Eine livländische Weihnachtsgeschichte - Heinz-Jürgen Zierke - E-Book

Eine livländische Weihnachtsgeschichte E-Book

Heinz-Jürgen Zierke

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Beschreibung

Riga im 16. Jahrhundert. Reformation, Gegenreformation. Die Auseinandersetzungen sind in vollem Gange. Da zieht am Weihnachtsabend ein Bauer aus seinem Dorf aus, um seine Tochter zurückzuholen. Er geht in die Stadt. Der Herr, sein Herr, hat es ihm geraten. Und er findet seine Tochter, aber anders als er es sich vorgestellt hat. Und er kann sie mitnehmen — unter einer Bedingung. Er geht darauf ein, und die Ereignisse schlagen wie die Wellen des Ozeans über seinem Kopf zusammen. Mühsam versucht er zu begreifen. Aber er bleibt Spielball der für ihn undurchschaubaren Kräfte. Auch Jürgen Wullenwever, gewählter Bürgermeister der Hansestadt Lübeck, ist nicht mehr freier Herr seiner Entscheidungen, jetzt, da er auf der Asseburg bei Wolfenbüttel als Gefangener seines Todfeindes einsitzt. Der Versuch, Verbindung zu Freunden aufzunehmen, scheitert. Die Begegnung mit seinem jungen Kerkermeister aber lässt ihn hoffen. Für sich, vor allem aber für seine Ideen.

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Impressum

Heinz-Jürgen Zierke

Eine livländische Weihnachtsgeschichte

Zwei historische Erzählungen

ISBN 978-3-95655-328-8 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1982 im VEB Hinstorff Verlag Rostock.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung eines Bildes von Johann Christoph Brotze, Riga 1650.

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Eine livländische Weihnachtsgeschichte

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem König Stephan ausging, dass auch die Stadt Riga nach dem neuen Kalender leben solle. Und dieses Gebot war das dritte und geschah zu der Zeit, als Nikolaus Eke Burggraf zu Riga war.

Der neue Kalender, errechnet von dem Astronomen Lilio und von Seiner Heiligkeit Gregor XIII. mit seinem Namen und päpstlichem Segen bedacht, stahl diesem Jahr zehn Tage und machte damit jedermann auf einen Schlag um dieselbe Zeit älter. Die Bürger der evangelischen Stadt erkannten darin eine neue Niedertracht der Jesuiten und verlangten von ihrem Rat, dass das Jahr nach altem Brauche ablaufe.

Der Rat aber beugte sich dem Spruche seines Oberherrn, befahl, nicht ohne Widerspruch aus den eigenen Reihen, die Festtage auf neue Weise, also zehn Tage früher, zu begehen, und ließ, da die Pastoren nicht vor leeren Bänken predigen wollten, das niedere, undeutsche Volk mit Peitschen in die Kirchen treiben.

Die Bürger gingen ihrer Arbeit nach wie an allen Werktagen, ballten die Fäuste in den Taschen, und wenn ihrer zwei oder drei zusammenstanden, murrten sie. „Der Rat hat uns an Rom verkauft um seines eigenen Vorteils willen.“ Er regiere allzu selbstherrlich, achte nicht den Willen der Bürger, gebe nicht Rechenschaft, und Bürgermeister und Ratsverwandte trügen zu jedem Feiertag prächtigere Gewänder, bei ihren Gelagen bogen sich die Tische, während die Bürger jeden Groschen dreimal umdrehten, bevor sie ihn zum Markt trugen.

Als nun die Weihnachtstage des alten Kalenders heranrückten und die Bürger dem Herkommen gemäß vor dem Altare singen wollten: „Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen“, fanden sie die Kirchentore verschlossen. Da nahmen sie die Fäuste aus den Taschen, traten zueinander und sprachen: „Lasst uns nun gehen vor das Rathaus und die Herren auffordern, uns die Schlüssel zu geben.“

Aber die Ratsherren verhärteten ihr Herz, beriefen sich auf des Königs Gebot und gaben die Schlüssel nicht her. Da murrte das Volk lauter, und hätte nur einer den ersten Stein aufgehoben, man hätte die Bordschwellen aus der Erde gerissen, Bürgermeister und Rat darunter begraben und an alle vier Ecken des Rathauses Feuer gelegt.

Es waren aber einige besonnene Männer darunter, die erhoben ihre Stimme und sprachen: „Wir wollen ihnen Bedenkzeit geben, denn es ist nichts damit getan, wenn wir ihnen die Kirchenschlüssel entreißen, solange sie uns die Schlüssel zum städtischen Kasten vorenthalten, in den wir steuern nach unserem Vermögen, sie aber entnehmen zu ihrer Lust. Wir wollen eine Liste zu Papier bringen mit den Forderungen der Bürgerschaft und eine andere mit den Verfehlungen des Rates. Damit wollen wir vor sie hintreten, und sie sollen uns Rede und Antwort stehen.“ Der so sprach, war der Bürgeradvokat Martin Giese, und das Volk war es zufrieden, hörte auf ihn und zerstreute sich.

Und es lebten Bauern in der Gegend hinter den Wäldern, die waren den Rittern untertan, pflügten die Erde, säten, ernteten und hüteten ihre Herden und die ihrer Herren. Sie wussten von der großen Stadt Riga nur, dass es dort hölzerne Türme und steinerne Häuser gab und Menschen, die .frei waren und keinem Ritter hörig. So träumten sie davon, so frei und froh und glücklich zu leben wie jene.

Aber sie saßen fest auf ihren Höfen, in ihren Hütten hinter den Wäldern, nahmen sich Frauen, die ihnen Söhne gebärten, und die Söhne wuchsen heran, brachen die Erde auf, säten, ernteten, hüteten ihre Herden und die ihrer Herren, nahmen sich Frauen, die ihnen Söhne gebärten, die Söhne wuchsen heran, und so weiter bis an der Welt Ende. Ohne Erlaubnis des Herrn durfte keiner die Gemarkung des Gutes auch nur um einen Schritt verlassen.

Und siehe, zu einem der Bauern trat sein Herr, der Ritter, und sprach zu ihm: „Mach dich auf in die große Stadt Riga und hole deine Tochter heim in das Haus, in dem sie geboren ward!“

Da hob Janis, Sohn des älteren Janis aus dem Hof am Weidenbach, seine Füße auf und ging, wie ihm der Herr befohlen hatte, ging einen ganzen langen Tag, übernachtete bei einem Vetter seiner verstorbenen Frau, ging am frühen Morgen weiter und fand, als die Wintersonne von ihrer Mittagshöhe herunterstieg, endlich aus dem finsteren Wald von Bikernieks heraus.

Da sah er vor sich, wenn auch noch eine gute Wegstunde entfernt, die Türme der Stadt, die wie schlanke Tannen himmelwärts strebten, als wollten sie mit ihren Spitzen die grauen, schneeträchtigen Wolken aufschlitzen, die träge in dem gewölbten Blau nach Osten schwammen.

Er blieb einen Augenblick stehen, rieb sich die von dem Weiß der Schneefelder brennenden Augen und sog die frostklare Luft ein. Ein paar Liedzeilen kamen ihm in den Sinn:

Kreuz an Kreuz und Zinne an Zinne,

so ist die Stadt Riga gebaut.

