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»Darum ist es höchste Zeit, die Wende zu schaffen.« (Franz Alt)
Wir leben in einer Wendezeit und in einer Zeitenwende. Eine wirkliche Transformation wird aus ganz konkreten und praktischen Kehrtwendungen in vielen Bereichen bestehen: in der solaren Energieversorgung, im Verkehrswesen, in der globalen Wasserwirtschaft, der Land- und Forstwirtschaft, in der Arbeit der Zukunft – und nicht zuletzt in der weltweiten Verteilung der Macht.
Mit dieser Liebeserklärung an die Zukunft will Franz Alt zeigen, warum es nötig und wie es möglich ist, unseren Heimatplaneten für die nachfolgenden Generationen lebenswert zu erhalten.
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Seitenzahl: 360
Franz Alt
Lust auf Zukunft
Wie unsere Gesellschaft
die Wende schaffen wird
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Textredaktion: Dr. Peter Schäfer, Gütersloh
Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See
Umschlagmotiv: © picture alliance/dpa
ISBN 978-3-641-22543-8 V003
www.gtvh.de
Für Bigi und für den Solarpionier Hermann Scheer
»Was die Zukunft betrifft, so ist unsere Aufgabe nicht, sie vorauszusehen, sondern sie zu ermöglichen.«
Antoine de Saint-Exupéry
»Die Erde ist nur ein Land und alle Menschen sind seine Bürger.«
Baha’ullah, Gründer der Bahai-Religion
»Das Feuer der Innovation – es brennt überall auf unserem Planeten.«
Ranga Yogeshwar
INHALT
I. LUST AUF ENERGIEWENDE
1. Alles dreht sich um die Sonne
2. Wie Papst und Dalai Lama die Energiewende powern
3. Was steht auf dem Spiel? Alles!
4. Die günstigste Energiequelle: Solarstrom
5. Vom Homo oeconomicus zum Homo oecologicus
6. »Wir werden getoastet, geröstet und gegrillt«
7. Unsere Seele verlangt nach Wandlung
8. »Dementia fossilis« und »Dementia nuclearis«
9. Millionen Klimaflüchtlinge: Klimawandel ist Massenmord!
10. Wir Pyromanen
11. Ist eine nachhaltige Politik möglich?
12. Wie können Gesellschaften lernen?
13. Gelingt die große Transformation?
II. LUST AUF LÖSUNGEN
1. Urvertrauen in die Schöpfung
2. Visionen werden Wirklichkeit
3. Deutschland: »Musterschüler« mit schlechten Noten
4. Grüße aus »Dallas«: Ölbösewicht J. R. für die Sonne
5. Die Sonne: Quell und Garant allen Lebens
6. Die Sonne: das Maß aller Dinge
7. Solarstrom wird Sozialstrom
8. Die Energierevolution der Armen
9. Die Volksverdummung der Atomlobby
10. Wir brauchen einen raschen Wechsel
11. Wer die Energiewende vorantreibt und wer sie hintertreibt
12. »Geht uns aus der Sonne«
13. Die Sonne ist der größte Reichtum
14. Ist der Klimawandel eine Lüge?
III. LUST AUF DAS SOLARZEITALTER: DIE SONNE GEWINNT
1. Deutschland bremst
2. Bauen neu denken
3. Mit der Sonne sozial bauen
4. Energiequellen für alle Zeit: die Sonne und ihre Verbündeten
5. Die Energiewende beschleunigen
6. Nicht die Mächtigen, die Bewussten gestalten die Zukunft
IV. LUST AUF VERKEHRSWENDE – AUTOFAHREN IST HEILBAR
1. Ist Autofahren heilbar?
2. Ist Autofahren ein Grundrecht?
3. »Du sollst nicht töten«
4. Die Verkehrswende beginnt (fast) überall
5. Wie entkommen wir der Mobilitätskrise?
6. E-Auto und autonomes Fahren: sie kommen!
7. Haben Daimler und Co. das E-Auto verschlafen?
8. Auto und Psyche
V. LUST AUF AGRARWENDE
1. Ist die Landwirtschaft wirklich grün?
2. Der Deutsche Bauernverband verschläft öko
3. 181 pestizidfreie Kommunen
4. Die Chemie-Landwirtschaft ist am Ende
5. Für eine nachhaltige deutsche Leitkultur
6. Der Raubtier-Kapitalismus in der Landwirtschaft
7. Die Zehn Gebote des Ökolandbaus
8. Das Wunder in der Wüste
9. Eine Vision erblüht in Bayern
10. Landwirtschaft im Umbruch
VI. LUST AUF WASSERWENDE
1. Ohne Wasser kein Leben
2. Wasser: weich, aber stark!
3. Die globale Wasserkrise
4. O du wunderschöner deutscher Rhein!
5. Erste Vision: Wasser 2020
6. Zweite Vision: Wasser 2030
VII. LUST AUF WALDWENDE
1. Die grüne Klimamaschine
2. Was sind Wälder wert?
3. Dr. Wald macht gesund und glücklich
4. 1 000 Milliarden Bäume für das Klima
VIII. LUST AUF ARBEITSWENDE
1. Deutschland fehlen Arbeitskräfte – auch in Zukunft
2. Die Digitalisierung der Arbeit: Fluch oder Segen?
3. Die Arbeit der Zukunft: weiblicher, älter, flexibler und digital
4. Geiz ist geil? Geiz macht arm!
5. Bildungsfähig und bildungswillig?
6. Die politische Zeitbombe
7. Mensch oder Maschine?
8. Die Technisierung: Job-Knüller statt Job-Killer
IX. LUST AUF EINE ZUKUNFT FÜR ALLE
1. Supermacht Seele: Die Wende beginnt in uns
2. Unsere Fragen sind wichtiger als Antworten
3. Wirtschaft dient dem Wohl aller
X. LUST AUF MUT UND WAGNIS
1. Dem Frieden treu bleiben
2. Zukunftshunger statt Angst vor dem Tod
3. Für eine Jesus-Renaissance
DAS GENERATIONENMANIFEST
Dank
Literatur
Bildteil
20 Jahre lang moderierte und leitete Franz Alt das ARD-Politmagazin REPORT aus Baden-Baden.
© SWR/Annemarie Huck
I.
LUST AUF ENERGIEWENDE
1. Alles dreht sich um die Sonne
Wie wird die Zukunft aussehen? Niemand weiß es. Und genau das macht sie so reizvoll. Fest steht: Sie ist nicht vorherbestimmt, und nichts an ihr ist selbstverständlich. Sie kommt also nicht wirklich »auf uns zu«, wie es so schön heißt. Sie wird geformt. Von uns. Wir können sie lenken. Niemand ist der Zukunft hilflos ausgeliefert. Jede und jeder hat die Macht, etwas zu verändern. Wir können den Lauf der Dinge beeinflussen. Wir müssen freilich von dem, was wir wollen, überzeugt sein. Die Zukunft gehört denen, die sie gestalten wollen, vor allem denen, die sie mit Lust und Begeisterung, mit Ausdauer und Kreativität verbessern wollen. Welchen Weg wollen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, gehen? Welche Schritte wählt eine Gesellschaft? Welche Entscheidung trifft die Politik für unsere Zukunft? Die Geringschätzung der Zukunft ist das größte Problem in Politik und Gesellschaft.
