Einführung in die Postkolonialismus-Forschung - Wolfgang Streit - E-Book

Einführung in die Postkolonialismus-Forschung E-Book

Wolfgang Streit

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Beschreibung

Die Postkolonialismus-Forschung ist heute insbesondere in den Geisteswissenschaften einer der dynamischsten Forschungsbereiche überhaupt, aber alles andere als leicht zugänglich. Mit diesem Einführungsband bringt Streit interessierten Studierenden die zentralen theoretischen Inhalte und Methoden leicht verständlich nahe. Die Einleitung bietet einen Überblick zu Forschungspositionen, zu relevanten Regionen und zur Geschichte der Forschungsrichtung. Daran schließen sich Erklärungen und theoretische Einordnungen der Grundlagentexte des „Dreigestirns“ der Forschungsrichtung an, von Edward Said, Gayatri Spivak und Homi Bhabha. Drei praktische Studien zu Daniel Defoes Roman "Robinson Crusoe," zu Franz Kafkas Novelle "In der Strafkolonie" sowie zu dem Film "Apocalypse Now Redux" motivieren zum Sprung von der einführenden Lektüre zur eigenen Forschung. Abschließend ermöglichen ein begriffserklärendes Glossar, ein teilweise kommentiertes Literaturverzeichnis und ein Namensregister die sichere Orientierung. Vier Lesermeinungen: „Wer nach dem Lesen dieses Bandes keine Lust auf ,mehr‘ bekommt, dem ist nicht zu helfen. Mich hat er dazu gebracht endlich einmal die Originaltexte anzusehen: Ein wirklicher ,Motivationsband‘. “ „Mir war die Forschungsrichtung bisher ein ‚Buch mit sieben Siegeln‘. Auch andere Einführungen schrecken oft ab. Aber diese Darstellung ist mit viel ‚common sense‘ geschrieben. Immer wieder behält man durch Wiederholungen den ,roten Faden‘ im Auge. Das Glossar und das Namensregister sind toll zur Orientierung im Buch. Anspruchsvoll wird es nur an Stellen, die auch wirklich komplizierter sind, z.B. bei den Beispielsanalysen. Kritisch anzumerken ist aber, dass die recht nützlichen Zusammenfassungen der drei Beispielsanalysen in Englisch sind. Ich meine, das müsste in einem durchgängig deutschen Buch nicht sein. „Vor allem die Einführungen zu den Theoretikern sind sehr gut verständlich und ordnen die Ansätze in die Literaturwissenschaft ein. Das gilt besonders für Bhabha, bei dem man ohne eine solche Hilfestellung aufgeschmissen ist. Dabei ist Streit immer wieder knackig in der Kritik, aber immer fair. Er kommt nie besserwisserisch daher.“ „Inspiriert und inspirierend für einen Einführungsband. Besonders bei den Ausführungen zum ‚Unheimlichen‘ und Machiavelli als Theoretiker setzt Streit Schwerpunkte, die sonst nirgendwo so zu finden sind. Absolutes Highlight: Die Beispielsanalyse zu ,Apocalypse Now Redux‘.“

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INHALT

A Vorwort

B Einleitung

i

Anlass, Forschungsansätze, Begriffe

Dimension und Aktualität von Kolonialismus und Imperialismus

Gegenstand der Postkolonialismus-Forschung: Das Für und Wider des „post“

Definition von Postkolonialismus-Forschung

Adressierung

Begrifflichkeit: Kolonialismus, Imperialismus, Neokolonialismus

Postkolonialismus-Forschung, Kulturwissenschaften und „Cultural Studies“

Typisierungsvorschläge

ii Räume und Ideen

Forschungsarena Welt

Karibik und „Schwarzer Atlantik“

Niederländische Kolonien

Afrikanische Regionen

USA

Britannien, Indien

Irland, Lateinamerika, Spanien, Portugal

Australien, Neuseeland, Kanada

Frankreich

Mittel- und Osteuropa

Habsburgerreich

Russisch-sowjetisches Imperium

Deutschland

Metropolen

iii Stationen und Positionen der Postkolonialismus-Forschung

Vorspiel in der Renaissance

Frühe materialistische Kritik

Von der „Irischen Renaissance“ zur Bürgerrechtsbewegung

„Dritte-Welt-Forschung“ / Commonwealth-Studien / „Neue englischsprachige Literaturen“ / „Ecocriticism“

Übergreifende Forschungsansätze

Textualität vs. Materialität

Essentialismus

C Zentrale Theoretiker

i Edward Said: Die „große Erzählung“ von Orientalismus und Imperialismus

Orientalismus

Von

Orientalismus

zu

Kultur und Imperialismus

: Zur Methode

Kultur und Imperialismus

Resümee

ii Gayatri Spivak: Die Verschränkung von Neostrukturalismus, Feminismus und Materialismus

Selbstpositionierung, Selbstkritik, Subjektkritik

Katachrese: Postkolonialismus-Forschung als Dekonstruktion

Essentialismuskritik, strategischer Essentialismus

Vier Feministinnen: Postkolonialismus-Forschung und Geschlecht

„Kann der / die Subalterne sprechen?“

Resümee

iii Homi K. Bhabha: Mobile Begriffe

„Von der Mimikry und vom Menschen: Die Ambivalenz des Kolonialdiskurses“

„Die Verpflichtung zur Theorie“: Verhandlung, kulturelle Differenz und der Dritte Raum

„Als Wunder verstandene Zeichen“: Handeln und Subversion

„DissemiNation: Zeit, Erzählung und die Ränder der modernen Nation“

Resümee

D Beispielsanalysen

i Vorbemerkung zur Auswahl der untersuchten Texte

ii Daniel Defoe:

Robinson Crusoe

(1719 / 2001): Freitags Widerstand und die Unterwanderung von Crusoes Vorherrschaft

Eigennamen

Paradigma der Kolonisierung

Die Legitimation der Versklavung

Freitag: Die widersprüchliche Aneignung des anderen

Die symbolische Revolte Freitags

iii Die Transparenz der Folter: Franz Kafkas

In der Strafkolonie

(1914 / 1995) aus Sicht der Postkolonialismus-Forschung

Rezeption

Postkolonialer Kafka?

Sprache; „Kleine Literatur“

In der Strafkolonie:

Kolonialer Kontext; Handlung

Der Reisende

Kannibalismus, Mimikry

Transparenz, Polysemie, Körperlichkeit

iv The Uncanny “Method” in the Madness: Francis Ford Coppolas

Apocalypse Now Redux

(2001) aus Sicht der Postkolonialismus-Forschung

Tötungsauftrag im Vietnamkrieg

Mythos vs. Geschichte

Kalter Krieg, Domino-Theorie, Freihandel

Unheimliche koloniale Palimpseste

Wahnsinn und „Methode“ von Kurtz

E Glossar

F Anhang

Kommentierte chronologische Auswahlbibliographie

Alphabetische Gesamtbibliographie

Namensregister

A Vorwort

Die Postkolonialismus-Forschung hat Deutschland bislang verfehlt. Diese provokante These ist falsch und wahr zugleich. Falsch ist sie, weil an deutschen Universitäten Seminare und Vorlesungen zu diesem Forschungsfeld stattfinden, und 2001 gar ein interdisziplinäres Graduiertenkolleg „Postcolonial Studies“ in München seine Arbeit aufnimmt. In Anglistik und Amerikanistik beweisen Tagungen die Lebendigkeit des Disputs im Bereich der Erforschung des Kolonialismus und seiner Folgen. Wie selbstverständlich tauchen seit geraumer Zeit auch im deutschen Feuilleton und im Zuge von Ausstellungen englischsprachige Begriffe wie „Third Space“ auf (Immler 2001, Cause 2014). Anders als noch vor zehn Jahren liegen mittlerweile auch Übersetzungen zentraler Texte dieses hochvitalen Forschungsbereichs ins Deutsche vor und ausführliche Monographien zu allen drei Hauptdenkern (Nandi 2009; Schmitz 2008; Struve 2013).

Wahr ist die These gleichwohl: Wegen Mittelstreichung wird das oben genannte Graduiertenkolleg 2004 eingestellt, und der „Sprecher“ genannte Leiter forscht seit Jahren höchst erfolgreich im Ausland bei vorteilhafteren Förderungsbedingungen. Der inhaltsverwandte, ebenfalls Münchener Aufbaustudiengang „Englischsprachige Länder“ ist eingestellt, wenn auch noch auf der Homepage ohne weitere Informationen genannt (Englischsprachige 2014). Zwar forschen und lehren an Hochschulen ausgewiesene Spezialisten der Postkolonialismus-Forschung, doch auch diese müssen bisweilen einschlägige Themen in andere DFG-Förderbereiche einschmuggeln (Thurau 2005: 40). Julia Reuter und Alexandra Karentzos (2012: 8) sehen einen Grund der „vergleichsweise wenig erfolgreichen universitären Institutionalisierung“ der Postkolonialismus-Forschung in deren transdisziplinärem Methodenanspruch.

Abgesehen von diesen Rückschritten im professionellen Bereich sind bis heute Denkansätze und Begriffe der Postkolonialismus-Forschung einem breiten deutschen Publikum wenig bekannt. An den Universitäten werden sie, wohl auch wegen des Bachelor-Zeitdrucks, oftmals unterschlagen. Das Bewusstsein davon, dass die Postkolonialismus-Forschung nicht etwa nur auf die Kultur von entkolonisierten Ländern und deren Zeugnisse zielt, sondern vor allem auch im Herz der kanonisierten Literatur zu betreiben ist, hat sich nicht durchgesetzt. Zwar führen Begründer der Forschung wie Edward Said und das legendäre Gelehrtentrio Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin die Denkansätze aus dem Kreis der nachkolonialen Kulturen, aber Teile der Forschungsrichtung selbst ziehen sich auf die Bearbeitung nachkolonialer Bedingungen zurück.

Das ist Grund genug, mit der vorliegenden Einführung gerade Forschungsneulingen in Bachelor- und Masterstudiengängen der Geisteswissenschaften eine breite Perspektive auf das spannende Forschungsfeld zu eröffnen. Dabei wird die Argumentation der einschlägigen Theorie- und Forschungsansätze sorgfältig erhellt und kritisch eingeordnet. Dazu kann eine vorliegende „kritische Einführung“ zur postkolonialen Theorie (Castro Varela / Dhawan 2005) wegen des Schwerpunkts auf der Kritik eine sinnvolle Ergänzung sein, ohne ihn freilich zu ersetzen. Daneben belegt der Übersichtsband von Julia Reuter und Alexandra Karentzos (2012) der sich auch an Insider wendet, mit knappen theoretischen Einführungen das Ausmaß in dem die Postkolonialismus-Forschung von disziplinübergreifender Arbeit profitieren kann. Ebenfalls aufschlussreich sind die englischsprachige und thematisch auf den englischsprachigen Raum ausgerichtete Übersicht von Tobias Döring (2008) und die Darstellung von Ina Kerner (2012) mit besonderer Berücksichtigung Lateinamerikas.

Der Grund, dass hier gerade deutschsprachigen Studierenden der Geisteswissenschaften der Zugang erleichtert werden soll, liegt darin, dass sich keine der Kulturen, die von den „großen“ deutschen Philologien erforscht werden, von den Auswirkungen des Kolonialismus ausnehmen kann. Sicherlich sind dies zuvorderst Anglistik, Amerikanistik und Romanistik. Aber das erwähnte Ausmaß des Kolonialismus und die feinverästelten Wege, auf denen Kulturen im kolonialen Griff gehalten werden, adressieren den Band an weitere Zielgruppen, von denen die Germanistik nicht die unbedeutendste ist. Zu ihnen gehören aber außerdem alle Disziplinen, die fremdsprachliche Literaturen erforschen und im weiteren Sinne alle, die sich mit kulturellen Äußerungen befassen.

