Pharmakonzerne aus aller Welt versuchen, das Volkswissen über die genetische Vielfalt zu stehlen und zu Privateigentum zu machen, sodass zum Beispiel das indische Volk sein seit Jahrtausenden tradiertes Wissen über den Neembaum von westlichen Multis zurückkaufen müsste. Auf Diebstahl darf es kein Patent geben. Dieser Ansicht hat sich inzwischen teilweise auch das Europäische Patentamt angeschlossen.
Der Anfang der Aufklärung war auch der Beginn der heutigen Demokratie und des Marktes. Bildung, Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft gehören in der Geschichte des christlichen Abendlandes zusammen – zumindest in der Theorie. Sie waren die Voraussetzung für allgemeinen Fortschritt und Wohlstand. So konnten sich Millionen von Talenten entfalten. Wir aber lassen heute hauptsächlich in den Dritte-Welt-Ländern Milliarden von Talenten brachliegen. Wir reden von Weltpolitik und von Weltwirtschaft, aber von Weltvernunft und Weltverantwortung oder gar von Weltethik haben wir noch nicht viel begriffen.
Noch einige Beispiele sollen aufzeigen, dass wir zurzeit keine gute Voraussetzung für Entwicklung und Frieden auf unserem gemeinsamen Planeten haben.
Die USA geben heute in 32 Stunden mehr Geld aus für Rüstung und Kriegsvorbereitung, als der UNO insgesamt in einem ganzen Jahr zur Verfügung steht. Das ist keine gute Grundlage für Gerechtigkeit und Solidarität. Klaus Töpfers UNO-Umweltbehörde hat einen Jahresetat für die Umweltarbeit auf der ganzen Welt, der weitaus geringer ist als der Etat der New Yorker Feuerwehr. Das ist keine Basis für eine nachhaltige Wirtschaft auf unserer Erde. Oder: In Simbabwe ist die Lebenserwartung wieder auf 34 Jahre gesunken, in Sambia auf unter 33. Ein Forschungsinstitut in London prognostiziert, dass die Lebenserwartung in Südafrika in den nächsten Jahrzehnten von 55 auf 35 Jahre fallen wird, wenn nichts passiert. Ursachen sind nicht nur Aids, sondern auch Mangel an sauberem Wasser, an Nahrung, an Ärzten – in einem Wort: die Armut. Die Überwindung von Armut, Hunger und Umweltzerstörung ist nicht nur ein Gebot der Moral, es ist auch ein Gebot politischer Vernunft und vernünftiger Politik. Es kann auf Dauer nicht gut gehen, wenn ein US-Bürger die Umwelt 270-mal mehr belastet als ein Bürger in Haiti.
Ich möchte auch für die Koautoren schon an dieser Stelle deutlich machen: Wir haben kein parteipolitisches Anliegen, aber deshalb ist unser Buch nicht unparteiisch. Wir können uns eine bessere Welt vorstellen. Wir schreiben auch aus der Sicht der betroffenen Armen, die wir seit Jahrzehnten begleiten. Und wir wissen auch, dass Entwicklungspolitik kein Nischendasein mehr führen darf. Entwicklungspolitik auf der Höhe der Zeit ist immer auch Außen- und Sicherheitspolitik, Handels- und Finanzpolitik, Agrar- und Menschenrechtspolitik, Umwelt- und Friedenspolitik.
Die christlichen Kirchen haben diesen notwendigen Zusammenhang moderner Entwicklungspolitik in ihrem klassischen Dreiklang »Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung« formuliert. Frieden und Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit sind Werte, die heute in nahezu keinem Partei- oder Regierungsprogramm fehlen. Das heißt freilich nicht, dass alle Parteien oder Regierungen diese Werte in ihrer praktischen Politik auch ernst nehmen.
Nach über 40 Jahren Entwicklungspolitik seit John F. Kennedys Vision eines Peace Corps zeigt sich die Politik unfähig und/ oder unwillig, die Zukunftsprobleme der Menschheit wie Frieden, Überwindung des Hungers, Frauendiskriminierung, Massenarbeitslosigkeit und Treibhauseffekt zu lösen. Aber für alle diese Probleme gibt es Lösungen, ebenso wie für das an deutschen Stammtischen so heftig diskutierte Problem der »Bevölkerungsexplosion«.
Nicht die zu vielen Menschen in den armen Ländern sind das Hauptproblem für die Zukunft unseres Planeten, sondern der Ressourcenverbrauch der relativ wenigen Menschen in den reichen Ländern. Ein deutsches Kind hat zum Beispiel durch seinen Verbrauch an Papierwindeln im Alter von zwei Jahren bereits so viel Papier verbraucht wie ein Mensch in Indien, China oder Afrika während seines gesamten Lebens.
Am Beispiel des südwestindischen Bundesstaates Kerala lässt sich erkennen, wie das Bevölkerungswachstum durch sehr humane politische Maßnahmen erfolgreich gestoppt werden kann. Kerala ist der erste indische Bundesstaat, in dem die Bevölkerungszahl nicht mehr wächst. Andere werden folgen. In Kerala gehen alle Kinder und Jugendlichen zur Schule – selbstverständlich auch die Mädchen. Diese Mädchen haben die Chance, einen Beruf zu erlernen, und bekommen dann auch nicht mit 16 Jahren ihr erstes Kind, sondern vielleicht mit 25. Eine Frau in Kerala bekommt im Schnitt nur noch zwei Kinder. Das Problem des Bevölkerungswachstums ist gelöst.
Der indische Psychiater Sudhir Kakar, der in Deutschland und in den USA studierte, sieht ein ganz anderes Problem, wenn er heute aus Indien nach Europa kommt: die Hoffnungslosigkeit und Depression in den Gesichtern der Reichen. »Ohne Hoffnung kann man nicht handeln«, sagt Kakar und fügt hinzu: »Das hat viel mit Jugend zu tun. In Indien sind zwei Drittel der Gesellschaft jünger als 25 Jahre. Eine solche Gesellschaft kann nicht depressiv sein … Auf mich wirkt Europa heute menschenleer, still und alt.«
Die Autoren dieses Buches zeigen ganz konkret und praktisch an vielen Beispielen, wie Entwicklung und Umweltschutz, sinnvolle Beschäftigung und Gesundheitsförderung, Bildung und Frauenemanzipation gestaltet werden können. Entwicklung heißt für uns: Die Lebensbedingungen der Ärmsten der Armen verbessern helfen. In einer sich globalisierenden Welt kann man auf Dauer die Mehrheit der Menschen nicht vom Wohlstand ausschließen, wenn man in Frieden leben will. Das gilt für Kastenlose in Indien wie für Nomaden in Afrika.
