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Der Befund ist erschütternd: Seit Jahrhunderten wird die Kirche von starren, männlich dominierten Hierarchien beherrscht. Abgründe der Unterdrückung und des Machtmissbrauchs tun sich auf. Und während eine Krise auf die nächste folgt, kehren immer mehr Christen den Kirchen den Rücken zu. Ist das die Kirche, die Jesus gewollt hat? Der Bestsellerautor Franz Alt sagt: Nein! Die Kirche ist auf dem besten Weg, das Christentum abzuschaffen. Dabei müsste sie es besser wissen. Am Verhältnis zur Frau erkennt man den Zivilisationsgrad einer Gesellschaft und einer Kirche. Dieser Gedanke stammt nicht etwa von Alice Schwarzer, sondern von Jesus. In seinem neuen Buch schildert Franz Alt seinen Traum von einer Kirche, die ihre eigenen weiblichen Wurzeln endlich ernst nimmt. Im Zentrum steht das Maria-Magdalena-Evangelium, das einzige Evangelium, das nach einer Frau benannt ist, und das das "Evangelium für das dritte Jahrtausend" werden kann. Bahnt sich nach 2000 Jahren Frauenfeindlichkeit in der christlichen Männerkirche eine Wende an, vielleicht sogar eine Revolution? Manche Träume werden Wirklichkeit.
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Seitenzahl: 346
Franz Alt
Ich habe einen Traum
Die Zukunft der Kirche ist weiblich
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © Heinz Heiss Foto-journalismus, Stuttgart
E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timisoara
ISBN Print 978-3-451-39542-0
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83099-0
I. Maria Magdalena – die erste Päpstin
1. Krise der Kirche oder Krise der Religion?
2. Die Verdrängung der Maria Magdalena
3. Die spirituelle Krise ist die eigentliche Krise unserer Zeit
4. Wo ist der Geist Jesu in der Kirche?
5. Vertrauen ist der Goldstandard aller Beziehungen
6. Gott ist Liebe
7. Jesus in schlechter Gesellschaft?
8. Eine Kirche der Zukunft
10. Jesus – ein Freund der Frauen
11. Der Schlüssel zur Heiligen Schrift
II. „Ich bin Jesuaner“
1. Was hat Jesus wirklich gesagt?
2. Das krankmachende und das gesundmachende Gottesbild
3. Die Gewalt im Patriarchat
4. Neuer Wein in neue Schläuche
5. Jesus ja – Kirche nein?
6. Der zensierte Jesus
7. Unsere Kinder gehören nicht uns
III. Der aramäische Jesus
1. War Jesus ein Krieger?
2. Jesus kennt nur eine Religion: ein gutes menschliches Herz
3. Jesus und die Wiedergeburt
4. Jesus und die Geistin
5. Der ökologische Jesus
6. Jesus und das Vertrauen
Erste Analyse nach Carl Gustav Jung
7. Jesus und die Sexualität
8. Jesus und die Jungfrauengeburt
9. Jesus und das Papsttum
10. Jesus und sein Freund Judas
11. Jesu Vaterunser aus dem Aramäischen
Zweite Analyse nach Carl Gustav Jung
Dritte Analyse nach Carl Gustav Jung
IV. Das spirituelle Traumpaar: Maria Magdalena und Jesus
1. Seine vertraute Gefährtin
2. Jesus: „Verurteilt nicht!“
Vierte Analyse nach Carl Gustav Jung
3. Homo sapiens oder Homo Dummkopf?
4. Warum ist die Bergpredigt bisher ohne Wirkung?
5. Paulus wurde dem Christentum zum Verhängnis
6. Jesus – der erste neue Mann
V. Das Maria-Magdalena-Evangelium
1. Das Evangelium vom Reich Gottes
Fünfte Analyse nach Carl Gustav Jung
2. Der Erlöser im Gespräch mit seinen Jüngern und Maria Magdalena.
3. Maria Magdalena – die wahre Nachfolgerin Jesu
Sechste Analyse nach Carl Gustav Jung
VI. Das Evangelium für das dritte Jahrtausend
1. Lichtblicke im Dunkel unserer Geschichte
2. Was ist „heiliger Sex“?
3. Senfkorn: Kleinster Samen – riesige Wirkung
4. Der Nous entscheidet alles
5. Gottes großer Plan: Alle Menschen retten!
6. Der Makel der „Erbsünde“ wird auf jedes Baby übertragen
Siebte Analyse nach Carl Gustav Jung
7. Unsere Welt ist außer Balance
8. Maria Magdalena – die Frau im Herzen Jesu
9. Wir brauchen ein Gleichgewicht zwischen Verstand und Herz
Achte Analyse nach Jesus
10. Das Maria-Magdalena-Christentum
11. Die Welt ist nicht im Gleichgewicht
12. Wie kommt die Welt ins Gleichgewicht?
13. Weltparlament – Weltregierung – Weltjustiz
14. Ein neues Zeitalter des Geistes
Literatur
Bild- und Textnachweise
Dank
Anmerkungen
Über den Autor
Am Verhältnis zur Frau erkennt man den Zivilisationsgrad einer Gesellschaft und einer Kirche. Eine Kirche kann nur so frei sein, wie auch die Frauen in ihr frei sind. Dieser Gedanke stammt nicht etwa von Alice Schwarzer, sondern von Jesus. Bahnt sich nach 2000 Jahren Frauenfeindlichkeit in der christlichen Männerkirche eine Wende an, vielleicht sogar eine Revolution? Gelten Frauen als vollwertige, von nun an mit Männern gleichberechtigte Menschen? Am 3. Juni 2016 nannte Papst Franziskus die Gefährtin und Vertraute Jesu, Maria Magdalena, „Apostolorum Apostola“, „die Apostelin der Apostel“. Somit stellt der Papst klar, dass eine Frau de facto die erste Päpstin war, eine Frau die wahre Kirchengründerin. Ist Maria Magdalena für das Christentum tatsächlich wichtiger als die Apostel? Lässt sich ihre Rolle im Frühchristentum wirklich als die der ersten Päpstin interpretieren?
Der uralte Text, der diese Vermutung belegt und bestärkt, steht im Mittelpunkt dieses Buches. Er blieb lange geheim und wird von Theologen noch immer verdrängt. Dieses Schriftstück, das heute im Ägyptischen Museum in Berlin mit der Depotnummer P 8502 A in einem unscheinbaren Holzkästchen liegt, könnte das „religiöse Weltbild der mehr als zwei Milliarden Christen in der Welt wanken lassen. Es erzählt die Geschichte von Jesus und einer Frau, die ihm sehr nahe war.“1 Aber in der Bibel kommt dieser Text nicht vor. Sein Inhalt weicht sogar an vielen Stellen von der überlieferten Bibel ab. Die Ägyptologin und Papyrusexpertin Verena Lepper, die die Überreste des Papyrus untersucht hat und sie hütet wie einen Schatz, sagt mir am Telefon: „Es ist das einzige Evangelium, das den Namen einer Frau trägt, ein Schatz von unschätzbarem Wert.“ Es gehört zu den apokryphen Evangelien. Apokryph heißt geheim oder auch verboten. Und dieses apokryphe Evangelium zeigt, dass vor 2000 Jahren auch ein friedlicheres und toleranteres Christentum möglich war, als wir es aus der Geschichte mit Glaubenskriegen, Kreuzzügen, blutigen Reformationskriegen, Frauendiskriminierung, Massenmorden und Waffensegnungen kennen.