Deshalb gleich am Anfang dieses Buches eine überraschende Meldung aus Saudiarabien: Prinz Mohammad bin Salman und Japans Softbank-Chef Masayoshi Son wollen den Durchbruch zur solaren Weltrevolution schaffen. Der noch größte Öl-Exporteur der Welt will ab 2030 alle Energie zu 100 Prozent über die Sonne gewinnen. Dafür plant das Land die größte Photovoltaik-Anlage der Welt, 100mal größer als die bisher größten geplanten Solarprojekte. Die Mega-Anlage soll in der saudischen Wüste 100 000 neue Arbeitsplätze schaffen und 200 Milliarden Dollar kosten. Sie soll eine Leistung von 200 Gigawatt erbringen – das entspricht etwa der Leistung von 200 Atomkraftwerken. Die geplante Anlage kann Solarstrom für einen Cent je Kilowattstunde produzieren. Weltrekord: Solar besiegt Atom! In Deutschland kostet der herkömmliche Atom- und Kohlestrom aus der Steckdose 26-30 Cent. Der japanische Multimillionär Son verfolgt seit der Fukushima-Katastrophe das Ziel, weltweit allen Atomstrom durch Solarstrom zu ersetzen. Zweite Überraschung: An der Michigan Technological University (MTU) haben Wissenschaftler um Professor Joshua Pearce im Januar 2018 vorgeschlagen, Tabakfelder in Solarfarmen umzuwandeln. Das ergäbe einen doppelten Gewinn: Weniger Kranke und Tote durch Rauchen und mehr Strom aus erneuerbaren Energien! Professor Pearce hat errechnet, dass auf den Tabakfeldern des Staates North Carolina 30 Gigawatt Solarstrom erzeugt werden könnten – so viel, wie alle Bewohner des Landes im Sommer verbrauchen. Und dadurch würden im bisherigen Kohlestaat North Carolina viele Kohlekraftwerke überflüssig. Solarstrom statt Tabak! Landwirte zu Energiewirten! Die Welt ist voller Alternativen zu dem, was wir heute treiben. Der gesellschaftliche Trend spielt uns in die Hand: Noch vor wenigen Jahren schien Rauchen eine Art Menschenrecht zu sein. Jetzt ist es out.
Warum haben wir so oft Angst vor Neuem? Weil wir das Neue mit unseren alten Augen betrachten, die aber zu kurzsichtig sind. Doch die Welt wandelt sich und wir selbst auch.
Nächste überraschende Meldung: Norwegen hat 2015 weltweit die erste Elektrofähre im Sognefjord in Betrieb genommen. Sie kann 120 Autos und 300 Passagiere befördern. Ergebnis nach drei Jahren Betrieb: Die CO2-Emissionen wurden um 95 Prozent gesenkt und die Betriebskosten um 80 Prozent reduziert. Die Folge dieser ökologischen und ökonomischen Erfolgsgeschichte: Der Schiffsbauer Fjellstrand hat bis 2018 Aufträge für 53 weitere Elektrofähren erhalten. Die E-Mobilität wird eine Erfolgsgeschichte, nicht nur beim E-Auto – flüsterleise und emissionslos.
Eine gute Zukunft werden wir nur haben, wenn wir endlich aufhören, den Planeten zu ruinieren. Die Zukunft wird denen gehören, die gegen den Wahnsinn der Gegenwart Widerstand leisten. Widerstand zu leisten kann man lernen wie Skifahren oder Radfahren. Wer widersteht, muss auch Widerstand aushalten können – beides gehört zu unserem Lebensauftrag. Es ist einfach nicht wahr, dass – wie es die Neoliberalen propagieren – der Markt von selbst alles regelt. Der Markt ist in ökologischer, ethischer und kultureller Hinsicht blind. Unser Auftrag ist nicht, die Demokratie marktkonform zu machen, sondern den Markt demokratiekonform. Drei fundamentale Trends müssen zuerst gestoppt und dann umgekehrt werden:
1. Atomare Abrüstung statt erneuter Aufrüstung: Ein Atomkrieg darf nicht länger möglich sein, denn er wäre der letzte Krieg in der Menschheitsgeschichte. Danach gäbe es niemanden mehr, der Krieg führen könnte. Und: Schluss mit Waffenexporten.
2. Anerkennung der Begrenztheit des Prinzips »Wachstum«: Nur so vermeiden wir den schmerzhaften Zusammenprall mit den endlichen Ressourcen unseres Planeten.
3. Das Diktat der Finanzmärkte überwinden, um den Abstand zwischen Arm und Reich nicht noch weiter zu vergrößern.
Alle Probleme, die Menschen verursacht haben, können auch von Menschen gelöst werden. Diese Einsicht wurde häufig ausgesprochen: als »Yes we can« von Barack Obama oder als »Wir schaffen das!« von Angela Merkel. Daraus folgt:
• Frieden ist möglich!
• Liebe ist möglich!
• Gerechtigkeit ist möglich!
• Umweltschutz und Klimaschutz sind möglich!
• Nachhaltiges Wirtschaften ist möglich!
Skeptiker könnten sagen: Das sind doch alles schöne Märchen, zu schön, um wahr zu sein oder wahr zu werden. Liebe Freundinnen und Freunde: Das liegt einzig an uns. Wenn wir wirklich, wirklich wollen, dann bleiben das keine Märchen. Im Gegenteil. Wir verfügen heute über genügend Wissen, um die notwendigen Veränderungen zum Erhalt unserer Mitwelt zu organisieren.
Bis 2030 ist das Solarzeitalter in Europa machbar und bis 2040 weltweit. Der Kohleabbau hat seinen Höhepunkt bereits überschritten. Ebenso die Ölförderung. Seit 2006 geht die Ölförderung weltweit zurück. Der Marktwert von Kohleunternehmen ist 2017 auf nahe null geschrumpft. Atomenergie ist seit der Fukushima-Katastrophe global auf dem Sinkflug. In über 60 Ländern sind Solarstrom und Windkraft bereits die preiswerteste Energiequelle. Bis 2022 in allen Ländern der Welt.
Schönen Worten müssen konkrete Taten folgen, denn nur Taten sind der Wahrheitsbeweis unserer Worte. Wir sollten besser werden im Erkennen von Möglichkeiten, noch besser sollten wir aber werden im Verwirklichen von neuen Möglichkeiten. Dann werden aus Utopien konkrete und realisierbare Visionen. Aber nur dann. Erich Kästner hatte recht: »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.« Wir Deutschen stellen mit etwa 82 Millionen Menschen nur ein Prozent der Weltbevölkerung, emittieren aber drei Prozent der weltweiten Klimagase. Wir gehören damit zu den größten Klimasündern der Welt.
Die heutigen Trends sind global noch nicht nachhaltig. Alle Religionen, fast alle Wirtschaftstheorien, alle gültigen Politiktheorien, die prägenden Philosophien stammen aus der noch beinahe »leeren Welt« vor dem 19. Jahrhundert mit weniger als einer Milliarde Menschen. Heute aber leben wir in einer »vollen Welt« mit über 7,5 und bald zehn Milliarden.
Zu Beginn des Jahres 2018 erklärt der UNO-Generalsekretär António Guterres: »Ich rufe Alarmstufe Rot für unsere Erde aus.« Er hat leider recht. Alarm schlagen auch Forscher des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Sie sagen voraus, dass allein in Deutschland die Hochwasserschäden bis zum Jahr 2040 auf das Siebenfache ansteigen werden. All diejenigen, die immer wieder behaupten, Klimaschutz sei zu teuer, müssen sich die Frage gefallen lassen: Wie teuer wird unterlassener Klimaschutz?