Durch die Kreuze, durch die Zinnen

kein Sonnenstrahl mehr schaut.

Die Burschen sangen das Liedchen an den langen Winterabenden, wenn der untergehenden Sonne letzte schräge Strahlen aus den Kiefern, Birken und Weidenbüschen am Horizont seltsame Schattenbilder geformt hatten, in denen die jungen Leute die Türme, Giebel und Mauern der fernen Stadt zu sehen meinten.

Keiner der Burschen hatte auch nur einen einzigen Blick hinter die Mauern der Stadt geworfen, und doch glaubten sie, allein dort könnten sie ihr Glück machen. Aber kaum einer würde je dorthin gelangen, denn das Gesetz band die Söhne der Bauern wie ihre Väter an die Scholle, mochte diese auch noch so kärglich sein, und Leibesstrafe drohte denen, die sich der Untertänigkeit zu entziehen suchten.

Unter den Bauern war die Rede gewesen von einem, der entlaufen und am zweiten Tage wieder eingefangen worden war. Die Knotenpeitsche hatte ihm und allen, die zum Zuschauen auf den Richtplatz getrieben worden waren, die Freiheitsträume vergällt. Ach, um der lieben Seligkeit willen war es klüger, sich an das Wort der Schrift zu halten: Seid untertan der Obrigkeit.

Aber man wollte auch wissen, dass aus dem benachbarten Kirchspiel vor Jahren einer davongekommen war; jedenfalls hatte niemand je vernommen, dass man ihn eingefangen, zurückgebracht und bestraft hätte.

Vielleicht lebte er in der Gerechtigkeit der Stadt wie die Deutschen, war einer der ihren geworden, hatte einen ihrer Namen genommen, sprach ihre Sprache und gebrauchte sein dörfliches Lettisch nur in den nächtlichen Angstschreien, wenn ihn der Mahr drückte. Reich geworden war er wie Jakob, als er von Laban zog, kann sein, oder in eine neue Fron geraten, gezwungen, Säcke zu schleppen, Eisen zu klopfen oder Steine zu brechen. Oder er war nie in die Stadt gelangt, hatte sich in den Sümpfen verirrt, und der zähe braune Schlamm hatte ihn verschlungen, bevor er noch ein Vaterunser beten konnte.

Ihn aber, Janis aus dem Hof am Weidenbach, hatte sein Herr ausgesandt in die Stadt, der Ritter, dem er zeit seines Lebens mit allen seinen Kräften gedient hatte und der ihm nun mit Vertrauen dankte und ihn erhöhte, freilich nicht, damit er dort in den Steinhäusern ein bequemes Leben führe, von dem auch er in seinen dummen Jahren geträumt hatte, sondern um die Tochter heimzuholen in das Haus der Väter.

Die Tochter, die der Ritter zu einem der Stadtherren in Dienst gegeben hatte, damit sie etwas vom Glanz der vornehmen Welt erhasche und nach ihrer Rückkehr das dörfliche Leben damit schmücken könne. Wie ein Wunder war es damals allen erschienen, und jedermann pries die Güte und den Edelmut des Herrn. Janis aber hatte ein banges Ziehen im Herzen verspürt, und es war ihm schwergefallen, vor seiner Frau, der die blanken Tränen über das faltige Gesicht liefen, seine Sorge zu verbergen.

Ach, die Frau! Ein Windstoß trieb ihm das Wasser in die Augen; er rieb es mit dem Ärmel fort. Es hatte keinen Sinn, sich an Erinnerungen zu verlieren. Wer einmal unter dem blumenbekränzten Sandhügel am Krähenberg lag, den holte auch kein Dreigespann Ochsen zurück.

Ob das Mädchen, das sie Laima genannt hatten nach der alten Göttin des Glücks, dort in der Stadt ihr Glück gefunden hatte?

Er verspürte plötzlich wieder die Stiche unter der linken Schulter, je näher er den grauen Mauern kam, desto stärker; es waren die gleichen Schmerzen, die ihn befallen hatten, als das Mädchen mit ihrem Bündel unter dem Arm den Hof verlassen hatte, und die er sonst nicht kannte. Hatten sie sich versündigt, als sie, getaufte Christen, dem Mädchen den Namen einer heidnischen Göttin gaben. Der Pastor hatte, als er Laima ins Register eintrug, den Federkiel so hart ins Tintenfass getunkt, dass die Spitze umbrach, und erst drei Mastenten hatten die Furchen seiner Stirn geglättet. Der Herr aber hatte an dem Mädchen gerade ihres Namens wegen Gefallen gefunden und manches Gute an ihr getan. Und der Herr war doch wohl kein schlechter Christ?

Der Schmerz zog sich in den Arm bis zum Ellenbogen hinab, kehrte zurück in die Brust, erschwerte das Atmen; die Beine ließen sich nur mit Mühe bewegen, der Schnee knirschte unter den Füßen unnatürlich laut. Vielleicht wäre dem Bauern Janis noch mehr bange geworden, wenn er geahnt hätte, dass er zu einer so schlechten Zeit nach Riga zog.

Während er nach Luft schöpfte, fiel ihm ein, dass heute der zweite Weihnachtstag war. Er hätte erst nach dem Fest zu gehen brauchen. Aber an Feiertagen kam ihm das Haus, in dem die Frau fehlte, doppelt leer vor, wenn auch die fünf Kinder, die ihm von elf geblieben waren, kaum darin Platz fanden. Vor dieser Leere war er geflohen, die vier jüngeren Kinder hatte er bei Nachbarn untergebracht, der fünfzehnjährige Aivar hütete den Hof und versorgte das Vieh.

Der Vetter hatte gestern Abend bedenklich den Kopf geschüttelt, ihm aber doch die Schütte Stroh nicht verweigert. Spät abends dann, als er wohl glaubte, dass Janis fest schliefe, hatte er mit seiner Frau geflüstert. Unwillkürlich hörte Janis hin, verstand aber nur wenige Worte. Anscheinend überlegten sie, ob sie Janis nicht lieber zurückhalten sollten; es ginge das Gerücht, dass es in der Stadt Ärger gäbe wegen des Festes, und das Volk schimpfe laut auf seine Herrschaft. Am Morgen mochte er nicht danach fragen, er schämte sich, gelauscht zu haben, und da der Vetter kein Wort sagte, meinte er, es könnte wohl so schlimm nicht sein.

Jetzt aber, unter den Schmerzen, fielen ihn die schwarzen Gedanken wieder an. Laima diente ausgerechnet bei einem Bürgermeister, dem höchsten Herrn der Stadt also, den der Zorn zuerst traf.

Mein Gott, sagte er sich, sie schimpfen und hören auch wieder auf. Wer hatte niemals einen Zorn auf seinen Herrn! Wenn drei Bauernburschen zusammensaßen und Bier tranken, fluchten sie lästerlich auf den Ritter, schworen, aufs Schloss zu ziehen und alle Deutschen zur Hölle zu schicken, den Pastor voran. Wenn’s hoch kam, schnitten sie sich Eichenprügel zurecht und suchten wohl auch die Kiefer aus, die den Strick tragen sollte. War aber der Rausch verflogen, zerhackten sie die Knüppel zu Ofenholz.