In der offiziellen Stellungnahme des Vatikans zu den überraschenden Äußerungen des Papstes 2016 über die Bedeutung von Maria Magdalena heißt es dazu zusammenfassend: „Maria Magdalena ist Beispiel und Modell für jede Frau in der Kirche.“ Damit erschließt uns die Apostelin der Apostel eine lebensfreudigere und liebenswürdigere Kirche. Diese Wiedergutmachung an Jesu 2000 Jahre lang umstrittener Gefährtin ist wahrscheinlich die folgenreichste Entscheidung des gesamten Pontifikats von Franziskus.
So weit die schönen Worte. Die Praxis der real existierenden Kirche sieht freilich noch ganz anders aus. Mitte Juli 2022 veröffentlichte der Vatikan eine Erklärung im Basta-Stil. Danach ist die katholische Kirche Deutschlands nicht befugt, über die Zulassung von Frauen zu kirchlichen Ämtern, über den Zölibat oder überhaupt über kirchliche Reformen auch nur zu debattieren. Zu Reformen der katholischen Kirche hatten sich auch mehrheitlich die deutschen Bischöfe bekannt. Deren Vorsitzender, der Limburger Bischof Georg Bätzing, hatte zuvor über den Zustand seiner Kirche gesagt: „Ich schäme mich für diese Kirche.“
Zu den Missbrauchsskandalen der katholischen Kirche sagte Kardinal Reinhard Marx im Sommer 2021: „Das System Kirche hat versagt … Das ist Verrat an der Botschaft Jesu, für die ich um Entschuldigung bitte.“ Der Freiburger Erzbischof Stephan Burger zeigte sich über das Verhalten seiner beiden Vorgänger im Missbrauchsskandal „entsetzt und fassungslos“. Sie hätten massenhafte „Sexualverbrechen an Kindern, Jugendlichen und Laien“ vertuscht. Einer seiner Vorgänger, Robert Zollitsch, war von 2008 bis 2014 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Burger: „Die Frohbotschaft Jesu wurde eindeutig pervertiert.“ Allein in der Diözese Freiburg, meiner Heimatdiözese, seien mindestens 250 Priester zu Sexualverbrechern geworden, 546 Kinder und Jugendliche seien Opfer. Ihnen wurde die Kirche zur Hölle, während sie ein Schutzraum für die Täter blieb. Die Dunkelziffern liegen jedoch, so sagen die Gutachter aller Diözesen, wesentlich höher. Die kirchenfreundliche Frankfurter Allgemeine Zeitung beschrieb das System Zollitsch so: „Abwiegeln, vertuschen, lügen auch gegenüber der Staatsanwaltschaft. Wer ihm dabei auf die Schliche kam, wurde seines Lebens in Freiburg nicht mehr froh.“2 Zollitsch gab inzwischen sein Bundesverdienstkreuz zurück. Das Bistum Berlin muss zugeben, dass Priester und Ordensfrauen gemeinsam sexuellen Missbrauch an Kindern organisiert haben. Doch noch immer wehrt sich die Kirche gegen staatliche Kontrolle bei diesen massenhaften Verbrechen. Der Betroffenen-Vertreter Matthias Katsch im Spiegel: „Die Unverfrorenheit, mit der Erzbischof Zollitsch Öffentlichkeit und Politik hinters Licht geführt hat, ist atemberaubend.“ Die Bischöfe „wussten offenbar genau, was sie taten … Wir brauchen jetzt eine Wahrheitskommission, die den katholischen Missbrauchsskandal aufklärt.“3
Hier tun sich Abgründe kirchlicher Ignoranz und Verbrechen auf. Für viele Bischöfe war das Ansehen der Kirche wichtiger als das Leid der Opfer und die Gerechtigkeit. Katholische Bischöfe argumentierten und handelten wie Mafia-Bosse. Das Schlimmste ist jedoch, dass die giftigen und vergiftenden Strukturen in der katholischen Kirche weiter bestehen, vor allem der toxische Zwangszölibat. Geradezu eine Einladung für weiteren Missbrauch.
Die Verteufelung des Körpers führt zur Verdrängung, und diese sucht sich immer finstere Wege. So kam es, dass Priester ihre Schutzbefohlenen zu Tausenden missbrauchten, vergewaltigten, erniedrigten und fürs ganze Leben schädigten. Für die Betroffenen die Hölle auf Erden.
Die wundervolle, gottgewollte Sexualität gilt im katholischen Milieu noch immer als Schmuddelkram. Dieses Tabu gegenüber dem eigenen Körper bildet den kulturellen Hintergrund zur massenhaften sexualisierten Gewalt, die verharmlost, verdrängt und vertuscht wurde. Dazu Kardinal Marx bei der Eröffnung der Ausstellung „Verdammte Lust! Kirche. Körper. Kunst“: In Theologie, Predigt und pastoraler Praxis sei „in der Vergangenheit oft ein sehr negatives Bild menschlicher Sexualität gezeichnet, sie mit Schuld und Sünde beschwert worden, was zur Verdrängung und Doppelmoral geführt hat“. In dieser Ausstellung sah man viele schöne nackte Frauen, allen voran Maria Magdalena. Immerhin nackte Christinnen und Christen. Na sowas!
2021 hatte Kardinal Marx noch gesagt: „Die Kirche ist an einem toten Punkt angekommen.“ Ist sie vielleicht doch noch reformierbar? Während einer Live-Sendung des SWR zum Thema Kindesmissbrauch durch Kleriker wurde ein Plakat mit der Aufschrift gezeigt: „Zum Teufel mit Bischöfen, die Missbrauch vertuschen.“
Warum ist sexuelle Gewalt ein so furchtbares Verbrechen? Was das Schönste und Intimste sein sollte, wird zur tiefsten Erniedrigung. Das Schönste wird zum Scheußlichsten. „Kinderschänder“ nennt der Volksmund jemand, der sich an Kindern vergeht. Es geht um brutalen Missbrauch im Zauberbereich des Schönsten. Vergewaltigung ist mehr als „nur“ Gewalt – es ist Schändung wie Sklaverei und Konzentrationslager.
Schon diese wenigen Zitate und Hinweise auf Verbrechen von Klerikern zeigen, dass diese Kirche krank ist und viel von ihrer jesuanischen Heilkraft eingebüßt hat. Es geht ihr sehr schlecht. Am meisten leidet sie an sich selbst. In den christlichen Kirchen hat sich eine heillose Kultur der Angst verbreitet. Die christlichen Kirchen arbeiten noch immer mit der Angst ihrer treuesten Anhänger, um Macht über sie auszuüben. Jesus aber strahlte Güte aus und nicht Angst. Kirchenreformer fordern zu Recht „eine Kirche ohne Angst“.