Wenn es die deutsche Postkolonialismus-Forschung in der Vergangenheit lange schwer hat, sich Gehör zu verschaffen, so trägt dafür auch, so Jürgen Osterhammel, die deutsche Geschichtsschreibung Verantwortung. Zu sehr, so diagnostiziert er 2004, ist sie nämlich in „nationalhistorischer Routine“ (159) verfangen, als dass Blicke über den deutschen Tellerrand an der Tagesordnung wären. Und das Fach Geschichte ist in den Geisteswissenschaften ein wichtiger übergreifender Vermittler, gerade wenn es um Kolonialismus geht. Doch sie vernachlässigt oftmals die koloniale oder imperiale Praxis anderer Staaten, und vor allem deren kulturelle Auswirkungen. Diesen Vorwurf wiederholt noch zehn Jahre später implizit Dominik Geppert (2014) aus Anlass der Kontroverse um die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Freilich haben nicht nur deutsche Historiker Nachholbedarf. In seiner Einleitung eines Bandes, der das britische und das niederländische Imperium vergleicht, sieht sich etwa auch Stephen Conway (2003: 1) zu einem sehr eingeschränkten Anspruch gezwungen: Rundweg gibt er zu, dass in einem Band, der aus der vierzehnten (!) britisch-niederländischen Historikerkonferenz hervorgeht, aus Mangel an Fachkenntnissen kaum einer der Autoren über eine einzel- bzw. nationalstaatliche Untersuchung hinausgehen kann.

Dabei kann die von Osterhammel geforderte, breitere geschichtliche Perspektive nicht nur regressiver „abgrenzender Identitätsvergewisserung“ (2004: 181) entgegenarbeiten, wie er erläutert. Zunächst einmal müssten überhaupt erst die historischen Tatsachen erschlossen werden. Dabei führt es in die Irre, auf „philologischer und soziokultureller“ (Hanimann 2005) Arbeitsteilung zu beharren, denn das philologische würde ohne das soziokulturelle und historische Verständnis im Vakuum argumentieren. Wenn es um Gräueltaten geht, wurde in der Öffentlichkeit die Bedeutung der deutschen Kolonialgeschichte und ihrer Blutschuld in der Tat lange Zeit von Arbeiten zu Nazi-Deutschland so sehr überstrahlt (Gilroy 2004: 15), dass sogar die Sensibilität dafür fehlt, dass in Deutschland auch heute noch Straßennamen nach Gewaltverbrechern im Dienst des Kolonialismus benannt sind (z.B. Loerzer 2004a, 2004b; jbb 2004, Ebitsch 2008, Czeguhn 2012). Eine solche Privilegierung der Menschenverachtung übersieht geflissentlich die Zusammenhänge: Mit dem Ziel der Identitätsstiftung beschwört das NS-Regime das koloniale Erbe und ehrt es in diesen Straßennamen (Eisenack 2005). Und der NS-Imperialismus setzt mit ungekannter Grausamkeit bis hin zum Genozid koloniale Grundgedanken in die Tat um. Dennoch sind Initiativen zu Namensänderungen in solchen Fällen nicht immer von Erfolg gekrönt, wie etwa eine Münchener Ausstellung 2013 belegt (Resetarits 2013).

Die Gründe dafür sind dieselben wie für die spürbaren Widerstände gegen die Postkolonialismus-Forschung, die Anil Bhatti damit erklärt (1998: 346), dass sie „sich gegen die Ideologie der Reinheit und gegen den Authentizitätsdiskurs richtet.“ Gerade wenn es um das Selbstbild der Nation geht, löst diese Forschungsrichtung fraglos Ängste aus. Womöglich erklären diese Ängste auch das geringe Interesse an der Denkund Forschungsrichtung, in deutschen Medien. So erläutert Gilroy im Interview: „In vielen europäischen Ländern – nicht nur, aber auch in Deutschland – definiert sich der Blick auf die Geschichte der modernen Welt geradezu dadurch, dass die zentrale Bedeutung kolonialer Macht für die Idee von Europa geleugnet wird“ (Gilroy et al. 2004: 15). Das geistige Gegenstück dieses Desinteresses ist die Beschönigung, etwa wenn das öffentlich-rechtliche Fernsehen zum Jahresende 2005 in einem Mehrteiler eine undifferenzierte Kolonialnostalgie pflegt (Zimmerer 2005). Doch selbst im Raum der Wissenschaft zeigt sich bisweilen mangelnde Kenntnis von Fragen, die innerhalb der Postkolonialismus-Forschung gestellt werden, wie etwa solchen nach Identität und Rassismus. So lässt Sonja Zekri (2002) durchblicken, dass es der Kölner Ausstellung „Besondere Kennzeichen: Neger – Schwarze im NS-Staat“ nicht gelingt, die rassistische Stereotypisierung in Nazi-Deutschland, die aus kolonialen Phänomenen resultiere, differenziert in den Blick zu nehmen. Im Detail verweisen die Historikerin Nicola Lauré al-Samarai und der Vorstand der „Initiative Schwarze Menschen,“ Tahir Della, auf die mangelnde Kenntnis der deutschen Kolonialgeschichte bei dem Veranstalter dieser Schau, und dabei geht es immerhin um das wissenschaftlich arbeitende „NS-Dokumentationszentrum Köln.“ Auch als die renommierte Münchener Hypo-Kunsthalle 2011 die Ausstellung „Orientalismus in Europa“ zeigt, sieht man leider nicht nur die ideologie-historisch aufgeladenen Bilder, sondern vermisst auch jegliche reflektierende Einordnung der ikonographischen „Orientschwärmerei“ (Goebel 2011) sowie von deren Machtattributen.

Doch solche Ignoranz erstreckt sich bisweilen auch bis in eine der renommiertesten deutschen Forschungseinrichtungen hinein, in die DFG, wenn „führende“ Forscher aktuelle Forschungsprojekte begutachten. Eine solche Koryphäe kann sich nach der Sichtung eines interdisziplinären Projekts zu irischen Kulturzeugnissen vor dem Hintergrund des Kolonialismus ungestraft zu der Behauptung versteigen, Samuel „Becketts Räume gehörten auch wohl eher einer europäisch-westlichen Moderne an als dem spezifisch irischen Kontext“ (aus dem Schreiben, das die Begutachtung zusammenfasst). Entgegen dieser Experten-“Meinung“ belegen aus Sicht der Postkolonialismus-Forschung die beiden führenden Irish-Studies-Vertreter Declan Kiberd (1996: 377, 537-38) und Seamus Deane (1986:189-93) die reichhaltigen Bezüge des Exilanten Beckett zu dessen kolonial geprägter Heimat. Die Raumbedeutung aus diesem Kontext auszuschließen, heißt vor dem Hintergrund der überragenden Bedeutung von Räumen in der Postkolonialismus-Forschung, dass sich solch ein überforderter Gutachter damit unfreiwillig aus dem Kreis ernstzunehmender Wissenschaftler ausschließt und für sein Amt disqualifiziert. Am Rande sei bemerkt, dass nicht nur hinter vorgehaltener Hand auch vom „Wahnsinn des DFG-Gutachterwesens“ (Bisky 2006) gesprochen wird.

Doch diese Beispiele mangelnder Kenntnis von der Postkolonialismus-Forschung sind für die deutschen Universitäten glücklicherweise nicht typisch. Die Einleitung der vorliegenden Einführung zeigt, dass die Postkolonialismus-Forschung trotz der eingangs geäußerten Skepsis, für die es gute Gründe gibt, erfolgreich in einer Vielzahl geisteswissenschaftlicher Disziplinen tätig ist. Damit stellt sich zugleich die Frage, weshalb diese Einführung vorwiegend – wenn auch nicht nur – auf Literatur fokussiert ist. Tatsächlich sprechen pragmatische Gründe für eine gewisse Selbstbeschränkung: In einem Band kann das Spektrum der Postkolonialismus-Forschung zwar breit, aber nicht erschöpfend dargestellt werden. So werden etwa auch ökonomische Theorien und Fragen der Welthandelsordnung die für die Globalisierungsdebatte zentral sind, nur am Rand gestreift. Weil die Forschungsrichtung auf Außenstehende wegen ihrer Vielschichtigkeit ohnehin oftmals abschreckend unübersichtlich wirkt, soll diese Selbstbeschränkung in der vorliegenden Einführung durch die konzentrierte Darstellung eine Tugend sein. Auch ermöglicht ein klarer Aufbau die rasche Orientierung im vorliegenden Band:

Nach einem Überblick über den Gegenstand, knappen Bemerkungen zur geschichtlichen Betroffenheit einschlägiger Regionen einerseits und einem skizzenhaften Einblick in die Forschungsgeschichte andererseits gelten die Kapitel zu Edward Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi Bhabha den zwei Theoretikern und der Theoretikerin, zu denen die Forschung selbst am häufigsten Bezüge herstellt und die daher sogar als „Heilige Dreifaltigkeit“ dieser Richtung bezeichnet werden (Young 1995: 163). Die sich daran anschließenden drei beispielhafte Analysen zu unterschiedlichen Kulturräumen untersuchen solche Kulturzeugnisse, in denen sich Kolonialismus oder Imperialismus als soziokulturelle Phänomene artikulieren. Diese Interpretationen zweier Texte und eines Films ermutigen die Lesenden dazu, beschriebene Begriffe und Ansätze für die eigene Forschung fruchtbar zu machen – aber das ist nicht deren einziges Ziel.

Die Beispiele zeigen auch, dass sich die Arbeit an kolonialen Bezügen nicht darin erschöpfen kann, in einen „postkolonialen Werkzeugkasten“ zu greifen und dann den methodologischen Schlüssel der passenden Größe an das Objekt anzusetzen. Vielmehr muss neben postkolonialen Fragestellungen und Begriffen vor allem der ganz „konventionelle,“ genaue Blick auf die Kulturzeugnisse gerichtet werden. Das heißt vor allem auch, dass das vertraute philologische Instrumentarium keineswegs beiseitegelegt, sondern ebenfalls kreativ zur Bearbeitung des Themas eingesetzt wird. Diese Konfrontation verschiedenartiger Medien mit hybrider Methodologie soll zudem ansatzweise Graham Huggans (2008: 4-10) Hypothese Rechnung tragen, dass eine der Herausforderungen der Postkolonialismus-Forschung im reflektierten inter-, bzw. transdisziplinären Arbeiten liegt. Gegen Ende des Bandes versammelt, erklärt und vertieft ein Glossar schließlich nochmals zumeist vorher schon angesprochene, zentrale Fachbegriffe, die teils bedeutungsgleich aus anderen Disziplinen übernommen oder mit spezifischer Bedeutung aufgeladen sind. Und das abschließende Namensregister erleichtert das Auffinden relevanter Personen.

Mit seinem reichhaltigen Angebotstableau ermöglicht der vorliegende Band einen ersten, aber gründlichen Einstieg in die Forschungsrichtung, weil er sich auf wiederkehrende theoretische Annahmen, Methoden, Themen und Kritik konzentriert sowie leitmotivisch so zentrale Kategorien wie Macht, Identität, Alterität, Essentialismus und das Unheimliche anspricht. Im Lauf der Lektüre treten die Konturen der Reichweite und Vielfalt der Postkolonialismus-Forschung klar zutage.