Offener Aufruhr? In alten Zeiten sollte es das gegeben haben, die Großmütter hatten es von ihren Großmüttern gehört. Da wären Bauern ganzer Komtureien mit Äxten, Sensen und Forken vor die Burgtore gezogen. Aber die Ritter hatten sich in Eisen gegürtet, ihre Knechte aufgestellt und mit Schwert und Spieß eine blutige Mahd begonnen. Ein Wunder, dass jemand überlebte und die Dörfer sich immer wieder mit Bauern füllten!

Diese Geschichten kannten die Großmütter der Bürger wohl auch, ihr Zorn würde aufflammen und verrauchen wie das Johannisfeuer, zumal sie wahrlich weniger Grund zur Unzufriedenheit hatten als die Bauern. Janis konnte sich nicht vorstellen, dass die in der Stadt so ärmlich lebten wie sie auf dem Lande. Davon hätte man hören müssen. Vor allem glaubte er nicht, dass seine Laima, dieses sanftmütige, fleißige Mädchen, bei dessen Anblick jedermann das Herz aufging, je Not leiden oder dass ihr irgendein Ungemach geschehen könnte.

Wenn es sich in der Stadt wirklich so arg leben ließe, hätte der Herr sie nie dorthin in den Dienst gegeben. Er kannte sich aus in der Stadt, verbrachte er doch gewöhnlich die Wintermonate in Riga, der Gnädigen wegen, die vom Anblick verschneiter Felder ihre Zustände bekam. Im letzten Herbst aber war die Frau ins Ausland gefahren und hatte die beiden heranwachsenden Töchter mit sich genommen, nach Deutschland wohl, wo alle Tage die Sonne schien und zu jeder Mahlzeit Braten und Wein auf dem Tisch standen. Auf blank geputzten Steinstraßen scharwenzelten bunt gekleidete Kavaliere, unter denen sich die Fräuleins ihre Zukünftigen auswählen konnten.

Der Herr aber war auf seinen Liegenschaften geblieben, hatte sich bei der Jagd den Fuß verstaucht, sodass er am Stock gehen musste, und vertrieb sich die Zeit damit, dass er die Knechte prügelte und die Mägde anschrie, obwohl er sonst ein gutmütiger, ja, ein guter Mensch war, ein besserer Herr jedenfalls als die, die auf den Nachbargütern saßen.

Zu Janis war der Herr eigentlich immer freundlich gewesen, auch zu den Kindern, besonders zu Laima, hätte er sie doch fast zur Taufe getragen, wäre nicht ausgerechnet an diesem Tage seine beste Stute von der Brustseuche befallen worden, sodass sie abgestochen werden musste. Da war ihm der Tag verdorben gewesen, was man wohl verstehen konnte, denn er hatte sehr an dem Tier gehangen. Aber er ließ ein Viertelfässchen Braunbier anfahren und schenkte dem Mädchen später jedes Jahr zum Namenstag sechs Halbpfennigstücke. Nein, der Herr hätte das Mädchen nie in die Stadt geschickt, wenn ihr dort auch nur der Schatten eines Leides drohte.

Freilich, genau wusste Janis nicht, wie seine Tochter lebte in der Stadt, was sie ihrer Herrschaft auf den Tisch stellte und was sie selber essen durfte, ob die Hausfrau schalt, wenn ein Krümelchen Salz an der Suppe fehlte, ob der Herr sie in den Hintern kniff, wenn er betrunken nach Hause kam, ob seine Söhne ihr nachstellten, seine Töchter mit ihr zankten, wie sie sich mit den andern Mägden vertrug. Gab man ihr genügend frisches Bettstroh, schlief sie in der Küche hinter dem warmen Herd oder in einer zugigen Bodenkammer? Und ob sie wohlig lächelte, wenn einer der Stadtburschen hinter ihr herpfiff, na das wohl nicht, sie war ja man erst siebzehn geworden.

Sie hatte nie geschrieben, diese Kunst verstand sie nicht. Selbst wenn sie sie in der Stadt erlernt haben sollte, würde sie nicht schreiben. Sie wusste, er konnte nicht lesen, und mit dem Brief zum Pastor zu gehen, wäre ihm zu genierlich gewesen.

Kehrte der Herr im Frühjahr aus der Stadt zurück, brachte er Grüße von ihr mit. Es ginge ihr gut, ließ sie sagen, sie brauchten sich keine Sorgen zu machen. Das war nicht viel, aber er konnte beruhigt schlafen.

Der Herr, dem sie diente, hieß Bergen; den Namen hatte er sich fest eingeprägt. Er durfte ihn nicht vergessen, wie sollte er sonst seine Tochter finden. Er könnte nicht in jede Küche schauen, damit wäre er bis Ostern nicht fertig. Es hatte wohl auch wenig Sinn, nach einem Mädchen Laima zu fragen, so selten war der Name nicht. Und in Riga gab es mehr Häuser als Ameisenhaufen im Kiefernwald.

Der Herr hatte ihm den Weg in die Stadt beschrieben. Wie es aber hinter den Mauern aussah, davon konnte sich Janis keine Vorstellung machen. Der Herr hätte drei Tage und drei Nächte auf ihn einreden können und ihm damit doch nicht geholfen. Aber er wusste den Namen, würde fragen, so viel Deutsch brachte er zusammen, und wenn dann einer mit dem Arm in die Richtung wies, danach gehen und wieder fragen, bis er das rechte Haus fand. Vielleicht traf er auch einen guten Menschen, der ihn an die Hand nahm und zum Bürgermeister hinführte.

Die Stiche hatten zwar nachgelassen, aber er spürte sie noch immer, dazu fühlte er sich erschöpft, als hätte er Tag und Nacht Dung geladen. Das kommt vom Hunger, sagte er sich.

Er war gewohnt, den Tag mit einer kräftigen Mahlzeit zu beginnen. Heute aber war er vom Tisch aufgestanden, ohne auch nur halb gesättigt zu sein. Dem Vetter, der vor einigen Jahren beim Strohstaken aus dem Scheunenfach gefallen war und davon ein steifes Knie zurückbehalten hatte, kam es schwer genug an, für seine neunköpfige Familie Brot und Zubrot heranzuschaffen, wenn er auch vor dem Gast tat, als lebte er in Gottes Ohr.

Als Janis seine Reisezehrung aus dem Beutel nehmen wollte, hatte der Vetter das beleidigt zurückgewiesen. Also blieb nichts anderes übrig, als nach wenigen Bissen Sättigung vorzutäuschen; sein Brot schmeckte auch unterwegs. Das hatte er aber, mit den Gedanken schon in Riga, dann vollkommen vergessen.

Ein kalbsgroßer Findling, von dessen abgeflachter Oberseite der Wind den Schnee fortgeblasen hatte, lud zum Sitzen ein. Janis nahm den Beutel von der Schulter, zog Brot und Speck heraus, schnitt kleine Stücken davon ab und begann zu kauen. Ein schweres Leben hast du, Bauer, dachte er, aber wenigstens satt zu essen, solange dir Gott Gesundheit und Kraft schenkt.

Die Kälte des Steines drang durch den derben Stoff seiner Hose. Er stand auf und aß im Gehen weiter, aber der ausgefahrene Weg war zu holprig, noch dazu schneeglatt, Janis musste achtgeben, dass er sich nicht mit dem Messer verletzte, er steckte es lieber weg und packte auch Brot und Speck wieder ein.