Der in Rom lebende deutsche Kardinal Walter Kasper: „Geschämt habe ich mich, dass auch Priester Minderjährigen durch sexuellen Missbrauch für ihr ganzes Leben schweres Leid zugefügt haben und dass diese Taten oft auch noch vertuscht wurden. Das widerspricht zutiefst der christlichen Botschaft vom Leben und von der Würde jedes Menschen. Ich bin bis heute jedes Mal schockiert, wenn ich die Berichte Betroffener lese. Inzwischen hat der Missbrauch zur tiefsten Krise seit der Reformation geführt. Gegen ihren ureigenen Auftrag, sich für das Leben einzusetzen, hat die Kirche, statt die Schwachen zu schützen, vor allem ihre eigene Institution und die Täter geschützt.“4
Durch die sexuellen Missbräuche war die Kirche für Hunderttausende kein Ort des Heils mehr, sondern ein Raum des Schreckens geworden. Die Ursachen?
Viele Missbrauchsopfer, aber auch ihre Täter, sind in einer typisch katholischen Sozialisation aus Angst vor einem strafenden Gott, Angst vor Dämonen, Tod und Teufel, Hölle, Angst vor ewiger Verdammnis und Angst vor Sünden aufgewachsen. Eine toxische Mischung, die oft den Weg bereitet zu sexuellem oder auch spirituellem Missbrauch. Hauptursache ist ein furchterregendes Gottesbild – das Gegenteil des liebenden mütterlichen Vaters, den Jesus verkündete.
Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf zeigte sich im März 2023 „tief erschüttert“ über die Studie zum Missbrauchsskandal in seinem Bistum und kritisierte auch seinen Vorgänger Kardinal Karl Lehmann, der viele Jahre Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz war. Kohlgraf sprach von schrecklichen Schilderungen, die er in den vergangenen Tagen gelesen habe. „Solche Taten sind für mich im Grunde im Namen des Evangeliums unvorstellbar. Und doch sind sie geschehen. Ich finde es geradezu unaussprechlich widerwärtig, wenn derartige Verbrechen von Tätern religiös begründet werden. Damit wird im kirchlichen Kontext Glauben zerstört“, so der Bischof. Sein Vorgänger Kardinal Lehmann sei für viele Katholiken bis heute eine „moralische Lichtgestalt“. Doch sie „erfahren jetzt, wie ich, dass es auch eine andere Seite seiner Amtsführung gab, besonders im Hinblick auf den Umgang mit von Missbrauch Betroffenen“. Lehmann habe wiederholt die systemische Verantwortung der Kirche und des Bistums für Missbrauchstaten bezweifelt. Er verkörpere eine Kirche, „die abgrenzt und sich ihrer Verantwortung nicht stellt“. Missbrauch sei immer verbunden mit Machtausübung, einer bestimmten Sexualmoral und dem kirchlichen Umgang mit ihr, sagte Kohlgraf, mit „männerbündischen Netzen und auch der priesterlichen Lebensform und deren Selbstverständnis“. Kohlgrafs Fazit: „Eine solche Kirche will ich nicht mehr … Ich will eine andere Kirche.“5 Die Frage ist: Welche Kirche?
Wie kam es zum Vertuschen dieses Skandals über viele Jahre? Das ist einfach zu erklären, wie es der emeritierte Professor für Fundamentaltheologie, Klaus Kienzler, am 10. März 2023 in der Süddeutschen Zeitung tat: Im Jahr 2001 versandte Kardinal Ratzinger im Auftrag von Papst Johannes Paul II. das Schreiben De delictis gravioribus (Über schwere Verbrechen) an alle Bischöfe der Welt. Darin befahl der spätere deutsche Papst Benedikt XVI., dass die Missbrauchsfälle nicht an die Öffentlichkeit gelangen dürfen, sondern ihm gemeldet werden müssen. Dieses Dekret wurde als „päpstliches Geheimnis“ eingestuft. Das heißt: Wer es nicht geheim hielt, musste mit „allerschwersten Strafen“ rechnen – bis zur Entlassung als Bischof. Deshalb haben sich die Bischöfe an diesen Ratzinger-Befehl gehalten. War dieser Befehl wichtiger als das Vertuschen der Verbrechen über so viele Jahre? Jetzt wurden zwar alle Missbrauchsfälle nach Rom gemeldet, aber: „Die Meldungen blieben unbehandelt in Rom liegen.“ (Klaus Kienzler)
Hat auch Papst Johannes Paul II. als Erzbischof von Krakau pädophile Priester geschützt und ihre Straftaten vertuscht, um den guten Ruf der katholischen Kirche in Polen zu wahren? Noch 2023 verteidigte Papst Franziskus in einem Gespräch mit der argentinischen Zeitung La Nación seinen Vorvorgänger gegenüber Vorwürfen wegen der Vertuschung von Missbrauchsfällen mit dem lapidaren Satz: „Das hat man damals so gemacht. Man hat alles vertuscht.“ Aber Papst Johannes Paul II. wurde heiliggesprochen. Ein unheiliger Heiliger? In Polen wurde wieder einmal eine Expertenkommission eingesetzt, um die Missbrauchsfälle aufzuklären.
Der Jesuit und Professor für Psychologie und Psychotherapie, Hans Zollner: „Missbrauch ist eine Realität, die verdrängt wird.“ Er versucht in fünf Kontinenten die sexuellen Missbrauchsfälle der katholischen Kirche zusammen mit den Betroffenen aufzuarbeiten und hat erlebt: „Meine erste Hilfe vor Ort sind immer wieder Frauen.“
Dieser Theologe, Psychotherapeut und Berater von Papst Franziskus über seine Schwierigkeiten innerhalb der Kirche: „Die hartnäckige Abwehr und dass man nur zugibt, was sich gar nicht mehr verbergen lässt, liegt oft an der Angst der Bischöfe, persönliche Verantwortung übernehmen zu müssen. Hinderlich ist auch der Glaube, dass man ja von Gott ins Amt berufen wurde und folglich nicht abberufen werden kann, allenfalls vom Papst. Es sind aber keineswegs nur Bischöfe, sondern auch einfache Gemeindemitglieder, die meinen, man tue der Kirche einen Gefallen, wenn man ihr Bild in der Öffentlichkeit schützt. Sie verstehen nicht, dass es genau umgekehrt ist: Je mehr man leugnet, desto unglaubwürdiger erscheint die Kirche … Ich sage meinen Studenten, scheut euch nicht, die Kirche zu kritisieren. Nur dann können wir sie verändern.“6 Zeitbedingte Lehren müssen immer verbessert werden. Der beste und wichtigste Dienst am heutigen Kirchensystem ist Kritik. Wem die Kirche Jesu am Herzen liegt, muss sie kritisieren. Je weniger die Kirche diese Kritik hören will, desto deutlicher muss sie werden. Das Niveau einer Zivilisation ist ihre Weiblichkeit. Und hier zeigt die katholische Kirche immer noch unterstes Niveau.
