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1813. Der Befreiungskrieg gegen Napoleon bricht aus. Noch stehen die französischen Truppen in Deutschland. Willem Beggerow, ein pommerscher Bauernjunge, will seinen Vater rächen, der von streifenden "Musjes" erschossen wurde. Der Vater gibt ihm eine Tabakdose, die er von Scharnhorst erhalten hatte. Der General würde Willem eine Uniform und ein Gewehr geben. Doch der Gutsherr, Herr von Kerckow, will ihn nicht ziehen lassen. Willem flieht, schlägt einen Franzosen nieder, wird gefangen und soll erschossen werden. Das Mädchen Tine, dem Willem immer wieder begegnen wird, hilft ihm weiter. Mit einem Kosakentrupp erreicht er die preußischen Truppen, als eben eine schwere Schlacht tobt, in der Scharnhorst verwundet wird. Er kann Willem nicht helfen, übergibt ihn aber dem Generalmajor Gneisenau. Dem gefällt der kesse Junge, aber er gibt ihm keine Uniform und kein Gewehr; erst soll Willem lernen. Doch da kommt der Herr von Kerckow, der nun wieder seine alte Offiziersuniform trägt, ins Hauptquartier und will Willem, den Sohn seines Leibeigenen, als sein Eigentum zurückhaben. Doch der will seinen Vater mit der Waffe in der Hand rächen... LESEPROBE: Scharnhorst lehnte sich zurück. "Wenn es mir doch meine Gesundheit erlaubte, zu Pferd würde ich halb Europa durchqueren, wie weiland Karl XII. von Schweden." Hardenberg beeilte sich, die Kissen in seinem Rücken zu ordnen. Dankbar nickte ihm der General zu und sagte nachdenklich: "Ohne Österreich wird es sehr, sehr schwer werden. Preußen allein verfügt nicht über genügend Menschen und Mittel. Die russischen Verstärkungen überwinden zu langsam die Weite des Landes. Mit Österreichs Macht aber besäßen wir das Übergewicht. Und dann das Beispiel: alle deutschen Länder richteten sich daran auf und würden vom Feuer des Patriotismus erfasst, Sachsen, Bayern, Westfalen..." Hardenberg lächelte dünn. Eine leichte Röte überzog sein Gesicht. "Mein Freund sollte seine angegriffene Konstitution schonen. Es wäre besser, sich nicht den Strapazen des Feldzuges auszusetzen, sondern sich in einer weniger unter dem Kriege leidenden Landschaft zu kurieren. Man könnte an Böhmen denken, oder an Wien." "Ihr wollt mich tatsächlich nach Österreich schicken?" "Wenn einer den Kaiser Franz umstimmen kann, dann seid Ihr es, Scharnhorst, nur Ihr allein. Was davon abhängt, sagtet Ihr selbst. Ihr habt die stärksten Argumente, und Ihr wisst sie am überzeugendsten darzulegen. Meine Diplomaten..., ich weiß, der Herr General belieben zu scherzen:
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Seitenzahl: 247
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Heinz-Jürgen Zierke
Von einem, der auszog, Napoleon zu schlagen
ISBN 978-3-86394-258-8 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1975 bei Der Kinderbuchverlag Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung des Ölgemäldes "Die Schlacht bei Borodino" von Peter von Hess
© 2011 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com
Willem Beggerow kletterte hoch in das Fach der Scheune, wühlte sich eine Mulde und zog zwei, drei Garben über sich. Das ausgekühlte Stroh wärmte nicht. Durch die breiten Ritzen der Bretterwand blinzelten ferne Lichtpünktchen. Eine sternklare, kalte Frühlingsnacht.
Willem schloss die Augen und legte die Arme über das Gesicht, aber er fand keinen Schlaf. Der Wallach schnaubte leise, seine breiten Zähne mahlten die trockenen Halme.
Hunger. Der steinharte Kanten Graubrot, den Willem im Küchenschapp gefunden hatte, war längst bis auf den letzten Krümel verzehrt.
Und dann die Schmerzen! Die Oberschenkel brannten, als läge er in einem Ameisenhaufen. Seit dem frühen Vormittag ununterbrochen im Sattel! Wann hatte er schon mal reiten dürfen? Die lahme Stute, die zu Hause im Stall stand, hatte Mühe, den schartigen Pflug durch den Sandboden zu zerren. Der Vater hätte ihn mit der Lederpeitsche... Ach, der Vater! Er biss sich in den Arm, um nicht zu heulen.
Die Tabakdose, dachte er, ich darf sie nicht verlieren. Er knüpfte das metallene Schächtelchen in sein graues Tuch und stopfte es tief unten in die Tasche.
Er sah den Vater liegen, Stirn auf dem Unterarm, Oberkörper gekrümmt, Beine angezogen, die freie Hand hielt die Brust, wo die Kugel saß, ein stumpfes Stück Eisen aus einer französischen Muskete. Beim Sprechen lief ein dünner Blutfaden aus dem Mundwinkel.
"Zu Herrn von Kerckow - General Scharnhorst - die Tabakdose - Mutter - rächen!" Dann war der Kopf zur Seite gesunken, .die verkrampfte Faust löste sich, der Blutfaden trocknete.
Willem presste den Jackenärmel auf die Augen und erstickte die Tränen. "Rächen", hatte Vater gesagt, "zu Herrn von Kerckow!"
