»Wie
absolut vortrefflich«, knurrte Lords spöttisch. »Also ist doch der
Wurm drin.«
»He, nein, Mann!« fauchte Lorraine. »Das sollte ein Scherz
sein. Es kann überhaupt nichts passieren. Wir verwenden
Spezialauflieger, und die überprüfen wir vor jedem Befüllen
hundertprozentig genau. Für die Dichtungen nehmen wir ein Material,
das auch die NASA bei ihren Space Shuttles verwendet…«
Das zumindest konnte Stacey Lords nicht überzeugen. Dumpf
erinnerte er sich an die CHALLENGER, wie sie beim Start explodiert
war.
»… die Tanks sind crashsicher, und außerdem suchen wir uns
unsere Fahrer sehr genau aus«, fuhr Lorraine fort. »Wir nehmen nur
die besten, die zuverlässigsten Trucker. Deshalb sind ja auch Sie
in die engere Wahl gekommen. Bei großen Speditionen wissen wir nie,
wer gerade eingesetzt wird. Bei kleinen Unternehmen ist die
mögliche Auswahl nicht so groß.« Er grinste wieder, diesmal
Selbstsicherheit vortäuschend.
Lords grinste zurück; im Fall seiner Firma beschränkte sich
die Auswahl auf ihn allein. Er fuhr solo. Da brauchte er mit
niemandem zu teilen. Er hatte das Geld auch bitter nötig. Er war
geschieden, und seine Ex-Frau, von der er einmal geglaubt hatte,
daß er sie liebte und sie ihn, war zum Blutsauger mutiert. Sie ließ
ihn Unterhalt für sich und die Zwillinge zahlen, von denen Lords
mittlerweile bezweifelte, daß es seine Kinder waren.
Der Nachteil des - Alleinfahrens war, daß es niemanden gab;
der ihn auf langen Strecken ablösen konnte.-Doch bislang hatte
immer alles funktioniert.
Immer noch grinsend, warf er ein: »Und weil alles so furchtbar
harmlos und ungefährlich ist, zahlen Sie auch so besonders gut,
nicht wahr?«
»Wir können so gut zahlen, weil unser Produkt sehr gefragt
ist. Aber wenn Sie den Job nicht wollen, brauchen Sie es nur zu
sagen«, bemerkte Lorraine trocken. »Es gibt genug andere Trucker,
die sich nicht so verquer anstellen und die unser gutes Geld
gebrauchen können.«
Das war der Knackpunkt bei der Geschichte. Lords brauchte das
Geld. Dringend. Seine Ex hatte ihm mal wieder per Anwalt die
Daumenschrauben eng ziehen lassen. Die Steuern waren fällig. Die
Kranken- und Sozialversicherung. Und nicht zuletzt die 42. Rate für
seinen neuen Truck, mit der er bereits zwei Monate im Rückstand
war. Eigentlich hätte er sich den Ford Aeromax 120 ebensowenig
leisten können wie den Zahlungsrückstand; noch einen dritten Monat,
und die Bank würde ihm den Kredit kündigen und den Ford pfänden
lassen.
Sein alter Truck war nur deshalb noch nicht
auseinandergefallen, weil die Technik sich nicht hatte entscheiden
können, wo sie zuerst versagen sollte. Mit dem rostigen und
verbeulten Klapperkasten konnte er keine lukrativen Aufträge an
Land ziehen. Der Rig hatte einfach nicht mehr vertrauenswürdig
ausgesehen. Eine nagelneue Zugmaschine dagegen suggerierte den
Kunden absolute Betriebssicherheit. Also hatte Lords gekauft. Und
jetzt ging ihm die finanzielle Puste aus.
Er mußte diesen Tankauflieger fahren, ob er wollte oder nicht.
Und er mußte am Zielort eine wenigstens ebenso lukrative
Anschlußfracht bekommen. Wenn das funktionierte, war’s okay. Dann
war er aus der Bredouille heraus. Vorläufig zumindest.
Delta-Exolin… ein hübscher Name für dieses Teufelszeug.
Flugbenzin ganz besonderer Art. Dagegen war das Kerosin, mit dem
Flugzeugmotoren normalerweise betrieben wurden, wie billigster
Fusel im Vergleich mit bestem Tennessee-Whiskey. Delta-Exolin besaß
einen wesentlich ergiebigeren Brennwert, machte die Flugzeuge
schneller und sparsamer zugleich und zündete bei wesentlich
niedrigerer Verdichtung und Zündfunkentemperatur.
Der Nachteil war der Preis. Für die großen Fluggesellschaften
war Delta-Exolin vorerst noch nicht rentabel.