Zu einigen Begriffen, Zitierweise und Verständnishilfen

Zum Abschluss des Vorworts drei Bemerkungen zu einigen Begriffen und zur Zitierweise: Eine der grundlegenden Erkenntnisse der Postkolonialismus-Forschung ist die historisch evidente Tatsache, dass koloniale Gegenüber dazu benutzt werden, das Selbst der Kolonisten – durch Abgrenzung – hervortreten zu lassen. Wegen der Fremdheit dieses kollektiv behandelten Gegenübers hat es sich eingebürgert, dabei vom „anderen“ zu sprechen. Die Großschreibung dieses Begriffs als „Andere(r)“ ist von der strukturalistischen Psychologie bzw. Psychoanalyse inspiriert, die damit eine Instanz wie die symbolische Ordnung meint. Diese ist zwar ebenfalls unpersönlich zu denken, hat aber sonst wenig mit dem fremden Gegenüber gemein. So wie Gayatri Spivak (z.B. 1985: 131) dieser Praxis nicht folgt, wird auch im vorliegenden Band diese falsch entlehnte Großschreibung nicht aufrechterhalten: „Andere“ werden nur am Satzanfang großgeschrieben. Zudem fällt die eben genannte Spielart der Psychologie, die sich Psychoanalyse nennt und sich dem Un- oder Unterbewussten widmet, meist unter den umfassenderen Begriff der Psychologie, gelegentlich ergänzt durch den konventionellen Begriff. Schließlich heißen in Anlehnung an Manfred Franks (1984: 31-31) Gebrauch die weithin als „poststrukturalistisch“ bezeichneten Ansätze, die sich auf Ferdinand de Saussure beziehen und teilweise von ihm absetzen, hier „neostrukturalistisch,“ und zwar aus den Gründen, die Frank selbst erläutert und im Glossar unter diesem Eintrag zu finden sind.

Wörtlich zitierte Stellen der konsultierten englischsprachigen Literatur beruhen, wenn nicht anders gekennzeichnet, auf eigenen Übersetzungen. Damit soll keineswegs die Arbeit der anderen Übersetzer geringgeschätzt, sondern der Ton einheitlicher gehalten werden. Gelegentlich werden Originalformulierungen zur Beurteilung der Übersetzungsgüte durch den Lesenden mit genannt. In das Literaturverzeichnis wurden viele Klassiker der Literatur, zu denen Interpretationen angesprochen werden, aufgenommen, aber nicht alle, um eine Aufblähung über Gebühr zu vermeiden. Dort, wo es hilfreich ist, werden fremdsprachliche Originaltitel übersetzt. Schließlich rät der begrenzte Seitenumfang dazu, eine „Fußnotenschlacht“ zu vermeiden: In Klammern folgen Seitenzahlen auf Autorennamen und die Zahl des Erscheinungsjahres. Bei wiederholtem oder eindeutigem Bezug entfallen Name und / oder Jahr.

B Einleitung

i Anlass, Forschungsansätze, Begriffe

Dimension und Aktualität von Kolonialismus und Imperialismus

Weshalb sollte uns die Postkolonialismus-Forschung interessieren? Einige Zahlen geben Hinweise auf mögliche Antworten: „Mehr als drei Viertel der heutigen Welt sind unmittelbar und tiefgreifend von Imperialismus beeinflusst“ (Tiffin 1995: 95). Detaillierter erläutert Harry Magdoff (1978: 29, 35), dass im Jahr 1800 die westlichen Mächte 55 Prozent der Erdoberfläche für sich beanspruchen, und tatsächlich knapp 35 Prozent kontrollieren. Über die nächsten 75 Jahre steigt die beanspruchte Landfläche jährlich im Schnitt um 210.000 Quadratkilometer und beträgt 1878, vor der nächsten größeren Eroberungswelle, 67 Prozent. Dies Wachstum beschleunigt sich bis 1914 auf eine jährliche Steigerungsrate von 620.000 Quadratkilometern. Damit liegen in dem Jahr, in dem sich der Wettlauf der Großmächte im Ersten Weltkrieg entlädt, rund 85 Prozent der Erde entweder unter der Oberhoheit der Kolonialmächte oder sie haben eine koloniale Vergangenheit.

Diesen gewaltigen Flächendimensionen entsprechen Kulturräume, in denen gelebt, gedacht, geschrieben und Kunst geschaffen wird. Beschäftigt man sich auch nur oberflächlich mit Geschichte, so wird die Bedeutung dieser Dimension für die Gegenwart klar, denn Historie ist stets mehr als nur vergangene Zeit. Die Wirkung auch zeitlich weit zurückliegender Geschehnisse pflanzt sich fort und entfaltet ihre Wirkung oftmals lange nach dem Verschwinden der Akteure. So zeigen sich auch gegenwärtig noch nahezu alle Weltregionen von den Bedeutungen geprägt, deren Keim in einem Kolonialismus und Imperialismus liegt, der seit dem Briand-Kellog-Pakt von 1928 völkerrechtlich diskreditiert ist. Dies ist der Grund für Edward Saids Feststellung (1993: xxiv), dass für „die meisten von uns“ auch heute noch die „die geschichtliche Erfahrung des Imperiums als alltäglich“ anzusehen ist.

Tatsächlich ist die heutige Welt ohne die Kenntnis der Auswirkungen von Hegemonie, Eroberungen, Unterwerfungen, Knechtschaft und Vertreibungen sowie den damit zusammenhängenden komplexen Symbolisierungsstrategien nur sehr eingeschränkt zu verstehen. Zwei gänzlich unterschiedliche Beispiele aus dem Jahr 2009 und 2014, die dies unter Beweis stellen, sollen hier als Beleg genügen: Der Han-chinesische Pogrom gegen Uiguren 2009 mit mehr als hundert Mordopfern wird nicht verständlich, so zeigen Henrik Borks Ausführungen (2009), wenn man den – im Sinn von Edward Said – „orientalistischen“ und damit auch sexualisierten Blick der Han-Chinesen auf die Ethnie der Uiguren nicht kennt. Weil die chinesischen Kolonisten Uiguren als triebgesteuerte Orientalen ansehen, führen Missverständnisse in einem Wohnheim zur Erfindung von Belästigungsvorwürfen und zur weiteren Eskalation. Und verständlich wird auch die russische Annektierung der Krim 2014 erst vor dem Hintergrund der Gemengelage der ethnischen Spannungen als Konsequenz der Besiedlungspolitik und der wechselhaften Zugehörigkeit der Region am Schwarzen Meer sowie aus der imperialen Nostalgie russischer Akteure, der realpolitischen Unverbindlichkeit völkerrechtlicher Prinzipien und aus Bündnisverpflichtungen und Wirtschaftsinteressen. Forscherpersönlichkeiten wie Stuart Hall und Graham Huggan analysieren solche Prozesse in ihrer Migrations- und Rassismusforschung als Teilbereich der Postkolonialismus-Forschung.

Gegenstand der Postkolonialismus-Forschung: Das Für und Wider des „post“

Wenn damit kurz die Dringlichkeit der Postkolonialismus-Forschung angedeutet ist, stellt sich die Frage, worum es dabei geht. Beim Wort genommen, befasst sich die Postkolonialismus-Forschung mit „nachkolonialen“ Zuständen, und die obigen Zahlen stellen deren gewaltiges Potential unter Beweis. Doch vor allem die Vorsilbe „post,“ also der Hinweis auf das „nach“ des Kolonialismus, wirft Fragen auf, die in der Forschung selbst kontrovers beantwortet werden. Geht es dabei um eine zeitliche Markierung oder um eine inhaltliche Abgrenzung von anderen Forschungsansätzen? Weiter: Verweist das „post“ darauf, dass die thematisierten Gesellschaften sich vom Einfluss der Kolonisten gelöst und eine gänzlich eigenständige Kultur entwickelt haben? Und geht es um die ausschließliche Arbeit mit Texten, die nach der Entkolonisierung entstanden sind?

Die Auseinandersetzung um die Beantwortung dieser Fragen trägt die Postkolonialismus-Forschung unter anderem als Streit um den „Bindestrich“ in ihrem Namen heftig aus (Gandhi 1998: 3). Viele derjenigen, die den Bindestrich nach „post“ fordern, verstehen ihn als Markierung des grundsätzlichen Bruchs einer vollzogenen Entkolonisierung. Mit der Unabhängigkeit soll etwas kulturell Neuartiges beginnen. Wer dieser Ansicht ist, legt den Schwerpunkt seiner Arbeit auf die Erforschung kultureller Tatsachen wie Literatur oder Theater, die nach der Entkolonisierung in Erscheinung treten. Vor diesem Hintergrund lehnen es etwa Karen Rehberger und Gerhard Stilz als zu „vage“ ab, Untersuchungen bis in die Zeit des frühen Kolonialismus voranzutreiben. Wenn sie nach „post auch keinen Bindestrich setzen, möchten sie dennoch die Forschung zum „Postkolonialen“ weitgehend auf „ehemals“ kolonisierte Länder (2004: 142) verengen und auf die „Frage der Identitätsstiftung der ehemaligen Kolonien“ (143, meine Hervorhebung). In einem Atemzug betont ihre – deshalb dennoch wertvolle – Einführung jedoch „den Dialog zwischen den Kulturen der Kolonisatoren und der Kolonisierten“ (146). Dieser setzt logisch mit der Kolonisierung ein und verweist, wie die Autoren überzeugend erläutern, auf die Bedeutung der Vorgänge zur Zeit des Kolonialismus und des Entkolonisierungskampfes (142-32).

Die anderen, und sie sind in der Mehrheit, verzichten auf den Bindestrich. Sie meinen, dass ehemalige Kolonien nach ihrer Unabhängigkeit zwar ”postkolonial” heißen, dass aber deren kulturelle Prägung viel früher, nämlich mit dem Beginn der Kolonisierung eingesetzt hat. Weil die Nachwirkungen von Dauer sind, muss dieser Auffassung gemäß die gesamte Phase vom Beginn der Kolonisierung bis in die Gegenwart erforscht werden. Danach entstandene Kulturzeugnisse sind lediglich Teilbereiche der auszuwertenden Objekte (Ashcroft et al. 1998: 187-88). In diesem letzteren Sinn beweisen führende Forscher wie Edward Said (1993) die Aussagekraft der Zeugnisse aus den Kulturen der Kolonialmächte England, Frankreich, Österreich-Ungarn und – seit dem Zweiten Weltkrieg – der USA für das Verständnis des Kolonialismus. Sie betonen gerade den Wert der Information vom lebendigen kolonialen Prozess in seinen Legitimationsstrategien und Widersprüchen, seinen Durchsetzungstaktiken, dem Widerstand, auf den er stößt, seiner Verteidigung dagegen und dem Mehrwert (z.B. an Identitätsstiftung), den er für die Kolonisten abwirft.