Ob der Bürgermeister Bergen in einem Schloss wohnte wie sein Herr? Die Stadt zählte wohl tausendmal mehr Seelen als die Gutsherrschaft, also musste der Stadtherr auch ein weit größeres Haus besitzen, vielleicht eins, in dem man zwölf Dutzend Kühe einstallen konnte oder noch mehr. Aber das tat der Herr von Bergen gewiss nicht. Es wäre auch schade um die holzgetäfelten Wände und den blank gescheuerten Fußboden. Und dann: Woher sollte man in der steinernen Stadt das Grünfutter für so viel Vieh nehmen!

Nein, das große Haus war nur für die Menschen bestimmt. Jeder in der Familie lebte in einer eigenen Kammer, Küchen gab es vielleicht für jede Speise eine andere und Badestuben so viele, dass man drei uralte Kiefern fällen musste, wollte man alle zugleich heizen. Janis brauchte nur schnurstracks auf das größte und prächtigste Gebäude der Stadt zuzugehen, dann konnte er die Tochter nicht verfehlen.

Schon glaubte er, er müsste vor all dem Glanz und all der Pracht die Augen schließen, damit er sie nicht verblendete, wenn er das Haus betrat, da befiel ihn wieder die Furcht: Musste ein solcher Reichtum nicht den Neid der Umwohner erregen? War das, wovon der Vetter mit seiner Frau geflüstert hatte, doch mehr als ein Gerücht? Janis kannte die Bürger nicht. Vielleicht waren sie eine andere Art Menschen, deren Wut unermesslich und wild ist wie das Meer. Und wenn sie auf ihre Herren losgingen, verschonten sie die Diener?

Nein, sicher waren es andere, die den Zorn des Volkes erregten, nicht dieser Bergen. Schließlich waren nicht alle gleich. Zwar konnte man nach guten Herren und Pferden lange suchen, aber es gab schon einige, mit denen sich umgehen ließ.

Über seinen eigenen Herrn konnte er jedenfalls fast nur Gutes sagen. Der Ritter war sogar von selbst darauf gekommen, dass Janis, nachdem ihm die Frau gestorben war, die Tochter in der Wirtschaft benötigte und dass die mutterlosen Kinder die Fürsorge einer weiblichen Hand brauchten. Ja, er hatte sogar angeboten, Laima könnte für zwei, drei Tage der Woche den Küchenmädchen im Schloss beibringen, wie man städtische Gerichte zubereite, sie sollte auch einen Extralohn dafür bekommen. Das war nun nicht so sehr nach Janis’ Sinn, aber er hatte seine Bedenken für sich behalten. Warum den Herrn verärgern. Wenn die Tochter erst zu Hause war, würde man schon sehen.

Und der Herr hatte ihm einen Brief für den Bürgermeister mitgegeben, damit der wusste, dass alles seine Richtigkeit hatte. Das Papier hatte sich Janis ins Futter des Rockes genäht, mit groben, aber festen Stichen, und sich dabei dreimal die Nadel in die Fingerkuppe gejagt. Ihm fehlte eben das Geschick für Frauenarbeit. Er blieb stehen und fühlte nach. Gott sei Dank, das Blatt stak noch an seiner Stelle, nicht auszudenken, dass er es verlor.

Mit jedem Schritt wuchsen die Türme der Stadt höher auf, manche rank wie Tannen, andere behäbig wie uralte Eichen. Auf den Spitzen trugen sie Kreuze und Wetterhähne, die aufleuchteten, wenn ein Sonnenstrahl sie traf, als wären sie aus purem Gold wie der Heiligenschein des Jesuskindes. Wie prächtig mussten sie erst drinnen ausgestaltet sein, nicht so ärmlich wie die niedrige Holzkirche daheim, die sich frierend an den Sandhügel duckte.

Die Nähe des Zieles gab seinen Beinen, in denen er immer mehr die Länge des Weges spürte, neue Kraft. Oder trieb ihn die Kälte schneller vorwärts, die Hoffnung, sich wenigstens für eine halbe Stunde an irgendeinem flackernden Herdfeuer aufwärmen zu können? Oder die Freude auf das Wiedersehen?

Zugleich wuchs die Beklemmung, die ihm den Atem benahm. Angst vor den vielen Menschen, der Enge der Straßen? Oder bangte er, seine Tochter nicht so vorzufinden, wie sie das Elternhaus verlassen hatte?

Da war er nur noch einen Steinwurf vom Tor entfernt. Das Tor kam ihm vor wie ein lockerer Deckel auf einem Riesenkessel mit brodelnd heißer Brühe, wenn man ihn anhob, schwappte sie über.

Ein heftiges Leibschneiden fiel ihn an. Wenn er sich doch hinter irgendeinem Gebüsch erleichtern könnte! Er schaute sich um. Der Wald lag weit hinter ihm, und in der Nähe sah er weder Baum noch Strauch. Aus den Luken des protzigen Turmes drängten sich neugierige Gesichter. Wie würden die Stadtleute über den Bauern lachen!

Er nahm allen Mut zusammen und betrat die Brücke, die über den Wallgraben führte. Die von Schnee befreiten Bohlen glänzten tückisch glatt. Wenn die Wächter jetzt die Stricke anzogen, die das Holzwerk hielten, würde er, erst langsam, dann immer schneller, unaufhaltsam hinunterrutschen und durch die dünne Eisdecke in das schwärzliche Wasser stürzen.

Die Seitenpforte stand offen. Niemand hielt ihn auf, keiner fragte nach Woher und Wohin, man nahm überhaupt keine Notiz von ihm. Die Leute, die da herumstanden, mitten auf der Straße, vor den Haustüren, an den Ecken, hatten mit sich selbst zu tun. Sie steckten die Köpfe zusammen und redeten aufeinander ein, flüsternd fast, und immer wieder sah sich einer um, als fürchteten sie sich vor heimlichen Lauschern.

Da war er also mittendrin in dem brodelnden Kessel, der kochte jetzt, bis die Suppe gar war.

Er wollte keine Stunde länger als nötig bleiben. Nur recht schnell die Tochter finden. Hoffentlich hielt sie sich aus allem heraus, das war immer das Klügste. Er schaute hierhin und dorthin, nein, Weibsbilder entdeckte er nicht. Da atmete er auf. Weiber gehörten in die Küche, hier wie überall.

Vier Straßen gingen ab von dem Platz hinter dem Tor. Zwei führten am Mauerring entlang, die beiden andern ins Innere der Stadt, vielleicht zum Markt, wo das große Haus stand, das er suchte, das aber von hier aus nicht zu sehen war. Kamen in diesen engen Gassen denn zwei beladene Fuhrwerke aneinander vorbei?

Richtige Hohlwege, so tief in die Häuserreihen gegraben, dass bestenfalls am Johannistag ein paar Sonnenstrahlen die unteren Fenster erreichten. Wie eingemauert kam er sich vor. Er konnte kaum atmen.

Alles Gewohnheit, sagte er sich, um sich Mut zu machen. Der Herr kam ja auch immer wieder gesund aus der Stadt zurück, und Laima lebte hier schon länger als zwei Jahre. Sie musste blass geworden sein in dieser stickigen Luft.