Das war es, was Lords über diesen neuartigen Supertreibstoff
wußte. Mehr wollte er auch nicht wissen. Es war ihm egal, ob das
Zeug normal gefördert und raffiniert oder ob es in den Hexenküchen
einer Chemiefirma künstlich erzeugt wurde. Für Stacey Lords war nur
wichtig, daß er daran verdienen konnte.
Aber mehr Geld, als ihm angeboten worden war, gab’s nicht,
stellte er mit Bedauern fest. Künstlerpech.
Er hieb mit der Faust noch einmal gegen den metallicsilbernen
Spezialauflieger. »Dann wollen wir mal aufsatteln.«
Stacey Lords ahnte nicht, daß der Tod diesmal mit ihm
fuhr…
***
Stephens-County, Bundesstaat Oklahoma:
Dr. Francine Teltow, Spezialistin für schwierige
Herz-Transplantationen, streckte ihre Füße ins kühle Wasser des
Wildhorse Creek, dessen Bachbett hier schmal und dessen
Uferböschung niedrig war. Ganz in der Nähe führte der legendäre
Chisholm-Trail vorbei, benannt nach jenem texanischen Rancher, der
hier erstmals eine mächtige Rinderherde durch Indianerterritorium
nach Norden getrieben hatte. Ohne daß sich Francine sonderlich für
diesen Teil amerikanischer Pioniergeschichte interessierte, tat es
ihr gut, mal wieder ein Stück Natur zu spüren, statt immer nur
Technik um sich zu sehen und zu erleben.
Dabei ging es ohne diese Technik schon längst nicht mehr.
Trotzdem wünschte sich Francine manchmal, eine kleine
allgemeinmedizinische Praxis in irgendeinem kleinen Dorf zu haben.
Hier und da ein Schwätzchen mit den Leuten, da ein Wehwehchen, dort
eine Kinderkrankheit… aber dafür Kontakt mit Menschen, Wärme,
Gefühle, Geborgenheit.
Heimat.
In Houston, Texas, hatte sie das alles nicht. Dort arbeitete
sie. Dort wohnte sie. Aber sie lebte woanders. In ihren Gedanken
und Träumen.
Trotzdem würde sie an ihrem Leben nichts ändern. Sie hatte
eine hochkarätige Ausbildung hinter sich, sie lernte auch heute
noch täglich dazu - und sie trug Verantwortung.
Ihr Job war es, Leben zu retten!
Sie besaß die bestmöglichen Voraussetzungen dazu. Und sie
würde sich nicht mehr im Spiegel anschauen können, wenn sie all das
einfach fortwarf. Auch wenn der Preis dafür war, ihren Traum
niemals verwirklichen zu können.
Das war ihr Dilemma.
Sie war Ärztin geworden, weil sie Menschen helfen wollte.
Nicht, um viel Geld zu verdienen und hohes gesellschaftliches
Ansehen zu erringen. Diese gestelzte Gesellschaft sollte der Teufel
holen - das war nicht ihre Welt. Aber sie war durch ihr Können,
durch ihre Ausbildung in ein Feld gerückt worden, in dem sie dieser
verlogenen Gesellschaft nicht mehr ausweichen konnte.
Sie war eine hochkarätige Spezialistin. Herz-Chirurgin.
Expertin für Transplantationen unter schwierigsten Bedingungen.
Eine von sehr wenigen auf dem Planeten Erde. Die Elite, oder was
sich dafür hält, trifft irgendwann und irgendwie automatisch
aufeinander. Gesellschaftliche Bräuche erzwingen das. Und Francine
hatte den Fehler begangen, irgendwann einmal in einer ungeliebten
Partyunterhaltung jemandem offen eine unangenehme Wahrheit zu
sagen.
Nur besaß dieser Jemand Macht. Gesellschaftlich, politisch,
wirtschaftlich. Manager eines pharmazeutischen Großkonzerns. Man
raunte sich hinter vorgehaltener Hand zu, er gehöre zur Mafia. Und
er hatte Dr. F. Teltows relativ laute und von anderen mithörbare
Anprangerung äußerst krummgenommen. Als Francines Auto nachts vor
dem Haus explodierte, ihre Katze vergiftet wurde und sie nur um
Haaresbreite einer Vergewaltigung entging, hatte die Polizei ihr
gesagt: »Bringen Sie uns Beweise, daß es sich tatsächlich um
gezielte Aktionen des organisierten Verbrechens handelt und daß Dr.
Cecil Borgano dahintersteckt.«
Doch wie sollte sie diese Beweise erbringen? Sie war
Transplantationsexpertin, keine Kriminalpolizistin.