Die katholische Kirche versinkt im Missbrauchssumpf. In der MHG-Studie (so genannt nach den Orten der Universitäten des Forschungskonsortiums Mannheim, Heidelberg und Gießen) vom Herbst 2018 wurden diese Zahlen publik: Zwischen 1946 und 2014 wurden 1670 Kleriker des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger beschuldigt. Es gab 3677 Opfer. 2020 machten die Ordensgemeinschaften öffentlich, dass sich bei ihnen weitere 1412 Betroffene gemeldet haben. Matthias Katsch von der Betroffenen-Initiative Eckiger Tisch: „Wir reden also von mindestens 5089 Opfern.“ Sein Buch zum Thema schrieb er als Betroffener 2020: Damit es aufhört.7
Heribert Prantl schreibt zu Ostern 2023 in der Süddeutschen Zeitung: „Zu den Verirrungen der katholischen Kirche gehört ihre Machtsucht, zu denen der evangelischen Kirche ihre Staatsnähe.“
Historisch könnte sich der Missbrauchsskandal als die Zeitenwende der Kirche erweisen. Einen ersten Schritt in diese Zeitenwende tat der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode, als er als erster Bischof wegen des Missbrauchsskandals Ende März 2023 zurücktrat. Seine Begründung: „Insbesondere im Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt durch Kleriker habe auch ich selbst lange Zeit eher die Täter und die Institution als die Betroffenen im Blick gehabt. Ich habe Fälle falsch eingeschätzt, häufig zögerlich gehandelt und manchmal falsche Entscheidungen getroffen.“ Und weiter sagte Bode: „Ich kann heute nur alle Betroffenen erneut um Verzeihung bitten.“ Bode war der dienstälteste amtierende katholische Bischof in Deutschland.
Anlässlich des Todes von Papst Benedikt XVI. sagte dessen Vertrauter und Privatsekretär, Erzbischof Georg Gänswein, sein Chef habe ihn gebeten, dessen Notizen zu vernichten. Darunter waren auch Notizen zum Missbrauchsskandal während der Amtszeit von Benedikt. Dazu befragte die Süddeutsche Zeitung Ulrich Wastl, den Verfasser des Gutachtens zum Kindesmissbrauch in der Diözese München und Freising. Dessen Gutachten, eine Bilanz des Schreckens, hatte weltweit Aufsehen erregt. Wastl stellt kritische Fragen zur Aussage von Bischof Gänswein: „Gab es diese Anweisung des verstorbenen Papstes überhaupt? Geht es wieder nur um die einseitige Deutungshoheit? Was gilt es zu verbergen?“8 Wastls Kommentar: „Für eine fundierte Aufarbeitung wäre dies ein Schlag ins Gesicht. Es wäre aber auch für die Kirche schädlich.“ Sein Fazit dieser endlosen Affäre: „So zerlegt die Kirche sich selbst.“ Ein Jahr nach der Veröffentlichung der Münchner Studie sagt Kardinal Marx: „Der Schrecken ist geblieben. Missbrauch ist und bleibt eine Katastrophe.“ Wo aber bleiben die Konsequenzen in der kirchlichen Sexuallehre?
Die ersten Berichte über sexuelle Missbräuche innerhalb der katholischen Kirche kamen bereits Mitte der Achtzigerjahre in den USA und Ende der Neunzigerjahre in Irland ans Licht der Öffentlichkeit. Die breite Auseinandersetzung in Deutschland begann erst 2010. Eine besonders erschreckende Studie in Frankreich geht von 250 000 Opfern von Klerikern seit 1950 aus. Mit Spannung wird eine umfangreiche Missbrauchsstudie für 2023 in Spanien erwartet.
Der verstorbene Kölner Kardinal Meisner hatte einen Ordner, in dem er diskret Fälle von Priestern ablegte, denen Sexualstraftaten vorgeworfen wurden. Dieser Ordner war mit „Brüder im Nebel“ (!) beschriftet. Solchen Kirchenfürsten ist jeder moralische Maßstab abhandengekommen. Diese kriminellen „Brüder im Nebel“ gibt es leider auch außerhalb der Kirchen, zum Beispiel im Profifußball. Da sind es dann „Kicker im Nebel“.
Bei mancher Zeitungslektüre über sexuellen Missbrauch fällt mir auch ein Wort von Hildegard von Bingen ein, das den Kirchen heute bei einem Heilungsprozess helfen könnte: „Man soll dem Leib etwas Gutes bieten, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen.“ Zur Lust der Seele im Leib gehört mit Sicherheit auch die gottgewollte Erotik und Sexualität, aber nicht der Zwangszölibat. Er widerspricht der Schöpfungsordnung Gottes. „Das Herz dieses Problems ist das Problem des Herzens.“9 Ohne Liebe kein Leben. Wenn ich verliebt bin, strahlt die Welt wie bei einem Sonnenaufgang.
Erst eine befreite und befreiende Erotik ermöglicht es uns, auf unsere wahren Gefühle zu hören und sie zum Wegweiser eines glücklichen Lebens zu machen. Das Glück will glückliche Menschen. Der schwule und katholisch sozialisierte Hamburger Religionspädagoge Jens Ehebrecht-Zumsande sagt: „Die Kirche ist meine Heimat.“ Aber er sagt auch: „Die kirchliche Sexualmoral ist falsch – mit mir ist alles in Ordnung.“ Er startete im Januar 2022 mit 125 Glaubensgeschwistern die Kampagne #OutInChurch – ein kollektives Outing von queeren Kirchenmitarbeitern und -mitarbeiterinnen.10
Vor allem die katholische Kirche ist heute mehr von Sentimentalität als von Sensibilität geprägt. Einer meiner theologischen Lehrer und Freunde sowie Vertreter der politischen Theologie, Johann Baptist Metz, fragte immer nach der „Mitleidenschaft der Christen“ für den besorgniserregenden Zustand der Welt. Diese Befreiungstheologie macht Christen die Option für die Armen, Entrechteten und für die Opfer der Geschichte zur Aufgabe.
Bis zur Aufklärung war im christlichen Abendland für die meisten Menschen ihre Kirche wie selbstverständlich die entscheidende Ordnungsmacht der Welt. Nicht nur symbolisch stand der Kirchturm in der Mitte ihrer Umgebung. Doch aus großer Kraft und Macht folgt große Verantwortung. Diesen inneren Zusammenhang – verantwortete Freiheit – haben viele Kleriker nicht verstanden – wie ihn auch viele Politiker oder Politikerinnen so wie viele Unternehmer oder Unternehmerinnen ihn nicht verstehen.
Im Zentrum des Christentums steht die Welt, und „diese Welt brennt“ (Greta Thunberg) im wahrsten Sinne des Wortes. Die Hauptursache der aktuellen Kirchenkrise reicht freilich tiefer als die umstrittene kirchliche Sexualmoral, und sie ist offenkundig: Die Kirchen haben und lehren ein falsches, angstbesetztes Gottes- und Menschenbild. Ich weiß, dass diese Behauptung für viele anmaßend klingt. „Das ist doch hanebüchen“, höre ich Sie sagen. Doch meine Behauptung wird in diesem Buch noch genauer erklärt. Bitte etwas Geduld.