Am nächsten Morgen schon trugen sechs stämmige Burschen den Sarg aus ungehobeltem, ungebeiztem Kiefernholz zum Kirchhof. Der Pfarrer beschwor den Zorn Gottes auf den Landesfeind, die Männer senkten die Köpfe, und die Sargträger beschlossen, zur Armee zu gehen, ohne die Erlaubnis des Gutsherrn einzuholen. Willem entwand sich den jammernden Frauen, die den Elternlosen trösten wollten. Er holte den alten Wallach aus dem Verschlag hinter dem Schafstall und ritt davon, um dem Herrn von Kerckow zu melden, was geschehen war, und mit ihm gemeinsam Rache zu üben, Rache an den Franzosen. Willem für Vater und Mutter, der Herr für seine Pferde.
Krieg überzog Städte und Dörfer, wieder Krieg gegen die Franzosen, die seit sieben Jahren das Land besetzt hielten. Im letzten Winter, so hatte der Herr von Kerckow gesagt, hätten die Russen dem Franzosenkaiser heimgeleuchtet und ständen nun schon auf preußischem Boden. Da hätte der König den Zaren brüderlich umarmt und im Süden des Landes, unweit der böhmischen Grenze, seine Armee gesammelt. Aus allen Provinzen zogen junge Männer aus, um sie zu stärken.
Ob die Regimenter auch Kinder nahmen? Ach was, er war vierzehn und lang aufgeschossen, wenn er sich reckte und geradehielt, konnte man ihn fast für siebzehn halten.
Die Franzosen saßen in den Festungen, und ihre Streiftrupps nahmen den Bauern Korn und Vieh. Herr von Kerckow hatte, bevor er nach Hohenflieth davonfuhr, auf dem Familiengut eine flammende Rede gehalten, von der Not des Vaterlandes gesprochen, von dem glühenden Willen des Königs, das welsche Joch abzuschütteln, und er hatte den Bauern befohlen, das Gut zu hüten, als wäre es ihr eigenes. Sie hatten hurra geschrien und geschworen, mit ihrem Leben für Herrn von Kerckow und den König einzustehen. Mit ihrem Leben! Vater hatte den Schwur gehalten.
Die scharfen Halme kratzten und stachen. Willem warf sich herum, wühlte sich tiefer ein. Da spürte er Körner zwischen den Fingern, volle Ähren. Hatte der Besitzer der Scheune unter dem tauben Stroh gutes Korn versteckt? Wo gab es im Frühjahr ungedroschenes Getreide in den Dörfern? Er rieb die Ähren zwischen den Händen, blies Spreu und AcheIn fort und warf sich die Körner in den Mund. Sie sättigten nicht, aber er schlief darüber ein.
Gegen Mittag sah er zwischen den hügligen Feldern die weißen Häuschen des Dorfes Rosenow. Der schiefe Holzturm duckte sich ängstlich an das steile Ziegeldach der Feldsteinkirche. Nun wusste Willem: nur noch knapp zwei Stunden.
Die zerkauten Körner hatten ihn nicht satt gemacht. Ob er eine Bäuerin um ein Stück Brot bat? Er stieg ab, hob ein glattes Steinchen auf vom Wegrand und lutschte darauf herum, um seinen Hunger zu betäuben. Dann umritt er das Dorf auf dem Triftweg, der hinter den Gehöften entlangführte. Man konnte nie wissen, ob nicht Franzosen herumstreiften; im freien Felde konnte er leichter entwischen.
Aber das Kollern und Kneifen im Bauch hörte nicht auf. Der Wind wehte den Duft von gekochten Erbsen herüber. Ein Huhn gackerte. Willem schloss die Augen, sah einen ganzen Berg gekochter Eier vor sich, brauchte nur zuzugreifen. Wenn er wenigstens ein rohes gehabt· hätte! Er mochte das glibbrige Zeug nicht, aber jetzt... Schweine grunzten. Willem hielt sich die Ohren zu. Vor seinen Augen tanzten roter Schinken, zartweißer Speck und goldgelbes Brot. Sein Magen zog sich zusammen. Er konnte sich kaum noch im Sattel halten.
Auch das Pferd brauchte Ruhe. Zwar hatte es sich in der Scheune satt fressen können, aber in dem tauben Stroh steckte nicht Saft noch Kraft. Jetzt ließ es erschöpft den Kopf hängen. Wenn Willem es mit einem leichten Schlag aufmunterte, fiel es nach einem kurzen Trab wieder in einen müden Schritt.
Das letzte Gehöft lag breit und behäbig wohl hundert Schritt abseits und kehrte nicht in der landesüblichen Art den Giebel, sondern die Frontseite der Straße zu. Dort würden wohl ein Teller Suppe und ein Knust Brot, vielleicht sogar eine Scheibe Speck übrig sein. Er lenkte das Tier auf das Gestrüpp zu, das sich am Rande eines ausgetrockneten Baches hinzog. Mannstief hatte sich das Wasser einst in den Lehmboden gewühlt und ein sicheres, bei gutem Wetter trockenes Versteck geschaffen. Das dichte Gesträuch, aus dessen Zweigen eben das erste Frühlingsgrün brach, verbarg das Pferd vor feindlichen Blicken.
Die Bäuerin stand breitbeinig vor dem Herd und stocherte in der Glut. Die auflodernde Flamme beleuchtete ein dürres Hahnengesicht, das auf einem faltigen Hals über einem fülligen Leib saß. Als Willem eintrat, drehte sie sich schwerfällig um, den Schürhaken in der Hand.