In den letzten 150 Jahren ist nahezu die Hälfte der fruchtbaren Böden der Erde verschwunden. Die Klimastabilität ist in großer Gefahr. Fast 90 Prozent der Fischbestände sind bereits weg oder zumindest überfischt. Wir erleben das sechste große Artensterben in der Evolutionsgeschichte. Wir essen zu viel Fleisch. Wir holzen die Regenwälder ab. Wir vergiften unser Trinkwasser. Und zum Bräunen fliegen wir auch noch in den Süden.
Wir müssen und können diese Trends ändern. Noch! Wir haben dafür noch ein Zeitfenster von etwa zwei Jahrzehnten. Wir sollten dieses Zeitfenster nutzen. Bei exponentiellem Wachstum der erneuerbaren Energien ist in dieser Zeit die 100-prozentige Energiewende zu schaffen! Und damit die Voraussetzung für eine bessere Welt.
Die solare Energieerzeugung ist Bürgerrecht und Bürgerfreiheit. Wie das geht und dass es geht, wurde oben schon angedeutet: Über Sonne, Wind, Wasserkraft, Bio-Energie, Erdwärme sowie Wellen- und Meeresenergie – also über die ganze Symphonie der erneuerbaren Energieträger.
Vor der Weltklimakonferenz Ende 2017 schlug die UNO Alarm, und zwar besonders schrill: Wenn die Menschheit noch eine Überlebenschance haben will, dann muss sie jetzt die Klimaerhitzung endlich ernster nehmen als bisher: Unser Planet wird aufgeheizt, ganze Länder versinken im Meer, Landstriche werden unbewohnbar, Wetterextreme werden normal. Das Gemeingut Klima betrifft alle. Also müssen auch alle Verantwortung übernehmen.
Der Alarm der UNO ist klar und laut und unüberhörbar. Bisher haben Staats- und Regierungschefs wohlklingende Klimaversprechen abgegeben, aber selten danach gehandelt. Auch Angela Merkel hat eher so gehandelt, wie Donald Trump spricht: Kohlepolitik statt Klimaschutz. Die Kanzlerin sagt ständig, dass es Deutschland gutgehe. Aber wie kann es Deutschland gut gehen, wenn es dem Planeten schlechtgeht?
Noch im Januar 2018 lässt die Kulturnation Deutschland, das Land der Dichter und Denker, es zu, dass der Energiekonzern RWE den Immerather Dom abreißt. Bisher wurde hier gebetet, gesungen, geheiratet und getrauert. Doch jetzt kam der Abrissbagger von RWE. Der Grund für diese Kulturbarbarei: das Vorhaben, bis 2045 den Klimakiller Nummer eins, Braunkohle, abbaggern zu können. Hier, östlich von Aachen, werden seit Jahrzehnten trostlose Mondlandschaften produziert und Menschen, Kirchen, Höfe, Häuser und Kultur vertrieben, obwohl es längst Alternativen gibt. Es ist unglaublich, dass sich eine CDU-geführte Landesregierung diesem Frevel nicht entgegenstellt. Sie redet von Heimat und schändet sie zugleich. Hat denn das Land der Dichter und Denker, vor gar nichts mehr Respekt? Exakt deshalb stockt auch in Deutschland die Reduktion der Treibhausgase seit dem Jahr 2009.
Dass Kohle keine Zukunft hat, beweist die traurige Geschichte der 60 000-Einwohner Stadt Herten im Ruhrgebiet. Die Zeche Ewald machte die Stadt einst zum reichsten Bergwerksort Europas, heute ist Herten pleite und wird vom Land Nordrhein-Westfalen mitverwaltet. Je länger die Bundesregierung mit dem Kohleausstieg wartet, desto mehr »Herten« wird es geben. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Auch wenn es viele Sozialdemokraten nicht gerne hören: Ökologie und Klimaschutz sind Fragen der Gerechtigkeit. Es ist nicht gerecht, dass ein Deutscher jedes Jahr zehn Tonnen CO2 in die Luft bläst, aber ein Inder nur zwei und ein Zentralafrikaner nur eine Tonne. Und es ist nicht gerecht, dass große Konzerne niedrigere Strompreise bezahlen als kleinere Firmen. Ökologische Grundrechte müssen endlich den gleichen Stellenwert erhalten wie soziale und individuelle.
Nicht mehr Deutschland, sondern China ist das neue Klima-Musterland. Fahrverbote für Autos? Hierzulande noch immer umstritten, in China seit Langem Realität. 2017 fuhren auf Chinas Straßen 200 Millionen Elektroroller. Im Winter 2017/2018 wurden Hundertausende chinesischer Arbeiter aus Klimaschutzgründen in den Zwangsurlaub geschickt. China ist Weltmeister bei Sonnen- und Windenergie. Das Reich der Mitte hat mit seinem derzeitigen »Fünfjahresplan« das aggressivste ökologische Programm aller Zeiten. Kann uns nur noch eine Ökodiktatur retten, oder schaffen wir die notwendige Transformation auf demokratischem Weg?
2. Wie Papst und Dalai Lama die Energiewende powern
In seiner historischen Enzyklika »Laudato si« nennt Papst Franziskus 2015 die heutigen Trends ein Selbstmordprogramm: »Diese Wirtschaft tötet«. Kritisch weist der Papst auf den Hunger, die Wegwerfkultur, die Klimaerhitzung, das Artensterben und die Verschwendung hin. Zur Lösung dieser Probleme fordert Franziskus eine »kühne Kulturrevolution« und entwickelt eine Vision von der »universellen Geschwisterlichkeit« zwischen Mensch und Natur und stellt dabei die Armen ins Zentrum. Diese Enzyklika hat das Zeug zu einer Magna Charta der sozialen Ökologie und ist eine globale Inspirationsquelle für alle Suchenden unserer Zeit, die an einer lebenswerten Zukunft mitarbeiten wollen. Das Problem, das wir dabei haben, ist dieses: Das Leben kann nur rückwärtsgewandt verstanden, muss aber nach vorne gewandt gelebt werden.
Franziskus fordert eine globale, grüne Revolution von Wirtschaft und Gesellschaft. Nach Schätzungen der Schweizer Caritas hat der Klimawandel schon vor 2009 jährlich 300 000 Menschen das Leben gekostet, 300 Millionen Menschen in Mitleidenschaft gezogen und 125 Milliarden Dollar wirtschaftlichen Schaden verursacht. Und das bei einer relativ geringen Klimaerwärmung von einem Grad. Seither wurde die Situation Jahr um Jahr dramatischer. Die größten Schäden verursacht der Klimawandel in den ärmsten Regionen und bei den ärmsten Menschen.
Der Papst wendet sich an alle Menschen, auch an Agnostiker und Atheisten, und ruft zu einem globalen Dialog und zu raschem weltweitem Handeln auf. Diese Enzyklika ist die erste eines Papstes, die nicht mehr in Abgrenzung zur Wissenschaft, sondern in enger Zusammenarbeit mit ihr geschrieben wurde. Vielsagend ist, dass Franziskus den deutschen Naturwissenschaftler Professor Hans Joachim Schellnhuber, Chef des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, bat, diese Enzyklika der internationalen Presse vorzustellen. Wir wissen heute: Ohne diese Enzyklika wäre ein halbes Jahr später das Pariser Weltklimaabkommen nicht einstimmig von 195 Regierungen, also von allen, von der ganzen Welt, verabschiedet worden.