Als Begründung ihrer Arbeit erläutert daher Helen Tiffin (1989: 32), dass die kolonialen Züge nicht getilgt werden könnten und dies angesichts der im Zuge der Vorherrschaft ausgeübten Grausamkeiten auch nicht wünschenswert sei. Folglich erklärt sie den Traum von der Wiederherstellung einer imaginären vorkolonialen „Reinheit” als irrig. Entkolonisierung ist für sie kein erreichter oder auch nur erreichbarer Zustand, sondern ein unabschließbarer Prozess. In dasselbe Horn stößt Homi Bhabha (1994:128), wenn er die „fortdauernde koloniale Gegenwart und ihre widersprüchlichen Artikulationen von Macht und kulturellem Wissen“ thematisiert. Und Gayatri Spivak, neben Said und Bhabha die dritte der bekanntesten Theoretiker der Forschungsrichtung, zieht dieselbe Konsequenz aus ihrem Wissen um die Kontinuität des Kolonialismus. In der Tat spielt völkerrechtliche Unabhängigkeit eine untergeordnete Rolle, wenn es darum geht, wie gegenwärtige Kultur, Sprache und Literatur beschaffen sind.

An den Bindestrich werden auch methodologische Vorschläge zur Interpretation von kolonial geprägten Kulturen geknüpft. Die „Bindestrich-“ Post-kolonialen bekennen sich bei ihrer Forschung dazu, die materiellen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, wenn sie auch dessen sprachliche Bedingungen damit keineswegs übersehen. Spinnefeind scheinen Ihnen die „strichlosen“ Postkolonialismus-Forscher zu sein, die vermeintlich geringes Interesse an Fragen des Materialismus zu erkennen geben und dazu neigen, sich voll und ganz auf die sprachlichen Bedingungen von Kolonialismus und Imperialismus zu konzentrieren. Es scheint, dass diese Frontstellung heute überwunden und einem Pluralismus der Ansätze gewichen ist; zumindest ist der Ruf nach Strichen heute weniger deutlich vernehmbar.

Mit der Wahl der zeitlichen Dimension werden zugleich inhaltliche Entscheidungen gefällt. Denn wenn man sich auf die Erforschung von Kulturen ehemaliger Kolonien nach deren Entkolonisierung beschränkt, so macht man sich vermeintlich nicht die Hände mit der Analyse der Herrenkulturen schmutzig. Die Debatte darum fasst Anne McClintock (1992) zusammen. Grob gesagt, reicht die Breite des Forschungsspektrums von Edward Saids ideologiekritischer Lektüre des abendländischen Kanons der Kolonialnationen, die Aijaz Ahmad (1992:166) heftig kritisiert, bis zu Helen Tiffins (1989) Bevorzugung von nachkolonialer Literatur, die sich aus den verschiedenartigsten kolonialen Situationen durchaus auch auf diesen Kanon bezieht, um ihn im Zuge der spielerischen Aneignung seiner Elemente zu destabilisieren.

Definition von Postkolonialismus-Forschung

Unmissverständliche Aussagen zum Gegenstand ihrer Arbeit machen einige der führenden Postkolonialismus-Forscher, Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin, (1989: 2): Sie arbeiten an der „gesamte[n] Kultur, die von dem Moment der Kolonisierung bis heute vom imperialen Prozess betroffen ist,“ und das schließt die Kultur der Kolonisten selbstverständlich ein. Damit schält sich eine Definition heraus: Postkolonialismus-Forschung ist das wissenschaftliche Arbeitsgebiet, in dem die soziokulturellen Auswirkungen von Kolonialismus erforscht werden, und zwar vom Beginn der Kolonisierung an, während des Kolonialismus, im Zuge der Entkolonisierung und nachdem Unabhängigkeit erlangt wurde.

Um die Debatte zur Vorsilbe abzurunden, bedeutet dies paradoxerweise nicht weniger, als dass das „post“ im Namen der Forschungsrichtung keine zeitliche Dimension ausdrückt und daher keineswegs die Analyse kolonialer Prozesse ausschließt – im Gegenteil. Wenn man das „post“ dennoch nicht weglässt, dann aus Gründen der Arbeitsteilung: Die Philologien und sozialwissenschaftlich arbeitenden Nachbardisziplinen grenzen damit ihre Arbeit gegen die stärker faktenorientierten Fächer wie die Geschichtswissenschaft und Politologie ab – wo freilich der Begriff mittlerweile auch kursiert. So bezeichnen Historiker nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Begriff „postkolonial“ – mit oder ohne Bindestrich – entkolonisierte Länder, wohingegen die Philologen den Begriff seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts für „die verschiedenen kulturellen Auswirkungen von Kolonisierung“ (Ashcroft et al. 1998: 18692) verwenden.

Dabei ist die Nähe dieses Begriffs zu philologischen bzw. philosophischen Begriffen wie „Postmoderne“ und dem gleichermaßen missverständlichen Begriff „Poststrukturalismus“ gewollt, den Frank als zu „indifferent“ ablehnt und historisch abgeleitet durch „Neostrukturalismus“ ersetzt (Frank 1984: 31-32). In all diesen Gebieten zeigt die Vorsilbe potentiell Interessierten an: Achtung! Hier befinden Sie sich auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften. Es ist daher sicher nicht das Dümmste, sich der Meinung von Sara Suleri (1995: 275) anzuschließen: „[B]esäße ich eine Vetorecht über Präfixe, müsste sich post- als erstes verabschieden.“ So einfach lässt sich das „post“ aber nicht entmachten. Letztendlich rechtfertigt die Konvention seinen weiteren Einsatz.

Adressierung

Wen geht nun diese Forschungsrichtung überhaupt an? Sie fördert in allen Geisteswissenschaften die Erkenntnis davon, wie Phänomene des Kolonialismus sich weltweit jeweils eigenständig auswirken. Die Anglistik und Amerikanistik zeigen sich solchen Fragen gegenüber traditionell aufgeschlossener, doch die Forschung wird auch getragen von der Germanistik, der Romanistik, der arabischen Philologie (bzw. Islamistik), der Slawistik, der Indologie, der Sinologie und Japanologie sowie nicht zuletzt von der Komparatistik, die sich per se mit den kulturübergreifenden Fragestellungen befasst, die unter dem Eindruck der Postkolonialismus-Forschung zum Teil fundamental revidiert wurden und werden (Tiffin 1989: 33-35).

Doch auch in anderen Geisteswissenschaften wie Medienwissenschaften (z.B. Bergermann 2012) Kunstgeschichte (z.B. Haustein 2008; Karentzos 2012; Streit 2002) und Musikwissenschaften (z.B. Said 1995), werden die vor kolonialem Hintergrund entstandenen Kulturzeugnisse erforscht. Dies gilt ebenfalls für Historiographie (z.B. Bühler 2003), Soziologie (z.B. Reuter 2012), Politologie (z.B. Ziai 2012), Wirtschaftswissenschaften (z.B. Pollard / McEwan / Hughes (Hg.) 2011), Anthropologie und Ethnologie (z.B. Münster 2012), Theologie (z.B. Nehring / Thielesch (Hg.) 2013), Rechtswissenschaften (z.B. Zimmer 2004; Böhlke-Itzen 2004), Geographie (z.B. Lossau 2012), Pädagogik (z.B. Baquero Torres 2012): Keine der großen Disziplinen, die historisch an Resultaten menschlichen Wirkens arbeitet, kann ihren Fragen ausweichen. Sicher ist, dass die Linguistik z.B. mit Brathwaites Arbeit (1995b) und als Komplementärdisziplin der Literaturwissenschaft immer wieder auch adressiert ist. Und auch die Philosophie (z.B. Purtschert 2012) sieht sich der Forschungsrichtung vor neue Herausforderungen gestellt.

Exemplarisch zeigt die deutsche Germanistik, wie sich die Postkolonialismus-Forschung gerade im vergangenen Jahrzehnt mehr und mehr durchsetzt. Lange sträubt sich die Disziplin gegen die Übertragung der Fragestellungen dieser Forschung auf ihr Gebiet und begründet dies mit der historischen Übermacht der anderen Imperien im Vergleich zu dem vergleichsweise unbedeutenderen deutschen Kolonialismus. Noch 2003 konstatiert der US-amerikanische Germanist Russell Berman (2003: 19) den Forschungsstand daher nüchtern: „In der literaturgeschichtlichen Forschung war der deutsche Kolonialismus bis vor kurzem [...] nur eine Randerscheinung.“ Und: „Wir wissen immer noch viel zu wenig über den Stellenwert der Kolonialidee für Gesellschaft, Politik und Wissenschaft in Deutschland zwischen 1800 und 1945“ (20). Wohl auch unter seinem Einfluss ändert sich die Situation danach jedoch grundlegend. So setzt sich etwa 2005 Andrea Polaschegg mit der Gültigkeit von Edwards Saids Orientalismus-Konzept für die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts auseinander. Zwar stellt noch 2012 ein in der Forschung ausgewiesener Germanist fest (Uerlings 2012: 45), dass in den einschlägigen Einführungsbänden „Germanisten, die sich über die Postkolonialität informieren wollen, hier nicht […] fündig werden.“ Aber nach sieben verdienstvollen Sammelwerken der Reihe „Postkoloniale Studien in der Germanistik“ von 2012-14 (u.a. Uerlings / Patrut (Hg.) 2012; Dürbeck (Hg.) 2014) kann man nun konstatieren, dass die Postkolonialismus-Forschung auch in der deutschen Germanistik angekommen ist.

Aus den oben genannten wissenschaftlichen Disziplinen ergibt sich folgerichtig, dass nicht nur Texte Untersuchungsgegenstand der Postkolonialismus-Forschung sein können. Dies legt zwar die philologische Herkunft Begrifflichkeit nahe, doch die Forschung richtet den Blick ebenso auf Filme, künstlerische Objekte, architektonische Zeugnisse oder musikalische Werke. Die durchaus sinnvolle Berücksichtigung mehrerer Objektarten leitet dabei zu der interdisziplinären Analyse an, die die Wissenschaftstheoretikerin Julie Thompson Klein (2001) generell bei komplexen Fragestellungen für erforderlich ansieht, die aus den Kulturwissenschaften heraus Klaus Hansen (2000) fordert und bei der Julia Reuter und Alexandra Karentzos (2012: 8) in der Postkolonialismus-Forschung „zumindest in Deutschland“ bislang „wenige Anstrengungen“ feststellen können.

Begrifflichkeit: Kolonialismus, Imperialismus, Neokolonialismus

Doch wo genau verläuft die Demarkationslinie zwischen den beiden nun immer wieder genannten Begriffen Kolonialismus und Imperialismus? Kurz gesagt, versteht man unter Kolonialismus, die Besiedlung fremder Länder und die Beherrschung von deren Einwohnern. Doch eindeutig vom Imperialismus ist dieser Begriff nicht zu trennen. Eine gängige Unterscheidung besteht in der Fassung des Kolonialismus als tatsächliche Beherrschung solcher Länder und des Imperialismus als Triebfeder dahinter, wie dies Edward Said vorschlägt (1993: 8). Anstelle dieser funktionalen Unterscheidung zieht der Imperialismus-Forscher Wolfgang Mommsen (1977: 19) eine zeitliche Grenze: Kolonialismus gilt ihm als ältere Spielart des Imperialismus. Zugleich gesteht er aber ein, dass es dieser Definition an Trennschärfe mangelt.