Im Kessel dampfte Kohlsuppe. Willems Nase krauste sich. Gierig sog er den würzigen Geruch ein. Fast wurde ihm schwindlig. Er blieb auf der Schwelle stehen und lehnte sich gegen den Türpfosten.
Die Frau hörte ihn nicht lange an. Ihre Stimme passte zu ihrem Gesicht. Sie krähte und krächzte und gackerte und kollerte, als wäre ein Puter mit einem ganzen Hühnerhof in Streit geraten. "Suppe und Brot? Bettelvolk, Bettelpack! Schweig mir von den Franzosen! Da könnte jeder betteln. Seit die Kosaken sie aus dem Russenland hinausgepeitscht haben, denken die Messieurs an nichts, als ihre leeren Beutel wieder zu füllen. Alles schleppen sie fort, requirieren, reißen das Kalb von der Kuh, das Ferkel von der Sau. Vorige Woche erst haben sie Rosenow heimgesucht. Nichts haben sie uns gelassen. Keine Handvoll Korn, kein Lot Mehl. Suppe, meinst du, habe ich im Topf? I, das reine Wasser." Sie fuhr mit der Kelle in den Kessel und goss sie wieder zurück. Sie hatte gut gefasst, kein Kohlblatt, kein Bröckchen Fleisch war zu sehen. Aber der Duft!
"Arm sind wir wie eine Kirchenmaus. Der verfluchte Krieg! Selbst unser Knecht läuft einfach davon und will sich einschreiben lassen! Glaubt wohl, der König schenkt den Helden Land. Er wird ihnen was, der König! Einen Knecht zum Bauern machen! Außerdem schlägt ihnen Napolium das Kreuz lahm. Mein Gott, warum rede ich so lange mit dir? Mach, dass du hinauskommst, Bettelpack! Soll ich erst den Hund von der Kette lassen?"
Die Diele roch jetzt nicht nur nach mit Kümmel gewürztem und mit fettem Schweinefleisch gekochtem Kohl, sondern auch nach beißendem Qualm. Das Holz war wohl nass gewesen. Als die Bäuerin Willem mit dem Schürhaken bedrängte, kochte die Suppe über, die Brühe verzischte in der Glut, weißlicher Dampf stieg in den rauchgeschwärzten Kamin. Die Frau ließ das Eisen fallen, zog den Topf vom Feuer und rührte den Kohl um. Der Junge lehnte noch immer am Türpfosten und fand nicht die Kraft zum Gehen.
Sie legte die Kelle aufs Bord. "Bist du noch immer da? Hm, wie alt? Vierzehn? Dafür siehst du recht kräftig aus. Hast wohl zu Hause fest zupacken müssen? Arbeiten bist du also gewohnt. Du könntest für den Knecht bleiben. Ich will mit meinem Mann reden. Fürs Essen. Lohn kann ich dir nicht geben. Bist ja noch ein Kind."
Willem schüttelte den Kopf. "Muss zu Herrn von Kerckow."
"Kerckow, Kerckow! Hör auf mit der Geschichte! Schäm dich! So ein großer, kräftiger Junge und betteln! Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, hat unser Herr Jesus gesagt. Du kannst im Pferdestall schlafen, da ist's schön warm." Sie sah ihn an wie ein Zigeuner, der einem Bauern die Stute abschwatzen will. Gleich wird sie mir die Kiefer auseinanderreißen und die Zähne nachsehen, dachte er.
In diesem Augenblick klapperten Hufe in der Auffahrt. Die Bäuerin schlurfte zum Fenster. Auch Willem trat an die Luke, sah den weißen Kürass eines französischen Reiters.
"Was habe ich gesagt? Du hast mir die Messieurs auf den Hals gelockt."
Der Soldat grüßte knapp und sagte in klarem, aber etwas weichem Deutsch: "Im Namen Seiner Majestät des Kaisers..."
Die Bäuerin ließ ihn nicht ausreden. Mitten in der Diele stehend, die Arme in die Hüfte gestemmt, jammerte sie: "Wir haben nichts mehr. Keine Krume Brot, keine Ähre Korn. Ihre Kameraden, verstehen? Vorige Woche, Mittwochnachmittag. Alles weggeschnappt, requiriert. Alles alle, partout nix. Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren, hat unser Herr Jesus gesagt."
Willem drückte sich in die Ecke. Zorn befiel ihn, wilder Zorn auf den Franzosen. Wenn der es war, der seinen Vater - aber nein, die hatten grüne Röcke getragen.
Ungeduldig trat der Franzose einen Schritt vor. "Sie bekommen eine Quittung. Zeigen Sie mir Scheune und Keller, oder ich muss das Gehöft durchsuchen."
Die Frau rührte sich nicht von der Stelle. "Mit euerm Papier könnt ihr euch... Kein Stück geb ich, hab selber nichts. Ich bin eine arme Frau mit einem kranken Mann. Woher soll ich's denn nehmen? Herr, mein Gott, womit hast du mich geschlagen! Erst kommt dieser da und bettelt um Brot..."
Der Franzose wandte sich um. Willem schaute in sein Gesicht. Ein älterer Mann, bärtig, mit breiten Ohren und großen Augen, die in dem schummrigen Licht der Diele beinahe freundlich, ja gutmütig aussahen, gar nicht wie Augen von Menschen, die andere umbringen.
"Ihr Sohn, Madame?"