Die Armen sind kreativ
Entwicklung ist mehr als Armutsbekämpfung und Caritas. Nachhaltige Entwicklung mit zukunftsfähigen Perspektiven für Millionen Menschen in Entwicklungsländern erfordert vierfache Anstrengungen von Entwicklungsländern und Industriestaaten. So hat es das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit formuliert:
• Soziale Gerechtigkeit – das heißt sozialer Ausgleich und armutsmindernde Rahmenbedingungen.
• Wirtschaftsfähige Leistungsfähigkeit – also armenorientiertes Wachstum und wirtschaftliche Zusammenarbeit.
• Politische Stabilität – dazu gehört der Einsatz für Frieden, Menschenrechte, Demokratie und Gleichberechtigung.
• Ökologisches Gleichgewicht meint schließlich das Bewahren der natürlichen Ressourcen als Lebensgrundlage – also nachhaltigen Umgang mit unseren Lebensvoraussetzungen wie reines Wasser, saubere Luft und gesunde Böden.
Diese Entwicklungspolitik ist mehr als die klassische Entwicklungshilfe, die primär akute Armutsbekämpfung und Nothilfe gemeint hatte. Wenn Entwicklungspolitik gelingen soll, ist eine neue Nord-Süd-Politik Voraussetzung. Voraussetzung für Entwicklung ist, dass die Armen ihre Kreativität entwickeln können. Meine Erfahrung ist, dass Arme unglaublich kreativ sind. Und Kreativität ist eine göttlich-menschliche Tugend.
Der Norden kann den Süden nicht entwickeln. Aber der Norden darf den Süden nicht länger ausbeuten und kann Hilfestellung leisten, wenn die armen Länder versuchen, neue Wege in eine bessere Zukunft für alle zu gehen.
Als Bilanz von 45 Jahren Entwicklungspolitik gilt: Es fehlt nicht an Wissen, Entwicklung erfolgreich zu gestalten, es fehlt primär am politischen Willen der Führungskräfte im Norden und im Süden, das Wissen auch umzusetzen. Als Journalist füge ich hinzu: Es fehlt an Journalisten, die auch nur ein wenig Interesse an entwicklungspolitischen Themen und Erfahrungen haben, und deshalb fehlt es auch an Wählerinnen und Wählern, die mit ihren Stimmen bei Wahlen Politiker und Parteien zugunsten der Entwicklungspolitik unter Druck setzen. Die Wähler der deutschen Politiker leben nun mal nicht im schwarzen Afrika, sondern im reichen Norden.
Wer mit offenen Sinnen und wachem Verstand liest, wie Rosi Gollmann, Christel und Rupert Neudeck und ihre Helfer in Deutschland und Übersee arbeiten, ist danach nicht mehr derselbe oder dieselbe. Deshalb ist dieses Buch auch ein gefährliches Buch. Es will anstecken zur Aktivität.
Wer sich nicht anstecken lassen möchte, sollte ab hier nicht mehr weiterlesen, er vergeudet nur Zeit. Wer aber wirklich wissen will, wie jede und jeder effizient helfen kann, wird in diesem Buch viele spannende Anregungen finden.
In den weltpolitischen Wendejahren von 1989/90 wurde in Deutschland das größte weltweit jemals aufgelegte Entwicklungsprogramm initiiert, es galt der alten DDR. Wenn selbst dieses einmalige Programm auf überschaubarem Raum innerhalb einer Sprach- und Kulturregion nur relativen Fortschritt zur Folge hatte, wie sollen dann mit einem Bruchteil des Geldes von 20 Prozent der »Reichen« für die 80 Prozent der »Unterentwickelten« sichtbare Fortschritte erzielt werden? In Deutschland haben die 80 Prozent »reichen« Westdeutschen die 20 Prozent der »armen« Ostdeutschen noch immer nicht zufriedenstellend »entwickeln« helfen können. Ist nach dieser Erfahrung Entwicklungshilfe nicht Illusion und Größenwahn? Was ist überhaupt Entwicklung, was Hilfe und was erfolgreiche Entwicklungspolitik?
Die drei Autoren dieses Buches haben seit Jahrzehnten entwicklungspolitische Erfahrung – Rosi Gollmann und Rupert Neudeck vor allem sind erfolgreiche Praktiker und Überzeugungstäter, wie es sie ein zweites Mal so in Deutschland nicht mehr gibt.
Was ist konkret und praktisch Entwicklung?
Rosi Gollmann und ihr Andheri-Hilfe-Team haben in Indien, Nepal und Bangladesh seit 1967 über 2000 Entwicklungshilfeprojekte initiiert und erfolgreich durchgeführt. Eine Million ehemals Blinde können sehen, eine halbe Million Frauen haben sich – unterstützt von der Andheri-Hilfe – zusammengeschlossen und in einer frauenfeindlichen Umwelt in ihren Dörfern bislang unvorstellbare emanzipatorische Arbeit für mehr Wohlstand, Freiheit, Bildung für sich und ihre Kinder, für Gesundheit und politische Teilhabe erstritten. Über 100 000 Kinder wurden dank der Andheri-Hilfe aus der Sklavenarbeit in Fabriken befreit und können jetzt Schulen besuchen. 40 000 Behinderte – Blinde, Taubstumme, geistig Behinderte, Autisten, verstoßene Leprakranke – können jetzt, unterstützt von der kleinen deutschen Hilfsorganisation, die Rosi Gollmann gegründet hat, ein selbstbestimmtes Leben führen.
Für Gollmanns Andheri-Hilfe heißt Entwicklung: den Schwächsten nahe sein und den Betroffenen Mitspracherechte geben. Entwicklung ist Entwicklung von ganz unten – mit relativ wenig Geld aus Deutschland. Entwicklung heißt für diese großartige Frau und ihre Helferinnen und Helfer hier und auf dem indischen Subkontinent immer: Hilfe zur Selbsthilfe. Und im Zweifel: Die Betroffenen wissen am besten, was sie brauchen.
Denn: Hinter der Maske ihrer Armut verbirgt sich unvorstellbar viel Anmut. Für Rosi Gollmann heißt Entwicklungshilfe immer: Anstiften zum Mut der Selbstentwicklung. Oder schlicht und englisch: Empowerment – helfen, dass die Menschen zu ihrer eigenen Stärke finden.
Ebenso effizient war und ist die unkonventionelle Arbeit von Christel und Rupert Neudeck. Wer dieses Liebes- und Arbeitspaar kennt, weiß, dass man sie immer in einem Atemzug nennen muss, auch wenn die Journalisten meist nur über Rupert Neudeck berichten.