Er wollte nach dem kürzesten Weg fragen, aber wen? Die Leute schienen nicht dazu aufgelegt, einem Fremden Auskünfte zu geben. Zwei Männer, die mit gekreuzten Armen an einer Hauswand lehnten, bedächtig die Köpfe wiegten und schwiegen, schienen seine Frage nicht zu hören. Sie sahen über ihn hinweg, als gäbe es ihn gar nicht.

Eine Gruppe junger Burschen, heftig gestikulierend, kam die Straße herab. Er verstand ein einziges Wort: „Jesuiten!“, und der es aussprach, spie Janis vor die Füße. Erschrocken trat er zur Seite.

Hielten die ihn für einen Mönch? Danach sah er wirklich nicht aus in seinem dicken, groben, geflickten Kittel, den derben, nicht mehr ganz sauberen Hosen, den selbst geschusterten Stiefeln mit Holzsohlen, auf dem Kopf trug er eine Ziegenfellmütze, die warme Seite nach innen, und sein zerzauster Bart passte auch nicht zu einem Heiligen. Eher konnten ihn die gut gekleideten Bürger für einen Strauchdieb halten.

Ein einziges Mal hatte er einen der eifernden Brüder gesehen, der ins Dorf gekommen war, um die Bauern zu bekehren. Der Pastor hatte ihm die Kirche versperrt und jedem, der dem Sendboten Roms auch nur von fern zuhören wollte, mit ewiger Höllenpein und dem wütenden Zorn des Herrn gedroht. So hatte der Kahlkopf den Fröschen im Teiche, den scharrenden Hühnern und den schilpenden Spatzen gepredigt, und kein Mensch erfuhr, ob er diese heidnischen Geschöpfe für seinen Glauben gewann. Im letzten Sommer, an einem Freitag war das gewesen, er, Janis, hatte bis in den späten Abend Heu eingefahren, weil die Ameisen am Waldrand eine Unruhe zeigten, die auf Regen deutete. Tatsächlich hatte es in der Nacht gedonnert und geblitzt wie selten. Daraufhin erklärte der Pastor in seiner nächsten Sonntagspredigt, unser Herr Jesus zürne, weil man den landfremden Ketzer nicht mit Stöcken und Ruten über die Grenzen der Gemarkung gejagt habe, wer auch nur drei Wörtchen angehört habe, den werde vorzeitige Harthörigkeit heimsuchen, wer ihn länger als zwei Atemzüge angeschaut habe, den werde der Herr mit Schielsichtigkeit schlagen.

Janis hatte ihn nur aus der Ferne gesehen, war auch nicht neugierig gewesen, überdies glaubte er weder den Versprechungen des einen, noch den Drohungen des andern. Er tat seine Arbeit, das war genug für diese Welt, über die spätere machte er sich wenig Sorgen. Man würde sehen.

Der Mönch hatte wie ein Weib einen langen dunklen Kittel getragen, dessen Saum im Schmutz des Weges schleifte; von Weitem hatte man nur an dem geschorenen Schädel erkannt, dass ein Mann darin steckte. Ihn mit einem solchen Kerl zu verwechseln, nein!

Links bog eine noch engere Gasse ab, aus den oberen Fenstern konnte man sich über die Straße die Hand reichen. Einen Augenblick Luft holen, der Unruhe entfliehen, ein Mauseloch, darin er sich verkriechen konnte.

Aber auch da war keine Ruhe. Vermummte, die sich an die Häuserwände drückten. Metallenes Klappern hinter den Türen. Kochtöpfe oder Waffen? Aus einer Toreinfahrt hörte er gar lettische Worte: „Geschieht den Herren recht, dass man sie prügelt. Die Lettische Kirche den Jesuiten zu geben! Kommt auf den Markt!“

„Das sollen die Deutschen unter sich ausmachen!“

„Aber die Katholischen, Polen!“

„Prügelt eine Haselrute anders als die Birkengerte?“

„Die Jesuiten versprechen …“

Mehr verstand er nicht, eine Tür wurde zugeschlagen, ein Hund bellte kurz auf, dann schrie ein Kind. Eigenartig, dass sich Kinderweinen in allen Sprachen gleich anhört!

Versprechungen der Jesuiten waren auch ihm zu Ohren gekommen. Am Drupaner See, der so leergefischt war, dass sich nicht einmal mehr ein Kaulbarsch im Netz verfing, hatten die Jesuiten den Fischern gesagt, sie sollten sich nur katholisch taufen lassen und der Jacobikirche in Riga ein silbernes Fischlein von der Länge einer Handspanne schenken, dann würden die Hechte von selbst auf den Haken beißen, sie brauchten nicht einmal einen Wurm aufzustecken, und die Reusen füllten sich prall mit Barschen, Karauschen und sogar mit Karpfen, sodass drei kräftige Männer Mühe hätten, sie zu heben.

Die Fischer ließen sich bekehren, brachten auch mit einiger Not das Silber auf, doch Angeln und Netze blieben nach wie vor leer. Die Jesuiten aber lamentierten, die Drupaner hingen dem neuen Glauben nicht mit dem rechten Ernst an; sie sollten nur fleißig beten und dem Opferstock mehr und reineres Silber bringen, dann würde sich Gott ihrer erbarmen.

Janis war es gleich, ob er römisch oder lutherisch betete; es war doch wohl derselbe, der einzige Gott. An mehrere Götter glaubten nur die Heiden, wie es die Vorfahren gewesen waren. Aber auch die Vielzahl hatte ihnen nicht geholfen gegen die Fremden, und weder dieser noch jener Gott nahm dem Bauern die Arbeit ab. Also mochte der Ritter entscheiden, wie zu beten war. Dafür war er der Herr; man musste ja doch tun, was er bestimmte.

Die Bürger aber lehnten sich gegen ihre Oberen auf. Ach, mochten sie doch tun, was sie wollten, sich die Röcke zerfetzen, in die Ohren beißen, sich gegenseitig an den Füßen aufhängen, bis ihnen das Blut aus der Nase lief. Wenn nur Laima nichts geschah! Wäre er doch nur erst bei ihr!

Aus der Gasse an der Mauer brach lärmend ein Trupp Bewaffneter hervor, schloss das Tor, verriegelte es und stellte sich, die Spieße drohend in der Hand, davor auf. Niemand konnte hinein oder hinaus. Er wollte hinzulaufen, schreien: Ich muss doch wieder nach Hause, kann in der Stadt nicht atmen! Aber er stand, als wäre er am schmutzigen Schnee des Rinnsteins festgefroren. Als ihm wieder klare Gedanken zuflossen, sagte er sich: Lieber nicht auffallen, nicht in die Händel der Bürger mischen! Er hatte seine Tochter heimzuholen und weiter nichts. Dazu musste er den Bürgermeister finden, bevor die Leute aufeinander einschlugen und in ihrem Zorn nicht achteten, wohin sie trafen.

Er ging auf gut Glück weiter, stapfte langsam und mit vorgebeugtem Kopf, die Füße vorsichtig auf den glattgetretenen und wieder überfrorenen Schnee setzend, durch den Hohlweg der Häuser. Nein, hier könnte er nicht leben, nicht einen Monat, keine Woche; ein Tag war schon zu viel. Daheim lagen die Gehöfte weit auseinander, jeder hatte seine Hütte für sich gebaut, an manchen Tagen sah man den Nachbarn kaum. Man konnte frei atmen, fühlte sich nicht eingezwängt in einen Schweinekoben. Dass Laima diese Enge ertrug!