Anfang 2022 war Andreas Sturm, der Generalvikar des Bistums Speyer, zurückgetreten, hatte seine Entscheidung als „Befreiungsschlag“ erklärt und sich selbst des Bruchs des Zölibats beschuldigt. Reformversuche in der katholischen Kirche seien „ein Kampf gegen Windmühlen“. Er habe keine Hoffnung mehr, dass sich in der katholischen Kirche etwas ändere, erklärte er im SWR. „Ich glaube, die Kirche braucht den großen Knall, weil sie nur so verstehen wird, dass sie so nicht weitermachen kann.“ Das Buch des Generalvikars, das zum Bestseller wurde: Ich muss raus aus dieser Kirche, weil ich Mensch bleiben will. Ein Generalvikar, Stellvertreter eines Bischofs, spricht Klartext. Der in diesem Buch publizierte Text des Maria-Magdalena-Evangeliums, einer der wichtigsten Texte des Urchristentums (siehe Kapitel V), gibt uns auch einen traurigen Vorgeschmack auf die Unterdrückung des Weiblichen in Kirche und Gesellschaft.
Viele apokryphe Schriften wie das Thomasevangelium, das Philippusevangelium und eben auch unser Maria-Magdalena-Evangelium rufen die Gläubigen auf, Gott in ihrem eigenen Innern zu suchen – ohne Kirche oder Kleriker auch nur zu erwähnen. Diese Evangelien helfen uns, ein menschlicheres Bild von der jesuanischen Religion zu gewinnen. Darum geht es in diesem Buch.
Eine Männerkirche, die sich nicht ändern will, widerspricht nicht nur allen Visionen Jesu, sie schafft sich selber ab. Gibt es bald eine „Kirche ohne Christen“ (Monika Metternich) oder eine „Kirche ohne Religion“ (Claudia Mönius)? Für Millionen Menschen ist ihr „Glaube“ zu einem Gefängnis geworden, aber sie wagen es nicht, auszubrechen, denn das sei „Sünde“. Eine Frau schrieb mir, dass sie mit einem katholischen Priester zusammenlebe, doch es sei furchtbar. Denn dieser träume jede Nacht davon, dass er in die Hölle komme. Er lebe in einem Gefängnis der Scham.
Es kann einer Institution wie der katholischen Kirche nicht guttun, wenn sie gegen jede Vernunft auf die Ideen der Hälfte ihrer Mitglieder verzichtet. In Kirche und Gesellschaft heißt die entscheidende Zukunftsfrage: Wie überwinden Frauen und Männer weltweit das Patriarchat? Das betrifft selbstverständlich auch uns Männer. Denn immer mehr Frauen sagen: Wenn Männer sich nicht ändern, geht es auch ohne sie. Fakt ist: Je größer und mächtiger die christlichen Kirchen in den letzten 2000 Jahren wurden, desto kleiner und ohnmächtiger wurden die Frauen in den Kirchen gemacht. Doch das ändert sich gerade.
Alle Religionen werden missbraucht, solange es sie gibt. Bis heute rechtfertigen Terroristen ihre Gewalttaten selbst gegen die heiligsten Werte ihrer Religion mit ihrem Glauben. Erschüttert durch den islamistischen Terroranschlag in Paris auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo sagte der Dalai Lama im Januar 2015: „An manchen Tagen denke ich, dass es besser wäre, wenn wir gar keine Religionen mehr hätten. Alle Religionen und alle heiligen Schriften bergen ein Gewaltpotenzial in sich. Deshalb brauchen wir eine säkulare Ethik jenseits aller Religionen. In den Schulen ist Ethikunterricht wichtiger als Religionsunterricht.“ Daraufhin schrieben wir zusammen das Buch Ethik ist wichtiger als Religion.
Am 9. März 2023 erschoss ein ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas mit einer halbautomatischen Pistole in Hamburg sieben Glaubensgeschwister und sich selbst. Er war Autor des gruseligen Buches Die Wahrheit über Gott, Jesus Christus und Satan. Darin zeichnet er das Bild eines zornigen und rachsüchtige Gottes. Seine Familie war ursprünglich streng katholisch. In seinem Buch verglich er sich selbst mit König Salomo. Der Attentäter sah in Adolf Hitler ein „Werkzeug Gottes“, der Holocaust sei ein „himmlischer Akt“ gewesen und der Ukraine-Krieg eine „Strafe Gottes“, weil sich ukrainische Frauen im Heiligen Land prostituiert hätten.
Noch heute ist die katholische Hierarchie mit der Unterdrückung des Sexuallebens ihrer Priester und Bischöfe beschäftigt und wundert sich über die katastrophalen neurotischen Folgen dieser Unterdrückung. Weit schlimmer als das Nichtbefolgen des Zölibats ist es freilich, wenn ein Priester sich zum Verstoß gegen das Zölibat bekennt und entsprechend lebt. Dazu sagt der katholische Theologieprofessor Hermann Häring: „Der Pflichtzölibat kann problemlos weg.“11 Faktisch ist er ein Machtinstrument in der Hand der Hierarchen, mit dem Priester klein und fügsam gehalten werden. Der katholische Männlichkeitswahn ist das größte Hindernis bei der Menschwerdung und Selbstwerdung von Männern.
Auch ich wollte als junger Mann Priester werden und studierte vier Semester katholische Theologie im Priesterseminar in Freiburg im Breisgau. Dann lernte ich im Schwimmbad ein sechzehnjähriges, interessantes und hübsches Mädchen kennen. Sie lächelte den Zölibat einfach weg – und zwar „problemlos“. Wir sind jetzt 56 Jahre verheiratet. Es kann freilich auch komplizierter sein.
Ein persönlicher Freund von mir war katholischer Pfarrer im Schwarzwald, hatte sich in seine Haushälterin verliebt und sie in ihn. Beide gingen zum Freiburger Bischof und erklärten: „Herr Bischof, wir lieben uns.“ Die Frage des Bischofs wörtlich und ganz ernsthaft: „Muss das sein?“ Beide antworteten mit: „Ja!“ Darauf der Bischof: „Dann muss ich euch in eine Stadt versetzen, denn auf dem Dorf spricht es sich schnell herum, dass ihr ein gemeinsames Schlafzimmer habt. In der Stadt bleibt das eher geheim.“ Liebe ja, aber Hauptsache geheim! Hauptsache heimlich. Das Gegenteil von heilig ist nicht sündig, sondern scheinheilig.
Religiöses Patriarchat nutzt Religion, um seine Macht zu erhalten oder auszubauen. Noch unter Papst Benedikt XVI. gab sich die katholische Kirche paternalistisch, klerikal und patriarchal, die „allein seligmachende katholische Kirche“. Dieser bayerische Papst hat seinen Nachfolgern kein gutes Erbe hinterlassen, eher ein finsteres. Klerikalismus, absolutistische Hierarchie oder verdrängte Sexualität sowie gelebte Ängstlichkeit haben mit Jesu Lehre nichts zu tun. Der wahrscheinlich bedeutendste Dienst dieses Papstes an seiner Kirche war sein selbst entschiedener Rücktritt. Das macht Benedikt wiederum sehr menschlich.
Seine erste Enzyklika hieß Deus caritas est – Gott ist Liebe. Wenn Benedikt allerdings über Liebe sprach, hatte ich ihm immer gewünscht, dass ihn mal eine Frau geküsst hätte. Dieser Papst war traditionsbewusst, aber nicht zukunftsfähig. Wenn Jesus wiedergekommen wäre, er hätte unter diesem konservativen Papst– ähnlich wie bei Dostojewskis Großinquisitor – große Probleme gehabt. Beim Abschiedsgottesdienst für Benedikt in München betete ein Priester noch die „allzeit jungfräuliche Maria“ an. Das war wohl im Geiste dieses Papstes. Man kann das als bayerische Volksfrömmigkeit belächeln, aber auch als Ausdruck katholischer Lustfeindlichkeit verstehen. Benedikt verkörperte einen Klerus, der auf Teufel komm raus dem Zeitgeist widerstehen wollte. Dieser Papst versuchte sicherlich sein Bestes für die Kirche. Aber war es auch immer zum Besten?