So unkonventionell Rupert Neudeck arbeitet, so unkonventionell und ungeduldig schreibt er auch. Manchmal auch voller Wut und Zorn, weil er vor Ort ständig den Unterschied zwischen entwicklungspolitischen Versprechen und Taten erleben muss. Der frühere Bundespräsident Rau sagte einmal zu Rupert Neudeck: »Selten hat mich jemand so unter Druck gesetzt wie Sie mit Ihren Briefen aus der Dritten Welt. Sie haben mich auch oft damit geärgert. Aber Sie waren erfolgreich. Ich gratuliere Ihnen.«
Das »Komitee Cap Anamur/Deutsche Notärzte e.V.« der Neudecks und ihre heutige Organisation »Grünhelme« haben Hunderttausenden Menschen in Asien und Afrika in dramatischen Notsituationen wie Hungersnöten und Bürgerkriegen das Leben gerettet und Hoffnung auf eine gute Zukunft vermittelt. Sie haben über 10 000 Boat-People im Südchinesischen Meer vor dem Ertrinken gerettet. Sie haben in den Achtziger- und Neunzigerjahren Hunderttausende in afrikanischen Flüchtlingslagern vor dem Verhungern bewahrt, für viele tausend Kinder Schulen und für Zehntausende Flüchtlinge und Obdachlose Häuser gebaut. Heinrich Böll hat die Neudecks und ihre Helfer zu Recht »Partisanen der Humanität« genannt.
Was die Neudecks und Rosi Gollmann, aber auch deren Nachfolger angestoßen haben, findet tausendfache Nachahmung. Es ist oft wie ein Feld, das nach einer langen Reifezeit sichtbar Früchte in Hülle und Fülle hervorbringt. Ein indischer Regierungsberater sagte mir Anfang 2005: »Ohne die Initiative der Andheri-Hilfe hätte heute nicht beinahe jedes indische Dorf einen Kindergarten.« Und in Indien gibt es nahezu eine Million Dörfer. Der Bürgermeister der zweitgrößten Stadt Bosniens, Tuzla, erzählte mir im Sommer 1999: »Ohne die unermüdliche Versöhnungsarbeit von Rupert Neudeck wäre bei uns vieles noch viel schrecklicher geworden. Seine Hilfe war ein Segen für uns.«
Seit über 26 Jahren habe ich in Fernsehfilmen, Artikeln und inzwischen im Internet (www.sonnenseite.com) über die erfolgreichen Projekte der Andheri-Hilfe, der Cap Anamur und der Grünhelme berichtet. Die Fernsehzuschauer spendeten für Entwicklungsprojekte, die ich in dieser Zeit in meinen Sendungen »Report«, »Querdenker« und »Grenzenlos« vorstellte, über 100 Millionen Euro, davon mehr als die Hälfte für die Projekte der Andheri-Hilfe und Cap Anamur.
Die meisten Projekte, die ich zeigte, konnte ich selbst filmen, nach den Kriterien eines aufklärenden Journalismus mit gutem Gewissen präsentieren und Kontonummern der Hilfsorganisationen einblenden. Hunderttausende Fernsehzuschauer wollten helfen und haben geholfen.
Alle drei Autoren dieses Buches waren zur Jahreswende 2004/ 2005 im südasiatischen Tsunami-Katastrophengebiet vor Ort. Wir haben gesehen, berichtet und zur Hilfe animiert. Wir sind überzeugt, dass wir ähnlich wie nach 1989 eine zweite Chance haben, der Entwicklungspolitik zum Durchbruch zu verhelfen. Nach 1989 haben die Politiker der Industriestaaten diese Chance freilich leichtfertig verspielt. Aber jetzt könnte Willy Brandts Erkenntnis wirklich Realität werden: »Entwicklungspolitik von heute ist Friedenspolitik von morgen.«
Es geht nicht um Almosen der Reichen für die Armen, sondern um globale Kooperation beider Seiten für eine gemeinsame bessere Welt, für eine gerechtere Welt. Im bisherigen Welthandelssystem haben die USA, die EU und Japan die Regeln diktiert. Wenn FC Reichtum gegen die ausgemergelten Gestalten von VFB Armut spielt, steht der Ausgang des Spiels von vornherein fest. Gleiche Regeln für ungleiche Länder – das ist nicht fair. Solche Spiele verlieren fast immer die Armen.
Betrachten wir das Verhältnis der USA zu Lateinamerika. Viele Reiche in Nordamerika sehen die Millionenheere der Armen im Süden nicht als Aufruf zur Solidarität, sondern als Bedrohung ihrer Vorteile, die sie primär einer ungerechten Weltordnung verdanken. Die Politik der USA gegenüber ihrem »Hinterhof« ist kein Kampf gegen die Armut, sondern eher ein Kampf gegen die Armen. Die Befreiungstheologie der lateinamerikanischen Bischofskonferenz, die sich an die Seite der Armen gestellt hat, wurde von US-Regierungen oft als »Kommunismus« diffamiert. Die Christen im Weißen Haus haben nie verstehen wollen, dass Jesus von Nazareth ein Freund der Armen und ein Kritiker der Reichen war.
Millionen sozial engagierter Christen in Lateinamerika wurden und werden von Kapitalisten als »Kommunisten« und von Kommunisten als »Handlanger der Kapitalisten« diffamiert. In den letzten 20 Jahren wurden allein in Kolumbien 50 Bischöfe, Priester und Ordensleute wegen ihres Engagements für die Armen ermordet – in Brasilien erhielten 2004 fast 200 Kirchenleute Morddrohungen aus demselben Grund. Noch immer gilt in den internationalen Institutionen der Weltwirtschaft: Freier Handel ist wichtiger als fairer Handel. Wenn aber die Handelnden so ungleiche Voraussetzungen haben wie zum Beispiel Menschen in den USA und Guatemala, dann stehen die Verlierer von vornherein fest. Es herrscht das Gesetz des Dschungels. Wenn die Agrarmultis, die Großgrundbesitzer, die Supermarktketten und die Kleinbäuerinnen als Teilnehmer am globalisierten Agrarhandel auftreten, ist klar, wer gewinnt und wer verliert. Auf ihren Miniparzellen bauen die Kleinbäuerinnen jetzt Gemüse für den Export an und müssen ihre Familien mit importiertem Reis und Mais ernähren. Nur ein neoliberaler Mythos kann behaupten, dass die Ernährung der Armen dadurch sicherer und reichhaltiger würde.