Der Papst fordert in »Laudato si« die Dekarbonisierung, den raschen Ausstieg aus fossilen Energien. Diese Forderung übernahm kurz danach auch der Pariser Klimagipfel.
Im selben Jahr 2015 heißt es in der »Islamischen Erklärung zum Globalen Klimawandel«: »Unsere Spezies ist, obwohl sie zum Verwalter auf der Erde erwählt wurde, die Ursache solcher Verwüstung, sodass wir Gefahr laufen, das Leben auf unserer Erde zu zerstören.« Die spirituelle Dimension der heutigen Krisen verlangt Respekt vor Mutter Erde, die Bewahrung der Schöpfung, eine geschwisterliche Einstellung zu Tieren und Pflanzen, Verantwortung für künftige Generationen und für die Armen sowie die Erkenntnis, dass sich niemand selbst erschaffen hat, sondern dass unser Leben ein einzigartiges Geschenk ist. In Verbindung mit einer ökologischen Technik brauchen wir heute eine ökologische Ethik und eine ethische Ökologie.
Die Technik allein wird uns nicht retten. Die Welt braucht ein neues ethisch-ökologisches Fundament, das sagt auch der Dalai Lama in vielen seiner öffentlichen Auftritte, bei denen er ganze Stadien und große Hallen füllt. In diesem Sinne schrieben der Dalai Lama und ich gemeinsam 2015 das kleine Buch »Ethik ist wichtiger als Religion«, das inzwischen ein Weltbestseller ist und in 21 Sprachen übersetzt wurde.
Wie der gesamte Kosmos, so war, ist und bleibt das Leben ein Wandlungs- und Veränderungsprozess. Es behindert die Lebensfreude, wenn wir uns gegen Veränderung und Wandel, gegen Werden, Sein und Vergehen wehren. Alle Transformation dient dem Erhalt der Schöpfung.
Es geht im Leben immer um Veränderung. Veränderung ist schiere Lebendigkeit. Lebendigkeit heißt, offen zu sein für Veränderungen bis zum letzten Atemzug. Dann sind wir angekommen in unserer ewigen Heimat. Dort wartet die ewige Liebe auf uns, bedingungslose Liebe.
Der wunderbare junge Mann aus Nazareth setzt auf Heilungs- und Wandlungswillen derer, die heil und gesund werden wollen. Ohne unser wirkliches Wollen und unseren festen Willen geht gar nichts. Dass Zukunft möglich wird, das sind wir uns und unseren Kindern und Enkeln schuldig. Vorhersagen können wir Zukunft also nicht, aber sie ermöglichen schon. Zukunft ist grundsätzlich möglich. Dafür muss aber auch die heutige junge Generation endlich aufwachen und weit mehr als bisher für ihre Zukunft kämpfen. Kämpfen heißt zivilisiert streiten. Die Energiewende ist machbar, die Verkehrswende ist machbar, ökologische Landwirtschaft ist machbar, und die modernen Informationstechnologien helfen uns dabei.
3. Was steht auf dem Spiel? Alles!
Unsere gesamte Zivilisation steht auf dem Fundament ausgegrabener Kohlenstoffablagerungen aus der Vorzeit. Doch die auf Kohle, Gas, Öl und Uran basierte Infrastruktur hat ausgedient. Die Folgen sind Massenarbeitslosigkeit auf der ganzen Welt, ein marodes Finanzsystem sowie die globale Klimaerhitzung. Ein neues Energiesystem – kombiniert mit einem parallelen Kommunikationssystem, der Digitalisierung – ermöglicht Millionen neuer Arbeitsplätze, das Abschwächen des Klimawandels und eine weltweite sichere Energieversorgung ohne Kriegsrisiken. Künftig werden Hunderte Millionen Menschen zu Hause und im Büro grüne Energie produzieren und sie über das Energie-Internet an andere verteilen, so, wie sie Informationen teilen. Das bestehende Stromnetz wird zu einem Info-Energienetz so umgerüstet, dass Millionen kleiner Energieerzeuger ihre Energie anderen zur Verfügung stellen können. Das heißt: Verbraucher werden ihren Stromverbrauch billigen Angeboten anpassen. Dieses intelligente Stromnetz wird das Rückgrat einer nachhaltigen, digitalisierten Weltwirtschaft.
Die Demokratisierung der Energie kann zu einer fundamentalen Neuordnung der menschlichen und politischen Beziehungen führen. Im Gegensatz zu fossil-atomaren Energieträgern sind Sonne, Wind, Wasserkraft und Bioenergie überall zu finden. Deshalb können wir die Erneuerbaren dezentral einsammeln – hauptsächlich über unsere Häuser und Fabriken. Gebäude werden Kraftwerke. Das erhöht den Wert von Immobilien.
Wahrscheinlich ist unsere Zukunft gar nicht so gefährdet, wie sie von Apokalypse-Propheten und Zukunftsgurus beschrieben wird. Durch schnellen Wandel, vor dem sich so viele fürchten, entsteht ja auch eine dynamische Stabilität. Die jetzt anstehende grüne Revolution wird auch immense ökonomische, politische, kulturelle und wissenschaftliche Energien freisetzen.
Leider gilt im Journalismus noch immer die überholte Regel, wonach nur »bad news good news« seien, also nur negative Meldungen die Leser, Hörer oder Zuschauer interessieren würden. Ich habe in der ARD elf Jahre lang drei Zukunftsmagazine über meist positive Entwicklungen in der Gesellschaft und Wirtschaft geleitet und moderiert und hatte gute Einschaltquoten, was die meisten Kollegen zuvor bezweifelt hatten. Zur journalistischen Aufklärung gehört beides: Nicht nur Probleme, sondern auch die Lösungen für Probleme sollten gezeigt werden. Nur dann kann auch Hoffnung auf Veränderung und Fortschritt entstehen. Und diese Fortschritte gibt es: Wir haben heute weniger Hunger als noch vor 50 Jahren, weltweit weniger Krankheiten, weniger Kindersterblichkeit und wesentlich mehr Bildung. Fortschritt beginnt, wenn Stillstand endet. Während meiner Lebenszeit hat sich die Zahl der Demokratien global vervierfacht.
Zehn faktenbasierte Beispiele für riesige Fortschritte:
1. Vor 60 Jahren gab es in Malaysia fast keine Schulen, kein Gymnasium und keine einzige Universität. Das damals bettelarme Land setzte voll auf Bildung, ist heute ein Land mit einem der höchsten Bildungsgrade der Welt, und seine Wirtschaftskraft hat sich in dieser Zeit verhundertfacht. Bildung ermöglicht die Entfaltung unseres Potenzials. Der Malaysia-Effekt kann überall verwirklicht werden. Das ist auch nötig, denn weltweit gehen noch immer 264 Millionen Kinder und Jugendliche nicht zur Schule.
2. 1980 lebten noch 90 Prozent aller Chinesen unter der absoluten Armutsgrenze von 1,90 Dollar am Tag, 2017 waren es noch drei Prozent. Diese Fundamentalverwandlung geschah in drei starken Jahrzehnten. Ich habe als Fernsehreporter und Referent diese unglaubliche Transformation im Reich der Mitte miterlebt. China ist heute Weltmeister bei der Solar- und Windenergie. Hunderte Millionen Chinesen sind der kommunistischen Partei dafür dankbar und nehmen für diese positive Entwicklung viele Menschenrechtsverletzungen und Freiheitsentzug in Kauf.