Bei der Trauerfeier für den verstorbenen Papst Benedikt nahm der 86-jährige gebrechliche Papst Franziskus auf dem Petersplatz in Rom von seinem 95-jährigen Vorgänger Abschied. Er widmete dabei vor Staatsgästen aus der ganzen Welt seinem Vorgänger einen einzigen persönlichen Satz, das war weniger als ein Prozent der ganz allgemein gehaltenen theologischen Abschiedsrede. Das muss man erst mal schaffen. Sein Vorgänger hatte ihn oft „bis aufs Messer bekämpft“.12 Ein Teilnehmer dieser Zeremonie meinte: „Heute beerdigt Gott die Männerkirche.“ Doch die deutsche Reformbewegung Maria 2.0 wird wohl noch lange für mehr Gleichberechtigung von Frauen in der Kirche kämpfen müssen.
Kurz danach veröffentlichte Papst Franziskus das Buch Du bist wundervoll. Vom Mut, seine Träume zu leben. Es ist eine Schatzkiste christlicher Lebenskunst. „Du bist wichtig. Du bist einzigartig. Du bist ein Wunder … Gott hat uns erschaffen, um zu blühen … Nichts ist menschlicher, als Fehler zu machen … Stifte Frieden unter den Menschen … Liebe die Menschen … Und vor allem: träume! … Träume von einer Welt, die noch nicht sichtbar ist, aber ganz sicher kommen wird! Die Kraft unserer Hoffnung ist der Glaube an eine Schöpfung, die sich bis zu ihrer endgültigen Erfüllung erstreckt, wenn Gott alles in allem sein wird.“ Bei diesem Papst ist Gott erblühendes Leben und der Mensch sein Ebenbild: „Lebe, liebe, träume, glaube! Und, mit Gottes Gnade: Verzweifle niemals!“ Wir alle sind kostbar. Die Sache ist ganz einfach: Gott ist demokratisch, also für alle gleich da: für Männer wie für Frauen. Das ist kein mythisches Utopia, sondern eine lebendige Tatsache. Doch leider haben die Männerkirchen die Demokratie lange bekämpft.
Zum strengen Theologieprofessor Ratzinger hätte eher ein Buchtitel gepasst wie „Du bist ein Sünder“, so wie jeder Mensch und jedes Baby, das mit der Erbsünde geboren ist. „Du bist wundervoll“ hingegen ist die Logik der Liebe, die Jesus verkündet hat. Der Unterschied zwischen den beiden letzten Päpsten ist Jesus, der Mensch. Prachtvolle Gewänder und rote Schuhe zu tragen, lehnte Franziskus gleich nach seiner Wahl zum Papst im Gegensatz zu seinem Vorgänger mit den legendären Worten ab: „Herr Kollege, Fasching ist vorbei.“
Katholische Priester werden bis heute erst dann bestraft, wenn sie auf die „Stimme des Weibes“ gehört haben. Niemand darf es wissen! Eine absurde Begründung. Eine abartige Moral. Der Schein ist wichtiger als das Sein. Auch deshalb ist aus dem kirchlichen Erlösungsversprechen von gestern noch kein Erlösungsgeschehen von heute und morgen geworden. Doch nach wie vor verkörpert Jesus die Hoffnung, dass es eine bessere Welt geben kann. Er nennt sie „das Reich Gottes“. Und nach wie vor gilt: Kirche regt an und Kirche regt auf – wie fast jede Institution. Falls Jesus je von einer Institution Kirche träumte, dann war es eine Kirche, die es bisher nie gab. Bis heute begründen nicht die Gläubigen die Kirche – und schon gar nicht Frauen –, sondern das von Männern ausgeübte Amt. Das hat schon mittelfristig nachhaltige Folgen:
Skandale zerreißen die katholische Kirche. Der Muff von zwei Jahrtausenden lässt Millionen aus der Kirche fliehen. Im Jahr 2021 sind in Deutschland 359 338 Katholiken und über 288 000 Protestanten aus ihrer Kirche ausgetreten. Über die Hälfte der Deutschen ist nun erstmals nicht mehr Mitglied einer christlichen Kirche. Die Hauptstreitpunkte zwischen dem Kirchenvolk und den Kirchenfürsten: Mehr Rechte für Frauen, Gleichberechtigung für Homosexuelle und queere Menschen sowie mehr Mitsprache der Laien. Darüber wollten die katholischen Bischöfe Deutschlands bei ihrem Routinebesuch im Vatikan im November 2022 mit dem Papst diskutieren. Doch Franziskus kam nicht mal zum Abschiedsgespräch mit den deutschen Kirchenfürsten. Selbst darüber gab es keinen Aufschrei. Bischöfe haben einfach Angst vor dem Papst. So halten alte Männer an der Spitze fest an dem, was schon immer so war. Wie soll sich da etwas ändern?
„Mir ist eine verbeulte Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber als eine Kirche, die auf Grund ihrer Verschlossenheit krank ist“, meinte Franziskus schon kurz nach seiner Wahl.13
Der renommierte Vatikan-Beobachter Andreas Englisch, der Papst Franziskus ein Jahrzehnt beobachten und auf allen Auslandsreisen begleiten konnte, schreibt über dessen Kämpfe für Reformen gegen die Hardliner im Vatikan: „Seine Kämpfe waren hart gewesen, seine Versuche, das Zölibat schrittweise abzuschaffen, waren am Widerstand der Ratzinger-Anhänger gescheitert, und auch seine Bemühungen, wiederverheirateten Geschiedenen den vollständigen Zugang zu den Sakramenten zu verschaffen, waren torpediert worden. Der Papst der Armen hatte einstecken müssen, und genau das wird seinen Platz in der Geschichte sichern.“14
Zum traditionellen Gottesdienst zur Eröffnung der neuen Legislaturperiode des Deutschen Bundestags war 2021 kein einziges führendes Mitglied der neuen Ampelkoalition erschienen. Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, Annette Kurschus, erzählt: Keine Frage werde ihr so oft gestellt wie diese: „Warum brauchen wir heute noch Kirche?“ In Sachsen-Anhalt gehören noch 15,3 Prozent der Bevölkerung einer der „beiden großen“ Kirchen an. Wenn ich dort jemand frage: „Sind Sie katholisch oder evangelisch“, kann ich als Antwort hören: „Weder noch – wir sind normal.“ Esprit als Kirchenkritik.