Ein Reporter, über den sie mit der Sache an die Öffentlichkeit
gehen wollte, gab ihr den Tip, daß der Chef des zuständigen
Kommissariats selbst enge Kontakte zum organisierten Verbrechen
unterhielt. »Aber diese Information haben Sie nicht von mir,
verstanden? Und Ihre Story kann ich auch nicht bringen. Denn sonst
erledigen die auch mich.«
Und Francine wußte nicht einmal, in was für ein Wespennest sie
mit einer relativ harmlosen Bemerkung getreten hatte! Sie wußte
nicht einmal mehr genau, worüber sie sich an jenem Party-Abend mit
Borgano unterhalten hatte. Sie wußte nur, daß es bösen Ärger
gegeben hatte und daß der besagte Dr. Cecil Borgano die Party sehr
früh verlassen hatte. Jedenfalls hatte es etwas mit Profitgier,
schamloser Ausbeutung von Abhängigen und Betrug zu tun
gehabt.
Sie überlegte, ob sie sich ans FBI wenden sollte. Nach dem Tip
des Reporters traute sie der »normalen« Polizei nicht mehr über den
Weg. Natürlich war nicht jeder Cop gleich ein Mafioso. Aber wie
sollte sie die weißen von den schwarzen Schafen unterscheiden? Die
andere Seite saß einfach am längeren Hebel.
Vorerst machte sie Urlaub.
Der hatte ohnehin angestanden. Ihre geplante Flugreise hatte
sie vorsichtshalber storniert; sie rechnete damit, daß am Zielort
eine Falle auf sie wartete. Deshalb hatte sie mit dem Storno auch
bis zur letzten Minute gewartet. Das hatte sie 15 Prozent des
Reisepreises gekostet, immerhin satte tausend Dollar. Jetzt machte
sie eine andere Art von Urlaub. Drei Wochen mit dem PKW unterwegs,
irgendwo, ohne Ziel, ohne Überwachung.
Hoffte sie.
Nur für absolute Notfälle hatte sie ihren »Pieper«
mitgenommen, das kleine Rufgerät, über das sie ständig erreichbar
war. Schließlich hätte sie auch ihre reguläre Urlaubsreise
jederzeit unterbrochen, wenn sie gebraucht wurde.
Sie hielt das für normal; es gehörte zu ihrer
Verantwortung.
Wenn jemand ihre chirurgische Hilfe brauchte, ihre
Spezialkenntnisse, dann mußte sie verfügbar sein. Alles andere wäre
für ihre ganz persönliche Auffassung ein Bruch des hippokratischen
Eides, den sie als Medizinerin mit Begeisterung und Ehrfurcht
geleistet hatte. Es gab Kollegen, die sich darüber lustig machten…
it’s just a job - es ist nur ein Job. Für Francine war es mehr. Es
war nicht Beruf, sondern Berufung.
Sie erhob sich, kletterte das Bachufer wieder hinauf und zog
ihre Schuhe wieder an.
Was jetzt? Hier bleiben, das kleine Zelt aufbauen, mit dem sie
unterwegs war? Ein wenig Holz sammeln, ein Lagerfeuer einrichten
und ein wenig unter dem Sternenhimmel träumen? Es würde bald dunkel
werden.
Oder sollte sie weiterfahren? Nur etwa siebzig oder achtzig
Meilen von hier wohnte ihre alte Großmutter. Der hatte sie schon
lange keinen Besuch mehr abgestattet. Vielleicht sollte sie das
einfach einmal tun. Dann kam sie möglicherweise auch auf andere
Gedanken.
Über den Interstate Highway 35 konnte Francine in nicht einmal
zwei Stunden in dem kleinen Dorf am Nordufer des Red River
eintreffen. Dann war es zwar Abend, aber Großmutter würde sich
freuen. Sie saß abends lange wach, meist bis weit über Mitternacht
hinaus. Ein Besuch in der Abendstunde würde sie nicht stören, im
Gegenteil.
Francine setzte sich in den betagten
?rünen Chevrolet. Sie hatte ihn als ibergangslösung für eine
Handvoll Dollars gekauft, bis die Versicherung sich endlich
bequemte, pflichtgemäß für ihren explodierten Wagen zu
zahlen.
Dann fuhr sie los.
Sie ahnte nicht, daß sie bei ihrer Großmutter niemals ankommen
sollte…
***
San Antonio, South Texas Medical Center, Audie L.
Murphy-Hospital:
»Es gibt nur die eine Möglichkeit«, sagte Dr. Yulsman.