3. 1820 lebten global 90 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze, heute sind es 14 Prozent. Freilich: Im 18. Jahrhundert lebten eine Milliarde Menschen auf der noch relativ leeren Erde, heute sind wir 7,5 Milliarden auf einer vollen Erde.
4. Um 1955 bekam eine Frau weltweit durchschnittlich über sechs Kinder, heute zwischen zwei und drei.
5. Zwischen 1920 und 1970 starben 529 Menschen von 100 000 an Hunger, heute noch drei von 100 000 – 176-mal weniger.
6. Vergleichen wir die ökonomische Entwicklung Ägyptens mit Südkorea: Ägypten hat sich nach 1955 abgeschottet gegenüber Ausländern, Südkorea hat sich geöffnet mit dem Ergebnis, dass es sich zehnmal erfolgreicher entwickelt hat als Ägypten. Es lohnt sich grundsätzlich, Flüchtlinge und Vertriebene aufzunehmen, wie es Südkorea tat. Das gilt für viele andere Länder auch. Westdeutschland hat nach 1945 zwölf Millionen Ostflüchtlinge integriert, die mit den Westdeutschen zusammen das von der ganzen Welt bestaunte Wirtschaftswunder organisiert haben. Das hat sich später mit den Millionen Gastarbeitern wiederholt, ohne die es uns heute ökonomisch nicht so gutgehen würde. Und es wird sich wiederholen mit der einen Million Flüchtlinge, die Deutschland in den Jahren 2015 und 2016 aufgenommen hat: eine Win-win-Situation für die Flüchtlinge und für die Deutschen.
7. Die radikale Reform der globalen Energiesysteme ist nicht nur möglich, sie hat längst begonnen. Die Entwicklung der Ökoenergien heute ist vergleichbar mit der des Mobiltelefons in den Achtzigern. Damals sagte McKinsey im Auftrag des US-Telekommunikationskonzerns AT&T voraus, dass es im Jahr 2000 in den USA etwa 900 000 Handys geben werde. Es waren tatsächlich 120-mal mehr. Das heißt: Eine neue Technologie taucht auf, wird eine Zeit lang verlacht, dann bekämpft und – wumms! – hat sie sich ganz rasch durchgesetzt. Heute sind wir 7,5 Milliarden Menschen mit 7,8 Milliarden Handys. Sie sind in Afrika ein Motor des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritts. Daher gilt: Die Welt kann bis 2030/2040 zu 100 Prozent auf erneuerbare Energien umsteigen. In Deutschland war der Start ins Jahr 2018 schon mal sehr gut: Der 1. Januar war sehr windreich. Deshalb wurden an diesem Tag hierzulande 95 Prozent des Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien gewonnen. Rekord! Das Land Schleswig-Holstein produziert über Windräder schon heute mehr Strom, als es selbst verbraucht. Ab 2020 geht der Überschuss nach Norwegen und bald auch nach Süddeutschland.
8. Weltweit versorgen sich bereits 42 Städte zu 100 Prozent mit Ökostrom, darunter die isländische Hauptstadt Reykjavik, Basel und Burlington im US-Staat Vermont. Mehr als 70 Prozent Ökostrom erreichen 2018 bereits die Städte Oslo, Seattle in den USA, das kanadische Vancouver und Auckland in Neuseeland, aber auch Nairobi in Kenia und Daressalam in Tansania.
9. Im Jahr 2000 hatten 27 Prozent der Weltbevölkerung keinen elektrischen Strom zu Hause, 2016 waren es nur noch 14 Prozent.
10. Als Bertrand Piccard und André Borschberg vom Projekt ihres Jahrhundertflugs erzählten, erklärte man sie für verrückt. Sie wollten mit ihrem selbst gebauten Flugzeug »Solarimpulse« 43 000 Kilometer zurücklegen, ohne einen Tropfen Treibstoff zu verbrauchen. Sie wollten mit der Sonne um die Welt fliegen. Im Juli 2016 war ihr Traum Wirklichkeit geworden: Die erste komplette Weltumrundung im Solarflugzeug. Der Flieger wurde von der Kraft der Sonne und sauberer Technologie getragen. Die beiden Pioniere bewiesen: Eine bessere Welt mit hoher Lebensqualität ist möglich.
Es gibt Lösungen mit nachhaltigen Technologien, die Millionen neue Arbeitsplätze schaffen, die die Umwelt schonen und gleichzeitig Gewinne erzielen. Was häufig noch fehlt, ist die Förderung durch die Politik. Leider gibt es zu viele Menschen, die sich die Zukunft nur als die Fortsetzung ihrer eigenen Gegenwart vorstellen können. Es war aber schon immer möglich, durch Fantasie, Vertrauen, Ausdauer, Mut und Entschlossenheit neue Lebenserfahrung zu gewinnen. Das Wichtigste für Veränderung ist ein unbeugsamer Wille dazu. Den oben erwähnten Solarpionier Piccard trug ein solcher Wille auf 900 Meter Höhe. Die Sonne wies ihm den Weg über den Atlantik. Und 15 Wale zeigten sich ihm unten im Wasser. Sein Mut hat historische Bedeutung wie der erste Transatlantik-Flug von Charles Lindbergh 90 Jahre zuvor. Wenn ich daran denke, strahlen meine Augen wie die eines Kindes vor dem Weihnachtsbaum, und mein Herz jubelt.
Die aufgezeigten disruptiven – die alten Technologien rasch verdrängenden – Veränderungen vollziehen sich weit schneller, als selbst Zukunftsexperten vorausgesagt haben. Das war bisher bei allen bedeutenden technischen Innovationen so. Das wird erst recht im noch wichtigeren Bereich der Energie und des Verkehrs so sein. Solarenergien, Elektroautos, Flugzeuge mit alternativen Antrieben und selbstfahrende Automobile werden die alte Mobilität rasch verdrängen. Es hat zwölf Jahre gedauert, bis 50 Millionen Laptops verkauft waren, sieben Jahre für 50 Millionen Smartphones und nur noch zwei Jahre für 50 Millionen Tablets. Beim Bedenken dieser Entwicklung werden Sie verstehen, warum ich davon ausgehe, dass in etwa zwei bis drei Jahrzehnten die solare Weltrevolution zu schaffen ist.
4. Die günstigste Energiequelle: Solarstrom
Und wie teuer kommt uns der ganze solare Disruptionsspaß? Die Produktion einer Kilowattstunde Solarstrom hat im Jahr 2000 in Deutschland noch 70 Cent gekostet, heute etwa sieben Cent, im Jahr 2025 werden es vielleicht noch vier Cent sein. Für den Kohle- und Atomstrom aus der Steckdose berechnen die alten Stromkonzerne etwa das Sechs- bis Siebenfache. Und nun dürfen Sie dreimal raten, wem die Energiezukunft gehört. In sonnenreichen Ländern wie Saudi-Arabien, Zentralafrika oder Chile kann schon heute – wie gesagt – Solarstrom für zwei Cent je Kilowattstunde produziert werden.