Die Zeit des Hochimperialismus datiert Mommsen (1977: 20) auf die knapp vier Jahrzehnte zwischen 1881 und 1918. Detaillierter erläutert er (20): „Heute darf als allgemein anerkannt gelten, dass der Imperialismus die Schlussphase des großen Ausbreitungsprozesses der Gesellschaftssysteme der westlichen Welt über die unterentwickelten Regionen des Erdballs gewesen ist, ein Prozess, dessen Anfänge bis in das 14. Jahrhundert zurückreichen.“ Muss man auch aus heutiger Sicht die Bezeichnung „unterentwickelt“ als ethnozentrische Überlegenheitsvokabel zurückweisen, so hat die Chronologie doch einen Nutzen: Sie veranschaulicht den zeitlichen Horizont des Gegenstands, um den es hier geht, und deutet an, dass sich die Beziehungen zwischen Kolonisten und Kolonisierten entlang der Zeitachse intensivieren.

Dies unterstreicht Mommsen (1977: 21), wenn er die Phase des Imperialismus als zunehmende Formalisierung des Kolonialismus und des Machtkampfes der europäischen Großmächte mithilfe von Kolonien beschreibt. Zwar existiert ein von den Vereinten Nationen sanktionierter, internationaler Konsens über die Völkerrechtswidrigkeit von gewalttätigen Grenzverletzungen und Gebietsannexionen. Dennoch lässt Mommsen (20) keinen Zweifel daran, dass der Imperialismus andauert und sich auch die älteren Kolonisierungen nicht von den heutigen Wirtschaftsbeziehungen, die er, ebenso wie Petra Steinberger (2009: 16) als „neokolonial“ bezeichnet, abgrenzen lassen.

Das bedeutet, dass sich der Blick auf Kolonialismus und Imperialismus auch auf die Gegenwart richtet, und zwar nicht nur, was die Spätfolgen angeht. Einerseits verbergen sich im 21. Jahrhundert innerhalb des vermeintlich klinisch reinen Begriffs der Globalisierung Ausbeutungsprozesse und -strategien des klassischen Kolonialismus. Dies wird etwa deutlich, wenn die Europäische Union ausländische Märkte durch hochsubventionierte Billigimporte ruiniert, um eigene Überproduktionsprobleme zu lösen (Busse 2010: 96-11). Erwin Wagenhofers Dokumentarfilm We Feed the World (2006) zeigt anschaulich, wie diese zerstörten Existenzgrundlagen und die konsequente Flucht vor dem Hungertod am Anfang des 21. Jahrhunderts zum zentralen Grund von Massenmigration werden. Andererseits belegen Beispiele wie Nordirland, Tibet, Tschetschenien und eben die Krim das nur vermeintlich anachronistische Fortdauern von Kolonialismus in die Gegenwart hinein. Zu diesen alltäglichen Problemen des Imperialismus, des Welthandels und nicht zuletzt des Tourismus liegt eine Vielzahl von Untersuchungen vor (z.B. Purtschert 2008; Golly 2009; Businger 2008). Und schließlich feiert im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts im Nahen Osten eine Interventionspolitik zumindest vorübergehend fröhliche Urständ, die an den geächteten Kolonialismus erinnert, und zwar unter Einsatz massiver Lügenkampagnen vor dem dadurch zunehmend delegitimierten UN-Sicherheitsrat und betrieben von den USA und einigen gutgläubigen, zynischen oder abhängigen Satellitenstaaten.

Bei dem damit geographisch und historisch weit gefassten Forschungsgegenstand ist die Gefahr des Ausuferns (Slemon 1995: 45) nicht von der Hand zu weisen. Zu Recht erklärt etwa auch Bart Moore-Gilbert (1997: 11), dass der Begriff des „Postkolonialen“ mittlerweile auf eine solche Vielfalt von „historischen Augenblicken, geographischen Regionen, kulturellen Identitäten, politischen Situationen und Kontexten sowie Lesepraktiken“ Anwendung finde, dass seine analytische Schärfe bedroht sei. Dies Bedenken rührt nicht zuletzt aus der gewaltigen historischen Tiefe, auf die der analytische Blick stößt, eine Tiefe jedoch, die wiederum verschiedene Experten unterschiedlich umreißen. Alternativ zu Mommsens oben zitierter Datierung auf das 14. Jahrhundert schlagen Ashcroft, Griffiths und Tiffin (1998:188) das 16. Jahrhundert als Beginn des Kolonialismus vor, wohingegen sich Karen Rehberger und Gerhard Stilz (2004: 143) grob in der Mitte einfinden, nämlich „zu Beginn des 15. Jahrhunderts“. Immerhin besteht damit weitgehender Konsens darüber, dass die chronologische Leitlinie der Postkolonialismus-Forschung etwa mit dem Beginn der Neuzeit zusammenfällt. Damit ist jedoch eher der Ist-Zustand der Richtung beschrieben als ein Verbot, die Forschung weiter in die Vergangenheit voranzutreiben. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang James Scotts Diagnose von Versklavung als einer der zentralen Funktionen frühgeschichtlicher und antiker Gemeinschaften (2013: 15):

Die Athener und Spartaner brachten vielleicht die Männer einer besiegten Stadt um und verbrannten ihre Ernten, aber praktisch immer verschleppten sie die Frauen und Kinder als Sklaven […].Es ist eine Tatsache, dass Versklavung im absoluten Zentrum [Orig.: the very centre] von Staatlichkeit lag. Es ist unmöglich, die gewaltigen Auswirkungen dieser menschlichen Ware auf staatenlose Gesellschaften zu übertreiben.

Wenn damit die für Kolonialismus typische Situation der Sklaverei als zentrales Phänomen benannt ist, eröffnet sich freilich erst das Aufgabenfeld für die Postkolonialismus-Forschung. Wenn man nach den frühesten kolonialen Situationen fragt, die von der Forschung bearbeitet werden, stößt man auf Verweise zu Konferenzdebatten über die griechische Antike (Moore-Gilbert1997: 12). In der Politologie liegen Vergleiche der Auswirkungen des römischen und des US-amerikanischen Imperiums nahe (Johnson 2004), und in der Tat wird die Beschaffenheit des Verhältnisses zwischen der Antike und modernen Kolonien ebenso untersucht (Sánchez-Moreno Ellart 2006) wie der Einsatz von Ideen der Antike als argumentatives Werkzeug im Zuge des modernen Kolonialismus, etwa wenn es um die Beschaffung der Elgin Marbles geht. (Goff (Hg.) 2005). Zudem liegt auch schon eine Ausarbeitung zur selbstreflexiven Sicht des Historikers Herodot im Bezug zu griechischer Imperialmacht vor (Harrison 2009). So kann man resümieren: Die Grenze der Forschung zieht weniger die Zeit als die Quellenlage.

Postkolonialismus-Forschung, Kulturwissenschaften und „Cultural Studies“

Damit stellt sich auch die Frage nach der Beziehung zwischen den Kulturwissenschaften und der Postkolonialismus-Forschung. Die Ansicht Bernhard Kleins und Jürgen Kramers (2002), dass die gemeinsame Basis der Postkolonialismus-Forschung und der „Cultural Studies“ bislang kaum erforscht sei, bezieht sich nicht auf die Übersetzung des Begriffs als Kulturwissenschaften, sondern auf eine im engeren angelsächsischen Sinn sozioökonomische bzw. marxistisch ausgerichtete Kulturanalyse (Riedel 2002: 77-78). Dagegen besitzt der deutsche Begriff der Kulturwissenschaften eine größere Ausdehnung und überspannt neben den Philologien auch Disziplinen wie etwa Architektur- und Kunstgeschichte oder Musikwissenschaft. So bezieht sich „Kulturwissenschaften“ auf die Gesamt- und „Cultural Studies“ auf die als sozioökonomisch orientierter Teilmenge. Zu diesen Begriffen steht die PostkolonialismusForschung mit ihrem Blick auf die kolonialen Bezüge quer. Wäre sie lediglich Teil der Kulturwissenschaften, so müsste nämlich die Methodologie in den Kulturwissenschaften entwickelt und dann mit dem Blick auf Kolonialismus kombiniert worden sein. Doch etwa das Beispiel Homi Bhabhas, eines des wichtigsten Ideengebers der Richtung zeigt, dass dies nicht der Fall ist: Er unternimmt weit mehr, als Begriffe wie Hybridität und Mimikry nur auf den kolonialen Zusammenhang anzuwenden. Wie das Kapitel zu ihm zeigt, entwickelt er sie stattdessen aus ihm heraus.

Sicherlich lässt sich mit Klein und Kramer (2002: 3) der gleichzeitige Aufstieg der Kulturwissenschaften und der Postkolonialismus-Forschung in Deutschland konstatieren. Zugleich muss man jedoch auch in Frage stellen, ob sich beide wirklich durchgesetzt haben. Doch die für die deutsche Forschung spezifische Feststellung, dass es zwischen beiden Richtungen wenig Austausch, Diskussion oder gar Kooperation gibt, ist Zeichen starker Unterschiede.

Typisierungsvorschläge

Weitere grundlegende Versuche, das Feld der Postkolonialismus-Forschung einzuteilen, sind vor allem für regionenüberspannende Arbeiten erkenntnisfördernd. Hier kann es aufschlussreich sein, wenn sich innerhalb der Vielzahl von kolonialen Einzelfällen auch gemeinsame Strukturen oder Stile der Kolonisierung ableiten lassen. Dazu liegen verschiedene Vorschläge vor: So greift etwa Wolfgang Müller-Funk (2002: 19-20) auf die Unterteilung in „Seeschäumer“ und „Landtreter“ bei Carl Schmitt zurück. Damit ist die Raumorientierung der Kolonisatoren angesprochen. Den traditionellen Unterjochern auf dem Landweg, die graduell ihre eigenen Grenzen erweitern, stehen die Eroberer auf dem Seeweg der Neuzeit gegenüber, die gänzlich fremde Territorien wie den amerikanischen Kontinent in Besitz nehmen. Diese Kategorien führen innerhalb Europas wiederum zu Selbstbildern, die mit weitergehenden und in der Regel aufoder abwertenden Aussagen zu dem Stand der kulturellen Entwicklung, dem Gegensatz zwischen religiösen Mustern der Sinnstiftung und, im mitteleuropäischen Raum, zwischen deutsch und nicht-deutsch einhergehen (Müller-Funk 20).

Als die wichtigsten beiden Gruppen des europäischen Kolonialismus gelten im angelsächsischen Sprach- und Forschungsraum hingegen einerseits Siedlungs- oder Siedler-Invasoren Kolonien und andererseits Verwaltungs- oder Besatzungskolonien (Ashcroft et al. 1998: 211-12). Beispiele für Besatzungskolonien sind etwa Nigeria und Indien. Dort bleiben die Besatzer während der englischen Kolonisierung stets in der Minderheit. Diese Minderheit regiert jedoch als Verwaltungselite das gesamte Land und stattet ihre eigene Sprache mit einer kulturellen Wertschätzung aus, die sie indigenen Äußerungsformen abspricht – am Rand sei angemerkt, dass die Unterjochung Nigerias keiner einheitlichen Strategie folgt. Auch während der Besatzung spielt die einheimische Kultur eine, wenn auch tendenziell marginalisierte Rolle. Dadurch besitzt diese nach der Entkolonisierung das Potential, sich wieder größere Geltung zu verschaffen. Ganz anders verhält es sich mit den Siedlungskolonien. Hier eignen sich die Kolonisten weite Teile des Landes oder das ganze Land an, ermorden oder deportieren oftmals die ursprünglichen Eigentümer dieses Landes und setzen auf Kosten der vorgefundenen Kultur die eigene in großem Maßstab durch. Jürgen Osterhammel (2004: 173) verweist zu recht auf die „unweigerlich zerstörerischen Wirkungen“ dieser überwiegend aus dem britischen Imperium hervorgehenden Form der Kolonisierung. Dies gilt für so verschiedenartige Länder wie etwa die USA, Australien, Kanada und Argentinien. Pläne zur Entkolonisierung solcher Länder sind wegen der Übermacht der Nachkommen der Siedler gegenüber der indigenen Bevölkerung nicht durchführbar und die verbliebenen Nachfahren der Einheimischen daher in der Regel nicht nur ihrer Lebensweise beraubt, sondern auch dauerhaft ihrer ursprünglichen politischen Rechte und des Eigentums.