"Das fehlte noch! Der und mein Sohn, damit hätte mich Gott gestraft. Ein Fremder, ein Faulpelz, ein Bettler! Brot wollte er, wo ich doch selbst nichts habe."
Willem ließ sich auf den Schemel fallen und hielt sich an der Tischkante: Er wusste nicht, machte ihn der Hunger schwindlig oder die Nähe des Franzosen, des Feindes, der so gutmütig aussah und doch zu jenen gehörte, die seinen Vater getötet hatten, an denen er sich rächen wollte.
"Geben Sie ihm Brot!"
Hatte sich Willem verhört? Die Frau rührte sich nicht.
"Geben Sie dem Jungen ein Stück Brot!"
"Hab doch selber nichts."
"Bin selbst Bauer zu Haus. Weiß Bescheid. Brot ist immer da." Die Frau hob beschwörend die Hände. Da zog der Soldat die Pistole. Sie ließ die Arme fallen und schlurfte mit eingezogenen Schultern ans Schapp, kramte lange darin herum, schielte nach dem Franzosen, und als sie das schwarze Loch in dem blanken Eisen sah, brachte sie endlich einen knochentrockenen Kanten hervor.
Sie trat wieder in die Mitte der Diele und reichte das Brot dem Soldaten. "Da! Ist aber mehr Eichelgrieß und Holzschrot als Mehl."
Der Kürassier steckte die Waffe ein. "Dem Jungen!"
"Dem Bettelpack!" Sie blieb auf der Stelle stehen, breitbeinig, so dass ihr langer, faltiger Rock auf dem Bretterboden schleifte, und warf Willem den Kanten zu. Der prallte gegen das Tischbein und fiel in den Staub. Willem saß wie erstarrt.
"Ach, du Frau!" Der Franzose bückte sich, wischte das Brot mit dem Rockärmel ab und drückte es dem Jungen in die Hand. "Iss! Musst groß und stark werden."
Willem hielt das Brot in steifen Fingern. Dieselben Worte hatte oft sein Vater gesprochen, fast im gleichen Tonfall. Das sollte ein Mörder sein? Mit der Erinnerung stellte sich der Schmerz wieder ein, der wilde Zorn. Er wollte das Brot fortwerfen, dem Franzosen vor die Füße. Er dachte an das Märchen von Hänsel und Gretel, auch da hatte die Hexe den Jungen gefüttert, um ihn dann... Der Hunger war stärker. Wie ein Wolf schlug Willem die Zähne ins Brot. Steinhart war es. Aber er hatte mit den Schneidezähnen schon Haselnüsse geknackt. Brocken für Brocken löste er aus der Kruste und speichelte sie ein. Wie süß! Sein Lebtag hatte ihm nichts köstlicher geschmeckt. Kein Eichelgrieß oder Rindenschrot! Der Soldat sah ihm lächelnd zu, freute sich daran, wie es ihm schmeckte. Da war das Brot plötzlich bitter. Dem Feind verdankte er es. Er hielt mitten im Kauen inne.
Die Frau stand noch immer auf demselben Fleck und rührte sich nicht. Merkwürdig! Willem sah genauer hin und entdeckte eine Querritze im Bretterboden. Die Kellerklappe. Auch dem Franzosen fiel sie auf.
"Zeigen Sie den Keller! Schinken? Ein Fass Fleisch?"
Und als sich die Frau noch immer nicht rührte: "Weg da! Fort! Allez!"
Die Bäuerin blieb stehen, hob die Arme und krümmte die Hände zu Krallen.
"Im Namen des Kaisers!"
Die Frau beugte sich vor. Der Rocksaum bedeckte die Dielenritze.
Der Soldat zog die Pistole.
"Ach, du Teufel!" Die Frau spie ihm vor die Füße.
Der Franzose prüfte Pulverpfanne und Zündhütchen. Er tat es auffällig langsam. Die Frau ließ sich nicht einschüchtern, war bereit, um die Schätze ihres Kellers zu kämpfen. Die Mündung der Waffe hob sich.
Willem ließ das angebissene Brot fallen. So war es auch in Kerckow gewesen. Erst ein paar freundliche Worte, aber als der Vater die Eindringlinge hindern wollte, den herrschaftlichen Stall auszuräumen, hatte einer die Muskete von der Schulter gerissen und geschossen. Und jetzt, die Frau! Sollte er zusehen? Gewiss, sie war bösartig und geizig. Dennoch! Durfte er zulassen...
Der Franzose hob die Pistole in Augenhöhe. Die Frau zog den Kopf in die Schultern. Gleich musste sich der Finger um den Abzug krümmen. Willem sprang auf, schwang den Schemel, ließ ihn mit voller Wucht auf den Helm des Mannes niedersausen. Der fiel wie ein leerer Sack zusammen, drehte sich im Fallen, sah Willem mit seinen großen Augen an. Dann schlug die Stirn hart auf den Fußboden. Unter dem Lederhelm sickerte dunkles Blut hervor.
Willem war bleich, die Frau stand wie erstarrt. Plötzlich aber kreischte sie: "Du Unband, was hast du getan! Ihn erst hergelockt und dann umgebracht. In meinem Hause. Fort, fort!"
Willem erwachte aus seiner Starre. War das seine Rache? Einen Mann von hinten niederschlagen? Den Mann, der ihm das Brot gegeben hatte! Hatte so nicht auch Vater ausgesehen, als ihn die Kugel traf?