Der Niedergang der Religionen hinterlässt ein großes Vakuum. Diese Lücke füllt spätestens seit dem Industriezeitalter das Dogma vom grenzenlosen wirtschaftlichen Wachstum. Doch dieses säkulare Dogma verliert zunehmend seinen Zauber, seit der Club of Rome schon 1972 den Weltbestseller Die Grenzen des Wachstums – 30 Millionen Mal verkauft – publizierte. Jetzt müssen neue Narrative her. Die Krise der Kirche ist zugleich ihre Chance. Eine jesuanische Kirche könnte zu mehr Wachstum an Humanität und Menschwerdung verhelfen. Inneres Wachstum: Das wäre Wachstum und Reifung im jesuanischen Sinne. Auf der Basis der Bergpredigt könnten Frieden und Gerechtigkeit zunehmen, Ausgrenzung vermieden und Feindbilder könnten abgebaut werden.
Zur Kirchenflucht spottet die Süddeutsche Zeitung: „Sag zum Abschied leise Amen – Wenn die Mitgliedschaft gekündigt wird wie ein ungenutztes Fitnessstudio“ (15.11.2022). Die Folge ist, dass die Kirchen weitgehend nur noch mit sich selbst beschäftigt sind. Wo und wie aber sollten wir heute noch zur Nachfolge Jesu finden, was Jesu Forderung ist? Manche Bischöfe leben nach dem bequemen Motto: Wir kämen ja mit der Kirchensteuer ganz gut hin, wenn nur dieser unbequeme Jesus aus Nazareth nicht wäre!
Der letzte Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung erschien zu Weihnachten 2022. Er dokumentiert den dramatischen Bedeutungsverlust der Kirchen in Deutschland. Weltweit sind die christlichen Kirchen mit 2,5 Milliarden Mitgliedern die größte Glaubensgemeinschaft, und diese Gemeinschaft wächst parallel zur Weltbevölkerung. Doch hierzulande gibt es einen starken Gegentrend. Am bedeutsamsten ist freilich, dass fast neunzig Prozent der deutschen Kirchenmitglieder meinen, man könne auch ohne Kirche Christ sein. Und das sagen Kirchenmitglieder und nicht diejenigen, die wegen der Kirchensteuer ausgetreten sind!
Eine starke innere Distanzierung ist weit dramatischer als jede Austrittswelle. 38 von 42 Millionen deutschen Christen meinen, eine Kirche brauche es gar nicht. Nach dem Religionsmonitor erwägen zurzeit 66 Prozent der Katholiken und immerhin 33 Prozent der Protestanten hierzulande einen Kirchenaustritt. Tendenz steigend. 1995 traten rund 168 000 Katholiken aus ihrer Kirche aus, 2010 waren es 181 00, 2014 bereits 217 000 und 2019 schon 273 000. 2022 war ein Rekordjahr der Austritte aus der katholischen Kirche: 522 821 gegenüber 359 338 im Vorjahr. 1950 waren 46 Prozent der Deutschen katholisch, 2022 noch 24,8 Prozent.15 Es wäre ein Wunder biblischen Ausmaßes, wenn dieser Trend in nächster Zeit gestoppt würde. Die Präsidentin des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp, forderte „schnelle Reformen“, die Kirche zeige sich jedoch „aktuell nicht entschlossen genug, Visionen für die Zukunft des Christseins“ umzusetzen.
Die evangelische Kirche hatte 2022 „nur“ 380 000 Austritte. Ein schwacher Trost. Denn wer langsamer ausblutet, ist am Schluss genauso tot. Diese Entwicklung kann auch der Demokratie gefährlich werden. Denn Religion, die Toleranz, Achtsamkeit und Gerechtigkeit fördert, tut auch der Demokratie gut. „Demokratie braucht Religion“, meint der Soziologe Hartmut Rosa. Er schreibt: „Demokratie ist das zentrale Glaubensbekenntnis unserer Gesellschaft, aber sie erfordert eben Stimmen, Ohren und hörende Herzen“.16
Ein Blick in die Bundesregierung des Jahres 2023: Olaf Scholz, Christian Lindner und Robert Habeck sind aus der Kirche ausgetreten. Und mit Cem Özdemir ist erstmals ein säkularer Muslim Mitglied einer Bundesregierung.
Das bedeutet jedoch eher eine Entkirchlichung als eine Säkularisierung der Gesellschaft. Denn die Mehrheit der Deutschen glaubt an Gott. Die Abwendung von den Kirchen ist keine Abwendung von der Religion oder von Gott. Nicht schwindender Glaube ist das Problem, sondern die mangelnde Glaubwürdigkeit der real existierenden Kirchen. Dabei könnten gerade in unserer Krisenzeit Religion eine Quelle für Sinn und glaubwürdige Kirchen eine Hilfe bei der Sinnsuche sein. Was also ist das eigentliche Problem?
Fakt ist, dass wir heute unter dem Namen Maria Magdalena einen Augenzeugenbericht des Wirkens Jesu kennen, der in Umlauf gebracht wurde, noch bevor im vierten nachchristlichen Jahrhundert die vier offiziellen biblischen Evangelien kanonisch anerkannt waren. Dennoch ist das Maria-Magdalena-Evangelium, das im Urchristentum eine zentrale Rolle spielte, in der Öffentlichkeit so gut wie unbekannt. Und die Kirchen sind nicht im Geringsten daran interessiert, dass diese Jesus-Quelle bekannt wird. Dieses einzige Evangelium, das nach einer Frau benannt ist, ist einer der wichtigsten christlichen Basistexte, eine spirituelle Schatzkammer für unsere Zeit der spirituellen Verarmung. Doch die engste Gefährtin Jesu wurde und wird in der Kirche noch immer in die dunkle Ecke gedrängt. Aber alles Verdrängte will irgendwann ans Licht. In den letzten Jahren erfährt kein anderes der neu entdeckten Evangelien so viel Aufmerksamkeit wie das nach Maria Magdalena benannte. Dan Brown vertritt in seinem millionenfach verkauften Weltbestseller Sakrileg die provokante These, die Frau aus Magdala sei die Geliebte Jesu gewesen, mit der er eine gemeinsame Tochter hatte. Ein Wissen, das durch das Konzil von Nicäa im Jahr 325 gezielt verdrängt worden sei. Fest steht, dass diese emanzipierte Frau vom Nordufer des Sees Genezareth eine frühchristliche Anführerin und Jesu Vertraute war. Kirchenväter haben aus ihr eine Hure und eine reuige Sünderin gemacht.
Drei Marien treten neben der Mutter Jesu in den klassischen Evangelien auf: Maria aus Magdala als Frau mit einer „sündigen“ Vergangenheit (Lk 8,1–3), die Jesus von „sieben Dämonen“ geheilt haben soll.
Die zweite Maria, mit der Maria Magdalena oft in Verbindung gebracht wird, ist jene „Sünderin“, die Jesu Füße mit ihren Tränen wäscht, mit ihren Haaren trocknet und seine Füße salbt (Lk 7,36–50). Über sie soll Jesus den berühmten Satz gesagt haben: „Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie viel geliebt hat.“ (Lk 7,47) Zur „Sünderin“ selbst sagte Jesus: „Deine Sünden sind dir vergeben.“ (Lk 7,48) Die dritte Maria ist Maria von Bethanien (Joh 12,1–8), die Schwester von Marta und Lazarus.