Häufig stammen die Eindringlinge in solchen Siedlungs-Kolonien aus diskriminierten oder unterprivilegierten Gesellschaftsgruppen der Imperien. Nicht selten werden die Siedler auch von der Kolonialmacht, die sie bei der Besiedlung unterstützt, daher als geringwertig diskriminiert. Diese Deplatzierung der Siedler im Verhältnis zur Kolonialmacht ergänzt sich mit der Entwurzelung des Dauerexils und motiviert die prinzipiell vergebliche und damit umso verbissenere Suche nach einer Kollektividentität innerhalb des okkupierten Territoriums. Die Siedler, die zwischen den Angehörigen der Kolonialmacht und den Einheimischen stehen, lassen sich daher zugleich als Kolonisten und Kolonisierte begreifen (Ashcroft et al. 1998: 212), als Täter und als Opfer. Zudem beeinflusst die ursprünglich vorgefundene Kultur über Generationen der Besiedlung hinweg die Siedlerkultur. Dieser Einfluss geht über den Kulturtransfer, den Verwaltungsbeamte in Besatzungskolonien erleben, weit hinaus, da jene lediglich auf Zeit berufen werden, und die dauerhafte Niederlassung in der Kolonie dort nicht zur Verwaltungsstrategie der Kolonialmacht gehört. Doch wie viele andere schlichte Zweiteilungen so führt auch diese nicht sehr weit und spielt daher in der praktischen Arbeit nur eine untergeordnete Rolle. Der Grund: Die analytische Schärfe des genauen Blicks auf die konkrete Situation übertrifft die lediglich pauschale Aussagekraft der beiden Kolonisierungstypen bei weitem.

ii Räume und Ideen

Forschungsarena Welt

Wie eingangs erläutert, gibt es in der Postkolonialismus-Forschung einen breiten Konsens darüber, dass neben den kolonisierten Ländern vor allem auch die Kolonialmächte untersucht werden müssen. Diese Ansicht teilen so verschiedene Forscher wie Edward Said, Gayatri Spivak und Homi Bhabha, und das aus gutem Grund: Auch die kolonisierenden Kulturen tragen tiefe Spuren des Kolonialismus. Weil in der Neuzeit kaum ein nicht-westliches Land vom westlichen Kolonialismus oder Imperialismus verschont bleibt, bearbeitet die Postkolonialismus-Forschung daher ein Gebiet, das sich nahezu über den gesamten Globus spannt. Abgesehen von dem lange weitgehend abgeschotteten Japan gibt es lediglich zwei Ausnahmen: Diese betreffen einzelne Regionen Chinas und Thailand (Mommsen 1977: 29). Einschränkend muss man dazu jedoch anmerken, dass Thailand erst seit 1767 von Kolonialmächten unangetastet ist und auch danach noch großflächige Gebiete an Frankreich und Britannien abtreten muss. So haben koloniale Denkmuster auch dies Land geprägt (Mar Castro Varela / Dhawan 2005: 10).

Wegen der überragenden Bedeutung des englischen Kolonialismus und Imperialismus dem französischen und niederländischen gegenüber (Osterhammel 2004: 170) sind Anglistik und Amerikanistik Hauptträger der Forschung. Die weiteren Ränge der Kolonialmächte besetzen Spanien und Portugal und anschließend das relativ weniger bedeutende Habsburgerreich, Italien, Belgien und das Deutsche Reich. Doch das heißt nicht, dass Japans aggressiver Imperialismus, der bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Millionen von Menschenopfern fordert, vernachlässigt werden kann. Insbesondere dann nicht, wenn man die Spätfolgen zur Kenntnis nimmt: Noch im 21. Jahrhundert benutzen japanische Schülerinnen und Schüler Lehrwerke, die für die japanische Invasion Chinas den neutralen Begriff des „Vorrückens“ benutzen und etwa für das Massaker von Nanking den Euphemismus „Vorfall“ (Rubner 2005). China ist für die Postkolonialismus-Forschung ebenfalls von erheblicher Bedeutung. Mit der anhaltenden Kolonisierung Tibets und der seit 1955 währenden Kolonisierung von Ost-Turkestan unter dem Namen Xinjiang (Terrorangriff 2014), der mit staatsrassistischen Mitteln Hand in Hand geht, dem Anspruch auf Taiwan und weiteren zweifelhaften Gebietsansprüchen bemüht es sich 21. Jahrhundert um den Aufstieg zu einer neuen Imperialmacht. Diese besitzt für die Sinologie überragende Relevanz angesichts der Tatsache, dass weltweit eine gewaltige Propagandakampagne mittels der knapp 500 Konfuzius-Institute Debatten über die chinesische Imperialpolitik bis in die Wissenschaft hinein unterbinden soll (Neshitov / Strittmatter 2014). Weil das Kapitel zu Edward Said auf Fernost und den arabischen Raum eingeht, spielt dieser Aspekt in dieser Einleitung keine gesonderte Rolle.

Vor allem aber geht es bei der Arbeit der Postkolonialismus-Forschung um die Entwicklung eines differenzierten Blicks: Erstens muss man die Geschichte der jeweiligen Kolonialmacht berücksichtigen, zweitens aber auch den historischen Verlauf der Kolonisierung der Region, aus dem das Kulturzeugnis stammt. So wäre es etwa schwerlich möglich, das Geschichtsepos Omeros des karibischen Autors Derek Walcott auch nur in Ansätzen zu verstehen, würde man die Kolonisierungsgeschichte der Karibik im Allgemeinen und die komplexe Situation seiner Heimatinsel St. Lucia im Besonderen nicht kennen. Im Folgenden kann kein erschöpfender und ausführlicher Überblick über alle Kolonien und Kolonialmächte gegeben werden. Zu umfangreich würde eine solche Liste von geschichtlich unterschiedlich geprägten Räumen. Dennoch ist es lohnend, knapp auf einige der kolonisierenden und kolonisierten Regionen einzugehen, die in der Postkolonialismus-Forschung eine wichtige Rolle spielen. Obwohl die Forschungsrichtung und der vorliegende Band vor allem Kulturphänomene behandeln, sollen bei dieser kursorischen Übersicht die zugrundeliegenden historischpolitische Rahmenkonstellationen im Vordergrund stehen, vor dessen Hintergrund sich diese Merkmale erst entfalten.

In diesem Zuge eine Liste von Kulturschaffenden abzuschildern, hieße, es gründlich falsch zu machen. Jede solche Aufzählung ist unvollständig. Das oben Gesagte bedeutet nämlich die größtmögliche Offenheit des Katalogs der Forschungsobjekte, weil prinzipiell unterstellt werden kann, dass kaum ein Schöpfer komplexer Werke von kolonialen Phänomenen unberührt ist. Lediglich zur Illustration sollen daher einige wenige Kulturschaffende genannt werden, die mit den genannten Schauplätzen verbunden sind.

Karibik und „Schwarzer Atlantik“

Die Tatsache, dass die grobe Unterteilung in Siedlungs- und Besatzungskolonien in der Forschungspraxis allenfalls der ersten Orientierung dient, zeigt exemplarisch der karibische Raum. In dem sich über 2000 Kilometer von Florida bis Südamerika erstreckenden Gebiet wirken als Kolonisten vor allem Spanier, Franzosen, Engländer und Niederländer, und zwar oftmals am selben Ort abwechselnd. Die einheimische Bevölkerung der Caribs und Aruacs wird in dem Großraum nicht nur enteignet, entrechtet und diskriminiert, sondern in kürzester Zeit vollständig ausgerottet. Damit fehlt das für Verwaltungs- oder Besatzungskolonien typische Element einer indigenen Ethnie. Zur Landbearbeitung werden im Zuge der größten erzwungenen Migration der Weltgeschichte (Reichardt 2003: 296) vom afrikanischen Kontinent viele Millionen Angehörige u.a. der Aschanti-, Kongo- und Yorubavölker auf mörderischen Überfahrten als Sklaven in die Karibik verschleppt.

Die Arbeiterschaft vergrößert sich später um asiatische Leiharbeiter, die mit falschen Versprechungen angelockt werden. Daher besteht die Bevölkerungsmehrheit des karibischen Raums aus Nachkommen von Völkern, die dem Gebiet und der vormals einheimischen Kultur ursprünglich fremd sind. Aus dem kulturellen Kontakt dieser heterogenen, uneinheitlichen Gruppe von Deplatzierten, entstehen regional unterschiedlich ausgeprägte Mischkulturen, die am deutlichsten in Kreolsprachen mit gemeinsamen semantischen und stilistischen Formen sichtbar sind. Doch auch weitere Kulturbereiche, wie etwa Musik und Tanz werden durch die Kulturmischung geprägt. Autoren wie Vidiadhar S. Naipaul, Derek Walcott oder Jamaica Kincaid sind hier auf je eigene Art aufschlussreich für die Komplexität der kulturellen Folgen.

Dabei wird rasch deutlich, dass sich die Ausgangssituationen der in die Karibik verschleppten und in die nordamerikanischen Südstaaten deportierten afrikanischen Bevölkerung überschneiden. Sicherlich weichen die politischen Rahmenbedingungen und nachfolgenden geschichtlichen Prozesse in der Karibik und den USA stark voneinander ab. Doch die gemeinsame Herkunft der je nach Zählweise 10 (Reichardt 2003: 296) oder gar 15 Millionen Verschleppten und anschließend Versklavten (Childs / Williams 1997: 30), deren Nachfahren die afro-amerikanischen oder karibischen Bewohner beider Gebiete bis heute sind, ermöglicht es, von einer Schicksalsgemeinschaft auszugehen.

Der Dichter und spätere senegalesische Staatspräsident (1960-80) Léopold Sédar Senghor, der antillanische Dichter Aimé Césaire und andere entwerfen auf dieser Basis seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts unter dem Schlagwort „Négritude“ das Konzept einer gemeinsamen Identität der Afrikaner und Afrikanischstämmigen (Ashcroft et al. 1998: 161-62). So sollen allgemein gültige afrikanische Wesensmerkmale wie die Prägung durch Mystik, mündliche Kulturüberlieferung und Bindung an Vorfahren den kalten modernen Zivilisationsmerkmalen des Westens bzw. Nordens gegenüber stehen. Bei dieser Identitätskonstruktion kann Senghor auf die Panafrikanische Bewegung zurückgreifen, die seit der Wende zum 20. Jahrhundert auf Konferenzen in europäischen Metropolen die Gemeinsamkeiten aller Menschen schwarzer Hautfarbe hervorhebt, deren Gleichberechtigung einfordert und Stolz auf die schwarze Hautfarbe artikuliert.