Solarstrom für zwei Cent macht mehr Sinn als Atomstrom für zwölf Cent. Die Batteriepreise purzeln 2018 so rasch wie in den letzten Jahren die Preise für Solarstrom. Nachdem aber die Bundesregierung die Solarbranche in Deutschland – ganz im Interesse der alten Energiekonzerne – mutwillig ausgebremst hatte, stieg zuerst Siemens aus, dann Bosch, und First Solar gab den Standort Deutschland auf. Aber ohne einen dynamischen Markt zu Hause kann weder die deutsche Solarindustrie noch die E-Mobilität noch die Batterieindustrie weltweit Technologieführerschaft entwickeln.
Hätte sich Deutschland in der Solarentwicklung nicht selbst ein Bein gestellt, wären wir heute Weltmarktführer und nicht China. Aber es ist noch immer nicht zu spät. Die neue Bundesregierung kann noch umsteuern. Denn heute werden pro Jahr 400 Gigawatt Photovoltaik (PV) installiert, 2030 werden es nach Prognosen des Fraunhofer-Instituts ISE 3 000 bis 5 000 Gigawatt sein. Das große PV-Wachstum liegt noch vor uns.
Wir stehen vor einer sauberen Revolution 2030/2040. Es ist eine unvermeidliche, zunächst technisch-ökonomische Revolution mit starken ökologischen und gesellschaftlichen Konsequenzen. Diese Revolution kann zwar – wie zurzeit in Deutschland – noch kurzzeitig verzögert, aber nicht mehr grundsätzlich verhindert werden. Die Natur bietet uns alles, was wir für diese Revolution brauchen. Die Welt ist nämlich voller Energie.
Allein die Sonne schickt uns jede Sekunde etwa 15 000-mal mehr Energie auf unseren Planeten, als heute alle 7,5 Milliarden Menschen verbrauchen. Das macht sie umweltfreundlich, kostenlos für alle, und zwar für noch einige Milliarden Jahre lang. Worauf warten wir eigentlich noch? Warum stehen die meisten Gebäude noch immer dermaßen ungenutzt in der Gegend herum? Denn auch ein bewohntes Gebäude vergeudet die Chance, mit Solarzellen ausgestattet zu werden. Warum holen wir auch heute noch Öl aus Arabien, Gas aus Sibirien, Uran aus Australien und Kohle aus Südafrika nach Deutschland, aber nutzen viel zu wenig die heimische Sonne, die kostenlos auf jedes Dach scheint?
Wandlung – oder religiös gesprochen »Umkehr« – ist immer und grundsätzlich möglich. Menschen können lernen, wenn sie es nur wollen. Unser Wille ist zwar oft blind, aber blöd ist er nicht. Nur deshalb ist im Laufe der Geschichte scheinbar Unmögliches immer wieder möglich geworden: Die Abschaffung der Sklaverei und der Kinderarbeit, die Emanzipation der Frau und die Trennung von Staat und Kirche, die Menschenrechte und die Demokratie, die Überwindung des Hungers und die Ausrottung von Seuchen. All das hatte am Beginn des Befreiungskampfes wenig Aussicht auf Erfolg.
Fast die gesamte Umweltbewegung und die Umweltpolitik haben zwei Dimensionen einer gelingenden Energiewende vernachlässigt: Die solare Ethik und die solare Ästhetik. Solares Bauen muss schön sein und zugleich »enkelgerecht«.
Der beste und erfolgreichste Solarpolitiker der Welt, Hermann Scheer, nannte sein letztes Buch, bevor er starb: »Der energethische Imperativ – 100 Prozent jetzt«. Energethisch mit th, um deutlich zu machen: Nur einer intelligenten Verbindung von Technik und Ethik wird es gelingen, die Energiewende rasch zu organisieren. Auch Scheer prognostizierte die mögliche solare Energiewende bis 2030.
5. Vom Homo oeconomicus zum Homo oecologicus
Dieses Buch ist ein Buch der Wandlung von Menschen vom Homo oeconomicus zum Homo oecologicus. Wandlungsprozesse bereiten den Weg vom Frust über die Gegenwart zur Lust auf Zukunft. Dieser Weg ist ein Prozess. Das heißt: Die Wandlung kann und wird dauern. Und sie wird Rückschläge erfahren – oben wie unten in der Gesellschaft. Unten: Weil wir alle Meister im Verdrängen von Gefahren und Katastrophen sind. Die Tschernobyl-Katastrophe hat nicht ausgereicht, um in Deutschland eine Mehrheit der Wähler von der Gefahr eines AKW zu überzeugen. Es hat erst eine zweite große Katastrophe in Fukushima gebraucht. Und für die Mehrheit der Franzosen reichte selbst diese Katastrophe noch nicht. Sie werden vielleicht erst einen GAU im eigenen Land brauchen, um wirklich aufzuwachen.
Umdenken, neu denken, ist nicht das, was unser Gehirn am liebsten macht. Deshalb halten wir uns eher an das Bewährte und Bekannte, das lehrt uns die moderne Gehirnforschung.
Und Wandlung braucht Geduld: Erst der Herbst kann zeigen, was der Frühling gezeugt hat, und erst am Abend wird deutlich, was am Morgen wirklich begonnen hat.
Dennoch hier ein Beispiel dafür, wie Klimaschutz von unten funktionieren kann: Als nach der Fukushima-Katastrophe in Japan von heute auf morgen 48 AKW abgeschaltet werden mussten und ein Stromengpass drohte, kamen Millionen Japaner im Sommer ohne Krawatten in ihre Büros und im Winter mit Pullover. Das half, Energie zu sparen: Millionen Klimaanlagen und Heizungen mussten nicht mehr auf Hochtouren laufen. Allein Verhaltensänderungen können viel erreichen. Die größte Dynamik für die Energiewende kommt von unten: von engagierten Bürgermeistern und Landräten, von Energiegenossenschaften und Stadtwerken, von Bauern, Handwerkern und Hausbesitzern.
Der Sozialreformer und Kommunalpolitiker Friedrich Wilhelm Raiffeisen hat in der Mitte des 19. Jahrhunderts – als in Deutschland Hungersnot und Massenarbeitslosigkeit herrschten – die Genossenschaftsidee entwickelt und realisiert. Sein Motto hieß: »Das Geld des Dorfes bleibt im Dorf« – was einer allein nicht schafft, schaffen viele zusammen. Analog dazu lernen wir heute, dass die Energie für die Region aus der Region kommt. Das Geld bleibt dann in der Region, die Steuern fließen in die Gemeindekassen und die Arbeitsplätze entstehen ebenfalls in der Region. Die Idee der Allmende, die Idee des gemeinsamen regionalen Reichtums, ist in den europäischen Gesellschaften noch lebendig. Klimaschutz und gemeinsame, gute Geschäfte passen gut zusammen – durch Bürgerwindanlagen, Solarparks, Biogasanlagen, oft organisiert und betrieben von Energiegenossenschaften. Wir werden in den nächsten Jahrzehnten eine Renaissance von Genossenschaften erleben. In Deutschland gab es im Jahr 2007 147 Energiegenossenschaften, 2016 bereits 1 024. So schafft sich die Gesellschaft ein robustes, wirkmächtiges Ökosystem.
Riesige Konzerne zerstören oft Wettbewerb und Demokratie. Das französische Wort für »Aktiengesellschaft« beschreibt den Unterschied treffend: Société Anonyme – anonyme Gesellschaft. Großkonzerne haben die besten Anwälte, die dafür sorgen, wenig Steuern zahlen zu müssen. Das Geld fließt aus der Gemeinde zu den Aktionären ins Nirgendwo.