»Transplantation. Und ein Spenderherz steht auch zur Verfügung. Tun
wir es nicht, stirbt der Junge.«
Der Junge - das war Horace Thomasio Ferguson. Ein langer Name
für einen Elfjährigen. Er selbst ließ sich am liebsten Tom nennen.
Aber wie lange noch?
Sein Herz wollte nicht mehr mitspielen. Er konnte jeden Tag
sterben. Dabei hatte er doch noch ein ganzes Leben vor sich. Es
hatte ja nicht einmal richtig angefangen.
Yulsman sah die einzige Chance in einer Transplantation. Doch
Yulsman wußte auch, daß er selbst das nicht schaffte.
Es gab Komplikationen. Tom Ferguson war allergisch gegen
mindestens eine Dreiviertelmilliarde verschiedenster Dinge, die für
einen Normalsterblichen völlig alltäglich waren. Ein weiteres
Problem war es gewesen, ein Spenderherz zu finden. Das eines
Fünfzigjährigen nützte dem Patienten nichts. Es war zu groß, zu
alt.
Jetzt lag das eines Zwölfjährigen im Eis. Ein Unfallopfer. Die
Eltern hatten die Organspende genehmigt. Vielleicht ließ sich etwas
machen. Aber schon beim ersten Durchchecken war es Yulsman klar
geworden, daß es zu Komplikationen kommen würde. Toms Metabolismus
war eine einzige große Verrücktheit. Der Junge war vielleicht
einmalig auf der Welt.
Und wenn ihm nicht schnell geholfen wurde, war er bald
tot.
»Sie wollen die Operation nicht durchführen, Kollege«,
konstatierte Dr. Roman Johnson.
»Ich darf es nicht. Ich würde ihn umbringen. Jeder von uns
würde ihn umbringen. Sie kennen doch Fergusons Daten. Damit werden
nur begnadete Spezialisten fertig. Und davon haben wir in San
Antonio nur zwei. Der eine ist bettlägerig erkrankt und weiß selbst
nicht, ob er leben oder sterben will, und der andere ist
unerreichbar in Abenteuerurlaub in Afrikas Dschungel oder auf dem
Himalaja oder im Indianerreservat oder in einer anderen Galaxie -
kommt ja doch alles auf dasselbe heraus. Bis er wieder hier ist,
ist der Junge tot.«
»Und wer soll - oder besser gefragt, wer kann diese Operation
dann nach Ihren Vorstellungen überhaupt vornehmen?« fragte
Johnson.
»Da gibt’s eine Frau«, sagte Yulsman. »Sie kommt wie unsere
beiden verhinderten Kollegen von der Mayo-Klinik. Hat dort ihr
Examen gemacht und als zweit- oder drittbeste ihr es Jahrgangs
abgeschlossen. Jetzt ist sie in Houston. Sie soll wohl auch etwas
mit den Discovery-Experimenten zu tun haben. Wenn es einen Menschen
auf der Welt gibt, dem ich diese Herztransplantation Zutrauen
würde, dann ist sie es.«
»Sie meinen Doktor Teltow? Die um ein Haar selbst im
Space-Shuttle mitgeflogen wäre? Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst,
Kollege Yulsman.«
»Was haben Sie gegen Kollegin Teltow? Gefällt es Ihnen nicht,
daß sie eine Frau ist?«
Johnson atmete tief durch.
»Es gefällt mir nicht, daß die Lady spinnt!« behauptete er.
»Sie leistet sich ein paar Verrücktheiten, beleidigt einen
Top-Manager der Pharma-Industrie, betreibt üble Nachrede… und sie
macht eine Lebensphilosophie daraus, angeblich von der Mafia
verfolgt zu werden, der natürlich alle angehören, die nicht ihrer
alleinseligmachenden göttlichen Meinung sind.«
»Aber sie kann was«, erwiderte Yulsman. »Wenn jemand mit Tom
Fergusons verkorkstem Körper zurechtkommt, dann ist sie es. Warum
also fordern wir sie nicht an?«
»Weil ich keinem Paranoiden ein Skalpell in die Hand drücken
möchte«, erwiderte Johnson.
»Das heißt«, sagte Dr. Yulsman langsam und eindringlich, »daß
Sie Tom Ferguson lieber sterben lassen, als ihm auch nur den Hauch
einer Chance zu geben. Meinen Sie nicht, daß sich die Medien dafür
interessieren könnten?«
»Das ist übelste Erpressung!« fauchte Dr. Johnson.
Yulsman schüttelte den Kopf.
»Notwehr«, korrigierte er. »Notwehr im Namen von Horace
Thomasio Ferguson. Nicht mehr und auch nicht weniger. Wie
entscheiden Sie?«
»Der Teufel soll Sie holen, Yulsman.«
***