Im Kontext dieser Bewegung steht die künstlerische Kulturströmung der Harlem Renaissance, die in den zwanziger Jahren mit einer Vielzahl von Einzelwerken Anerkennung für Künstler und Schriftsteller schwarzer Hautfarbe in den USA einfordert. Im weitesten Sinn geht daraus die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung hervor und auch Organisationen wie Black Power und die Black Panther Party, die in den Siebzigern ihre Fühler auch nach Britannien ausstrecken. Mit der Forderung nach rechtlicher Gleichstellung von Kolonisierten inspiriert die Bewegung nicht nur Nachfahren von Afrikanern, sondern Kolonisierte weltweit. Dennoch konstatiert Ulfried Reichardt (2003: 298), dass sich daraus niemals ein „politisches Netzwerk von Bündnissen“ entwickelt habe. Tatsächlich krankt jede Berufung auf eine durch gemeinsame Deportation geteilte Identität an dem grundlegenden Widerspruch, dass ein solches Konstrukt die stark divergierenden historischen Schicksale von Verschleppten ausblendet.

Dies Problem versucht der Postkolonialismus-Forscher Paul Gilroy am Ende des 20 Jahrhunderts in einem noch größer angelegten, an der Herkunft und der schwarzen Hautfarbe orientierten Konzept zu berücksichtigten. Er geht über den Großraum der Karibik und den amerikanischen Kontinent hinaus und definiert den „Schwarzen Atlantik“ als „interkulturelle und transnationale Formation“ (1993: ix) mit Afrika, Europa, der Karibik, Mittelamerika und den USA als Knotenpunkten. Dabei verfolgt Gilroy (et al. 2004: 15) mehrere Ziele. Unmittelbar einleuchtend ist seine Forderung, den Großraum nicht mit den Kategorien des Nationalstaats zu erforschen. Dieser traditionelle Begriff von weißen Rassisten, aber auch Befreiungsbewegungen greift für den „Schwarzen Atlantik“ nicht, könnten doch die Afrikaner in der Diaspora auf keine gemeinsame Sprache, Ethnizität, Kultur oder Religion zurückblicken (Reichardt 2003: 297).

Mit Blick auf die Hautfarbe oder „Chromatismus“ (Spivak 1988: 299) gelten zwar die Afrikaner und ihre Nachfahren in den Sklavengesellschaften einheitlich als Schwarze, aber ihre kulturelle Zugehörigkeit ist mindestens ebenso vielfältig, wie die der Europäer, auch wenn jene das nicht wahrhaben möchten. Hingegen entstammen in den Kolonien einander gleichende Kulturmerkmale wie Musikstile, Rhythmusformen, synkretistische, also mehrere Elemente integrierende Religionen oder Geschichtserzählungen nicht den Herkunftsländern, sondern sind Ergebnis der Entwurzelung (Reichardt 2003: 297). Daher gilt dem Forscher Richard Roberts (1999: 177-90) die Vorstellung eines einheitlichen und authentischen Afrika als zumindest teilweise vom Kolonialismus und der Ethnographie konstruiert.

Des Weiteren möchte Gilroy den traditionellen Begriff einer eindeutig verortbaren Kultur überwinden. Der Seeweg der Sklaventransporte, die „Middle Passage“ des Sklavenhandels, ist für ihn ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger wie die in einem festen Raum verortete Kultur. Der Ort des „negativen Kontinent[s]“ (Gilroy et al. 2004: 15), den er erforscht, liegt daher „zwischen den Territorien.“ Dabei hält er an den Prinzipien der Aufklärung fest, geht aber nicht naiv von deren Unschuld aus. Vielmehr betont er, dass es sich bei ihr um einen „globalen Prozess [sic!] mit globaler Ausdehnung und kolonialem Charakter“ handelt. Auf Basis dieser globalen Perspektive berücksichtigt der Forscher in seiner Untersuchung auch, wenn in Italien Leichen von Schwarzafrikanern angeschwemmt werden und sich „Europa in eine Festung“ verwandle, und liefert dabei eine Vorlage etwa für Wagenhofer (2006).

Das bedeutet zugleich, dass Gilroy solche essentialistischen Vorstellungen überwindet, die sich auf gemeinsame „überhistorische“ afrikanische Wesensmerkmale berufen. Diese blenden einerseits die Uneinheitlichkeit, die Heterogenität, zwischen den afrikanischen Völkern selbst aus, andererseits aber auch die unterschiedlichen kulturellen Formungen, denen die ehemaligen Afrikaner in ihrer jeweiligen Siedlungsregion unterliegen. Dagegen setzt Gilroy die Tatsache kultur- und nationenübergreifender Vermischungen von Ideen, Kategorien und Identitäten, wie sie etwa in Musikstilen zum Ausdruck kommt, die weltweit Interpreten afrikanischer Herkunft dominierten. Zugleich reklamiert er auch die Rolle von ehemaligen schwarzen Sklaven in sozialen Sphären wie der Marine oder anarchistischen Zirkeln, die von der Forschung lange Zeit nicht mit Fragestellungen der Postkolonialismus-Forschung verbunden wurden.

Innerhalb des karibischen Raums ist der Nobelpreisträger Derek Walcott sicherlich der prominenteste Schriftsteller. Geprägt von Patois-Einsprengseln und einheimischen St-Lucia-Bezügen greift er etwa in dem Versepos Omeros (1990) zum Herzstück abendländischer Kultur, der homerischen Epik aus. Für solches Beharren auf eigenständig karibischem Ausdruck liefert auch Kamau Brathwaite (1995a) gewichtige Argumente. Abseits abendländisch engstirniger Konzepte der Nation fordert dieser Dichter dezidiert politisch begründet eine Nationalsprache. Er bekennt sich zu afrikanischen Spracheinflüssen und integriert in seine Texte weitere kulturelle Elemente wie rituelle afrikanische Handlungen, Masken und Tänze. Zu den berühmten karibischen Literaten zählt auch der weitere Nobelpreisträger V.S. Naipaul, wenn dieser auch in Britannien lebt. Seine Eltern, die als indische Vertragsarbeiter nach Trinidad kamen, seine westliche Erziehung mit Studium in Oxford und rastlose Reisen machen ihn zum vielgesichtigen Kosmopoliten, der weit über den karibischen Horizont hinausgreift.

Niederländische Kolonien

Ab dem frühen 17. Jahrhundert weiten die Niederlande mit Gebieten in Nord- und Südamerika, in der Karibik, in West- und Zentralafrika sowie dem südlichen Afrika und Ostasien ihre Kolonialgebiete aus. Ein Mittel dazu sind die niederländischen West- und Ostindien-Kompagnien. Nachdem das heutige Indonesien bis zum 2. Weltkrieg niederländische Kolonie ist, besetzt es Japan im 2. Weltkrieg im Zuge seiner imperialen Expansion. Zwar endet diese Herrschaft mit der Niederlage Japans, doch erkennen die Niederlande die Unabhängigkeit des Vielvölkerstaats erst nach einem vierjährigen blutigen Unabhängigkeitskrieg an, für dessen Folgen sie sich zuletzt 2013 entschuldigen (afp 2013). Bis heute unterstehen die karibischen Gebiete Curaçao und Bonaire sowie die südliche Hälfte von St. Martin, Sint Eustatius und Saba niederländischer Oberhoheit. Waren sie früher Kolonien, so sind sie heute niederländisches Staatsgebiet mit Holländisch als offizieller Sprache.

Zu der kulturellen Konstruktion von Rasse, Geschlecht und Klassenzugehörigkeit legt Ann Laura Stoler (2002; 1997) Studien über die ehemaligen karibischen und südostasiatischen Kolonialgebiete der Niederlande vor, in denen sie den Handelskolonialismus in Indonesien und den Besiedlungskolonialismus nach der Ausrottung der einheimischen Bevölkerung – wie er für die Karibik typisch ist – in den Blick nimmt, um festzustellen, das noch am Ende des 19. Jahrhunderts mehrere 10.000 Bewohner, deren Herkunft als europäisch gilt, tatsächlich zu rund drei Vierteln gemischtethnischer Herkunft sind (Stoler 1997: 198-99). Einen besonderen Schwerpunkt legt sie dabei auf den Begriff der „méitissage,“ der gemischtethnischen Ehe, um die dialektische Spannung zwischen inklusiven und exklusiven Praktiken – angesichts der Tatsache, dass nicht-europäische Ethnizität als subversive Gefahr gilt – als Basis einer größeren Analyse südostasiatischer Kulturgeschichte zu untersuchen.

Afrikanische Regionen

Die Berliner Konferenz der Kolonialmächte zerteilt 1884/85 den afrikanischen Kontinent in Einflussbereiche. Schon vorher und danach weiter prägen gewaltige Unterschiede die Bedingungen in von Frankreich regierten Staaten wie dem beinahe ein Jahrzehnt um die Unabhängigkeit kämpfenden Algerien, dem als königlich belgische Privatkolonie unterjochten und rücksichtslos ausgebluteten Kongo (siehe die Beispielsanalyse zu Apocalypse Now Redux, Kapitel D iii), dem britisch kolonisierten Nigeria, dem nach der britischen Kolonisierung und bis zu Frederik Willem De Klerks Systemwechsel 1990 grundsätzlich rassistischen Apartheid-Regime Südafrika, oder Namibia, das dem wilhelminischen Kolonialismus zum Opfer fällt. Den Imperialmächten ist es zu verdanken, dass die heutigen Staatsgrenzen die Realität von mehr als 800 Ethnien auf dem Kontinent ignorieren. Daneben muss, wie Graham Huggan (2008: 106-07) erläutert, die Arbeit an afrikanischen Kulturen verschiedenartige Fokussierungen der Kulturproduktion für den europäischen oder einheimischen Raum ebenso berücksichtigen wie die verschiedenartigen Zielgruppen von Kulturschaffenden – Zentrum oder Peripherie der Regionen –, die selektive Übersetzung von Werken aus afrikanischen Sprachen, die oftmals genutzte oder erzwungene Statusverbesserung der Produzenten durch Emigration und die Vermittlungsfunktion der Afrikastudien selbst.

Stellvertretend sei hier vor allem auf die Geschichte der kenianischen Entkolonisierung verwiesen, die konzentriert die Grausamkeit des Kolonialismus und von dessen Konsequenzen zeigt. Nach dem Verlust der Herrschaft über Indien 1947 reagiert das britische Kolonialregime in dem ostafrikanischen Land mit beispielloser Härte, als eine Geheimgesellschaft des größten indigenen Einzelvolkes der Kikuyu von 1952 an nach sieben Jahren brodelnder Unruhe zur Gewalt greift. Das Ereignis geht als Mau-Mau-Aufstand in die Geschichtsbücher ein.

Die sich anschließenden vierjährigen Grausamkeiten des Notstandes gegen die Enteigneten und in Reservate Gezwungenen dauern bis 1956 und sprechen der Selbstsicht der Kolonisatoren als zivilisierende Herrscher Hohn. Kenia wird zum Polizeistaat. 150.000 Verdächtige werden in Militärgefängnissen interniert, gesichert gelten Morde an 13.000 Kikuyu, aber Insider verschieben die Relationen: Caroline Elkins (2005) geht von 100.000 Toten allein in den Militärgefängnissen aus. Die systematische Missachtung jeglicher Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit bei Verfahren gegen Verdächtige unter den Kikuyu (Porter 2005: 3) führen zu massenhaften Exekutionen Unschuldiger. Vor allem aber sind die Zustände in den Militärgefängnissen denen im iraker US-Gefängnis Abu Ghraib des 21. Jahrhunderts analog, sprengen aber angesichts der Leichenzahl vorstellbare Dimensionen.