Er hörte das Kreischen der Frau, verstand sie nicht, fand sich erst langsam in die Wirklichkeit zurück. Ja, gleich werden die Kürassiere kommen, ihn gebunden fortführen, an den nächsten Baum stellen und erschießen. Angst? Kaum. Mutter tot, Vater tot, was sollte er allein? Nein, Angst wohl nicht, jedenfalls nicht sehr. Aber er musste zu Herrn von Kerckow. Der Vater hatte es befohlen mit seinem letzten Wort.
Die Frau krallte sich in seine Jacke.
"Bleib! Sie denken sonst, ich... Ich bin eine schutzlose Frau...
Du hast ihn umgebracht. Sag ihnen das, hörst du, du musst ihnen das sagen! Ich will nicht, dass sie mich... Sie stecken mir das Haus über dem Kopf an."
Er wollte sich losreißen. Die Frau packte fester zu. Oh, sie war kräftig, diese wohlgenährte Bäuerin. Sie drückte seine Schultern nieder. Er stemmte sich dagegen. Beide merkten sie nicht, dass der Franzose stöhnte. Mit einem Ruck kam Willem frei, ein Fetzen Stoff blieb in den Händen der Frau.
"Hilfe! Mord! Mörder!", schrie sie. "Er hat ihn umgebracht. Zu Hilfe! Mörder! Dort läuft er. Fangt ihn, fangt ihn!" Der Hofhund an der Kette kläffte.
Willem erreichte die Hintertür, schlug sie hinter sich zu, stürmte über den Hof, am Bienenstock vorbei, durch den Obstgarten, über die Wiese, sprang über einen Graben, rannte hügelan.
Lärm hinter ihm. Das Gekreische der Frau alarmierte die Franzosen in den anderen Gehöften. Die Truppe sammelte sich. Laute Kommandos. Oben auf der Kuppe sah sich Willem um. Soldaten stiegen in die Sättel. Schüsse krachten, Kugeln pfiffen.
Sein Vorsprung war groß. Er lief der schützenden Bachmulde zu. Zeit zum Überlegen blieb nicht. Sich in den Sattel schwingen und davonreiten? Nein, die ausgeruhten Kavalleriepferde holten den erschöpften Wallach bald ein.
Es gab nur eine Möglichkeit zur Rettung: sich im Schutz des Gestrüpps in der Grabensohle davonzuschleichen. Vielleicht hatte er Glück.
Er löste den Knoten, mit dem er den Zügel an einem Weidenast festgebunden hatte, und führte den Wallach am Zaun. Wieder krachten Schüsse, näher schon. Die Verfolger mussten die Kuppe der Hügelkette erreicht haben. Sicher vermuteten sie, er habe die Flucht jenseits des Gebüsches fortgesetzt.
Hornsignale. Schüsse. Der sonst so schwerfällige Wallach stellte aufgeregt die Ohren steil und schnaubte leise. Willem tätschelte ihn beruhigend. Da pfiffen die ersten Kugeln über seinen Kopf hinweg. Unwillkürlich duckte er sich. Dabei lockerte er den Griff. Der Wallach stieg hoch, fand eine Lücke, nahm in seiner Angst den steilen Anstieg und galoppierte querfeldein. Zum Glück nach der anderen Seite.
Jubelschreie bei den Verfolgern. Willem kroch in ein dichtes. Dorngestrüpp, ohne auf Schrammen und Kratzer zu achten. Schon erreichten die Verfolger den Graben, sprengten, ganz in Willems Nähe, hinüber, dem Wallach nach. Die Hufschläge dröhnten auf dem harten Lehm.
Willem verließ sein Versteck, schlich sich vorsichtig weiter, gewann einen gehörigen Abstand und wagte einen Blick über den Grabenrand.
Noch immer böllerten Schüsse. Der Wallach brach in die Knie, überschlug sich, bäumte sich noch einmal auf und blieb liegen. Ein mitleidiger Kürassier gab ihm den Gnadenschuss, dem letzten Pferd aus Kerckows herrschaftlichem Stall.
Willem hatte keine Zeit, um das Tier zu trauern. Nur weiter, bevor die Franzosen daraufkamen, wo er abgeblieben sein konnte. Die Grabensohle wurde feuchter. Seine Füße hinterließen Spuren, die sich mit schwarzem Wasser füllten.
Nach einer Viertelstunde erreichte er den dichten Mischwald.
Der Herr von Kerckow hatte sein Stammgut verlassen, das in der gefährlichen Nähe einer französischen Garnison lag, und hielt sich auf seinem zweiten Besitz Hohenflieth auf, um auch hier die nötige Vorsorge zu treffen. Der preußische König hatte, sich dem Drängen der Vaterlandsfreunde und den Russen widerwillig beugend, Napoleon den Krieg erklärt. Kerckows Pflicht war es, sich zur Armee zu begeben. Er aber zögerte seine Abreise hinaus. Konnte man denn wissen, wer zuletzt die Oberhand behielt? Kerckow hatte einen gehörigen Respekt vor der französischen Armee.
Er war 1806 bei Jena dabei gewesen, als die Franzosen die unbeweglichen preußischen Kolonnen in eine heillose Flucht getrieben hatten. Hätten damals die Russen nicht eingegriffen, wäre vom Königreich Preußen wohl ebenso wenig übrig geblieben wie von vielen anderen deutschen Fürstentümern.
Kerckow war leicht am Arm verwundet worden und in Gefangenschaft geraten. Nach vier Wochen hatte man ihn auf Ehrenwort entlassen. Er musste sich verpflichten, nicht mehr die Waffe gegen Frankreich zu erheben. Während andere Offiziere, wie der Leutnant von Schill, als Freischärler auf eigene Faust einen Kleinkrieg führten, zog Kerckow sich auf seine Güter zurück.
Das Königreich Preußen war zum Vasallen Napoleons geworden, der zum Krieg gegen Russland rüstete. Kerckow stellte sich sogar gut mit einigen französischen Offizieren. Sie gaben sich als vollendete Kavaliere, küssten der zwiebeläugigen Gutsherrin die Hand, tanzten Menuett, Gavotte und Allemande und ließen aus ihrer Heimat Champagner und Rotwein kommen.
Freilich waren die Messieurs manchmal etwas wild, nun ja, eben junge Männer. Da geschah es leider während eines Gelages, dass die junge Frau Beggerow ins Mühlenwehr sprang. Dummes Volk! Seitdem hatte er auf Kerckow keine Feste mehr gegeben.
Im Grunde war er kein Franzosenfreund. Er beobachtete genau die Stimmung im Lande und wusste, dass es viele Menschen gab, sogar einflussreiche Personen, die heimlich darauf hinarbeiteten, das Volk zum Kampf zu rüsten und das Land zu befreien. Viele Offiziere waren darunter, sogar der General Scharnhorst. Manchmal trafen sich die Herren auf Kerckow, um sich zu beraten. Auch Scharnhorst kam einmal hierher. Sosehr sich Kerckow mit den Patrioten darin einig war, dass die Franzosen vertrieben werden mussten, so wenig behagten ihm die Methoden, mit denen die Befreiung herbeigeführt werden sollte. Das Volk bewaffnen, die Bauern aus der Hörigkeit entlassen, den Bürgern in den Städten mehr Rechte geben? Das roch nach einer heimlichen Revolution, da konnte man gleich französische Zustände einführen! Er verschwieg seine Zweifel und fand bald heraus, dass viele adlige Herren dachten wie er: Wenn der Feind erst einmal verjagt ist und wir wieder die Macht haben, werden wir dem Volk schon die Kandare anlegen.
Nun hatten die Russen Napoleon vernichtend geschlagen. In vaterländischer Begeisterung hatte Kerckow vor seinen Bauern Reden wider den Feind gehalten. Doch als der Befehl kam, sich im Hauptquartier zu melden, fühlte er sich nicht sehr glücklich. Aber er begab sich nach Schloss Hohenflieth und befahl dem Kammerdiener, die Rittmeistermontur zu bürsten. Der Reitknecht striegelte die Pferde. Morgen in aller Frühe wollte der Herr in den Sattel steigen. Seine Frau hatte er mitsamt ihrer Schmuckschatulle sicherheitshalber zu einem Vetter auf schwedisches Gebiet geschickt.
Er stand am Fenster, die eine Hand auf dem Rücken, die andere auf der Brust zwischen zwei Knöpfe des Rockes gesteckt, als er einen jungen Burschen in zerrissener Jacke durch das Tor traben sah. Er erkannte ihn nicht gleich. Weiß Gott, wenn man Herr über mehrere Dörfer ist, wie soll man da die Gesichter aller Bauern und ihrer Nachzucht im Gedächtnis behalten! Dann aber fiel ihm die etwas vorgestreckte linke Schulter auf, und er wusste, dass es nur der Junge seines Pferdeknechtes Beggerow sein konnte. Unruhe befiel ihn. Wie kam der hierher? Was war auf dem Stammgut geschehen? Wie es aussah, brachte er keine angenehmen Nachrichten.
Kerckow riss selbst die Tür auf, als Willem sich die Freitreppe heraufquälte. Die Gnädige würde toben, wenn sie das sähe. Gott sei Dank waren die kostbaren Teppiche bereits entfernt und in einer versteckten Kammer eingelagert. Er ließ den Jungen nicht weiter als bis in die Diele.
Willem wurde es schwarz vor den Augen, als er sich endlich am Ziel sah. So lange hatte die Spannung ihn aufrecht gehalten, jetzt hatte er Mühe, nicht zusammenzusinken. Der Herr angelte mit der Fußspitze nach einem Schemel. Es war der, den er benutzte, wenn er verschwitzt von der Jagd kam und ihm der Kammerdiener die kotigen Stiefel von den Beinen zog.
Willem ließ sich auf den harten Sitz fallen und stützte den Kopf mit den Händen. Schweiß verklebte ihm die Augen. Sein Atem ging kurz und heftig. Mühsam stieß er hervor: "Die Pferde, Herr..., Franzosen..., mein Vater... erschossen."
Der Herr stand breitbeinig vor ihm. "Ruhig, ruhig! Immer der Reihe nach! Wer hat die Pferde erschossen?"
Willem kam endlich zu Atem und erzählte, wenn auch stockend und immer wieder mit den Tränen kämpfend, was in Kerckow geschehen war. Mit steifen Knien schritt der Herr auf und ab, die Hände abwechselnd auf dem Rücken und über dem Bauch gefaltet. An der Treppe blieb er ruckartig stehen.
"Was sagst du? Alle meine Pferde?" Er stützte sich auf das Geländer wie auf einen Stock. "Und sie haben nicht einmal einen Requisitionsschein ausgestellt? Wider alles Recht... Hör zu! Du schreibst alles auf, alles, hörst du! Alles, was sich zugetragen hat. Du kannst doch schreiben?"
Willem senkte den Kopf. Jetzt die Feder in die Hand nehmen? Er wollte eine Muskete! Außerdem - der Vater hatte ihn im Winter zwar zur Schule geschickt, und er war auch ganz gern hingegangen, aber der Lehrer war ein ausgedienter Unteroffizier, der sich nebenbei als Schneider sein Zubrot verdiente. Er hieß die Mädchen mit Nadel und Faden hantieren und bläute den Jungen statt des Abc und der Rechenkunst Gewehrgriffe und Kehrtwendungen ein.
Kerckow erläuterte: "Wer einen Requisitionsschein vorlegen kann, dem zahlt die königliche Kasse nach dem Feldzug Ersatz. Deinen Vater freilich... Tut mir leid, Junge, ist eben Krieg... Siebzehn Pferde, und was für Tiere!" Er streckte den rechten Arm und krümmte die Faust, als hielte er den Degen darin und wollte das Zeichen zur Attacke geben. Dann legte er die Hand wieder zwischen zwei Knöpfe des Rockes. "Schreiben ist eine zu schwere Kunst für deine Bauernpranke? Dann soll's der Schulmeister aufschreiben, und alle setzen ihre Namen darunter - oder drei Kreuze."
Willem saß noch immer zusammengesunken auf seinem Schemel. Jetzt sprang er auf. "Ich will nicht zurück, gnädiger Herr, ich will in den Krieg. Gebt mir eine Uniform, Herr, und eine Waffe, einen rostigen Säbel, eine stumpfe Lanze, irgendetwas. Ich will mit Euch gegen die Franzosen ziehen."
Kerckow drehte sich um und fuhr sich mit dem Ärmel über den Mund. Warum tat er das? Wollte er sein Lachen verstecken?
"Ich will meinen Vater und meine Mutter rächen!"
"Du bist ein Kind, Beggerow."
"Ihr habt selbst gesagt, gnädiger Herr, dass unser allergnädigster Herr König..."
"Seine Majestät hat befohlen, dass jedermann seine Pflicht tut, der Soldat im Felde, der Bauer auf dem Acker."
"Aber ich will gegen die Franzosen..."
Kerckow stand wieder breitbeinig vor Willem, die Arme über der Brust gekreuzt. "Keine Widerrede! Du musst von jetzt an deinen Vater vertreten. Auch das ist Kampf, ein schwerer Kampf. Schweiß statt Blut. Die Franzosen überlass mir! Du hilfst, dass unsere tapferen Grenadiere und Husaren stets Brot und Fleisch haben, dann jagen wir den Feind aus dem Land."
"Aber ich habe einen von ihnen... erschlagen."
Kerckow trat einen Schritt zurück. "Du..., einen Franzosen?"
Stockend berichtete Willem. Der Herr rieb erregt die Fingerknöchel an den Schneidezähnen. "Mit einem Schemel? Fulminant. Kannst du deinen Freunden erzählen. Und den langzöpfigen Deerns."
"Es ist die reine Wahrheit, gnädiger Herr."
"Gewiss, gewiss. Also..., du machst dich noch heute auf den Weg. Ein Pferd kann ich dir nicht geben. Hast ja kräftige Beine. Kampfauftrag, verstanden! Ach, du bist hungrig? Man soll dir in der Küche Brot und Speck geben." Er riss an der Schnur, um nach dem Diener zu klingeln.
"Ich schwöre Euch, gnädiger Herr..."
"Beruhige dich! Ich werde deinen Vater rächen, ich..."
In diesem Augenblick riss der Stallbursche die Seitentür auf.
"Franzosen, Herr, ein Offizier und sechs Mann. Sie wollen den gnädigen Herrn sprechen."
Kerckow ließ die Schnur los. "Also doch! Halt sie auf! Kein Wort von diesem hier!"
Johann schlug die Tür hinter sich zu.
"Du musst fort, Beggerow! Du darfst mich nicht in die Geschichte hineinziehen. Der König wartet auf mich."
"Nehmt mich mit, Herr, zum General Scharnhorst!"
"Wo verstecke ich dich nur?"
Unbemerkt war ein Lakai eingetreten. Seine Weste sah aus als wäre sie aus einem rotweiß gestreiften Inlett genäht.
"Wenn ich mir erlauben dürfte, dem gnädigen Herrn die Teppichkammer vorzuschlagen."
Kerckow steckte wieder die Hand zwischen die Rockknöpfe. Seine Brust hob sich. "Also gut, in die Teppichkammer! Du lässt ihn nicht eher heraus, bis ich es befehle. Wer hat ihn sonst gesehen? Außer dem Stallburschen niemand? Also kein Wort. Er war nicht hier. Niemand war hier. Es gibt ihn nicht, verstanden!"
Der Lakai senkte den Kopf. Sein Kinn berührte die Weste. Dann fasste er Willem am Arm, aber so vorsichtig, als befürchtete er, sich die Fingerspitzen zu beschmutzen, und führte ihn in die dunkle, staubige Kammer. An Willems Hunger dachte niemand mehr.
Die abgelegene Kammer war vollgestopft mit zusammengerollten Teppichen. In diesen unruhigen Zeiten hielten es die Herrschaften für besser, alles Wertvolle in halbwegs sicheren Verstecken unterzubringen.