Aus einer bunt bemalten Haustür trat ein vornehmer Herr, dessen langer Mantel an Kragen, Taschen und Saum mit Pelz besetzt war. Er sah sich um, gewahrte die Stadtknechte am Tor, lächelte und schloss sorgfältig die Tür hinter sich. Wenn nicht der, wusste keiner, wo des Bürgermeisters Haus stand.

„Will gnädiger Herr freundlich sagen, wo wohnt gnädiger Herr von Bergen?“

Der Angesprochene sah Janis erschrocken an. Die Bartspitzen zitterten, die Lippen öffneten sich und schlossen sich wieder, dann drehte er sich schnell weg und trat in den nächsten Torweg, dessen Pforte er hinter sich zuschlug. Janis hörte den Riegel kreischen.

Warum entfiel dem Mann das Herz, dass er fortlief? Hatte Janis etwas Verkehrtes gesagt, das vielleicht wie eine Drohung klang? Gewiss nicht. Er sprach nicht allzu gut deutsch, aber sein Herr hatte ihn immer verstanden und der Pastor auch. Also lag’s an seinem Aussehen. Merkwürdige Leute, einer hielt ihn für einen Mönch, der zweite für einen Landräuber! Und der dritte? Vielleicht für den König von Polen oder des Teufels Großmutter.

Ewig konnte er hier nicht stehen bleiben, und da sich die Gasse mit einer anderen kreuzte, wollte er lieber noch einmal fragen. Er sprach einen Mann, der ärmlich gekleidet war, also wohl ein Lette war, in seiner Muttersprache, an. Der aber fauchte: „Hier spricht man deutsch, Bauer!“

Endlich einer, der ihn für das ansah, was er wirklich war! „Bauer“, das Wort klang in ihm nach und wärmte ihn. Da erst ging ihm auf, dass der Mann ihn angefahren hatte. Und er wunderte sich, hatte er doch gemeint, alle Deutschen, wenn sie auch vielleicht nicht alle reich und von Adel waren, besäßen doch genug Mittel, sich vornehm zu kleiden, zumal am Feiertag. Dieser aber lief herum wie ein jüdischer Hausierer. Und hatte nicht einmal Auskunft gegeben, stolz wie ein Truthahn.

Eins der Häuser, das einzige gewiss in der ganzen Stadt, sah ein wenig verkommen aus. Der Giebel neigte sich vornüber, aus der leeren Luke baumelte ein zerrissenes Tauende, die Haustür, deren Farbe abgeblättert war, hing schief in den Angeln. Noch vor wenigen Augenblicken hätte er geglaubt, hier müssten arme, also gute Menschen wohnen, an die er sich wenden könnte, die ihm helfen würden. Nun aber, klüger geworden, ging er vorüber.

„Schau mal den da!“

„Woher hat sich denn die Krähe zu uns verflogen, wohl von hinter den Bergen!“

„Sucht sicher auf dem Weihnachtsmarkt nach gutem Erntewetter.“

„Bedaure, guter Freund, der Weihnachtsmarkt findet in diesem Jahre vorige Ostern statt. Riga lebt nämlich nach dem allerneuesten Kalender, da fallen Karfreitag und Himmelfahrt auf einen Tag.“

Er sah sich zaghaft um. Eine Rotte junger, fröhlicher Leute lachte hinter ihm her, große, kräftige Kerle darunter. Hatten die nichts anderes zu tun, als in .den Straßen herumzulungern? Was für ein Volk in dieser Stadt! Man spie vor ihm aus, beschimpfte ihn, und jetzt machte man sich obendrein über ihn lustig! Hätte der Herr nicht einen andern hierher schicken können; den Pastor zum Beispiel? Der wusste sich in der Stadt zu benehmen, an dem hob nicht jeder Hund das Bein.

„Unser hochedler Rat hat vorsorglich alles Wetter aufgekauft, das gute wie das schlechte, und verteilt’s nach seinen Bedürfnissen.“

„Wenn einer genügend Schillinge tanzen lässt ...“

„Der sieht mir nicht nach Schillingen aus.“

„Lass dich nicht von dem schäbigen Rock täuschen. Läuft manch einer draußen in Lumpen herum, und daheim schläft er statt auf Stroh auf Silber.“

„Ich wüsste ja, wo man mit einigem Geschick einen Posten Frühjahrsregen und Sommersonne haben kann. Soll ich ihm das Loch im Zaun zeigen?“

Immer näher kamen sie. Er beschleunigte seine Schritte, spürte aber gerade jetzt den langen Weg in den Beinen. Wohin nur ausweichen? In irgendeine Hofeinfahrt? Dort hetzten sie vielleicht einen wütenden Hund auf ihn. An der erstbesten Haustür klopfen? Unter welchem Vorwand? Da hörte er auch schon die schnellen Schritte dicht hinter sich. Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter.

„Bist fremd hier, Bauer?“

Janis nickte verwirrt.

„Schlechte Zeit für den Handel. Die Herren, die dir lohnende Preise für deine Mastenten oder Schweinslenden zahlen könnten, halten Tür und Tor versperrt. Das Volk aber, das auf den Markt strömt, will Giese hören. Komm mit, er hat auch den Bauern was zu sagen!“

Janis schüttelte den Kopf und sah den Sprecher an. War das einer der Spötter von vorhin?

Diese freundlichen klaren blauen Augen, das Lächeln in den Augenwinkeln! Nein, das musste ein guter Mensch sein. In Augen kannte Janis sich aus, sogar in Tieraugen. Wie die Bauern an den Zähnen das Alter der Pferde erkannten, sah er in den Augen der Tiere den Charakter.

Auch die andern hatten aufgehört ihn zu verspotten. In seiner Freude, endlich einen Menschen getroffen zu haben, der ihm weiterhelfen würde, hätte er fast vergessen, dass man ihn vorhin belehrt hatte: „Hier spricht man deutsch“, rechtzeitig besann er sich, und er suchte nach passenden Worten. Doch die wollten ihm nicht einfallen, sein Kopf war leer wie ein gefegter Scheunenflur. Endlich brachte er stotternd hervor: „Bürgermeister, was heißt ...“

Sein Krächzen ging unter im Lärm einer anderen Gruppe, die aus einer Quergasse zu ihnen stieß. „Nieder mit den Herrn!“, schrien sie so laut, dass es weit durch die Straße hallte, vielleicht bis ans Tor, wo die Spießknechte standen.

„Bürgermeister ...“, versuchte Janis es noch einmal, aber niemand hörte es, auch nicht der freundliche junge Mann.

Die Ankommenden brachten Neuigkeiten mit: „Hunderte von Bauern aus Kurland und Livland ziehen heran.“

Mein Gott, die Bauern auch? Seit Menschengedenken hatten sie stillgehalten, ihrer Obrigkeit untertan, und sie ließen ihr ihren Frieden. Wo aber einer die Hand erhoben hatte gegen seinen Herrn, blieb so viel von ihm wie von einem Regentropfen im Dünensand. Jetzt aber ballten sie sich zusammen zu einer schwarzen Wolke. War das nicht das Zeichen, dass die sieben Donner reden würden und die sieben Wasser hinwegschwemmen ein jegliches Stück Land?