Beispiele für Wandlungsrückschläge von oben: Vom Klimaschützer Obama zum Klima-Ignoranten Trump. Die Wähler wollten es halt so. US-Präsident Jimmy Carter erzählte mir, dass er am Beginn seiner Amtszeit Solaranlagen am Weißen Haus in Washington installieren ließ, um den Durchbruch der Solarenergie symbolisch zu beschleunigen, dass aber sein Nachfolger Ronald Reagan diese an seinem ersten Amtstag 1981 demonstrativ wieder entfernen ließ.
Vor 60 Jahren war selbst ich noch ein Kohlefreund, weil mein Vater Kohlehändler war, heute ein Freund der Solarenergie. Bis 1986 zur Tschernobyl-Katastrophe war ich ein Anhänger der Atomenergie, seither habe ich weltweit um die 300 Windräder und Windparks mit eingeweiht, elf Bücher über die Energiewende geschrieben, etwa 40 Fernsehsendungen dazu produziert und über 4 000 Vorträge zu diesem Thema in allen Erdteilen gehalten. Vor 40 Jahren habe ich noch viel Fleisch gegessen, heute bin ich ein 80-prozentiger Vegetarier. Noch vor zwanzig Jahren war ich Autofahrer, heute bin ich begeisterter Bahnfahrer. Mit Verzicht und Opfer hat dies alles gar nichts zu tun. Es geht mir um mehr Lebensqualität, um bessere Gesundheit, um mehr Sicherheit und natürlich auch um Klimaschutz und um Lust auf Zukunft. Muss ich unbedingt zu den jährlich Tausenden Verkehrstoten auf unseren Straßen gehören, wenn ich bei einer Bahnfahrt um den Faktor 100 sicherer bin?
Man muss sich nur diese Zahl verinnerlichen, um umkehrfähig zu werden: Seit 1945 sind auf den Straßen unserer Welt 120 Millionen Menschen durch Autos getötet worden. 120 Millionen! Das sind mehr als doppelt so viele Tote wie im Zweiten Weltkrieg. Also weit mehr Tote durch Autos als durch alle Kriege zusammen. Wir haben die Kriege mit bestem Gewissen auf die Straße verlagert. Und jedes Jahr »produzieren« wir weltweit weitere drei Millionen Verkehrstote mehr. Das halten die meisten von uns für alternativlos. Entschuldigung, aber was für ein reaktionäres, menschenverachtendes Menschenbild steckt hinter dieser »Alternativlosigkeit«?
Warum die Energiewende so rasch wie möglich notwendig ist? Im Jahr 2013 verloren 22 Millionen Menschen durch Stürme, Erdbeben und Schlammlawinen ihre Heimat, dreimal so viele wie durch Kriege. Klimapolitik ist Friedenspolitik. Frieden ist weit mehr als nur das Schweigen der Waffen.
6. »Wir werden getoastet, geröstet und gegrillt«
Es geht um nichts weniger als um die Überlebensfrage der Menschheit. »Was mit der Klimaerhitzung auf die Welt zukommt, hat es seit 30 Millionen Jahren nicht gegeben«, sagt der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Nicolas Stern. Das ist ein radikaler Wandel jenseits aller menschlichen Erfahrungen. Schon bei einer globalen Erwärmung von drei Grad müssen wir mit einem Anstieg des Meeresspiegels um 20 Meter rechnen. In Afrika leben etwa 300 Millionen Menschen direkt am Meer.
Und allen Klimaskeptikern, die den Ernst der Lage immer noch nicht verstehen wollen, ins Stammbuch: In den letzten 17 Jahren hatten wir die 16 heißesten Jahre seit Beginn der Klimaaufzeichnung. Wer aber nichts weiß, muss alles blind glauben – auch die Sprüche der Klimaskeptiker.
Die Chefin des Internationalen Währungsfonds IWF, Christine Lagarde, sagte Ende Oktober 2017 in Saudi-Arabien, einem Land, das den Klimawandel zuvor eher verharmlost hat: »Wenn wir jetzt nichts gegen den Klimawandel unternehmen, werden wir in 50 Jahren getoastet, geröstet und gegrillt.« Schnelle Entscheidungen seien nötig, um die Energieversorgung umzustellen. Erdöl, so Lagarde im Erdölland Saudi-Arabien, werde »zu einem zweitrangigen Rohstoff«. Sie bezog sich auf Warnungen von Klimaforschern, die vor einer Klimaerhitzung von durchschnittlich fünf Grad warnen. Besonders schwere Folgen könnte der Klimawandel am Persischen Golf haben. Dort kann es unerträglich heiß werden. Die gesamte Region droht unbewohnbar zu werden. Die wachsende Erkenntnis der letzten Jahrzehnte: Ohne Frieden mit der Natur kann es keine Zukunft geben.
Kann der Klimawandel auch gesundheitliche Schäden verursachen? Die Fachzeitschrift »Lancet« schreibt: »Das ist ein Gesundheitsproblem für Millionen Menschen.« Seit 1990 hat die globale Erwärmung dazu geführt, dass Mückenarten Dengue-Fieber weltweit verbreitet haben. In Südostasien hat sich die Zahl der Todesopfer durch das Dengue-Fieber beinahe verdoppelt. Über 200 Millionen Menschen sind bereits heute übermäßiger Wärme ausgesetzt und können nur noch in Kühlräumen schlafen. Die Hitze belastet Nieren und Herz und kann tödlich enden. Durch geringere Getreideernten fehlen bald einer Milliarde Menschen Eiweiß und Nährstoffe wie Zink, Vitamin B12 oder Omega-3-Fettsäuren.
Jedes Jahr holen wir so viele fossile Rohstoffe aus der Erdkruste, wie sich zuvor in einer Million Jahren in Form von Kohle und Öl abgelagert haben. Deshalb hat die CO2-Menge in der Luft erstmals seit einer Million Jahren die Marke von 400 ppm (Teile von einer Million) überschritten. Die Erdgeschichte warnt uns vor den dramatischen Folgen. Allein der »Jahrhundertsommer« 2003 hat in Europa zu 70 000 Todesopfern geführt. Der Kohlesmog hat im Jahr 2016 in China 1,6 Millionen Menschen das Leben gekostet.
Wenn wir das Klima weiter destabilisieren, werden wir die Gesellschaften destabilisieren. Massenarbeitslosigkeit und Wasserkrisen werden folgen, aber auch Wirtschaftskrisen und Hungerkrisen. Heute produzieren wir giftige Böden, dreckige Luft, verschmutztes Wasser – die Folgen: weltweit 4 600 Milliarden Dollar Umweltschäden pro Jahr und Millionen Tote. Das Wissenschaftsmagazin »Nature« schreibt im März 2018, dass durch eine schnelle Reduktion von CO2 global 153 Millionen vorzeitige Todesfälle vermieden werden könnten.
Noch gibt es mehr als 20 Millionen Kubikmeter Eis auf der Erde. Sollten sie eines Tages wegen der Klimaerhitzung schmelzen, sähe die Welt anders aus als heute. Es wäre global um viele Grade wärmer, die Wüsten wären wesentlich größer und der Meeresspiegel könnte um bis zu 66 Meter ansteigen. Wollen wir Hamburg und Bremen, Sylt und Ostfriesland, Venedig und New York, Kalkutta und Rio, den Süden Bangladeschs, Miami und Vietnam, Tokio, Schanghai und Honkong einfach aufgeben? Sollten die Emissionen weiter steigen, dann geht es nicht mehr um das Ob, sondern um das Wann. Wahrscheinlich brauchen wir zuerst eine Eisschmelze in unseren Herzen, um wirklich zu verstehen, was wir heute auf dieser Erde eigentlich mit der Klimaerhitzung vorantreiben.