Nach dem Ende des Kalten Krieges haben Millionen Menschen auf eine »Friedensdividende« gehofft. In ihrem Sinne haben damals in Deutschland Willy Brandt (SPD) und Richard von Weizsäcker (CDU) gemeinsam vorgeschlagen, ein Drittel der frei werdenden Rüstungsgelder für Entwicklung zu verwenden. Aber die »Kriegsdividende« war wieder einmal wichtiger als eine wirkliche »Friedensdividende«. Vielleicht gelingt es uns aber jetzt – ähnlich wie beim Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg -, eine Art »Tsunami-Dividende« über einen globalen Marshallplan zu organisieren.
Auch hier muss allerdings vor voreiligem und naivem Optimismus gewarnt werden. Ich habe als junger Fernsehreporter 1971 die verheerenden Auswirkungen einer Flutkatastrophe mit 500 000 Toten und Millionen Obdachloser in Bangladesch erlebt. Die übrige Welt hat das kaum interessiert. Auch als 1991 ein Tsunami in Bangladesch 138 000 Tote gefordert hatte, waren die internationalen Fernsehteams nur kurz vor Ort präsent.
Ähnlich gleichgültig verhielt sich die Welt danach bei großen Flutkatastrophen in China, Mosambik und Zentralamerika. Von internationaler Verantwortung war immer wenig zu spüren. Und die Tatsache, dass heute jeden Tag 26 000 Menschen verhungern oder an vermeidbaren Krankheiten und Wassermangel sterben – dieser größte Skandal unserer Zeit -, wird politisch kaum noch beachtet. Große Worte über »Solidarität in der einen Welt« ja, aber wehe, es kostet etwas! Großen Worten folgten bisher meist kleine Taten.
Die Kreditanstalt für Wiederaufbau hat zu diesem Verhalten treffend festgestellt: »Entwicklung kostet – keine Entwicklung kostet die Zukunft.« Doch die Sintflut der Vergesslichkeit hat politische Vernunft noch immer verdrängt. Seit 1970 versprechen die Industriestaaten, ihre Entwicklungshilfe zu verdoppeln. Aber seit 1980 haben sie ihre finanziellen Aufwendungen etwa halbiert. Im Februar 2005 lese ich, dass Präsident Bush zusätzlich zu den über 200 Milliarden Dollar, die seine Kriege im Irak und Afghanistan bereits verschlungen haben, weitere 86 Milliarden Dollar für seine lächerlichen und schrecklichen Militärspiele braucht. Ein Bruchteil dieses Geldes, über mehrere Jahre verteilt, würde ausreichen, die schlimmste Not zu überwinden. Es ist politisch nicht gewünscht; es fehlt nicht am Geld.
Franz Alt
Entwicklungspolitik ist Friedenspolitik
Wird aus dem Seebeben ein Weltbeben?
Warum aber soll die Nach-Tsunami-Zeit jetzt die Entwicklungswende bringen? Weil erstmals nach einer großen Naturkatastrophe die Weltgemeinschaft tief betroffen war und auch die Weltpresse und alle Fernsehstationen noch Monate danach berichteten wie nie zuvor.
Aus dem Seebeben war endlich ein Weltbeben geworden. Nach dem Tsunami hat die Welle der Emotionalität und Hilfsbereitschaft sämtliche Kontinente ergriffen. Es war wie ein Wunder inmitten der Flut – und die Fernsehbilder waren die Voraussetzung für dieses Wunder. Erstmals hat eine Katastrophe der »Dritten Welt« die ganze Welt wirklich erfasst. Das könnte ein Wendepunkt in der Weltpolitik werden. Endlich nehmen wir das Leid der Ärmsten ernst. Wir erleben: Die Welt ist klein und zerbrechlich und eins.
Es ist wunderbar und einmalig, dass die Hilfszusagen der Regierungen und die Gelder der Spender für die Tsunami-Opfer in Südasien für jede betroffene Familie über eintausend Dollar betragen. Damit kann zum Beispiel für jede betroffene Familie in Indien ein stabiles Steinhaus gebaut werden und für einige weitere hundert Dollar sogar mit einer Solaranlage. Nie wieder Strohhütten für die Ärmsten!
Aber darüber sollten wir nicht vergessen, dass in Schwarzafrika täglich Tausende verhungern, verdursten oder an Aids sterben, weil wir für sie keinen einzigen Cent zur Verfügung haben. Alle drei Sekunden stirbt ein Kind an den Folgen extremer Armut.
Es ist keine gute Voraussetzung für den Frieden, wenn eine Milliarde Menschen an Überfettung leiden und eine Milliarde an Unterernährung. Wir Journalisten müssen die Politiker immer wieder daran erinnern, dass sie im Jahr 2000 der Welt versprochen haben, bis 2015 die Zahl der Hungernden und Verhungernden zu halbieren, aber bis jetzt fast nichts zum Erreichen dieses Ziels getan haben. Journalisten, die in dieser Situation nicht für die Hungernden schreiben und schreien, haben ihren Beruf verfehlt.
Kofi Annan weiß, wovon er spricht: Er beschwört jetzt die Geberstaaten, ihre neue emotionale Hilfsbereitschaft zugunsten der Tsunami-Opfer nicht zulasten der Entwicklungsziele gehen zu lassen. Es wäre nicht das erste Mal, dass auch in Berlin Nothilfe aus dem Entwicklungshilfe-Etat entnommen wird. Geht die aktuelle Hilfe gar zulasten der Hilfe für Schwarzafrika?
Der Erfolg der kleinen Hilfsorganisationen wie Rupert Neudecks »Grünhelme« oder der Andheri-Hilfe Bonn liegt in ihrer Nähe zu Millionen Dorfbewohnern. Mit relativ wenig Geld und einem minimalen bürokratischen Aufwand erreichen sie sehr viel. Das Geheimnis ihres Erfolges ist, dass sie mit den Menschen vor Ort arbeiten und nicht nur für sie. Wenn die Betroffenen nicht eingebunden sind, kann Hilfe zur Selbsthilfe nicht funktionieren.
Ein Armutszeugnis für das reiche Deutschland
1970 haben sich die reichen Staaten erstmals verpflichtet, 0,7 Prozent ihres Bruttosozialproduktes für Entwicklungspolitik zu geben. Schweden und Dänemark sowie Luxemburg und die Niederlande haben als Einzige dieses Ziel erreicht oder leicht überschritten. Deutschland gibt zurzeit 0,28 Prozent – ein Armutszeugnis für unser reiches Land. Entwicklungspolitisch ist Deutschland immer noch unterentwickelt. Wenn alle Industriestaaten sich so danebenbenehmen wie Deutschland, kann die UNO ihre Millenniumsziele, nämlich die Zahl der Hungernden und Verhungernden zu halbieren, nicht – wie beschlossen – bis 2015, sondern allenfalls bis 2115 erreichen. Indien, Thailand und Indonesien können sich allerdings bereits weit eher selbst helfen als Somalia, der Sudan oder der Kongo. Die Intensivstation unserer Erde liegt in Schwarzafrika.
Wie gut, dass wenigstens Horst Köhler Hilfe für Afrika zu seinem Herzensanliegen gemacht hat. Der Bundespräsident hat schon in seiner Antrittsrede gesagt, dass effiziente Entwicklungspolitik in Afrika der Lackmustest für die europäische Humanität sei.
Wir Journalisten könnten aus dem Tsunami-Desaster lernen, dass es auf dieser Welt Wichtigeres zu berichten gibt als die jahrelangen Diskussionen über Ladenschluss, Dosenpfand und Toll Collect. Der Nach-Tsunami-Journalismus braucht neue Prioritäten, ebenso wie die Politik.
Solange auch in Deutschland der Militärhaushalt über sechsmal höher ist als der Haushalt für Entwicklungspolitik, sind die Prioritäten noch immer falsch. Entwicklungspolitik ist Sicherheits- und Friedenspolitik.
Geradezu bezeichnend für die schizophrene Haltung einer deutschen Bundesregierung bei der Hilfe für die Armen war ein Eklat im April 2005 vor der UNO in New York. Zuvor hatten sowohl Bundeskanzler Schröder wie auch Außenminister Fischer versichert, dass Deutschland seine Entwicklungshilfe von derzeit 0,28 Prozent des Bruttosozialproduktes bis 2014 auf 0,7 Prozent erhöhen werde. Daraufhin hatte der deutsche Botschafter bei der UNO Gunter Pleuger präzisiert: »Deutschland wird den Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt im Jahr 2006 auf 0,35 Prozent steigern, auf 0,5 Prozent bis 2010 und bis 2014 die 0,7 Prozent erreichen.«
Exakt diesen Zeitplan hatte Außenminister Fischer drei Wochen zuvor öffentlich als »verbindlich« bezeichnet. Aber vor der UNO stellte Finanzminister Eichel Fischers Zahlen wieder infrage, sprach von einem »Finanzierungsvorbehalt« und sagte schließlich: »Eine entsprechende Beschlusslage gibt es nicht.« UNO-Chef Kofi Annan war über die Deutschen wieder einmal irritiert und verlangte Aufklärung. Ist dieses Deutschland wirklich reif für einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen? Deutschland entwickelt sich zurück!
Der Dalai Lama hat in meiner letzten Fernsehsendung gesagt: »Achtsamkeit gegenüber den Schwächsten und Ärmsten ist das wichtigste Gebot journalistischer Ethik.« Leider setzen auch viele Entwicklungsländer selbst völlig falsche Prioritäten. So kommen in Eritrea auf 1000 Einwohner 45 Soldaten, aber nur 0,05 Ärzte. Nicht nur die USA, China und Russland oder auch Deutschland, sondern auch einige der ärmsten Länder geben viel zu viel Geld für Militär und Rüstung aus.
Die große Soforthilfe für die Flutopfer in Südasien ist ein wichtiges Zeichen der Hoffnung. Aber noch wichtiger wird es sein, dass die psychischen Lernschritte weit genug gehen, um aus dieser globalen Tragödie einen historischen Lernprozess in Gang zu setzen.
Danach ist es nicht länger akzeptabel, dass die technisch längst möglichen Vorwarnsysteme für derartige Katastrophen in weiten Teilen der Dritten Welt fehlen. Es ist die primäre Lernaufgabe der Menschheit, sich künftig wirklich als eine Familie in einer Welt zu verstehen, in der alle Geschwister einander partnerschaftlich und gleichberechtigt helfen – und zwar nicht erst nach einer riesigen Katastrophe, sondern bereits vorher.
Der Tsunami-Lernprozess zeigt erstmals, dass eine »Demokratisierung der Entwicklungshilfe« (Bill Clinton) möglich ist. Jede und jeder kann nicht nur über seine Regierung, sondern auch persönlich helfen. Viele Regierungen haben erst und nur deshalb geholfen, weil Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger geholfen haben.
Heute steht jedem Menschen statistisch zehnmal mehr Wohlstand zur Verfügung als vor hundert Jahren, aber dieser Wohlstand war noch nie so ungerecht verteilt wie in unserer Zeit. Und noch nie waren die ökologischen Grundlagen für uns alle so gefährdet wie heute.
Nach über 2500 Jahren der großen Weltreligionen und nach 300 Jahren Aufklärung ist es uns noch immer nicht gelungen, alle ethisch und humanistisch orientierten Menschen so miteinander zu vernetzen, dass alle Menschen friedlich und in sozialer Balance miteinander leben können. Aus der Sicht einer neutralen Beobachtersituation können Kriege, Hunger und Umweltzerstörung auf einem reichen Planeten nur als barbarisch, unreif und menschenunwürdig bezeichnet werden. Die Rechtfertigungen, die noch heute für das Aufrechterhalten des Status quo vorgebracht werden, sind objektiv gesehen lächerlich und für alle gefährlich. Nur menschenverachtender Zynismus und nicht mehr verantwortbare Ignoranz über die wahren Entwicklungschancen und technischen Fortschritte verhindern, dass alle Menschen in Wohlstand leben können.
Wir müssen Entwicklungshilfe und -politik auch als Hilfe für uns im noch reichen Norden verstehen. Spätestens der 11. September 2001 hätte alle Menschen erkennen lassen können, dass Frieden, Sicherheit, Arbeit, Wohlstand, Freiheit und Nachhaltigkeit nur möglich sind, wenn sie für alle Bürger dieser Erde ernst genommen werden. Erst wenn kein Kind mehr hungern und verhungern muss, wird es allen besser gehen.
Wenn zum Beispiel die Löhne in den heutigen Armutsregionen nicht steigen, dann müssen sie in den noch reichen Regionen sinken. Das ist ein Grundgesetz der nicht aufhaltbaren Globalisierung. Oder: Wenn die Regenwaldrodung nicht gestoppt werden kann, wird sich auch das Klima in Mitteleuropa, Japan und USA dramatisch verändern und den Wohlstand im Norden und Westen gefährden.
Es ist eine Ungeheuerlichkeit, dass jede Milchkuh in der EU mit 2 Euro pro Tag subventioniert wird, während mehr als eine Milliarde Menschen von weniger als einem Euro am Tag leben müssen. Aber die Innenminister Europas diskutieren lieber die Frage, wie in Nordafrika Auffanglager für afrikanische Flüchtlinge organisiert werden könnten, als dass sie überlegen, wie den Ursachen von Hunger und Flucht beizukommen sei.
Je früher und konsequenter wir diese Zusammenhänge verstehen und entsprechend handeln, desto besser für uns. Je länger wir unsere Ausreden und Bedenken pflegen, desto schlimmer und teurer auch für uns und für die Zukunft unserer Kinder.
Entwicklung und Wohlstand oderStatus quo und Chaos?
Nach dem »Verelendungsprinzip« von Thomas Hobbes und vielen seiner zynischen Nachfolger bleibt auch der moderne Mensch dem Menschen ein Wolf und damit unfähig zur Solidarität und Entwicklung. Wir, die Autoren dieses Buches, sind jedoch nicht aufgrund von Theorien, sondern nach eigenen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte fest davon überzeugt, dass Frieden und Entwicklung, Gerechtigkeit und Fortschritt möglich sind – nicht gewiss, aber möglich. Auch 2005 bleibt diese Frage offen: Ist der Tsunami-Effekt nur kurzfristiges Mitleid im Anblick der Katastrophe, oder entsteht daraus ein langfristiger Lerneffekt zugunsten von nachhaltiger Gerechtigkeit?
Entwicklung kostet Geld, liegt aber auch im wohlverstandenen Eigeninteresse der Wohlhabenden. Intelligente Egoisten wissen, dass es ihnen langfristig nur gut gehen kann, wenn es den Ärmsten nicht immer schlechter geht. Nur kurzsichtige und naive Egoisten können diesen fundamentalen Zusammenhang übersehen. Entwicklungspolitik ist mehr als ein frommes Anliegen, sondern auch für die Reichen kluge Selbstvorsorge. Und diese heißt auch, im weltweiten Kampf gegen den Terrorismus die Ursachen der Gewalt nicht auf gefährliche Weise zu übersehen, wie es George W. Bush tut. Seine Regierung gibt etwa 50-mal mehr für Kriege und Kriegsvorbereitung aus als für Entwicklungspolitik. Dabei ist längst erkennbar, dass Armut, Krankheit, Umweltzerstörung und Unterentwicklung die wahre »Achse des Bösen« sind. Ohne globale Gerechtigkeit kann es globale Sicherheit niemals geben. Der Satz der mittelalterlichen Moraltheologie bleibt gültig: »Frieden ist die Frucht der Gerechtigkeit.« Eine Welt, in der die meisten Menschen kein menschenwürdiges Leben führen können, ist auch dann nicht dauerhaft friedensfähig, wenn es keinen Krieg gibt.
Zunehmend werden die ungleiche Verteilung von Ressourcen und der ungleiche militärische Zugriff auf Ressourcen wie Öl und Gas zur wirklichen »Achse des Bösen« gezählt werden müssen. Das Worldwatch Institute in Washington hat errechnet, dass 2005 weltweit knapp eintausend Milliarden Dollar fürs Militär ausgegeben werden. Präventivstrategien im Sozial-, Umwelt- und Entwicklungsbereich würden weit weniger Geld, dafür aber mehr politische Gestaltungsfantasie und politischen Mut erfordern. Das Worldwatch Institute kommt zum Schluss, dass schon 7,4 Prozent der Rüstungsgelder in den reichen Ländern ausreichen würden, um die Millenniumsziele der UNO bis 2015 realisieren zu können.
Aber die zunehmende Abhängigkeit vom Öl schürt Kriege und Bürgerkriege. Die Wasserknappheit bedroht schon in den nächsten Jahren 434 Millionen Menschen, schätzt das Worldwatch Institute. Die Gefahr wächst, dass Landflucht, Umweltzerstörung und Klimawandel das Hungerproblem verschärfen. Schon heute haben zwei Milliarden Menschen weltweit nicht genügend zu essen. Wenn die Industriestaaten ihre Hilfe nicht mehr verstärken als seit dem Jahr 2000, dann werden die Millenniumsziele nicht in zehn Jahren, sondern vielleicht erst in hundert Jahren erreicht. Die Armut bleibt das Schlüsselproblem aller Friedens-, Entwicklungs- und Umweltprobleme.
Auch das Worldwatch Institute meint: »Die Tsunami-Verwüstung sollte als Katalysator dienen, um die Diskussion über die wichtigsten Voraussetzungen für ein sicheres Leben in eine neue Richtung zu lenken.« Das Institut ruft die Regierungen schließlich auf, mehr in erneuerbare Energien, Gesundheitsprogramme, Umweltschutz, Bildung und Armutsbekämpfung zu investieren.
Eine der entscheidenden politischen Fragen des 21. Jahrhunderts wird heißen: Krieg um Öl oder Frieden durch die Sonne? Und diese Frage muss in den nächsten Jahren beantwortet werden. Eine bessere Welt wird nicht durch Almosen möglich, sondern durch neue Rahmenbedingungen, also neue politische, ökonomische, soziale und ökologische Strukturen. Das liegt im gemeinsamen Lebens- und Überlebensinteresse von Nord und Süd, von Ost und West.
Die Deutschen, die nach der Tsunami-Katastrophe in einer einmaligen Welle der Hilfsbereitschaft 630 Millionen Euro gespendet haben, taten dies nicht aus falscher Sentimentalität, sondern weil diese Hilfe auch in unserem Interesse ist.
Es ist erst ein paar Jahrzehnte her, dass Milliarden Menschen erstmals ein Bild ihrer gemeinsamen Welt von außen sahen: ein blauer Edelstein, im Nichts schwebend, schön, zart, unschuldig und zerbrechlich, vor der Finsternis kosmischer Unendlichkeit. Und allmählich beginnen wir zu verstehen, dass alle Menschen auf diesem blauen Planeten Geschwister sind und sich in Notzeiten helfen können. Die Spendenbereitschaft in solchen Zeiten gehört schon zu den guten Traditionen unseres Landes. Es gibt also doch eine kontinentübergreifende solidarische Menschlichkeit der Tat.
Die Präambel der Vereinten Nationen beginnt mit den Worten »We are the people …«, »Wir sind das Weltvolk …«. Wenn die heute Lebenden diese Erkenntnis ernst nehmen, können wir eine bessere Welt schaffen, eine Welt, in der alle Kinder zur Schule gehen können und kein Kind mehr verhungern muss. Wir können den Rahmen einer ökosozialen Marktwirtschaft organisieren, mit deren Hilfe die Globalisierung sozial und ökologisch verträglich für alle gestaltet werden kann. Dies könnte nach dem Vorbild Ludwig Erhards heißen: Wohlstand und Arbeit für alle. Wenn der Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa und Deutschland beispielhaft funktioniert hat, warum sollte ein globaler Marshallplan künftig nicht weltweit möglich sein? Voraussetzung ist die richtige Antwort auf die Frage: Was lernen wir aus der Geschichte: Zerstörung oder Aufbau? Krieg oder Frieden? Kluge Hilfe zur Selbsthilfe oder den Sturz ins Chaos? Beide Antworten waren und sind immer möglich. Menschen machen Geschichte. So oder so! Es liegt an uns – die Armut liegt in unserer Hand, aber auch der mögliche Wohlstand für alle!
Übrigens: Dort, wo Menschen die Mangrovenwälder an den Küsten der vom letzten Tsunami betroffenen Gebiete gefällt hatten, gab es bis zu zehnmal mehr Tote als dort, wo die Wälder zum Schutz vor der Killerwelle noch standen. Tsunamis können wir auch in Zukunft nicht verhindern, wohl aber ihre schlimmsten Auswirkungen.
Geld ist wichtiger als Menschen
Mehrere Stunden Vorwarnzeit haben am 26. 12. 2004 nicht ausgereicht, um die vom Tsunami betroffenen Menschen zu warnen. Dagegen ist sichergestellt, dass schon auf kleinste Signale an allen Börsen der Welt zeitgleich reagiert werden kann. Geld regiert die Welt. Geld ist viel wichtiger als Menschenleben in der Dritten Welt. In einer so regierten Welt ist der Terror der Verdammten programmiert. Den jetzt empörten Leserinnen und Lesern möchte ich eine schlichte Gegenfrage aus der Sicht der Betroffenen stellen: Wie würde es Ihnen ergehen, wenn Sie in einem Dritte-Welt-Land lebten und erleben müssten, wie Ihr Kind verhungert?
Die Verelendung und der anhaltende Hunger in vielen Staaten des Südens sowie die zunehmende ökologische Aggression des Nordens gegen den Süden in Verbindung mit Kriegen um die zu Ende gehenden Ressourcen bilden das größte Kriegs- und Aggressionspotenzial im 21. Jahrhundert. Aus sozialer Sicht heißt die dringlichste Frage der Zukunft: Wann und wie entwickelt sich der Süden? Aber aus ökologischer Sicht ist die Frage »Wann entwickelt sich der Norden?« mindestens genauso dringlich.
Die Alternative ist eine Öko- oder Ressourcen-Diktatur oder ein anderes totalitäres Regime. Der Neoliberalismus der USA, der immer mehr zum Brutalkapitalismus mutiert, wird so wenig Zukunft haben wie der alte Sozialismus der Sowjetunion, der immer unsozialer wurde. Die Umverlagerung der Einkommen von unten nach oben, die totale Ökonomisierung von Gesellschaft und Staat, das Dogma vom totalen Markt ohne soziale und ökologische Grenzen – all das bedroht nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Mittelschichten. Der Mittelstand zahlt immer mehr Steuern, die Konzerne – auch in Deutschland – zahlen immer weniger. Wenn die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, dann erodiert die demokratische Legitimation. Die Umverteilung von unten nach oben schafft Aggression und sozialen Sprengstoff gegen die neoliberale Marktreligion – auch in der noch reichen Bundesrepublik Deutschland. Die Vorstände deutscher Aktiengesellschaften haben ihre Bezüge zwischen 1997 und 2003 um knapp hundert Prozent erhöht – in derselben Zeit sind die Löhne und Gehälter in Deutschland für viele Millionen Menschen nur um 1,4 Prozent gestiegen. Das ist nicht mehr die soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard mit dem Motto »Wohlstand für alle«, sondern die kalte Herrschaft des Kapitals mit der Folge »Armut für viele«.
Ist die Globalisierung am Auseinanderdriften von Arm und Reich schuld? Hat George W. Bush Recht, der behauptet, auch die armen Länder profitieren von der Globalisierung, oder haben die Kritiker von ATTAC Recht, die behaupten, durch die Globalisierung werden die Reichen reicher und die Armen ärmer?
Zwischen 1960 und 2000 hat sich nach einer Berechnung des UN-Entwicklungsprogrammes (UNDP) der Einkommensabstand zwischen der einen Milliarde Menschen in den reichen Industrieländern und der einen Milliarde der Ärmsten in den am wenigsten entwickelten Ländern im Süden etwa verdoppelt. In den letzten Jahrzehnten wurden also die ärmsten Länder immer mehr vom reichen Norden abgehängt. Diese fatale Entwicklung scheint die Kritik vieler Dritte-Welt-Gruppen an der Globalisierung zu rechtfertigen. Aber was ist mit den vier Milliarden Menschen zwischen den immer Ärmeren und den immer Reicheren?
Das Doppelgesicht der Globalisierung
Gegenüber der Pauschalkritik an der Globalisierung muss auch berücksichtigt werden, dass es viele Globalisierungsgewinner in ärmeren Ländern gibt. Und zwar hauptsächlich in den Schwellenländern wie Indien und China, Indonesien, Brasilien und Chile, Thailand, Malaysia und den Philippinen. Dazu gehören auch die »vier kleinen Tiger« in Ostasien: Taiwan, Hongkong, Südkorea und Singapur.
Längst nicht alle Menschen in diesen Ländern, aber doch Hunderte Millionen, wurden von der Entwicklung nicht abgehängt, sondern eher von ihr begünstigt. Das gilt erst recht für viele Millionen Menschen in den Erdöl exportierenden Staaten, sofern sie vom »Ölsegen« profitieren.
Die Globalisierung hat ein doppeltes Gesicht: ein menschliches und ein unmenschliches. Auch in einem armen Land wie Bangladesch habe ich in den letzten 35 Jahren ökonomische Fortschritte erlebt. Hauptsächlich deshalb ist in diesem »Armenhaus Asiens« die Geburtenrate pro Frau um etwa 50 Prozent gesunken. Weniger Armut führt weltweit zu weniger Geburten, wie auch am Beispiel des südwestindischen Bundesstaates Kerala schon ausgeführt wurde.
Auch die Politiker der großen Parteien hierzulande spüren bereits Legitimationsdefizite durch niedrigere Wahlbeteiligungen. Sie verschleiern die Konsequenzen des neoliberalistischen Kapitalismus mehr, als dass sie seine Auswirkungen erklären und für eine sozialökologische Alternative werben.
Um ökonomisch zu überleben, machen auch europäische Politiker zu viel Zugeständnisse an die fanatischen Globalisierer. Die Doppelstrategie müsste heißen: In einer neoliberalen, sich globalisierenden Welt müssen wir zwar Zugeständnisse machen, aber wir arbeiten an sozialökologischen, marktwirtschaftlichen Alternativen. Seit die »alten« Europäer Nein zum Irak-Krieg gesagt haben und sich erstmals wirklich von den USA emanzipierten, haben sich die Chancen eines alternativen Europa gegenüber dem neoliberalistischen Amerika verbessert.
Es bedurfte dringend dieses ersten wichtigen Neins zum alten Schutzpatron als Akt der Emanzipation. Der Marktfundamentalismus der USA ist ein ebensolcher Fehler wie der Irak-Krieg. Je mehr Allianzen Europa mit dem Süden schafft, desto mehr kommt der US-Neoliberalismus unter Druck.
Während der vier Wochen des Irak-Kriegs im Frühjahr 2003 war ich in China, Südkorea, Japan und Taiwan. Dort habe ich keinen einzigen Politiker, Journalisten oder »Mann auf der Straße« getroffen, der den Krieg der USA verteidigt hätte.
Südkorea und Japan haben den Irak-Krieg der USA offiziell unterstützt, aber nur mit großem inneren Widerstand. In diesen beiden Ländern wächst die Wut über die Abhängigkeit von den USA – und Deutschland, das sich von seiner früheren Abhängigkeit zu emanzipieren beginnt, wird geradezu bewundert. Die Arroganz der Macht, welche die Bush-Regierung nachhaltig pflegt, provoziert die Wut der Ohnmächtigen und Abhängigen. Macht braucht Gegenmacht, wenn sie nicht allzu gefährlich werden soll.
Das eher pazifistisch gestimmte Europa war plötzlich Vorbild und Partner bei allen Zivilgesellschaften der Welt. In Berlin und Paris, in Peking und Moskau, in Tokio, Madrid, Rom und Warschau gingen damals 15 Millionen Menschen gegen den Krieg auf die Straße – ein Menschenbeben gegen die alte Politik. »Venus Europa« (Robert Kagan) war plötzlich attraktiver als der waffenstarrende »Mars Amerika«. Und auf der Weltfinanz-Bühne wurde der neue Euro rasch zur Konkurrenz des alten Dollar. Die einzig verbliebene Supermacht USA bekommt endlich das größer werdende Europa als gesundes – und vielleicht sogar heilsames – Gegengewicht.
Auch die im Jahr 2002 gegründete Afrikanische Union (AU) orientiert sich mit ihrem panafrikanischen Parlament, einer afrikanischen Zentralbank, einem Friedens- und Sicherheitsrat in ihrem Gründungsstatut an den Organisationsstrukturen der EU – mit allen Problemen freilich, die Afrika als am wenigsten entwickelter Kontinent noch immer hat. Die Staaten der EU sind heute ökologisch und entwicklungspolitisch weit stärker in der Welt engagiert als die USA. Europa ist der Hoffnungskontinent für Milliarden Menschen in den noch armen Ländern geworden.
Die immer stärker werdende Regionalisierung der Welt zeigt der »Supermacht USA« bereits ihre Grenzen. Wenn Globalisierung ein anderes Wort für Amerikanisierung ist, hat sie keine Zukunft. Jede ökonomische, politische, kulturelle oder religiöse Vormachtstellung provoziert regionale Gegenkräfte. Die Welt ist wie das Leben selbst nicht einfältig, sondern vielfältig.
Biologie und Ökologie lehren uns, dass nicht Monokulturen, sondern eher Polykulturen zukunftsfähig sind. Das erleben wir zurzeit zum Beispiel in der Entwicklung des Irak, wo weder die alten Anhänger Saddam Husseins noch die neuen Freunde der USA allein die künftige Richtung des Landes bestimmen können. Sie müssen sich zu Kompromissen durchringen. Auch im Irak von morgen wird Vielfalt und nicht Einfalt die Entwicklung bestimmen.
Überall auf der Welt provoziert der Globalisierungsdruck die Rückbesinnung auf das Eigene. Seit über hundert Jahren funktioniert die Weltwirtschaft nur mithilfe einer zugunsten der Reichen globalisierten Energiewirtschaft. Wenige Öl- und Gasquellen versorgten alle sich industrialisierenden Staaten. Jetzt aber kommt die Rückbesinnung auf heimische Rohstoffe, das heißt auf das Eigene: auf die heimische Sonne, den regionalen Wind, auf die überall wachsende Bioenergie sowie auf lokale Wasserkraft und regionale Erdwärme. Die Stärkung der Regionen durch Nutzung regionaler Rohstoffe wird zum neuen globalen Trend. Bislang fraß die alte Globalisierung ihre Kinder, aber die neue »regionale Globalisierung« ernährt immer mehr »Kinder«.
Reichtum verpflichtet – zu was?
Globalisierung ist kein Schicksal, sondern ökologisch, ökonomisch und sozial gestaltbar, wenn politisch gewollt. »Was politisch gewollt ist, kann auch politisch gestaltet werden« (Franz Nuscheler).1 Unbestreitbar ist: Was dieser Planet uns bietet, reicht für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Habgier! Und für die heute Reichen gilt: Reichtum verpflichtet! Diese Erkenntnis gehört zum ehernen Bestand jeder Moral, so wie der Satz »Eigentum verpflichtet« zu den unveränderlichen Grundsätzen der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland gehört. Die starke Begründung im Artikel 14 des Grundgesetzes heißt: »Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« Diese Forderung von erhabener Schlichtheit ist keine Jugendsünde der Bundesrepublik Deutschland, sondern eine tragende Säule unseres Zusammenlebens.
Die eine Welt, von der alle Politiker so gerne reden, ist erst eine Welt, wenn verstanden wird, dass Massenarmut und Massenarbeitslosigkeit eine Massenwürdelosigkeit ist, die überwunden werden kann. Solange aber Millionen Arme einfach aus der Globalisierung ausgegrenzt werden, ist schon das Wort Globalisierung ein Schwindel. Bürgerinnen und Bürger der einen Welt brauchen Ausbildung und Auskommen, Gesundheitsvorsorge und eine halbwegs gesicherte Existenz. Solche Forderungen sind nicht unbillig, sie sind schlicht die Voraussetzung für Frieden und Freiheit, sie sind auch eine Forderung simplen Anstands. Die armen Gesellschaften brauchen endlich reale Entwicklungschancen. Mit formalen Versprechungen haben sie sich schon viel zu lange vertrösten lassen. Ein positives Beispiel aus Afrika: Allein der deutsche Schuldenerlass in Mosambik hat dazu geführt, dass in den letzten vier Jahren eine Million Kinder zusätzlich die Schule besuchen.
Der Global Player aus Nazareth