„Für wen sind sie denn die Bauern, für die Jesuiten oder für uns?“

„Der Rat hat alle Tore schließen lassen und Stadtknechte davorgestellt. Niemand kann herein oder hinaus.“

„Auch die Bauern nicht?“

Niemand herein oder hinaus! Das hallte in ihm nach, und es klang wie in einem dumpfen Kellergewölbe. Muss darinnen bleiben wie der Hecht in der Reuse. Oder gab es vielleicht doch eine lockere Masche, durch die er schlüpfen konnte, eine schmale Mauerpforte, die man zu schließen vergessen hatte? Ach, nicht nur er, auch Laima musste hinaus. Und er wusste noch immer nicht, wo er sie fand.

Zum dritten Mal versuchte er, seine Frage anzubringen. Diesmal kam er gar nicht dazu, den Mund aufzumachen. Inzwischen hatten sich so viele Leute hinzugedrängt, dass man kaum noch treten konnte. Alle redeten durcheinander, man verstand kein Wort, als quakten sie wie die Frösche im Teich. Plötzlich setzten sie sich in Bewegung, Janis wurde mitgeschoben, ob er wollte oder nicht.

„Zum Markt, zum Markt! Giese spricht.“

Der Name sagte Janis nichts. Er hörte ihn heute zum ersten Mal. Was scherte ihn dieser Unbekannte, der so eine Art Pastor der Unzufriedenen sein mochte und der, weil man ihm die Kirchen verschloss, seinen Anhängern unter freiem Himmel predigte wie damals der Jesuit den Enten und Spatzen. Er aber wollte nichts als seine Tochter finden und fortbringen aus diesem Sodom, in das der Herr seine Blitze schleuderte.

Er mochte keine langen Reden. Ein kurzes Wort und ein langes Ende Wurst, hatte sein Vater immer gesagt, damit kommt man gut über den Sonntag. Und auch Janis hielt es so.

Er sah sich nach dem freundlichen jungen Mann um, aber man hatte sie auseinandergedrängt. Janis gebrauchte die Ellenbogen, erntete auch selbst manchen Puff und manchen Stoß, schob sich aber doch näher, sodass er ihn am Ärmel zupfen konnte.

Der strenge Blick, der ihn traf, erschreckte ihn, aber in der Stimme schwang noch immer Wohlwollen. Dafür hatte Janis ein feines Gehör. Wer sich sein Leben lang nach Herrschaften richten muss, die in einer fremden Sprache reden, der achtet nicht nur auf das, was, sondern auch darauf, wie gesprochen wird.

„Zittern dir die Knie, Bauer? Keine Bange! Wir sind unserer mehr, hundertmal mehr. Schickt der Rat seine Knechte, nehmen wir ihnen die Spieße fort und dreschen mit den Schäften auf sie ein.“

„Meine Tochter ... Dienstmagd bei Bürgermeister.“

„Bei wem?“

„Bürgermeister Bergen!“

„Das ist der Rechte! Sag’s Giese, der wartet nur auf solche Fälle, konkrete Tatsachen, verstehst du?“

Janis aber verstand kein Wort. „Soll nach Haus!“

„Will er sie nicht gehen lassen? Wir zwingen ihn. Ist wohl ein dralles Ding, was? Das kenne ich, hab’s mit eigenen Augen angesehen, nein, nicht deine Tochter, in einer anderen Stadt war’s, jenseits des Meeres, aber das ist überall gleich. — He, du, remple nicht! Der Markt ist groß genug, da finden alle Platz, und Giese hat ein Organ, das hörst du noch auf dem Friedhof der Petrikirche. — Ja, Bauer, die großen Herrn halten sich gern Dorfmädchen, weil die, aus Angst oder weil man es ihnen so eingebläut hat, die ekelste Arbeit nicht scheuen, jede Laune ertragen und sich noch bedanken, wenn man ihnen mit der Hand übers Knie fährt. Aber damit ist Schluss jetzt. Giese schafft in Riga Ordnung und Recht für jedermann, auch für die Armen.“

Die Nachdrängenden schoben stärker. Irgendjemand stieß Janis in die Kniekehle, unbeabsichtigt gewiss. Er stolperte, hielt sich an einer fremden Schulter, die ihn unwillig abschüttelte; wie betrunken taumelte er, und als er endlich wieder fest auf den Füßen stand, sah er seinen jungen Freund nicht mehr, konnte ihm kein Wort von dem Brief seines Herrn sagen, ihn nicht fragen, ob er ganz genau wusste, dass Bergen so einer war, der die Mädchen quälte und ungehörige Dienste von ihnen verlangte. Der Ritter hatte nie von solchen Sachen berichtet, und Laima hatte immer nur bestellen lassen, es ginge ihr gut, nicht einmal eine Andeutung einer Betrübnis war ihm zu Ohren gekommen. Wollte sie ihn vielleicht nur beruhigen, schämte sich vor ihrem Vater?

Er hörte nicht mehr, was seine Nebenleute sprachen; ein Summen war in seinen Ohren wie von vielen Schwärmen Hummeln. Er sah nichts mehr in dem Nebel vor seinen Augen, nahm nicht die geschmückten Giebel der vielstöckigen Häuser wahr, nicht den behäbigen Turm der Marienkirche, nicht den schlanken Peter. Den vielleicht doch, er wusste es nur nicht. Der goldene Wetterhahn oben auf der Spitze des Turmes fing einen flüchtigen Sonnenstrahl, blinkte auf und krähte:

Denn das sind die Tage der Rache, da erfüllet werde alles, was geschehen ist.

Die Tratschereien der Dorfweiber fielen ihm ein. Das Mädchen, hatte es geheißen, werde in der Stadt von einem Unglück ins andere schlittern und Schimpf und Schande auf sich selbst, auf Vater und Mutter und das ganze Rittergut häufen, einen Bastard werde sie anschleppen und eine ekle Krankheit dazu. Dutzende von Beispielen wussten ihre Schlangenzungen zu zischeln, Vipern, die sie selbst ausgebrütet hatten. Janis hatte nie gehört, dass eines der Dorfmädchen aus der Nachbarschaft nach Riga verschlagen worden sei.

Zuerst hieß es, köderten die Herren die Mädchen mit wertvollen Geschenken, seidenen Kleidern mit Pelzbesatz oder silbernen Kettchen mit glitzernden Steinen daran. Hatten sie sie dann an der Angel, warfen sie sie bald in die Gosse, und die Ärmsten mussten froh sein, wenn sie einer für einen Teller Suppe auflas aus dem Schmutz; zuletzt verfaulten sie lebendigen Leibes unterhalb der Stadtmauer. Und ein anständiger Bursche nahm ein Mädchen, das auch nur vierzehn Tage in Riga gedient hatte, niemals als eheliches Weib, ein Bauernbursche schon gar nicht.

Es war doch Weihnachtstag, warum krähte der Hahn Unheil und nicht: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen?

Dummes Gerede, hatte Janis immer gedacht, neidisch sind sie, weil sie ihr ganzes Leben nicht weiter herumkommen, als die Kirchenglocke zu hören ist. Das Mädchen ist kein Fisch, der nach jedem Wurm schnappt. Laima war immer ein gutes und auch frommes Kind, das wusste, was sich gehört.

Und auch nicht alle Herren waren so schlimm, wie man ihnen nachredete. Mochte der junge Mann etwas mit eigenen Augen gesehen haben, was es war, hatte er ja nicht erzählt, das geschah in einem fremden Land, wer wollte sich mit den dortigen Sitten auskennen! Janis jedenfalls wusste, in jedem Stand gab es so viele gute wie schlechte Menschen.

Der Trupp kam langsamer voran. Janis stellte sich auf die Zehenspitzen. Menschen über Menschen vor ihm. Sie konnten nicht mehr weit vom Markt sein oder hatten ihn schon erreicht.

Wieder stieß ihm jemand so in den Rücken, dass er fast hingeschlagen wäre. Da sah man es, auch unter dem einfachen Volk gab es genug ungehobelte Menschen. Aber auf die Herren schimpfen!

In diesem Augenblick fiel ihm ein, dass auch sein Herr, unter dem es sich doch ganz erträglich leben ließ, beim Anblick eines jungen Mädchens Jägeraugen bekam, und wenn eins verheiratet werden sollte, gab er seinen Konsens erst nach einer sorglichen Prüfung ihrer Tauglichkeit. Freilich, so hielten es alle Herren der Landschaft, das war üblich so von alters her, die Mädchen wussten, was sie erwartete, und kein Mensch verlor ein Wort darüber. In den Städten herrschte wohl dieselbe Sitte, aber Laima war ja nicht zum Heiraten hierhergekommen, also blieb ihr die Prüfung erspart.

Der Zug staute sich endgültig. Da war kein Vorankommen mehr, und doch drängte und schob man von hinten nach. Janis stand schon so eingezwängt, dass er kaum noch atmen konnte. So mussten sich Roggenhalme fühlen, wenn Frauenhände sie zu Garben banden; da fehlte nur noch der Flegel, der auf sie eindrosch.

Und ein Lärm erfüllte die Luft, obwohl doch niemand schrie oder auch nur laut sprach. Die vielen Leute, der Platz, ein riesiger Trichter, der alle leisen Worte auffing, verstärkte und brach. Das war ein Gesumme, als fochten alle Bienen, Hummeln und Hornissen Livlands und Kurlands eine Feldschlacht miteinander aus.

An diesem Platz, dem größten der Stadt und wohl in ihrer Mitte gelegen, stand bestimmt das Haus des Bürgermeisters, wo, wenn nicht hier. Er reckte den Hals, um nach einem Giebel, der die andern überragte, auszuschauen und sich dann in die Richtung durchzudrängen. Wo alle die Ellenbogen gebrauchten, konnte er das auch tun. Er war nicht gerade klein, aber wie er sich auch streckte, er stand so eingekeilt, dass er nicht mal eine Wetterfahne zu sehen bekam. Sich auf die Zehen zu stellen, wagte er nicht. Zu leicht konnte man ihn umstoßen, und wenn er hier zu Fall kam, tobte die Menge über ihn hinweg und zertrampelte ihn wie eine Kuhherde den Maulwurfshaufen.

Urplötzlich verstummte der Lärm. Alle wandten sich in eine Richtung, auch Janis. Ein Geraune: „Giese!“ Wieder dieser Name. Was war das für ein Mann, den die Stadt erwartete wie einen Heiland?

Dann hörte er die Stimme, eine weithin schallende Männerstimme, deren Klang sich aber nicht entnehmen ließ, ob der Sprecher alt oder jung war. Sehr jung konnte er nicht sein; auf einen Jungen hören die Alten nicht, die viel erlebt haben und deshalb alles besser wissen. Alt aber konnte Giese ebenfalls nicht sein. Alte Männer sind viel zu bedächtig und kurzatmig. Er wollte seinen Nebenmann fragen, aber der zischte: „Still! Still!“ und behielt den Mund offen, als fürchtete er, ihm könnte ein Wort entgehen, wenn er nur mit den Ohren hörte.

Janis verstand kaum etwas. Sein Deutsch reichte gerade für den Umgang mit dem Herrn, den Aufsehern und dem Pastor. Hier in der Stadt aber gab es so viele unbekannte Dinge, deren Namen er nicht wusste. Mit Mühe versuchte er die Worte, die ihm geläufig waren, und einige halb begriffene Sätze einzuordnen in das, was er kannte, von dem er gehört hatte, und es gelang ihm doch kaum zur Hälfte.

Er merkte auf, als der Name Bergen fiel. Als der Rat seinerzeit, unter Verantwortung des Bürgermeisters Kaspar tom Bergen die Stadt dem Könige Stephan von Polen übergeben habe, sei ausbedungen, dass die Bürgerschaft keiner ihrer Privilegien verlustig gehen solle und auf ewig beim Augsburgischen Glauben bleiben könne. Was aber sei geschehen? Die Jacobikirche habe man den Jesuiten gegeben, ohne Widerspruch des Rates, ein Jesuitencollegium errichtet, mit Duldung des Rates, statt der ausgehandelten zwei seien zwölf katholische Priester in der Stadt, und der Rat weise sie nicht aus. Ja, der Rat habe die Anwendung des katholischen Kalenders befohlen, feiere selbst katholisch und bedrohe jeden mit Strafe, der nach herkömmlicher Weise Sonntag und Alltag scheide.

„Nieder mit dem Rat! Nieder mit den Herren!“, schrie es aus der Menge in die Atempause des Redners hinein.

Das sei nicht alles. Während die Bürger darbten, lebten die Herren in Saus und Braus. Es sei aber bekannt, dass in diesen unruhigen Zeiten jedermanns Geschäfte schlecht gingen. Man müsse also schließen, dass einige der Ratsmänner auf städtische Kosten lebten, indem sie aus den Einnahmen der Gemeinde in die eigene Tasche wirtschafteten, sich an dem, was die fleißigen Bürger mit Mühe und Schweiß erarbeiteten, einen prallen Bauch anmästeten.

„Jagt sie davon, die Eke, Tastius, Bergen ...“ Die anderen Namen hörte Janis schon nicht mehr, so erschrak er.

„Und den Oberpastor auch!“

Er zwang sich, wieder dem Redner zuzuhören, aufmerksamer noch. Erfuhr er hier, was man ihm verschwiegen hatte?

Zum andern lebe der Mensch nicht allein, sondern auch unter andern Menschen auf Erden. Seine Werke müssten also daran gemessen werden, ob sie den Menschen dienten und nützten und Gottes und der Welt Gerechtigkeit entsprächen, zumal sei dies bei Ratsherren der Fall, die dazu bestellt seien, über Recht und Gesetz zu wachen und den Bürgern zu dem Ihren zu verhelfen. Damit sehe es aber schlimm aus in der Stadt, denn der Rat verfahre auch damit nach Gutdünken und zu seinem eigenen Vorteil. Man brauche sich nur an jenen betrügerischen Krüger Peter von Hamburg zu erinnern, der den ehrbaren Bürger Hans Dreyling, wie jeder wisse, auf listige und verbrecherische Weise um eine größere Summe Geldes gebracht habe. Zwar sei dieser Peter vor Gericht gezogen worden, habe auch ein Geständnis abgelegt, da er aber schnell den katholischen Glauben angenommen, habe ihm der Rat wider alles Recht die Kerkertore geöffnet und ihn laufen lassen.

„Werft sie selber in den Turm, die Herren.“