Es taut bereits weltweit. Grönland, die größte Insel der Welt, ist fünfmal so groß wie Deutschland, hat aber nur 55 000 Einwohner. 2014 sehe ich hier großartige arktische Landschaften, Fjorde mit blauweißen und türkisfarbenen Eisbergen, kristallklares Wasser und bunte Eskimosiedlungen. Aber zugleich bietet Grönland auch für jeden mit offenen Augen den stärksten Anschauungsunterricht für die größte Bedrohung der menschlichen Spezies: den Klimawandel. 85 Prozent der Insel sind noch vom »Ewigen Eis« bedeckt. Grönlands Eiskappe ist 2 000 Kilometer lang, 1 000 Kilometer breit und bis zu 3 000 Meter dick. Zwei Jahre zuvor ereignete sich hier für Gletscherforscher ein Albtraum: Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte schmolz der gesamte Eisschild. Riesige Eisbrocken lösten sich und stürzten ins Meer. Meine Frau und ich flogen mit Wissenschaftlern im Hubschrauber über den Ilulissat-Gletscher und waren entsetzt zu sehen, wie sich eine dünne Eisschicht auf dem gesamten Gletscher erstmals in Schneematsch verwandelt hatte. Wir haben zwei Tage im Juli erlebt, an denen es in Grönland wärmer war als in Deutschland. Der Sommer hatte Grönland im Schwitzkasten.
Die uns begleitenden Wissenschaftler erwarten einen völlig eisfreien Arktis-Sommer schon im Jahr 2020. Allein 2016 hat das Eis in der Arktis um das Achtfache der Fläche Deutschlands abgenommen. Wir brauchen eine Menge Hoffnung und noch mehr Wandel, um die Klimaerhitzung noch auf ein menschenverträgliches Maß einzudämmen. Der Klimawandel ist der vielleicht deutlichste Hinweis darauf, dass wir unsere Erde nicht mehr lieben. Wir werden nur schützen, was wir lieben.
Ich weiß, dass ermutigende Reden und schlaue Bücher für die große, notwendige Transformation nicht genügen. Deshalb habe ich in über 300 Fernsehsendungen und in 50 Büchern immer auch positive Beispiele gelingenden Lebens, nachhaltigen Wirtschaftens und wirklicher Zukunftspolitik aufgezeigt.
7. Unsere Seele verlangt nach Wandlung
Unsere Seele verlangt – im Angesicht unserer heutigen Probleme – nach Wandlung. Zur Wandlung verhilft uns vor allem, was uns innen tief berührt wie zum Beispiel die Liebe zu unseren Kindern und die Verantwortung für unsere Enkel. Tief im Inneren wissen wir, dass Wandlung möglich und nötig ist. In diesem Wissen liegt unsere mögliche Rettung – auch heute.
Nach den Atomkatastrophen 1959 in Sellafield/England sowie in Tscheljabinsk am Ural, 1979 in Harrisburg/USA, 1986 in Tschernobyl/Sowjetunion und 2011 in Fukushima/Japan müssen wir ein elftes Gebot lernen: Du sollst den Kern nicht spalten! Alle 10 000 Jahre sollte nach den Vorhersagen der »Experten« etwas passieren, alle zehn Jahre ist etwas passiert. So schnell vergeht die Zeit, wenn man sich auf die »Experten« verlässt. Der Berater für nukleare Sicherheit, Mycle Schneider: »Unfälle passieren immer dort, wo man sie am wenigsten vermutet.«
Harrisburg war der größte Atomunfall in der Geschichte der USA. 28 Stunden danach sagte Vize-Gouverneur William Scranton: »Everything is under control.« Schon drei Tage später mussten 140 000 Menschen evakuiert werden. Und es war klar, dass alles außer Kontrolle war.
Tja! Die ökonomischen und die wissenschaftlichen Eliten dürfen nicht länger glauben, dass sie jede Großtechnologie fest im Griff haben. Im Zweifel hat diese sie und uns alle im Griff. Nie zuvor habe ich »Experten« so hilflos und inkompetent herumstottern hören wie nach den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima. Nach den Prognosen dieser »Experten« der alten Energiewirtschaft müssten wir inzwischen wieder in der Steinzeit leben. »Ohne Atomkraft gehen die Lichter aus«, sagte zum Beispiel der frühere Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Hans Filbinger, den Atomkraftgegnern in den Siebzigern. »Wollen Sie Deutschland zurück in die Steinzeit führen?«, fragte mich der Vorsitzende eines alten Energiekonzerns in einer Fernsehsendung 1996, in der ich zu hundert Prozent erneuerbare, saubere Energie in Deutschland bis 2030 für möglich erklärte.
Jedes der 438 AKW auf der Erde ist eine Einladung an Terroristen. Es kann daher sehr wohl sein, dass uns die Atomkraft oder ein Atomkrieg »in die Steinzeit« führt. 2016 flog ein deutscher Copilot mit seinem Flugzeug und 150 Passagieren bewusst in eine Alpenwand. Nur wenige Kilometer entfernt sind drei französische AKW in Betrieb. Der Copilot hätte sein Flugzeug genauso in ein solches steuern können. Terror und Sabotage gegen Atomkraftwerke gehören zu den großen tabuisierten Bedrohungsszenarien. AKW-Sabotage ist für Terroristen kein großes Problem. Der IS hantiert inzwischen mit komplexen Angriffsstrategien, die ausreichen, um ein Atomkraftwerk zur Kernschmelze zu bringen, meint der Atom-Sicherheitsberater Mycle Schneider. Viele Atomkraftbetreiber sind bankrott. Ihr Investitionsbedarf ist riesig – in den USA ebenso wie in Japan und in Frankreich: Wer garantiert in solchen Situationen den sicheren Betrieb von Hochrisiko-Anlagen?
Länder, in denen AKW stehen, sind militärisch de facto nicht mehr zu verteidigen. Die größte Bedrohung haben sie sich im eignen Land selbst gebaut. Wir wissen heute, dass die Al-Kaida-Terroristen, die am 11. September 2001 das World Trade Center in New York attackierten, auch über einen Angriff auf die zwei Kuppeln des Atommeilers Indian Point diskutiert hatten. Mohammed Atta flog am 11. September morgens um 8:40 Uhr zuerst über das AKW, leitete hier den Sinkflug ein und krachte um 8:46 Uhr in den Nordturm des World Trade Centers. Im Umkreis des AKW Indian Point leben etwa 20 Millionen Menschen. Die Terroristen gaben dieses Ziel wahrscheinlich deshalb auf, weil sie befürchteten, dass Boden-Luft-Raketen den Atommeiler schützen würden. Diese Fehleinschätzung verhinderte womöglich den ersten Selbstmordanschlag auf ein Kernkraftwerk.
Ursprünglich, so gestand einer seiner Komplizen 2003 nach seiner Festnahme, sollten zugleich zehn Flugzeuge gekidnappt werden. Zu den anvisierten Zielen gehörten mehrere Atomkraftwerke.