Fast in der gesamten christlichen Theologiegeschichte wird Maria aus Magdala als Ehebrecherin dargestellt, „passend zur Kombination Frau, Sünderin und Sexualität“.17 Bis heute geistert diese Frau in populären Filmen, Romanen und Gedichten und in vielen Theologenköpfen als „Sünderin“ und anrüchige Frau herum. In neueren Spekulationen ist sie auch die Geliebte oder Ehefrau von Jesus gewesen.
Warum aber folgte Maria aus Magdala Jesus? Sie war auf der Suche nach Gott und lernte den sanften Heiler aus Nazareth kennen und lieben, als auch er noch selbst auf der Suche nach Gott war – als emanzipierte Außenseiterin, nicht als Hure, als die sie in der Kirche lange galt. „Maria Magdalena folgt Jesus, und Jesus vertraut ihr, weil sie ihn anders und vielleicht tiefer versteht als die anderen Jünger“, schreibt Evelyn Finger in der Zeit.18 Einige Apostel glauben, das Reich Gottes müsse notfalls mit Gewalt erkämpft werden. Die Apostelin aber sagt in der Filmbiografie Maria Magdalena von Garth Davis zu den Aposteln: „Die Welt wird sich nur ändern, wenn wir uns ändern.“
Rooney Mara in der Rolle der Maria Magdalena im gleichnamigen Film von Garth Davis
Die Frau aus Magdala am See Genezareth ist die geheimnisvollste Frauenfigur im Neuen Testament. Sie wurde zur Hure und zur Heiligen stilisiert, zwei beliebte männliche Projektionsfiguren. Für viele Christen ist Maria Magdalena noch immer der Inbegriff von weiblicher Schönheit, von Sinnlichkeit, Sexualität und Sünde. Die wenigen Hinweise im Neuen Testament auf die geheimnisvolle Frau aus Magdala sind recht widersprüchlich. Sie war die Erstzeugin der Auferstehung Jesu und seine Gefährtin sowie im frühen Christentum eine Frau mit außergewöhnlichen spirituellen Fähigkeiten, die Verkünderin der Lehre Jesu und Priesterin sowie die Ermahnerin der Apostel und Jesu Partnerin. Als „Apostelin der Apostel“ (Papst Franziskus) wurde sie zum Vorbild aller Nachfolger Jesu. Ihre innere Erkenntnis besaß eine geistige Verbindung sowohl zum irdischen Tod wie auch zum göttlichen Leben.
Ganz offensichtlich war diese außergewöhnliche spirituelle Frau auch mit dem Geschehen beim Tod vertraut. Ihr Auftreten mit den speziellen Salben, mit denen sie Jesus salbte, lässt sie als Priesterin des Isis-Kultes erkennen, deren Vertreter mithilfe von Salben der Seele von Sterbenden über die Schwelle des Todes helfen wollten, während das Bewusstsein im Wachzustand blieb. Daran erinnert noch heute das katholische „Sakrament der letzten Ölung“. „Christos“ bedeutet der Gesalbte. Deshalb sagt Jesus über seine Gefährtin auch: „Sie ist zuvorgekommen, meinen Leib zu salben zu meinem Begräbnis.“ (Mk 14,8) Sie hatte offenbar eine klare Einsicht in die geistige Welt.
Maria Magdalena verkündete, dass alle Gläubigen durch den Sieg Jesu über den Tod das ewige Leben erhalten werden. Die feministische Theologin Christa Mulack über Maria Magdalena: „Sie kann Frauen den Weg zur Erweckung verlorener Selbst- und Seinserkenntnis und zur Wiedergewinnung religiöser Mündigkeit zeigen.“19 Das einzige nach einer Frau benannte Evangelium ist nach ihr benannt. Es wird in diesem Buch komplett abgedruckt – soweit noch vorhanden – und als das „Evangelium für das dritte Jahrtausend“ vorgestellt (Kapitel VI). Dabei geht es mir nicht um den geglaubten Christus, sondern um den historischen Jesus und sein Verhältnis zu seiner Gefährtin.
Wer das Wesen und die Geschehnisse unserer Welt verstehen will, sollte sich mit seinen Träumen beschäftigen. Träumen ist so wichtig wie denken. Träume verstehen lernen, lässt uns mehr emotionale Flexibilität erreichen und unsere Gefühle in konstruktives Handeln umsetzen. Träume sind Abenteuer, die wir erleben, wenn wir schlafen. Sie sind Pforten zu anderen Wirklichkeiten. Vielleicht kommen wir über eine neue Traum-Zeit einem „Zeitalter des Geistes“ (Carl Sagan) näher, nachdem das Zeitalter des Materialismus an seine Grenzen gekommen ist: an die Grenzen des materiellen Wachstums, wie es der Club of Rome schon 1972 formulierte.
Das zu verstehen, ist vielleicht eine der wichtigsten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Denn die Sprache der heiligen Schriften sind Bilder und Symbole, die uns in Träumen begegnen. Das Evangelium der Frau aus Magdala ist ein Traumevangelium und weniger ein Evangelium des logischen Denkens und der wissenschaftlichen Begriffe. Es handelt sich um ein Evangelium der schöpferischen Imagination oder der schöpferischen Offenheit. Die Zweifel der Vernunft finden, wie Sie später noch lesen werden, in diesem Evangelium in Petrus und Andreas ihre Vertreter.
Dabei erfahren wir auch einen traurigen Vorgeschmack über die spätere Unterdrückung des Weiblichen im kirchlichen wie im gesellschaftlichen Patriarchat, das bis heute anhält. Für die wichtigen Dinge wie Gott oder Krieg oder Fußball sind noch immer weitgehend Männer zuständig. Dafür gibt es dann als Ausgleich für Frauen den Muttertag oder „das bisschen Haushalt“, wie es noch in den Siebzigerjahren in einem Schlager hieß, oder ein wenig „Gedöns“, wie Gerhard Schröder Familienpolitik nannte.
Die Geschichte der Maria Magdalena ist zugleich das Beispiel einer grandiosen kirchlichen Verdrängungsgeschichte. Die Überbewertung der biologischen Vaterschaft war und ist im Patriarchat die Basis der väterlichen Macht. Wenn es bisher schon kein von einer Frau geschriebenes Evangelium gab, dann jetzt wenigstens eines, das von einer Frau inspiriert ist. Das ist der Reiz dieses Textes. Hier vermittelt uns die intime Freundin von Jesus seine höchsten Lehren und Erkenntnisse, die nicht identisch sind mit dem, was christliche Theologen und Kirchenfürsten in den letzten 2000 Jahren aus dem Aramäisch sprechenden Jeschua, den sie aber nur aus griechischen Schriftquellen kennen, gemacht haben. Die vier klassischen Evangelien sind von Männern geschrieben, von Männern ausgewählt, von Männern redigiert und ständig von Männern „verbessert“ worden.
Es geht mir in diesem Buch nicht um die Frage, ob Jesus verheiratet war oder nicht und ob er mit Maria Magdalene Kinder gezeugt hatte oder nicht. Es geht mir darum, ob und wie Jesus wahrhaftig menschlich war und was Menschsein für uns Heutige wirklich heißt. Inwiefern ist Jesus auch heute Vorbild für Humanität? Das ist unsere Frage. In dieser bisher weitgehend unbekannten Botschaft Jesu geht es um nichts weniger, als die Jesus-Lehre mit neuem Leben zu füllen.