Der Lakai mit der Inlettweste schob die Tür hinter Willem zu und schloss ab. Nun war es stockfinster, denn die Kammer besaß kein einziges Fenster. Willems Hunger hatten alle vergessen. Der Junge wollte aufspringen und mit den Fäusten gegen die Tür hämmern, aber er wusste, das war zwecklos. Der Lakai war fort; niemand würde ihn hier, in dem unbewohnten Flügel des Hauses, hören. Oder aber er machte die plündernden Franzosen auf sich aufmerksam. Denen aber wollte er lieber nicht in die Hände fallen. Vorsichtig tastete er sich zur Tür und, befühlte das Schloss. Nein, ohne Hilfsmittel war es nicht zu öffnen. Wo aber Handwerkszeug hernehmen? Er war eingesperrt.
Er ließ sich auf eine Teppichrolle fallen. Eine dichte Staubwolke stob auf. Willem musste husten. Erschrocken hielt er sich den Mund zu. Wenn ihn nun jemand hörte! Gespannt lauschte er. Aber nur sein eigener Herzschlag störte die Stille.
Langsam gewöhnten sich die Augen an die Dunkelheit. Er glaubte ein paar schwache Umrisse zu erkennen, während er sich mit Händen und Füßen tastend in der engen Kammer zurechtzufinden suchte. Die Luft blieb dumpf und stickig, das Atmen machte ihm Mühe, der Hunger nagte in den Eingeweiden. Jetzt erst spürte er, wie erschöpft er war. Die Erregung, der anstrengende Ritt, die Kürze der letzten Nacht... Bleischwer fiel ihn die Müdigkeit an. Mit unsicheren Händen rollte er einen Teppich auseinander, ließ sich fallen, ohne an den Staub zu denken, und kuschelte sich in die weiche Wolle.
Überwach vor Erschöpfung, konnte Willem nicht einschlafen. Seine Gedanken sprangen von einem Erlebnis in seiner Erinnerung zum anderen. Und als er, sich hin und her werfend, an die Tabakdose stieß, blieben sie bei Scharnhorst haften.
Der Vater hatte Scharnhorst von der Poststation abgeholt. Willem war ihm entgegengegangen. Er hatte noch nie einen General gesehen, nicht einmal einen Oberst, nur einen französischen Major, aber einen ohne Schnurrbart.
Hinter dem Haselgebüsch am Altenhäger Weg sah er die beiden Rappen, schwarz wie Schusterpech. Sie trabten mit gesenkten Köpfen; die Hufe wirbelten Sand auf.
Der Gast saß vorn auf dem Kutschbock und hielt die Zügel. Das sollte ein General sein? Keine goldblitzende Uniform, nur ein einfacher blauer Mantel, aus dessen hohem Kragen ein runder Bauernkopf herausschaute. Die kurzen Haare fielen wirr in die Stirn. Und einen Bart trug der Mann auch nicht!
Willem wollte sich ins Gebüsch verkriechen. Er hatte sich vorhin, als er nach einem Krähennest geklettert war, einen auffälligen Dreiangel in die Hose gerissen und beide Knie blutig geschrammt. Zu spät. Der Vater hatte ihn entdeckt. Der Gast hielt die Pferde an, winkte, und als Willem herantrat, hob er ihn hoch und setzte ihn auf Vaters Schoß.
Knallrot bedeckte der Junge mit beiden Händen den zerfetzten Stoff. Der General lachte.
"Die Haut heilt. Aber die Hose! Wer wird sie dir flicken?"
"Das mache ich allein", erwiderte Willem stolz und zugleich traurig, denn er musste dabei an die Mutter denken.
Am nächsten Morgen war der General in die Schule gekommen, ohne Mantel, aber auch jetzt nicht in Uniform, sondern in einem schmucklosen Tuchrock. Er ging etwas vornübergebeugt, hielt den Kopf gesenkt, sprach langsam, fast stockend, und dehnte die Silben wie ein Schüler, der schlecht gelernt hat.
Der Lehrer Haubuß, der ja eigentlich ein Unteroffizier war, ließ die Jungen in Linie antreten, stand stramm, legte die Hand an seinen krempenlosen Hut und meldete. Aber vor Aufregung stotterte er. Scharnhorst unterbrach ihn: "Zeig Er, was Er den Burschen beigebracht hat."
Haubuß ordnete die siebzehn Jungen in drei Gliedern und befahl: "Gewehr - auf!" Die Stöcke, mit denen die Jungen exerzierten, flogen auf die Schultern. Auf das nächste Kommando warf sich das erste Glied zu Boden, das zweite sank in die Knie, das dritte blieb stehen. "Legt an! Feuer! Auf! Links um! Rechts um! Ganze Abteilung kehrt! Gewehr ab! Zur Attacke Gewehr rechts!"
Fast alles klappte. Nur Fritzing Schwartsuurt verwechselte die Seiten, auch Willem musste sich zusammennehmen. Er wusste, der General sah ihn an, doch erstaunlicherweise ging alles gut. "Brav, brav!", sagte der General, und es sah aus, als lächelte er. Dann wandte er sich an den Schulmeister: "Darf auch ich die Bengels examinieren?"
Herr Haubuß machte einen Kratzfuß. "Es ist mir eine Ehre, Exzellenz."
Der General zeigte auf die meldeüberwucherte Kirchhofsmauer.
"Dort liegt der Feind, dreifach stark, mit Munition wohlversorgt. Eure Aufgabe: ihn von dort zu vertreiben. Keine Unterstützung, keine Artillerie, keine Kavallerie. In einer Stunde muss der Weg frei sein für die nachrückenden Kolonnen."