Die massenhaften Grausamkeiten muss die Forschung (Elkins 2005, Anderson, D. 2005) nicht etwa gegen Widerstände recherchieren, sondern die Täter brüsten sich noch Jahrzehnte später freudig ihrer Taten (Porter ebd.). Exkremente werden entwürdigend eingesetzt, Schäferhunde hetzen Häftlinge, Analverkehr wird erzwungen, Sexualorgane abgeschnitten und dem Opfer zu Essen gegeben, Augen werden ausgeschlagen, Ohren abgeschnitten, etc... Die Behandlung der Frauen umfasst Serienvergewaltigungen ebenso wie Verstümmelungen verschiedenster Art. Vergleiche mit NS-Lagern sind immer problematisch, werden aber von den Beamten der Kolonialverwaltung zur Beschreibung der Taten als Topos selbst vorgebracht (Porter 2005: 5). Dies Gegenbild zu Rudyard Kiplings Stilisierung des Kolonialismus als zivilisierende Bürde, die der Weiße zu tragen hätte, und zur Selbstsicht des Imperiums als wohltätiger Einrichtung (Porter ebd.) demaskiert den Kolonialismus als Genozid.

Daneben wiegen auch die 2.200 Opfer des Geheimbunds, den die Briten als Mau Mau titulieren, schwer. Die Tatsache, dass nur zehn Prozent davon Kolonialbeamte und 90 Prozent Kollaborateure der Kikuyu sind, zeigt jedoch im Gegensatz zur Selbststilisierung der panischen Briten zu potentiellen Opfern, dass die Mau-Mau-Rebellion vor allem ein Bürgerkrieg ist (Porter 2005: 6). Brutale Nutznießer der Enteignungspolitik der Kolonialverwaltung, die ab 1902 das Land kontrolliert, sind die englischstämmigen Siedler: Sie nützen aus, dass sich das für das Kolonialgebiet wichtige Kikuyu-Volk in viele Einzelstämme verzweigt, und reklamieren die fruchtbarsten Landstriche für sich. Überwiegend der Oberschicht entstammend, behandeln sie die Einheimischen so unmenschlich, dass selbst die Briten in London die Geduld mit ihnen verlieren, und Winston Churchill sie als Teil des kenianischen Problems erkennt. Es ist Jomo Kenyatta – zunächst Minister-, dann Staatspräsident – zu verdanken, dass nicht bitteres Gedenken an die Barbareien das Bild des Imperiums im entkolonisierten Staat prägt, sondern eine mildere Sicht. Hingegen holt Kenia seine Kolonialgeschichte im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wieder ein (Scheen 2014). Dies geschieht in Form von islamistischen Terrormilizen, die im ehemaligen britischen Küsten-Protektorat, das bis 1963 völkerrechtlich zum Sultanat Sansibar gehört, die Besitzverhältnisse in Frage stellen und deshalb Christen und Kikuyu abschlachten.

Während der Entkolonisierung machen kenianische Künstler und Autoren in dieser Zeit ihre prägenden Erfahrungen, die den berühmtesten Autor Kenias, Ngũgĩ wa Thiong'o letztendlich sogar zur Ablehnung des englischen Idioms motivieren. Sein Schreiben zeichnet die Kolonialgeschichte ebenso nach, wie es das komplexe Klansystem des Kikuyu-Volkes abbildet. In seine Aufwertung der indigenen Kultur ist freilich die Angst vor dem kolonialen Einfluss eingeschrieben und der Wunsch nach dessen letztendlich unmöglicher Auslöschung.

Ebenfalls hervorgehoben zu werden, verdient der bevölkerungsreichste und mit mehr als 200 Sprachgemeinschaften überaus vielfältige Staat Nigeria. Dessen bekannteste Literaten, der 2013 verstorbene Chinua Achebe und der Nobelpreisträger Wole Soyinka verhandeln auf je eigene Weise die Geschichte und Gegenwart des Landes, indem sie sich auf vorkoloniale Wurzeln zurückbeziehen. Daher adaptieren sie Mythen, Tänze und andere Kulturformen für die englischsprachige Literatur. Dabei ist Soyinkas Absage an die Négritude vielleicht sein bekanntestes Statement (Wiwa 2004): „Der Tiger posaunt nicht seine Tigrigkeit heraus. Er handelt.“ Die christliche Mission in Afrika wird häufig als Teil des nördlichen Kolonialprojekts gesehen. Doch die Tatsache, dass etwa Achebe Sohn eines christlichen Katechisten ist, zeigt, dass die produktive Kraft der importierten Religion auch die Einbettung der kolonialen Erfahrung in ein heute dominantes Idiom ermöglicht. Soyinkas Studien und lange Aufenthalte im angelsächsischen Sprachraum wirken sich analog aus.

Der abendländische Einfluss auf viele afrikanischstämmige Intellektuelle darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich das westliche Denken im Zuge der Kolonisierung auf dem afrikanischen Kontinent in aller Regel weniger durchsetzt als z.B. in der Karibik. So tragen die Versuche zur Unterdrückung der einheimischen Kultur in Afrika, falls sie überhaupt stattfinden, wenig Früchte (Crow / Banfield 1996: 78-79). Trotz der nahezu flächendeckenden Existenz neokolonial agierender einheimischer Eliten ist deshalb für den afrikanischen Raum die Anknüpfung an nicht-westliches Denken (Ngũgĩ 1995: 84-101) verführerisch. Dort ist sie besonders geradlinig möglich (Crow / Banfield: 80): „[D]em afrikanischen Dramatiker stehen in der Regel die gesamten Reichtümer der Tradition zur Verfügung, um sie neben den europäischen Modellen zu nutzen (oder zu verwerfen).“ Und es ist diese Durchmischung, die Forderungen nach Rückbesinnung auf eine überlegene indigene Tradition konterkariert.

Von weltweitem Interesses, und zugleich afrikanischer Sonderfall ist schließlich Südafrika. Bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts vom Staatsrassismus der Apartheid getragen, ist das Land eine der letzten Kolonien des Kontinents, in der die indigene Bevölkerung in demokratischen Wahlen die politische Macht über das Land erhält. Während des Kolonialismus arbeiten der Dramatiker Athol Fugard sowie die beiden Nobelpreisträger Nadine Gordimer und J. M. Coetzee (gesprochen „katt-sih-a“) an der Repräsentation dieser gleichsam anachronistischen kolonialen Erfahrung und finden im Schreiben Metaphern für die asymmetrischen Machtverhältnisse. Wenn dabei Coetzee den ersten Kolonistenroman der Weltliteratur und ersten Roman überhaupt, Robinson Crusoe, mehrmals in Buchlänge verarbeitet, zeigt er seine Sensibilität nicht nur für die britische Kolonialgeschichte, sondern auch dafür, dass sich die Metaphorik einer Karibikinsel für die Darstellung Südafrikas mobilisieren lässt.

USA

Das Konzept des „Schwarzen Atlantik“ schließt die USA nur hinsichtlich der Sklavenhalter-Vergangenheit ein. Abgesehen davon wirft der Staat wegen der vormaligen Kolonisierung durch europäische Mächte spezifische methodologische Probleme auf. So erläutern Karen Rehberger und Gerhard Stilz (2004: 144), dass „die USA [...] schon relativ früh von einer Kolonie zu einer bedeutenden politischen Macht avanciert sind, die auch nach der Unabhängigkeit nicht frei war von gravierenden Formen interner Kolonisation, welche sich beispielsweise gegen die amerikanischen Ureinwohner, gegen Schwarze und andere Minoritäten wandte.“ Ihre Erkenntnis, dass „die USA überdies als neo-koloniale Macht auftraten,“ ziehen Rehberger und Stilz nicht etwa als weitere Begründung dafür heran, die USA zu einem besonders interessanten, weil schillernden und komplexen Objekt der Postkolonialismus-Forschung zu machen. Vielmehr konstatieren sie (ebd.), „die US-amerikanische Literatur“ sei „nur sehr bedingt in den postkolonialen Diskurs integrierbar.“ Diese Schlussfolgerung wird zwar dann verständlich, wenn man der oben dargestellten zeitlichen Eingrenzung des „Postkolonialen“ auf Phänomene der Entkolonisierung folgt. Dennoch meinen die Autoren wohl ernsthaft nur, dass man eine Sicht der USA als Kolonie nicht überbewerten solle. Doch der angerissene Kontext des „Schwarzen Atlantik“ lässt sich ebenso wenig vernachlässigen wie die eigene koloniale Rolle der USA und vor allem die am Anfang des 21. Jahrhunderts globale neoimperialistische Hauptrolle.

Der 1776 entkolonisierte Staat begehrt in der Monroedoktrin von 1823 gegen mögliche Fremdherrschaft auf und bekennt sich zur Nichteinmischung in europäische Angelegenheiten. Diese defensive Politik schlägt jedoch bald um in eine Außenpolitik, die genau dies Prinzip mit Füßen tritt: Der religiöse Sendungsgedanke der ersten Siedler bricht sich im 19. Jahrhundert Bahn und ermöglicht nicht zuletzt den Genozid an der indigenen Bevölkerung. Massendeportation und Sklaverei Verschleppter vom afrikanischen Kontinent zur Arbeitskräftebeschaffung gründen auf kolonialen Strukturen. Bis in das 21. Jahrhundert wirkt die Vorstellung fort, dass die USA als vorbildliche Nation aufgerufen seien, das eigene Gesellschaftsmodell zu verbreiten. Dieser Gedanke eines „offenkundigen Schicksals,“ so die Übersetzung des Schlagworts „Manifest Destiny,“ entspringt der Überzeugung, von Gott auserwählt zu sein. Dieser missionarische Gedanke erweitert sich von der Legitimation der gleichsam unvermeidlichen Westausdehnung des eigenen Territoriums im 19. Jahrhundert auf den gesamten Erdball (Said 1993: 348) und im 20. Jahrhundert bis in das Weltall. Die Amerikanistik zeichnet daher nach, wie aus der demokratisierenden Siegermacht des Zweiten Weltkriegs die (kultur-) imperialen USA der Gegenwart werden konnte. Dabei spielt auch die Frage eine Rolle, wie Demokratisierung als Deckmantel eingesetzt wird, um den Einsatz roher Gewalt im Zuge des US-Imperialismus der Kritik zu entziehen.

In Anlehnung an Harry Magdoff (2003: 68) kann man in den rücksichtslos durchgesetzten Hegemonial- und Wirtschaftsinteressen die Überschneidung und gegenseitige Ergänzung von wirtschaftlichen, politischen und strategischen Interessen sehen. Sie basiert auf der militärischen Infrastruktur eines singulären Stützpunktsystems mit weltweit Hunderten von Niederlassungen, die frühere Imperien schwächlich erscheinen lässt. Die drastischsten Beispiele Vietnam, Afghanistan und Irak (siehe: Retort 2005) zeigen, dass die USA seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts daran arbeiten, nach Gutdünken völkerrechtswidrig Regierungen zu stürzen, Besatzungsregimes zu etablieren und, zumindest auf Zeit, Marionettenregierungen zu installieren. Zur Unterstützung ihrer Brüche des Völkerrechts setzen sie Werbeagenturen ebenso ein wie herkömmliche Propaganda, Pressemanipulationen (Gerth / Shane 2005) und schleichende Begriffsprägungen, wie etwa den des „Kalifats“ für eine imaginäre Bedrohung von diabolisch verzerrt dargestellten Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung (Bumiller 2005) – und zwar zeitlich und inhaltlich deplatziert im Verhältnis zu den realen Entwicklungen des 2. Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts.