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»Durch Kurt Flasch wird man nicht zum Dante-Leser, sondern zum ›Dante-Freund‹.« Martin Grzimek In seinem Begleitband ›Einladung, Dante zu lesen‹ führt Kurt Flasch den Leser behutsam und kenntnisreich wie kein zweiter durch die weitverzweigten Gänge von Dantes Meisterwerk. Flasch schildert das Florenz Dantes, die historischen Verwicklungen Italiens, die metaphysischen Höhenflüge und tragischen Enttäuschungen des aus Florenz Verbannten. In seiner Heimatstadt sah Dante eine entseelte Finanzmetropole, die langsam die Seelen seiner Bürger fraß. Die unvermutete Aktualität solcher Visionen kontrastiert Flasch mit einer genauen Erkundung der zeitgenössischen Philosophie und des theologischen Denkens. Dabei vergisst er aber nie den poetischen und erzählerischen Reichtum und öffnet so dem Leser elegant und kurzweilig die tieferen Schichten eines der größten Kunstwerke der Weltliteratur.
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Seitenzahl: 573
Kurt Flasch
Einladung, Dante zu lesen
(Fischer Klassik PLUS)
FISCHER E-Books
Dies ist kein Buch für Dante-Spezialisten, sondern für Dante-Freunde und solche, die prüfen, ob sie es werden wollen. Es gibt einführende Hinweise für das Lesen von Dantes Commedia. Auch die sog. ›kleineren Werke‹ Dantes sind um ihrer selbst willen lesenswert, aber von ihnen spreche ich nur im Hinblick auf Dantes Hauptwerk.
Deutschsprachige Leser der Commedia brauchen heute Hilfe. Daher rede ich von den Schwierigkeiten, die dem Verständnis entgegenstehen, aber das tue ich erst im zweiten Stadium. Wer viel über Picassos Les Demoiselles d’Avignon von 1907 oder über die Kathedrale von Chartres gelesen hat, bevor er sie gesehen hat, dessen Wahrnehmung wird beengt. Daher führt das Vorspiel dieses Buches direkt, wie mit einem Sprung, zu Dantes Original. Informationen, Vertiefungen und Debatten folgen später.
Der zweite Teil gesteht zunächst einmal zu, daß Dante uns ferngerückt ist. Seine ersten zwei Kapitel bilden eine verlängerte Einleitung; sie helfen die erste Fremdheit überwinden. Danach gehe ich die drei Hauptteile der Commedia durch, kehre also mit neuen Gesichtspunkten zur Hölle zurück; mit ihr muß das Lesen der Commedia ohnehin beginnen.
Der dritte Teil löst sich mehr vom Text und bespricht allgemeinere Fragen: Wer war Beatrice? Wie haben Dantes Zeitgenossen auf ihre Vergötterung reagiert? Weitere Kapitel sprechen von Dantes Sprache, von seiner Philosophie und seiner Konzeption der Politik. Hier geht es um Fragen der ›Struktur‹ und insgesamt um Dantes geschichtliche Stellung.
Der letzte Teil skizziert Wandlungen der Dante-Auffassungen (I) und beantwortet die Frage, warum es von der Commedia immer neue Übersetzungen gibt (II).
Ich will so klar und so einfach wie möglich schreiben. Ich will faßlich reden, ohne gelehrten Dekor, den hinzuzufügen mir nach über sechzigjähriger Arbeit am Denken des Mittelalters leichter gefallen wäre als die harte Beschränkung auf das für den deutschsprachigen Leser Nützliche. Ich beginne mit einfachen Bildern und ausgewählten Informationen, um zur Commedia als Poesie hinzuführen. Es kommen in ihr etwa 600 Personen vor; die Mannigfaltigkeit ihrer Situationen und von Dantes poetischen Erfindungen verwirrt. Mancher Ausleger sucht dieser Verwirrung durch schnelle Einordnung zu entgehen. Dagegen leiste ich Widerstand, indem ich zwar faßlich rede, aber auf den ›herrlichen‹ Zustand zugehe, in dem uns, wie Goethe in den Wanderjahren schreibt, »das Faßliche gemein und albern vorkommt«.
Gerne bedanke ich mich hier bei denen, die meine Dante-Interessen gefördert haben. Ich hatte dabei wunderbares Glück: Ich habe – schon Professor – ein Jahr lang bei Francesco Mazzoni in Florenz Dante studiert; seine Nachfolgerin, Frau Leonella Coglievina, hat mir manchen guten Rat gegeben. Unabschätzbares verdanke ich der jahrzehntelangen Freundschaft und dem ständigen Umgang mit den großen Dante-Forschern Eugenio Garin, Cesare Vasoli (beide Florenz) und Ruedi Imbach (Paris). Maria Antonietta Terzoli (Basel) verdanke ich viele Gespräche und Diskussionsmöglichkeiten in ihrem hervorragenden Institut. Sie hat mir in vielen Hinsichten geholfen und mich bei besonders schwierigen Versen beraten. Ihr gilt mein ganz besonderer Dank.
Freundliche Beratung in linguistischen Fragen erhielt ich von Frau Professor Barbara Wehr (Mainz); ihr sei herzlich gedankt. Mein Freund Ralph Dutli (Heidelberg), der beste Kenner von Ossip Mandelstam, hat mir freundlich bei dem Kapitel über das Dante-Konzept des russischen Dichters geholfen.
Mein Freund Ruedi Imbach hat mit großer Kompetenz und helvetischer Genauigkeit die vorletzte Fassung des Textes durchgearbeitet. Er nahm sich zwei Tage Zeit, über Korrekturen zu sprechen. Dafür bin ich ihm sehr verbunden.
Egon Ammann (Zürich) war der erste, der mich angeregt hat, die Commedia neu zu übersetzen; er hat mich ermutigt und in Freundschaft beraten. Ich war zunächst sehr unglücklich, daß mein Buch nicht mehr in seinem Verlag hat erscheinen können; aber durch seine Vermittlung bin ich bei Herrn Hans Jürgen Balmes und einer so augezeichneten Lektorin wie Frau Andrea Elmer vom S. Fischer Verlag in gute Hände geraten und in die Verlagsstadt zurückgekommen, in der vor vielen Jahren mein erstes Buch erschienen ist, nach Frankfurt am Main.
Mainz, 12. März 2011
Kurt Flasch.
Dante hat um 1320, also vor etwa siebenhundert Jahren, die Commedia abgeschlossen. Die Last dieser Jahrhunderte liegt auf ihr, aber davon sei erst später die Rede. Ein heutiger Leser braucht, meine ich, zuerst einen spontanen Zugang; er darf zunächst einmal alle antiquarischen und sprachlichen Hürden überspringen. Damit steht er vor der Frische, der Heiterkeit und der Majestät eines großen Kunstwerks. Ich schlage ihm vor, wie mit einem Sprung in Dantes Welt einzudringen und sich erst danach nach der Hilfe umzusehen, die er für das vertiefte Verständnis braucht. Ich lade ihn ein zu einem vorbereitenden Spiel, zu einem Vor-Spiel. Ich stelle ihm drei Szenen aus Dantes Hölle vor Augen, mit denen er beginnen kann, den wirklichen Dante kennenzulernen.
Die erste Geschichte handelt von Ehebruch und außerehelicher Liebe. Dantes Hölle ist ein riesiger Erdtrichter, der sich bis zum Erdmittelpunkt erstreckt und in Kreise oder Terrassen eingeteilt ist. Dante, von dem antiken Dichter Vergil begleitet, trifft Francesca von Rimini im zweiten Kreis der Hölle. Die Dame wurde von ihrem Ehemann in flagranti überrascht und umgebracht. Sie ist nächst Beatrice die berühmteste Figur aus Dantes Werk; bis in die Gegenwart haben Dichter, Komponisten und Maler sich mit ihr beschäftigt. Wie Dante, der Jenseitswanderer, sie kennenlernt, beschreibt der fünfte Gesang des Inferno. Was vorausging und was folgt, erzähle ich später.
Dante wird, wie gesagt, von Vergil begleitet. Dieser hat auf Bitten Beatrices seinen Höllenaufenthalt im ersten Kreis unterbrochen, um ihren Freund durch Hölle und Fegefeuer zu führen. Die beiden Dichter sind gerade dabei, vom ersten zum zweiten Höllenkreis abzusteigen. Von hier an hat die Hölle schon den Charakter von Straflager und Foltercamp. Je weiter es in die Tiefe geht, um so schwerer werden die Strafen; um so größere Untaten werden geahndet.
Am Eingang zum zweiten Kreis sitzt Minos, der Höllenrichter. Innen treibt der Sturmwind die Wollüstigen in der Luft vor sich her. Dante, der Wanderer, begreift: Der Wirbelsturm entspricht den Stürmen der Leidenschaft. Er wirbelt die fleischlichen Sünder vor sich her, Seelen also, die, wie es heißt, ihre Einsicht dem sinnlichen Trieb untergeordnet haben.
Minos hat die Aufgabe, den Eingang zu bewachen und die ankommenden Sünder auf die für sie gerechten Höllenplätze zu befördern. Er wirbelt sie um so viele Stufen nach unten, wie oft er sich mit dem gewaltigen Schwanz ringelt. Minos gehört nicht zum theologisch-korrekten Personal. Er stammt aus der antiken Dichtung; Dante hat ihn aus der Aeneis des Vergil importiert. Er hat ihn dabei verändert: Bei Vergil war er der Sohn des Zeus, König von Kreta, der weiseste und strengste Richter. Dante macht aus ihm ein Halbtier, einen urtümlichen Drachen mit gewaltiger Stimme und einem ungeheuren Schwanz. Er gibt Minos eine wichtige Aufgabe: Er erspart es Gott dem Herrn, als Platzanweiser für Höllenkreise aufzutreten.
Der Wanderer begreift die Strafsituation und bittet Vergil, ihm die einzelnen Personen zu erklären, die der Sturm an ihm vorbeitreibt. Es sind Wollüstige aus allen Völkern, Frauen wie Männer, Personen aus der Antike und aus zeitgenössischen Romanen. Es sind sehr viele; Dantes Hölle ist dicht bevölkert. Der Wanderer lernt einige berühmte Sexsünder kennen und ist erschüttert. Mitleid (pietà) erfaßt ihn so, daß er fast zusammenbricht (72).[1]
Große Scharen läßt er an sich vorbeiziehen, bis er ein Paar sieht, das zusammenbleibt. Er verwechselt nicht das Liebespaar mit den vielen Sexbesessenen und drängt von sich aus darauf, mit ihnen zu reden. Er ruft ihnen seine Bitte zu; sie lösen sich von den vielen Getriebenen; sie kommen aus eigenem Antrieb, nicht als Objekt des Strafsturms. Sie wollen, wie Dante, reden und zuhören. Sie verlassen für eine kurze Selbstdarstellung den Strafrahmen. Der Sturm legt sich für ihr Gespräch. Die beiden nehmen das Interesse und die Anteilnahme Dantes dankbar wahr. Francesca würde gern für Dante beten, damit er Frieden fände (91–93). Allein Francesca redet für das Liebespaar. Für sie, die ewig Gejagte, ist Frieden ein hoher Wert. Sie umschreibt ihren Geburtsort Ravenna als den Ort, wo der Fluß Po mit seinen Nebenarmen Frieden findet (99). Sie weiß, daß ihr Gebet beim König des Universums kein Gehör fände. Sie leidet darunter. Sie ist besser, als es die Höllengesetze erlauben. Diese gestatten keine Kommunikation zwischen Gott und den Verdammten.
Der Name ›Gott‹ darf in der Hölle nicht genannt werden. Daher kommt es zu merkwürdigen Umschreibungen. Vergil mäßigt den Zornausbruch des Minos, indem er sagt, die Höllenreise Dantes werde dort gewollt, wo man kann, was man will (22–23). Dante bittet das Liebespaar, zur Unterhaltung näher zu kommen, wenn ein anderer es nicht verbietet, s’altri nol niega (81).
Francescas Ehebruch und die Ermordung des Paars liegen zeitlich lange zurück. Dante, der Verfasser, läßt sie nicht aus der Sicht eines Augenzeugen detailliert schildern, sondern von Francesca kurz zusammenfassen. Sie nennt nicht einmal den Namen des Mannes neben ihr. Der Autor nutzt den psychologisch-literarischen Effekt aus, daß er allein mitteilen kann, was sich in der Todesstunde der Liebenden im Fürstenhaus von Rimini abgespielt hat. Vor allem aber läßt er Francesca sich aussprechen. Sie sagt, was Liebe ist. In dreimal drei Versen (100–108), also in der für die Commedia charakteristischen Form der Terzine, erklärt sie ihr Geschick. Sie spricht von Amor, dem mächtigen Liebesgott, der ›edle‹ Herzen ergreift. Er ist in Menschen zu Hause, die sich nicht schonen. Ein ›edles‹ Herz gehört ihm. Er schafft Wechselseitigkeit. Und er führt in den Tod.[2]
Wer liebt, lebt in der Tristan-Welt; er lebt gefährlich, aber er weiß das und mißachtet die kleinliche Vorsicht. Also nicht das Ermordetwerden ist die adäquate Strafe, sondern die Verbannung in den zweiten Kreis der Hölle. Das physische Fortleben sieht Dante nicht als Wert an sich.
Francescas Liebesphilosophie löst im Höllenbesucher tiefes Grübeln aus. Vergil fragt ihn, was er denke, und in seiner Antwort spricht Dante nicht von Schuld, sondern klagt, daß ein so süßer, schöner Anfang zu solchem Elend geführt hat. Er bedenkt das menschliche Leben, nicht die Bußordnung der Hölle. Aber dann wechselt er das Thema und stellt die Frage, woran die beiden Liebenden erkannt haben, daß sie sich lieben, ab Vers 118. Diese Frage nach einer psychologischen Finesse wäre in der Hölle als bloßer Strafanstalt unangebracht. Sie lenkt vom Zweck der Strafe ab. Sie ist voyeuristisch, nebensächlich, unfromm. Sprach Francesca zuerst von der Macht des Liebesgottes, so spricht sie jetzt von einem erzählten Kuß und seinen Folgen: Sie lasen ohne Argwohn, ohne jede Absicht einen französischen Liebesroman, und als sie an die Stelle kamen, wo der Liebhaber Lancelot die Frau des Königs Artus küßt, da küßte Francescas Liebhaber, am ganzen Leib zitternd, sie auf den Mund. An diesem Tag lasen wir nicht weiter. Dieser Satz ist mit Recht berühmt. Kurz und eindeutig bezeichnet er in aussparender Form die Freuden der Liebe.
Während Francesca spricht, weint ihr Freund nur. Dante bricht zusammen, von Mitleid und Grauen überwältigt:
Ich stürzte hin, wie ein toter Körper fällt.
E caddi come corpo morto cade.
Dieser Schlußvers mit dem dreifachen harten k-Laut und den dunklen Vokalen a und o kann allein schon einen Menschen zum Lernen des Italienischen bewegen. Zugleich beweist er, daß Poesie sich nicht übersetzen läßt.
Dante, der Höllenbesucher, hört Francesca an und kippt um. Dante, der Schriftsteller, ersetzt den Ausfall nicht. Auch er bleibt stumm. Er gibt keine eigene Bewertung ab. Was zurückbleibt, ist Schmerz und Trauer, wie er zu Beginn des sechsten canto (6, 1–6) sagt. Manchen Leser stört dieser offene Schluß. Er hat sich auf das Liebespaar eingelassen und will ein abrundendes Urteil hören, aber was der Text bietet, ist Ohnmächtigwerden und Trauer. Das ist der Verzicht auf Erklärung. Der Autor selbst hat keine oder will keine. Er gibt am Ende kein Urteil ab. Er hat eine Erfahrung erzählt und gibt zu denken. Das hat manchen Leser gereizt, diese Geschichte nicht offen stehenzulassen, sondern ihr an Dantes Stelle ein definitives Resümee zu verschaffen. Dagegen muß der Leser einen besonnenen, keinen raschen und wilden Widerstand entwickeln. Dazu ist es nützlich, die wichtigsten Arten solcher Dante-Verbesserungen zu kennen:
Viele Menschen lieben es zu moralisieren. Vor allem, wenn es nicht sie selbst, sondern fremde Personen betrifft. Das Schuldzuweisen ist die anfängliche Form, in der sie Allgemeines denken. Es ist eine wichtige Denkstufe, aber es qualifiziert nicht schon zum Dante-Verständnis. Und darüber nachzudenken, lehrt die Francesca-Geschichte. Sie warnt vor der naheliegenden Versuchung, beim Hören der Francesca-Erzählung und anderer Höllen-Episoden, den Schuldaspekt zu betonen. Dante selbst tat das nicht. Er zeichnet keineswegs Francesca als eine zu Recht bestrafte Sünderin. Er erklärt sie auch nicht für unschuldig. Ob sie heilig oder böse ist, er leidet mit der Unglücksfrau. Sein letztes Wort ist sein Verstummen. Er benennt eingangs wie im Vorbeigehen ihre Verfehlung: Sie gehört zu denen, die ihre Leidenschaft über die Einsicht haben siegen lassen, aber er macht ihre Bestrafung einzig auf poetische Art plausibel, nicht quasi-juristisch oder quasi-theologisch. Er spielt nicht den Advokaten Gottes, der nachweist, daß die Strafe gerecht ist. Kein Wort fällt in dieser Richtung. Das Interesse des Dichters besteht vielmehr darin, Francesca als sympathische, sensible und nachdenkende Frau zu zeichnen. Das beginnt schon damit, wie er das Liebespaar herankommen läßt: Die große Schar der Sexsüchtigen läßt er wie Stare, andere Sünder wie Kraniche vorbeiziehen, Francesca und ihr namenloser Freund gleiten sanft wie Tauben heran. Sie lenken selbst ihre Bewegung. Sie kommen, weil sie kommen und weil sie sprechen wollen. Francesca bedankt sich in höflichen Wendungen und erweckt in sich ein frommes Gefühl, von dem sie als theologisch Gebildete weiß, daß es in der Hölle sinnlos ist. Sie würde gern für Dantes Frieden beten.
Dann erklärt sie ihr Geschick aus der Übermacht des Liebesgottes Amor. Dante widerspricht ihr darin nicht. Er läßt ihr Liebeskonzept einfach stehen. Wer das Lesen von Dichtung mit dem Suchen nach Verfehlungen verwechselt, kann dagegen vorbringen, Francesca rede sich nur heraus. Dante als Moralphilosoph verlange von ihr, ihre erotische Konstitution der Einsicht unterzuordnen. Tatsächlich dachte Dante so; er spricht das im 18. canto des Purgatorio auch aus. Aber der charakteristische Textbefund von canto 5 ist nicht der, daß Dante seine philosophische Ansicht hier entwickelt oder auch nur andeutet, daß er also die Willensfreiheit gegen psychologischen und astrologischen Determinismus verteidigt, sondern daß er diese Ansicht hier nicht vorbringt. Dantes Francesca-Erzählung mit Hilfe von anderen Texten, und seien es die Dantes, zu verbessern, ist nichts anderes als das hartnäckige Festhalten am unpoetischen moralistischen Standpunkt, der nicht tiefsinniger wird, wenn er sich theologisch abstützt.
Aber verlangt nicht Dantes Theologie die Schuldermittlung? Er hält Gott für weise und gerecht; er glaubt, Gott habe die Hölle aus Liebe zur Gerechtigkeit eingerichtet. Das sagt die Überschrift des Höllentors (Inf. 3, 1–6). Muß er dann nicht auch überzeugt sein, daß Francesca als fleischliche Sünderin (5, 38) zu Recht in der Hölle leidet? Er müßte, antworte ich, aber er macht von dieser Überzeugung hier keinen Gebrauch. Er sinkt stumm zusammen. Seine Theologie hilft ihm nicht dagegen. Seine Wahrheit ist jetzt, am Ende des canto 5, das Mitleiden fast bis zum Tod. Schon als Vergil die Namen der großen Liebenden nannte, war er dem Zusammenbruch nahe (72). Aber jetzt, nach Francescas Erzählung, verstummt der Theologe Dante gänzlich.
Das heißt nicht, daß Dante, der Verfasser, keine theologische Konzeption mehr besitze. Aus Purgatorio 18 läßt sich seine Überzeugung herbeizitieren, Menschen könnten mit Vernunft und Willen der Macht der Sterne und der Veranlagung widerstehen, aber Dante hatte die höhere poetisch-theologische Einsicht: Gott strahlt uns in allem, was ist, entgegen, hier mehr, dort weniger (Par. 1, 1–6). Genau das beweist Francesca: Sie ist nicht nur Sünderin. Sie erschöpft sich nicht darin, eine Verdammte zu sein. Sie zeigt in menschlicher Form die göttlichen Qualitäten von Einsicht und Liebe. Dantes Theologie beschränkt sich nicht auf die Zumessung von Schuld und Sühne; sie denkt etwas mehr als Minos denken muß, um sein Amt gerecht auszuüben. Dies ist nur der Ausgangspunkt, von dem aus sie ihre Kraft anfängt zu entwickeln. Diese höhere Theologie und Dichtkunst zeichnet die Ehebrecherin als einen so liebenswerten Menschen, daß die Schuldzuweisung zwar nicht geleugnet, aber poetisch vergessen oder vielmehr individualisiert überboten und aufgehoben wird. Dante erbringt den Tatsachenbeweis, daß Poesie dies kann. Sonst wäre Francesca eine Ehebrecherin wie Millionen andere. Das außerordentliche Interesse, das ihr in der Kulturgeschichte Europas schon entgegengebracht worden ist, würde unbegreiflich. Wer Theologie mit dem Auffinden des Schuld-Strafe-Zusammenhangs verwechselt, verfehlt zugleich Dantes Theologie und Poesie. Die großen Theologen des Mittelalters kannten diese Banalisierung und Moralisierung des Gottesverhältnisses nicht. Dante hat keineswegs als ›mittelalterlicher‹ Mensch so denken müssen; er fordert de facto nicht auf, den Francesca-Gesang mit dem banal-theologischen Gedanken der gerechten Strafe zu ergänzen. Eine solche Korrektur zerstört das Beste, das der Francesca-Episode zu entnehmen ist, nämlich die einfache Einsicht, daß sie im Inferno die am wenigsten Böse ist und daß uns in ihr Einsicht und Liebe des ersten Grundes entgegenstrahlen. In ihr etwas weniger, in Beatrice etwas mehr. Nicht daß der Strafgedanke hier völlig fehlt, nur wird er untergeordnet und am Ende poetisch verdrängt. Der canto 5 lehrt das Überwinden des Moralisierens, nicht dessen Erstarren vorm factum brutum der Strafzuweisung. Francesca, die beten will, lebt nicht außerhalb des Unendlichen.
Diese poetisch-spekulative Pointe läßt sich auf verschiedene Weise verfehlen oder zurückdrängen. Der eine oder andere Autor hält sich nur zu gerne beim Genuß des moralischen Urteilens über andere auf. Er erreicht dies auch mit der Argumentation, Dante steuere mit seiner ablenkenden Frage, woran die Liebenden die Wechselseitigkeit ihrer Liebe erkannten, auf das Lesen französischer Liebesromane zu. Er wolle zeigen, wie verderblich solche Bücher wirken: Auf eine Stunde Lesegenuß folge ewige Höllenstrafe. Sie hätten Francesca den Kopf verdreht, so ähnlich wie Don Quijote seine Verrücktheit den Ritterromanen verdanke. Dieses Argument läßt sich noch biographisch ausbauen: Dante hatte als Verfasser von Liebeslyrik begonnen. Sein bester Freund war Guido Cavalcanti, dessen Auffassung von Liebe entspreche Francescas Konzept von der Liebe: Liebe als übermächtige Passion unterwirft sich das Denken und führt zum Tod. Dante kritisiere die französischen Liebesromane und damit eine frühe Stufe seiner poetischen Entwicklung; er treibe Literaturkritik als Selbstkorrektur. Er verabschiede sich in canto 5 von seiner ersten Liebeslyrik, indem er ihre tödlichen Folgen und ihre ewige Bestrafung zeige. Er distanziere sich von einer Konzeption der Liebe und der Lyrik, die er früher mit Guido geteilt habe.
Nun hat Dante tatsächlich nicht immer dasselbe gedacht. Er hat immer wieder neue Motive entwickelt und frühere Äußerungen kritisiert. Gerade in der Commedia läßt sich das mehrfach feststellen. Die Philosophie des Verfassers der Commedia ist gewiß nicht identisch mit der Liebesphilosophie Francescas: Die Liebe Francescas führt zu Tod und Hölle; die Liebe zu Beatrice führt in den Himmel. Der platonische Eros bringt die Seele in ihre Sternenheimat zurück. Ähnlich dachte der reife Dichter, aber so denkt nicht seine Francesca. Der Kontrast ist offensichtlich. Ich leugne ihn nicht, nur lenkt auch diese biographische Verbesserung des Dante-Textes, die hypothetisch bleibt, vom Wesentlichen ab, das zutage liegt. Sie wiederholt die moralistisch-verengte Sicht, Dante tadle die nicht-jenseitsorientierte Liebe. Das ist der alte Moralismus, nur literarkritisch verstärkt. Er steckt jetzt Francesca in die Hölle, weil sie, von Liebesromanen verwirrt, ihrer Liebe die falsche, die diesseitige und pessimistische Deutung gebe. Die Erklärung, Dante verurteile hier Liebesromane oder die frühere Liebeskonzeption Dantes und Guidos, fügt dem poetischen Text eine weitere Ergänzung hinzu, die Dante nicht ausgesprochen hat. Hätte er dies als Ergebnis deklarieren wollen, hätte es ihm an Ausdrucksmöglichkeiten nicht gefehlt. Das beweisen seine anderen Selbstkorrekturen. Das entscheidende Faktum, das der Leser aushalten muß, ist: Dante hat seine Unterhaltung mit Francesca nicht zur Rechtfertigung des göttlichen Strafurteils genutzt und hat als Verfasser keine Selbstkorrektur ausgesprochen, was er leicht hätte tun können. Was zählt, ist Dantes Inhalt, nicht unsere Vermutungen und hypothetischen Zugaben. Seine Dichtung dient nicht primär autobiographischen Korrekturen, sondern zeigt die großen Realitäten, die unser Leben bestimmen. Zu diesen Weltmächten gehört die Liebe als Passion. Sie ist gefährlich und kann den Tod bringen, aber sie herrscht nun einmal in ›edlen Herzen‹, die nicht um ihre Selbsterhaltung besorgt sind. Dies übersieht, wer sein Denken auf die Suche nach Verfehlungen oder nach biographischen Brüchen dressiert hat. Dichtung ist Welterkenntnis. Bei Dante ist sie Welterkenntnis als die Erkenntnis Gottes, die uns hier weniger, dort leuchtender entgegentritt. Jedenfalls erfindet Dante mehr Verse, um die Macht Amors zu beschreiben, als zu erklären, warum Francesca zu Recht in der Hölle steckt.
Es herrscht Gedränge bei den Erklärern der Francesca-Erzählung. Soziologische und frauenrechtliche Gesichtspunkte erhalten ihr Recht. Amerikanische gender studies fragen nach Francescas Rolle als Ehefrau.[3] Sie wurde aus politischem Kalkül nach Rimini verheiratet. Nach ihren Gefühlen hat niemand gefragt. Verändert das nicht ihre Affäre? Ihre Schuld wird kleiner. Das Verhältnis von Tat und Strafe konnte ja auch Dante nicht plausibel machen.
Es waren nicht erst moderne Feministinnen, die Francesca in diesem Sinn entlasten konnten. Das ist eine erstaunliche Tatsache, die belegen muß, wer sie behauptet. Hier ist der Beweis: Giovanni Boccaccio, der die ersten öffentlichen Vorlesungen zur Erklärung der Commedia gehalten hat, trug in der Badia von Florenz 1373 folgende Sätze zur Erklärung der Vorgeschichte der Francesca vor.[4] Ich gebe sie in meiner deutschen Erstübersetzung wieder:
147 Man muß wissen: Diese Frau war die Tochter Guidos des Älteren von Polenta, des Herrn von Ravenna und Cervia. Zwischen ihm und den Herren Malatesta von Rimini hatte lange verheerender Krieg geherrscht, aber dann kam es doch dazu: Einige Vermittler verhandelten und es wurde zwischen ihnen Frieden geschlossen. Damit dieser noch sicherer werde, wünschten beide Parteien, daß er durch Heirat gefestigt werde, und das Ergebnis der Verhandlungen war, daß der genannte Herr Guido seine junge und schöne Tochter, die Dame Francesca, dem Gian Ciotto zur Frau geben sollte, dem Sohn des Herrn Malatesta.
148 Nachdem einige Freunde dieses Herrn Guido davon erfahren hatten, sagte einer von ihnen zu Herrn Guido: »Bedenkt wohl, was Ihr da macht. Wenn Ihr Euch nicht vorseht, könnte Euch aus dieser Hochzeit Ärger erwachsen. Ihr müßt wissen, wer Eure Tochter ist. Sie ist ein selbstbewußt-stolzer Geist (ell’ è d’altiero animo), und wenn sie den Gian Ciotto zu sehen bekommt, bevor die Ehe vollzogen ist, dann erreicht weder Ihr noch sonst jemand, daß sie ihn zum Mann haben will. Und deshalb, wenn Ihr mir zustimmt, würde ich meinen, es sei folgender Weg einzuschlagen: Gian Ciotto sollte nicht selbst hierherkommen, sie zu heiraten, sondern einer seiner Brüder sollte zu uns kommen, der sie als Vertreter des Gian Ciotto in dessen Name heiraten soll.«
149 Dieser Gian Ciotto war ein Mann mit großen Plänen, und er erwartete, nach dem Tod des Vaters werde er als Herrscher zurückbleiben, und, so widerlich und wacklig er aussah, so gierte er danach, daß er und nicht einer seiner Brüder der Schwiegersohn des Herrn Guido werde. Aber der erkannte, daß es so kommen werde, wie sein Freund ihm klargemacht hatte, und ordnete heimlich an, daß alles so eingerichtet werde, wie sein Freund geraten hatte.
150 Deswegen kam zu gegebener Zeit Polo nach Ravenna, der Bruder des Gian Ciotto, mit Vollmacht, die Dame Francesca zu verheiraten. Dieser Polo war ein schöner und angenehmer Mann von feinen Umgangsformen. Eines Tages erging er sich mit anderen Edelleuten am Hof, wo Herr Guido wohnte, und da zeigte ihn eine der Hofdamen, die ihn kannte, durch ein kleines Fensterloch der Dame Francesca und sagte ihr: »Herrin, das ist der, der euer Mann werden soll.« Die gute Frau glaubte das, und so richtete die Dame Francesca gleich ihren Sinn und ihre Liebe auf diesen Mann.
151 Der Ehevertrag wurde mit aller Feierlichkeit abgeschlossen. Die Frau ging nach Rimini und bemerkte den Betrug erst, als am Morgen nach der Hochzeitsnacht Gian Ciotto sich neben ihr aus dem Bett erhob. Da muß man schon glauben, daß sie sich empörte, als sie sah, daß man sie getäuscht hatte, und daß sie schon deswegen nicht die Liebe, die sie zu Polo gefaßt hatte, aus ihrem Geist vertrieb. Wie weit sie sich mit ihm zusammentat, darüber habe ich nichts gehört – außer dem, was unser Autor darüber schreibt. Es kann ja möglich sein, daß es so geschah, aber ich glaube eher, daß das eine Erdichtung ist, die er sich ausgedacht hat aufgrund dessen, was möglicherweise passiert ist. Ich glaube nicht, daß der Autor gewußt hat, was geschehen war.
Boccaccio erzählt Dantes Geschichte neu und stellt mit seiner Erklärung den canto 5 auf den Kopf. Er treibt die Exkulpierung Francescas weit: Ihre Eheschließung läßt er auf einem politisch motivierten Betrug beruhen. Er hebt die intellektuelle und moralische Selbständigkeit der Frau hervor, die sich von niemandem, auch nicht von ihrem fürstlichen Vater, einen Ehemann aufdrängen ließe, der ihr nicht gefiele. Zum Schluß bezweifelt er die Zuverlässigkeit von Dantes Angaben, spinnt dann aber mit weiteren Erfindungen, auf die einzugehen hier zu weit führen würde, die Erzählung so aus, daß sie auch noch die Schuld des Ehemanns mindert; dieser ersticht Francesca durch den unglücklichen Zufall, daß sie sich dazwischenwirft, als er den Stoß des Degens gegen Polo führt.
Boccaccio destruiert Dantes Erzählung. Seine arme Francesca wird vom Vater betrogen und vom Ehemann, der sie mehr liebe als sich selbst, durch Zufall ermordet. Boccaccio, der Dante-Verehrer und Dante-Erklärer, stellt schließlich die historisch-faktische Grundlage der Erzählung Dantes, ob sie nämlich Ehebruch begangen habe, in Frage. Weder Dante noch Boccaccio erörtern die Frage, ob Francesca zu Recht in der Hölle steckt.
Dante findet sie darin vor. Boccaccio holt sie einfach heraus.
Vielleicht führt kein Text besser ein in Dantes Dichtung als sein Gesang von Odysseus, den er Ulisse nennt. Nach Francescas tödlich ausgehendem Ehebruch geht es nun um die letzte Ausfahrt des Odysseus. Er kommt dabei ums Leben. Heute sehen viele Menschen, auch Dantisten – anders als Dante –, den körperlichen Untergang als schwere Strafe an und bewerten daher die letzte Ausfahrt des Ulisse falsch. Darauf komme ich zurück und beginne nun mit einer schlichten Textübersicht des canto 26. Das klingt vielleicht pedantisch, aber der Leser braucht diesen Überblick für die folgenden Debatten. Denn dieser Abschnitt der Commedia ist nicht nur kompakt, anschaulich und dramatisch, sondern seine Auslegung ist auch vielfach umstritten.
Der canto setzt ein mit der höhnischen Verurteilung von Florenz. Sie gehört nicht zu seinem Hauptthema; sie schließt das Vorhergehende ab. Dante spielt höhnend an auf die Inschrift am Palazzo del Popolo, also dem Bargello, in der Florenz sich rühmt, jetzt so stark zu sein wie das antike Rom:
Gaudet (Florentia) … que mare, que terram, que totum possidet orbem.
Florenz jubiliert. Es besitzt Meer und Land, den ganzen Erdkreis*.[5]
Florenz als Weltmacht durchdringt mit seinen Handelsbeziehungen und Gulden alles. Dante hatte im vorhergehenden canto Diebe aus Florenz getroffen und läßt sich die Gelegenheit nicht entgehen, Florenz zu kritisieren. Politik drängt sich in der Commedia überall ein. Aber Hauptthema ist Odysseus, der Stratege vor Troja, der Welterkundungsenthusiast. Er steht vor uns, als wäre er Zeitgenosse des florentinischen Expansionismus über Land und Meer. Der Leser steht jetzt im achten Höllenkreis, also sehr weit unten. Er hat Menschen gesehen mit zerspaltenem Kopf und heraushängendem Gedärme. Er hat Bestrafungsszenen hinter sich, deren Derbheit Goethes Widerwillen erregt hat (26, 1–12).
Der weitere Abstieg ist schwierig. Dante, der Wanderer, sieht von oben Menschen als wandelnde Feuersäulen. Das schmerzt ihn. Der Schmerz erneuert sich dem Autor beim Schreiben (13–18). Er weiß noch nicht, wen er treffen wird. Er blickt nach unten in den Graben mit den Sündern und sieht Männer in Feuermänteln. Er leidet wie beim Anblick der umhergewirbelten Seelen zu Beginn von canto 5 und fordert sich auf, seinen Geist zu zügeln, mehr als er es gewöhnlich tut. Damit er nicht davonläuft, ohne vom Rechten (virtù) geführt zu sein (19–24).
Dante erklärt seine Selbstzügelung nicht näher: Hat er früher seinen Geist nicht der virtù untergeordnet? Kritisiert er frühere Exzesse seiner Neugier? Verwirft er sein Mitleid mit den zu Recht Bestraften? Der Verfasser des Inferno ist jetzt selbst ein Mann der Höfe, eine Art politischer Berater. Warnt er sich vor moralfreien politischen Kalkulationen? Spielt er an auf das, was kommt: Hat Odysseus seine Begabung des Wortemachens und kluger Einfälle nicht der virtù untergeordnet?
Die Sünder in Feuermänteln sind zahlreich und bewegen sich rasch wie Glühwürmchen an einem Sommerabend in der Toscana. Dante malt die Metapher liebevoll-umständlich aus; er gibt der sich bald steigernden dramatischen Erzählung einen ruhigen Anfang. Er verbindet die tiefste Hölle mit Alltagserfahrungen der Landschaft und des bäuerlichen Lebens. Nach den grauenhaften Turbulenzen vorausgegangener Szenen, nach Schlangengewühl und kafkaesken Verwandlungen schafft er für diesen Gesang – und nur für diesen, es geht danach sofort wild weiter – die Ausnahme-Atmosphäre besinnlichen Zuhörens für die Odysseus-Erzählung. Die ländliche Szene steht in angenehmem Kontrast zu Gestank, Geschrei und Gezerr der vorhergehenden Höllenkreise.
Dante sieht schnell vorbeihuschende Feuergestalten. Sie erinnern ihn an die Feuerwolken, die Elisa bei der Himmelfahrt des Propheten Elias sah. Elisa, dessen Schüler, wurde dabei von einer Kinderschar wegen seiner Kahlköpfigkeit verspottet. Er rief zur Rache Bären herbei, die 42 Kinder zerrissen. Schon wieder geht es rauh zu. Die Gewalttat zerstört die soeben skizzierte Idylle. Vergil erklärt die wandelnden Feuersäulen: In jeder steckt ein Sünder. Odysseus steckt zusammen mit Diomedes im selben Feuermantel. Sie werden bestraft für das, was sie gemeinsam verbrochen haben. Dantes Vergil nennt drei Strafgründe:
Erstens: Odysseus hat den Betrug mit dem hölzernen Pferd ersonnen, der den Staat zerstört hat, aus dem nach langen providentiellen Umwegen das Römische Imperium hervorgegangen ist, wie die Aeneis erzählt.
Zweitens: Er hat mit einer Finte Achill in den Tod getrieben und dessen schwangere Frau unglücklich gemacht.
Drittens: Er hat den Frevel begangen, als Bettler verkleidet im Tempel von Troja das Palladium, das Götterbild der Pallas Athene, zu stehlen.
Vergil nennt drei und nur drei Anklagepunkte. Odysseus ist Kriegsverbrecher; er ist nicht unschuldig. Minos hat ihn nicht zu Unrecht so tief nach unten gewirbelt. Aber bei den Schuldgründen kommt die letzte Ausfahrt nicht vor. Alle Punkte beziehen sich auf Troja. Er wird bestraft als ränkereicher Politiker und trickreicher Stratege. Diomedes war bei der Ausfahrt über die Säulen des Herakles hinaus nicht dabei, steckt aber mit ihm in einem einzigen Feuermantel. Dante zeigt außerordentliches Interesse an beiden Griechen, bevor diese sprechen. Er möchte mit ihnen reden. Sein Interesse wird nicht erklärt. Seine Hinneigung zu den beiden ist heftig wie die zu dem Liebespaar im Francesca-Gesang, hier gegen canto 5 auffällig gesteigert.
Vergil lobt sein Interesse, warnt ihn, die beiden direkt anzusprechen: Es sind Griechen. Die galten bei hochfahrenden Florentinern als hochfahrend. Vergil will selbst mit ihnen reden. Nach Autoren-Art setzt Vergil voraus, die altgriechischen Helden hätten in der Hölle seine lateinische Neuerscheinung gelesen.
Vergil fragt, wo sie verloren zu Tode kamen: dove … perduto a morir gissi. Verloren, perduto, heißt hier: nachdem sie den Weg verloren haben. Sie haben die Orientierung verloren und sind im Atlantik zugrunde gegangen (79–84).
Dante zeigt sich unbekümmert um die Mehrdeutigkeit von verloren, perduto, denn dieses Wort heißt sowohl ›zur Höllenstrafe verurteilt‹ wie ›den Weg verloren habend‹. Boccaccio nutzt im Decameron 7, 10 den Doppelsinn von verloren, perduto als komischen Effekt.
Der Höllenbesucher fragt: Wo und wie seid ihr zu Tode gekommen? Dieses Detail hat für die Plazierung der beiden Griechen in der tiefen Hölle keine Bedeutung. Es provoziert erzählerische Details, verläßt poetisch das System von Schuld und Strafe.
Kein Leser, denke ich, verwechselt irdisches Unglück mit ewiger Verdammnis. Die Strafe für Francesca war nicht ihre Ermordung, sondern ist das ewige Herumgewirbeltwerden durch leidenschaftlich-wilde Stürme. Odysseus büßt im Feuermantel im achten Graben, nicht mit seinem Seeunfall im südlichen Atlantik.
Es folgt die Erzählung des Odysseus von Ausfahrt und Untergang (90–142). Unser Gesang zeigt eine deutliche Zweiteilung: Zuerst kommt der Bericht des Autors, wie von außen, dann folgen Dialog und Erzählung durch den Protagonisten. Der Wanderer Dante will ein sprechendes Detail hören: Bei Francesca fragte er wie ein Reporter, nicht wie ein Moralphilosoph, woran sie ihre Liebe erkannten; hier, wo sie zu Tode kamen. Beides sind Nebenumstände; beides gibt Anlaß zu Erzählungen, die den ganzen zweiten Teil der canti 5 und 26 einnehmen, auf die diese canti zulaufen. Wenn schon einmal ein Jenseitsreisender zurückkommt, interessieren sich die Leute in Florenz wie in Verona für die Todesstunde berühmter Personen.
Odysseus nennt zunächst drei Gründe, die ihn hätten bewegen können, nicht auszufahren (94–97):
die Süßigkeit (dolcezza) seines kleinen Sohns,
die Verpflichtung gegenüber dem alten Vater, die pietas,
die Liebe zu Penelope.
Er hat über diese Gründe nachgedacht; er ist nicht forsch-bedenkenlos auf Abenteuerreise gegangen. Er will auf seine alten Tage etwas Menschenwürdiges tun. Er reiste nicht von Ithaka ab. Er trennte sich von Kirke, nicht von Penelope. Dann nennt er den Grund, der ihn bewogen hat wegzufahren: Er wollte Erfahrung gewinnen von der Welt (98–99, Übersetzung S. 109),
divenir del mondo esperto
e delli vizi umani e del valore.
Odysseus fiebert nach Erfahrung (esperienza), nicht primär von Naturdingen, sondern von Menschen, von Lastern und Tugenden. Nur versteht man dann schlecht, warum er in die Welt ohne Menschen aufbricht. Tugend und Laster können dort nur seine eigenen sein und die seiner Leute. Aber es geht Dante-Ulisse immer auch um Geographie und Kosmologie, also um Erkenntnis. Daß es ihm um Erfahrungswissen, nicht um Gotteserkenntnis geht, ist unter Aristoteles-Lesern kein Grund zur Geringschätzung.
Odysseus gibt die kleine Rede an die Gefährten wieder (112–120). Er nennt sie Brüder. Er erklärt ihnen:
Wissenwollen ist unsere Natur. Das ist wichtiger als die Mahnung des Herkules: Non plus ultra zu fahren. Den Herakles erwähnt er gar nicht, Herkules war ein Zwischenwesen zwischen Gott und Heroe; er hat große Taten vollführt, gute und frevelhafte. Der heidnische Halbgott ist für freie Christenmenschen keine Autorität. Hatte Paulus ihnen nicht geschrieben: »Alles ist euer. Omnia vestra sunt« (1 Kor. 3, 21)? Der Atlantik etwa nicht? Gebietet vielleicht die christliche Ethik, allen Geboten griechischer Halbgötter zu folgen? Es wurde noch keine mittelalterliche Quelle nachgewiesen, die das Verbot, über Gibraltar hinauszufahren, ›verbindlich‹ nennt.[6] Wie sollte das auch sein? Sollte niemand per Schiff nach Lissabon fahren dürfen? Dann wären die Kanarischen Inseln nicht wenige Jahre nach Dantes Tod entdeckt worden.
Odysseus zu den alten Gefährten: Kurze Zeit bleibt uns nur. Verweigert nicht die Erfahrung, esperienza, der untergehenden Sonne nachzufahren und zu sehen, was es dort gibt, wo noch kein Mensch war. Der Sonne nachreisen, das ist das Projekt. Er appelliert an ihr Bewußtsein von der Würde des Menschen:
Ihr seid keine Tiere, die am Ort haften. Folgt besonnener Tatkraft und Erkenntnis, virtute e canoscenza. Er lobt nicht blindes Alleswissenwollen, sondern den Vollzug von virtù, Tatkraft, Tugend und Einsicht.
Die Gefährten sind alt geworden. Sie zögern zuerst. Odysseus muß starke Argumente bringen. Sie lassen sich überzeugen, sie folgen freiwillig, sie werden nicht überredet. Auch sie wollen wissen. Aristotelische Metaphysiker wie Dante wissen auch, warum. Wissenwollen ist kein willkürlicher Einfall und keine vorübergehende Mode. Es ist unsere Natur. Die Matrosen stimmen zu. Sie verlassen das Mittelmeer.
Sie fahren fünf Monate lang im Atlantik nach Süden. Da kommt mitten im Meer ein hoher Berg in Sicht. Dante sagt nicht, es sei der Läuterungsberg, noch weniger sagt er, Odysseus wolle das irdische Paradies aus eigener Kraft betreten. Der Odysseus Dantes kennt es gar nicht. Er freut sich wie seine Gefährten: Endlich Land in Sicht.
Bald folgt der Jammer, der Untergang, come altrui piacque, wie einer es wollte (121–142). Christen glauben, daß ihnen kein Haar vom Kopf fällt, ohne daß ihr himmlischer Vater das weiß und will. Sein Name fällt nicht in der Hölle. Aber er regiert die Welt. Seine Herrlichkeit strahlt überall wider, in San Francesco mehr, in Bonifaz VIII. weniger. Ohne seinen Willen geht kein Schiff unter, aber ein Schiffbruch mit Zuschauer ist nicht schon Gottes ewiges Urteil.
Soviel zum Textbefund. Die Diagnose ist strittig: Die Fachleute sind sich nicht einig: Hat Dante den Odysseus wegen der letzten Ausfahrt in die Hölle gesteckt? Hat er ihn verurteilt wegen maßlosen Erkenntnisstrebens und wegen des Stolzes, der natur- und gottgegebene Grenzen ignoriert? Ist Ulisse ein Exempel für verwerflichen Mißbrauch von Vernunft und Redebegabung? Hat Dante ihn eingefügt als Gegenfigur zum frommen Ausfahrer Aeneas? Ist er eine Parallelfigur zu Adam im Ungehorsam, ein Rebell wie Satan selbst? Leidet er deshalb im vorletzten Höllenkreis?
Dies behaupten berühmteste Dantisten: Karl Vossler und Bruno Nardi, denen man ungern widerspricht, aber auch Umberto Bosco und Giorgio Padoan, Hugo Friedrich und John Scott, der unter dem Titel Dante magnanimo, Florenz 1977, kohärent die Argumente der Punitionsfraktion der Dantisten zusammengefasst hat. Neuerdings sprechen Anna Maria Chiavacci Leonardi und die Zürcher Dante-Kommentatoren in dieser Richtung. Es gab Jahrzehnte, die Ulisse als Heroen der Entdeckung, als Vorfahr des Kolumbus feierten. Heute ist diese Begeisterung für die Begründer der Neuzeit geschwunden. Gegenargumente bringen nur wenige vor, darunter Mario Fubini und – mehr andeutend – Giorgio Inglese.[7] Ich nenne diese kleine Partei die Innozentisten. Sie behaupten Innozenz oder ethische Neutralität allein in Bezug auf seine letzte Ausfahrt. Sie entschuldigen nicht sein Verhalten vor Troja.
Der Meinungsstreit führte zu Quellenforschungen: Folgt Dante Vergil in der Verurteilung des Odysseus und nahm er – wie August Rüegg vorschlug – im zweiten Teil des canto Bezug auf Alexander-Legenden, die von der maßlosen Wißbegierde des Königs erzählen?
Der Streitfall wird kompliziert. In solchen Fällen ist es nützlich, zunächst einmal zu sagen, worum er nicht geht. Niemand kann behaupten, Odysseus sei völlig unschuldig, obwohl dies den Innozentisten schon vorgeworfen worden ist. Ulisse sitzt zu Recht im achten Höllenkreis. Die Frage ist nur: Warum? Genügen die von Vergil genannten drei Gründe nicht? Ist es die Aufgabe der Dante-Erklärer, wenn Dante drei Strafgründe nennt, einen vierten zu erfinden? Ferner: Kaum jemand verherrlicht noch die Ausfahrt des Ulisse als erste moderne Entdeckungsreise, als Symbol neuzeitlichen Wissenwollens. Allerdings rühmte auch Bruno Nardi, der die Ausfahrt als Hochmut verurteilte, Dante als Entdecker der Entdeckungsreisen. Und gewiß ist die Annahme falsch, die Säulen des Herkules hätten das ganze Mittelalter über als gottgesetzte, unverletzliche Grenze gegolten. Zumindest das Handelsinteresse drängte über sie hinaus: 1291 startete von Genua aus eine Expedition nach Westen. Sie kehrte nie zurück. Wenige Jahrzehnte später wurde die erste der Kanarischen Inseln entdeckt; 1341 war die ganze Inselgruppe bekannt, was, wie Boccaccio bezeugt, in Florenz auf Interesse stieß.
Hier sind einige Textbeobachtungen am Ort. Es sind philologische Finessen. Aber sie haben Folgen.
Das Schlachtroß der Punitionsfraktion ist die Stelle, an der Dante die Ausfahrt des Ulisse als follevolo bezeichnet, Vers 125. Dante wiederholt den Ausdruck im Paradiso 27, 82–83. Aber was heißt folle? Hugo Friedrich übersetzte es mit ›vermessen‹ und nahm damit das Ergebnis der Punitionisten vorweg. Aber der Wortgebrauch muß erst untersucht werden.[8] Danach bedeutet folle ›gewagt‹, ›gefährlich‹, ohne moralische Abwertung. Ich übersetze folle volo als irr-gefährlichen Flug oder Wahnsinnsflug und hoffe, daß das gewagt, aber ethisch neutral klingt.
Ich stelle weitere Textbeobachtungen zusammen, auch wenn ich deren Hauptinhalt schon erwähnt habe:
Der Wanderer Dante ermahnt sich, nun, wenn er von Ulisse erzählt, müsse er seinen Geist zügeln (26, 19–24). Das ist durchgängig ein wichtiges Motiv der Philosophie Dantes; er erklärte, wie sich zeigen wird, die ethisch-politische Vernunft als den Inhalt der Commedia. Er will sich nicht hinreißen lassen, aus Bewunderung für den Seefahrer Ulisse dessen Verbrechen vor Troja zu vergessen. Er verurteilt damit nicht die letzte Ausfahrt des Odysseus. Jedenfalls stellt Dantes Text diesen Bezug nicht her. Dante redet hier mit sich selbst.
Weiter: Vergil erklärt (49–63) die dreifache Schuld des Ulisse. Diese Anklagepunkte betreffen, wie gesagt, insgesamt Täuschungen bei militärisch-politischen Taten; die Ausfahrt kommt dabei nicht vor.
Außerdem: Ulisse steckt mit Diomedes zusammen in einem Flammenmantel; Diomedes war bei Troja dabei, nicht bei der Ausfahrt. Die Strafe, heißt es aber, sei so gemeinsam wie die Untaten.
Schließlich: Dantes Ulisse ist nie nach Ithaka zurückgekehrt. Er ist von Gaeta und dem Kap der Circe direkt nach Westen gesegelt. Er tat dies nicht impulsiv, sondern machte sich als Familienwesen die drei Motive klar, die dagegen sprachen, nach Westen zu fahren (92–97). Sein Abschied von Kirke galt manchem christlichen Autor als besondere Tugendleistung. Ein früher christlicher Schriftsteller sah Odysseus deshalb als Vorbild Christi. Nun hält nicht jeder Leser diese Abfahrt für einen Kraftakt christlicher Tugend. Immerhin hat er sich ein Jahr lang mit Kirke vergnügt.
Ich gehe zur Betrachtung größerer Texteinheiten über. Von der Zweiteilung des canto 26 war schon die Rede: Ab Vers 90 tritt Ulisse aus der Schar der Verbannten als Einzel-Figura heraus; von Diomedes, mit dem er im selben Feuer steckt, ist nicht mehr die Rede. Die Schuld vor Troja ist abgehandelt; sie wird nicht weiter erwähnt; dies erklärt das Bedürfnis der Punitionisten, eine neue Schuld zu ersinnen. Von ihr steht aber nichts im Text.
Damit zeigt canto 26 Strukturähnlichkeit mit den canti 5, 10, 15 und 33 des Inferno. Ich bleibe bei Francesca von Rimini, canto 5: Die beiden canti sind parallel gebaut: In beiden Gesängen zeigt der Wanderer Dante Nähe und instinktives Interesse, dort zum Liebespaar, bevor er eine Geschichte hört, hier zur Feuergestalt, bevor er mehr weiß.
Beide canti zeigen zwei Hälften: Die erste schildert das Gruppenschicksal bestrafter Sünder wie von außen; die zweite Hälfte stellt eine einzige Person in den Mittelpunkt. Diese erzählt eine Erfahrung, die bisher niemand wissen konnte, weil die Helden sie mit in den Tod nahmen. Wir erfahren, was in ihrer letzten Stunde geschah, die ihre Eigenart konzentriert und manifestiert.
Dante, der Wanderer, eröffnet in beiden canti die persönlichen Berichte, indem er nach einem außermoralischen Detail fragt. Dante, der Autor, ermöglicht eine epische Einlage, die selbst den Charakter einer Erfahrung, esperienza hat. Sie würde nicht hierher gehören, ginge es nur um Straferklärung.
Im Mittelpunkt beider Selbstdarstellungen, also bei Francesca wie bei Ulisse, steht eine Rede, die den Lebenssinn der Figur zusammenfaßt:
Francesca sagt, was Amor bewirkt (5, 100–107),
Odysseus erklärt, Erkennenwollen liege in der Natur des Menschen und mache seine Würde aus im Unterschied zum Tier (26, 112–120).
Jeweils fassen drei Terzinen diese Weltmächte zusammen: Amor und Erkenntnis. Dante übt keine Kritik an diesen Mächten. Er zeigt sie. Zwar wurde Francesca bestraft, weil sie der Übermacht Amors unbesonnen Raum gab, aber die Strafe besteht im Höllenaufenthalt, nicht in ihrer Ermordung; Odysseus leidet ewig im achten Kreis; seine Strafe ist nicht der Schiffbruch. Ihre Reden zeigen die Übermacht Amors und das naturhafte und daher ethisch gebotene Wissensverlangen. Wir lernen die Protagonisten durch die jeweils drei Terzinen von innen kennen; der Wanderer Dante tritt fast auf ihre Seite. Odysseus war nicht nur ein falscher Ratgeber, sondern ein philosophischer Kopf, ein aristotelisch-averroistisch geschulter. Man hat bei der Suche nach Dantes Quellen oft an literarische Einflüsse gedacht, selten genug an den Anfangssatz der Aristotelischen Metaphysik: Pantes anthropoi tou eidenai oregontai physei. Von Natur, das heißt: Menschen können es nicht lassen, und sie sollen es nicht lassen. Im selben ersten Buch (Metaphysik A 2 982 b 24–983 a 5) polemisiert Aristoteles gegen die Dichter, die vom Wissensneid der Götter reden; sie lügen. Gott will uns als Wissende. Dieser unsrer gottgegebenen Natur kann der antike Halbgott Herakles mit seiner Warnung nec plus ultra keine Grenze setzen. Die Ausfahrt über die Säulen des Herkules hinaus verletzt nicht das christliche Empfinden, seit dieses Aristoteles und Averroes in sich aufgenommen hat, also nicht seit Albert von Köln. Wie sonst hätte Thomas Aquinas im Paradiso Siger von Brabant loben können? Nie hätte der fromme Kaiser Karl V. das plus ultra zu seinem Wappenmotto gemacht.
Dante gibt außer Francesca einigen anderen Höllenbewohnern ein individuelles Gesicht und läßt den Gesichtspunkt der Strafe zurücktreten: Farinata ignoriert seinen glühenden Steinsarg; die Politik, das Schicksal von Florenz, interessiert ihn allein. Im Gespräch mit ihm, canto 10, ist von Epikureismus nicht mehr die Rede, nur von Politik in Florenz, bei Brunetto Latini nicht von Homosexualität, canto 15. Es gibt noch andere Beispiele dafür, daß selbst große Untaten nicht alle menschlichen Qualitäten an einem Sünder vernichten. Dazu ist die menschliche Natur zu reich; Gottes Wissen strahlt uns im Wissenwollen des Odysseus entgegen. Daher verteidigt die kleine Rede, die Dante ihm in den Mund legt, unwidersprochen die Ausfahrt:
Der Text enthält keine Spur davon, Odysseus suche den Weg nach Eden aus eigener Kraft, statt ihn von der Gnade zu erwarten wie der Wanderer Dante. Nichts spricht dafür, daß er zum irdischen Paradies wollte. Er wollte der Sonne nachsegeln.
Schon gar keine Andeutung auch, daß der Heide Odysseus, der vom Christentum nichts wissen konnte, die Vernunfterkenntnis auf das Gebiet des Glaubens ausweiten wolle. Der Ozean ist gefährlich, aber er ist kein christliches Mysterium.
Die Bewertung der Odysseus-Reise leidet unter vier Umständen: Erstens wird sie nicht als poetische Kunst bewertet. Die zweite Hälfte von canto 5 und von canto 26 erlaubt Dante eine fabulierende Erklärung: Er hat im Jenseits erfahren, was man in Florenz schon immer wissen wollte, und erzählt es. Zwar hat der junge Schelling recht, wenn er von der Commedia behauptet, sie gehöre keiner besonderen literarischen Gattung wie Dramatik, Epik oder Lyrik an. Aber sie hat doch auch den Charakter eines fiktiven Berichts, einer Reiseerzählung. Nicht, als würden nur Episoden kolportiert. Dante zeigt die großen, übergeordneten Lebensbedingungen des Menschen: Amor und Wissenwollen. Poesie ist weder bei Dante noch bei Boccaccio Plauderstunde; sie ist gestaltete Weltkenntnis.
Zweitens: Die Odysseus-Episode wird isoliert. Sie wird meist interpretiert ohne Blick auf canto 27: Dort spricht Guido von Montefeltro, der mit Odysseus im selben Graben büßt, auch er als raffinierter Stratege. Er hat den Papst Bonifaz VIII. beraten, wie er Palestrina dem Erdboden gleichmachen kann. Mißbrauch des Einfallsreichtums bei Militäraktionen, das verbindet die beiden canti.
Drittens wird canto 26 zur Epochenspekulation mißbraucht. Man glaubt zu wissen, daß es eine solch gefährliche Welterkundung im ›Mittelalter‹ nicht gegeben haben kann. Aber es gab 1291 eine Atlantikexpedition von Genua aus. Auch damals gab es die Säulen des Herkules. War das nicht auch die Zeit, die man als ›Mittelalter‹ zu kennen glaubt?
Damit bin ich beim vierten Punkt: Die Punitionstheoretiker argumentieren bei canto 26 mit ihren Epochenbildern von Mittelalter und Neuzeit: Maßloses Wissenwollen, suggerieren sie, gehöre in die Neuzeit, die Innozentisten übertrügen dies anachronistisch rechtfertigend auf Ulisse. Hugo Friedrich glaubte, Augustins curiositas-Verbot, das Thomas Aquinas tatsächlich teilweise übernahm, hätte auch 1310 gegolten; manche zitieren Petrarcas Selbstkritik im Namen von Augustins Confessiones 10 und seinen Aufstieg zum Mont Ventoux. Aber das ›Mittelalter‹ hat sich seit dem 12. Jahrhundert verändert. Seit dem Ende des 11. Jahrhunderts entwickelten sich überregionale Diskussionsstränge, Wissenserweiterung und eine neue Hochschätzung des Neuen.
Seitdem gab es ein belegbares Pathos beim Lob der Vernunft, das sich gegen das curiositas-Verbot auf Augustins Frühschriften berufen konnte.
Jetzt lehrten Denker des christlichen Westens die These des Aristoteles, Wissenwollen charakterisiere die menschliche Vernunft, und es sei Dichterlüge, daß Götter den Wissensbesitz neiden. Dante hat an den Anfang seiner beiden wichtigsten philosophischen Schriften, des Convivio und der Monarchia, den Satz des Aristoteles gesetzt: Alle Menschen wollen von Natur aus wissen. Er hat das als den Grundsatz bezeichnet, aus dem er alles folgert. Was von Natur aus ist, gilt als ethische Norm. Alle Menschen, nicht nur Odysseus, verlangen nach Wissen, aus ihrer Natur heraus, nicht aus willkürlich-bösem Einfall.
Die Gestalt des Odysseus bei Dante regt an, neu nachzudenken über das Verhältnis von Theologie und Poesie. Manche Punitionisten hielten es für den Nachweis ihrer Vertrautheit mit dem mittelalterlichen Denken, daß sie nach Verfehlungen fahnden und wie Staatsanwälte für die Korrektheit des göttlichen Strafbeschlusses argumentieren. Sie zerbrechen sich Gottes Kopf für die Strafgründe und sind mit der Erklärung Vergils in den Versen 55–63 nicht zufrieden. Sie saugen aus vager Epochenspekulation und aus Kritik der Moderne eine vierte, eine zusätzliche und überflüssige Schuld des Ulisse. Sie mißverstehen sowohl Dantes Poetik als auch seine Theologie. Sie halten sich an das göttliche Strafsystem, das niemand leugnet, und setzen es als Ausleger dort fort, wo Dante es hinter sich gelassen hat, ohne es zu leugnen, um allgemeine Lebensbedingungen zu zeigen, die Leben hervorbringen und zerstören. Die Theologie Dantes ist eins mit seiner Poesie, denn sie borniert sich nicht auf Rechtsordnung, Schuldgründe und Strafvollzug, sondern zeigt die Herrlichkeit des Erschaffers auch in den Verlorenen.
Dantes Ulisse zeigt den spezifisch dantesken Sinn von philosophierender Theorie. Sie hält Hinzufügungen fern. Sie spekuliert nicht, wo Dante ausführlich seine bzw. Gottes Gründe nennt. Die ›kleine Rede‹ des Odysseus gehört wie Francescas Erklärung des mächtigen Liebesgottes Amor zu Dantes Interesse an einer Analyse der Lebensmächte, die in Europa um 1300 das Leben der Menschen bestimmten. Dante rechtfertigt nicht das Gericht, sondern zeigt, aus welchen kulturellen und gesellschaftlich-politischen Voraussetzungen Menschen ihr Leben lebten. An Francesca und Ulisse war mehr als nur Bosheit. In ihren naturhaften, zugleich allgemeinmenschlichen, also guten Impulsen strahlt uns die Güte Gottes entgegen wie im ganzen Universum, auch in Untergängen und Sünden. Francesca, die Sünderin, war Opfer Amors und des Gatten; Odysseus war Wissensdrang, der seine Natur ausmachte, und Opfer des unbekannten Meeres.
Ich deute hier eine Auslegungsart der Commedia an, die man ›Dantologia povera‹, eine ›arme Dante-Deutung‹ nennen könnte, im Anschluß an pittura povera und metafisica povera. Sie läßt so vieles weg. Sie liest Dantes Inferno ohne moralistischen oder, was schlimmer ist, staatsfrommen Kult des Strafsystems. Sie folgt Dante, der zeigt, wie Menschen im irdischen Leben durch ihre göttlich-menschliche Natur bestimmt sind, auch dort, wo sie diese verkehren. Eine solche Dantologie denkt sich nicht, wo Dante schweigt, nachträgliche Rechtfertigungen für Gottes Urteil aus. Oft schweigt sie, z.B. darüber, wie der Liebhaber Francescas hieß oder was das für eine Insel war, vor der Odysseus unterging. Denn Dante sagt darüber nichts.
Am tiefsten Punkt von Dantes Hölle brennt kein Feuer. Es herrscht eisige Kälte. Dort leiden die schlimmsten Verbrecher, ganz nahe bei Satan. Judas und Brutus haben ihre Wohltäter verraten. Unmittelbar vor ihnen erleidet Ugolino seine Strafe. Er hat seine politischen Freunde verraten. Er hat mehrfach die Partei gewechselt. Er hat Verträge gebrochen. Ihm wurde vorgeworfen, er habe als Herr der Stadt Pisa pisanische Festungen an die Koalition der Feinde – Genua, Lucca, Florenz – ausgeliefert.
Dantes Ugolino-Darstellung verteilt sich auf das Ende des zweiunddreißigsten und den Beginn des dreiunddreißigsten, also des vorletzten Höllengesangs.
Ugolino ist ein Ausbund an Verworfenheit. Aber der Erzbischof ist nicht besser, und an ihnen kann der Leser sehen, wie Dante denkt und dichtet. Seine Kunst webt keine Jenseitslegende. Und sie ist kein Strafregister in Versen. Ugolino wird nicht entschuldigt. Er wird nicht heroisiert als großer Verbrecher mit edlem Vaterherz. Er ist Verräter. Er zeigt sich gegenüber seinem Feind Ruggieri, mit dem ihn der Frost für immer zusammengebunden hat, von unmenschlicher Roheit. Aber Dante zeichnet ihn als Verratenen und Vater. Sein Verbrechen tilgt an ihm nicht jede göttlich-menschliche Qualität. Er erzeugt und erträgt die Eiseskälte der Nicht-Kommunikation. Er nagt auf ewig an seinem Feind, der völlig stumm bleibt; er, der Laie, an einem hohen Kleriker. Sein Verhalten zeigt tierischen Haß, mostri per sì bestial segno odio (32, 133). Aber er lebt in einem unzerstörten Familienverband. Der sonst so Grausame teilt, selbst den Hungertod vor Augen, mitfühlend das Schicksal seiner vier Kinder. Er leidet mehr noch als unter dem Hunger daran, daß er den Kindern nicht helfen kann. Das zeigt die Erzählung vom Hungertod des Grafen Ugolino von Pisa (Inf. 32,124–33,90, Übersetzung S. 134–137):
Die Dichter sind jetzt in der tiefsten Hölle, genauer im 9. Kreis. Sie sehen den Grafen Ugolino, der mit Haß und Heißhunger seine Zähne in den Schädel des Erzbischofs von Pisa, Ruggieri, schlägt. Ugolino, der Verräter, erzählt, wie ihn der Erzbischof verraten und mit seinen Kindern im Hungerturm hat umkommen lassen.
Ugolino ist nach Francesca und Odysseus die dritte große Inferno-Persönlichkeit, die in Europa nicht mehr vergessen werden konnte. Sein Haß und die Höllenszene zeigen das Leben auf der Erde, ein Leben, in dem einer den anderen auffrißt. Als einer der bösesten Menschen befindet Ugolino sich auf dem vorletzten Höllenboden. Und doch nehmen wir an ihm Anteil.
Der canto des Ugolino hat eine große Rezeptions- und Auslegungsgeschichte. Er kommt bei Chaucer vor; der deutsche Sturm-und-Drang-Dichter Gerstenberg ließ ihn 1768 mit seinem Drama Ugolino wiederaufleben und brachte Dante in die Nähe der deutschen Shakespeare-Begeisterung. Wie hat Dante das erreicht?
Er zeigt Ugolino nicht als Verräter, der mehrfach die Partei gewechselt hat. Er nennt ihn gleich am Anfang Sünder (33, 2). Ugolino ist nicht gut, nicht wahrheitsliebend; er will von seinem Geschick nur reden, damit dem Erzbischof, der ihn verraten hat, daraus Schande erwächst (33, 7–9). Der Erzbischof hatte Versöhnung geheuchelt und Ugolino beim ersten Zusammentreffen verhaften lassen. Ugolino hört aus den Worten des Besuchers den florentiner Dialekt heraus und schafft daraus die erste Möglichkeit der Anknüpfung: Dante werde wohl vom Schicksal des Grafen gehört haben, nur die Details der Todesart könne er nicht wissen. Und dann macht er ihm verständlich, warum er sich am Erzbischof ewig rächen muß.
Der Verfasser der Commedia urteilt nicht, ob er die Rechtfertigung Ugolinos überzeugend findet. Er verdächtigt ihn auch nicht wie ein angesehener Dante-Forscher es tat, er wolle mit geheuchelter Teilnahme am Leiden seiner Kinder von seinen Untaten ablenken. Er läßt ihn eine Rede halten, die nicht philosophisch wie Francesca das Wesen der Liebe oder wie Ulisse den Wert des Wissenwollens darlegt, sondern die nur die Geschichte seines Todeskampfes erzählt; ihn dauert der Unglücksmann, der das Verhungern seiner Kinder und sein Sterben beschreibt. Er stellt die Kerkerszene und das Verhungern in epischer Objektivität einfach hin. Er empfindet das Grauen und die moralische Ungeheuerlichkeit der Rache des Grafen, insistiert aber nicht weiter auf deren moralischer Verwerflichkeit, sondern läßt Ugolino reden. Dessen Erzählung ist die längste Rede, die Dante einem Sünder in Dantes Hölle zugestanden hat.
Er stellt das Geschehen im Hungerturm in drei Abschnitten dar:
Die Dichter sehen zwei im Eis aneinandergefrorene Männer, von denen der eine mit Heißhunger seine Zähne in den kahlen Schädel des anderen schlägt. Um zu erfahren, um wen und um was es sich handelt, bietet Dante dem grausamen Täter an, seine Ehre in der Menschenwelt wiederherzustellen, wenn er ihm erklärt, warum er den Benagten so roh bestraft (32, 124–139).
Zu Beginn des 33. Gesangs sieht Dante den blutbeschmierten Mund des Sünders, der sein Kinn mit den Haaren seines Opfers abwischt. Der Täter stellt sich vor als Graf Ugolino, von dessen Kampf mit dem Erzbischof von Pisa er als Florentiner gewiß gehört habe. Nur wie er zu Tode gebracht worden sei, könne Dante nicht wissen. Dies schildert ihm Ugolino in 74 dramatischen Versen, an deren Ende er wieder wie mit starken Hundezähnen auf den Schädel des Erzbischofs einbeißt (33, 4–78).
Die Episode endet mit einer außerordentlich heftigen Anklage des Autors Dante gegen Pisa. Er wolle nicht den Verräter Ugolino rechtfertigen, aber Pisa habe vier unschuldige Kinder zu Tode gebracht und habe verdient, daß die Fluten des Arno es ertränken (79–90).
Ugolinos Erzählung beginnt mit der Angabe der Dauer der Gefangenschaft. Er hat durch ein schmales Mauerloch mehrmals die Wiederkehr des Mondes beobachtet; nach mehreren Monaten im Kerker sah er im Traum, wie der Erzbischof eine Schar böser Hunde gegen einen Wolf und seine Welpen hetzte, also gegen ihn. Dante erwartete Wahrheit von Träumen, besonders von Vorausahnungen der ersten Morgenstunde. Ugolino erwachte an diesem Morgen früh und hörte das Weinen seiner Kinder, die nach Brot schrien. Zu der Stunde, in der ihnen sonst das Essen gebracht wurde, hörte er, wie unten das Tor zum Turm zugenagelt wurde. Er erstarrte. Der kleine Anselmuccio achtet auf den Gesichtsausdruck seines Vaters und fragt besorgt: Was hast du? Che hai? (51) Der Gefühlszusammenhalt der Familie besteht noch. Der Vater muß sich Gewalt antun; er schweigt, nicht weil er gefühllos erstarrt wäre, sondern um das Leiden der Kinder nicht zu vergrößern (64). Er unterbricht die Kommunikation, um die Kinder zu schonen. Er blickt in die vier Gesichter, er sieht sein eignes Bild und den Widerschein seiner erschreckten Verzweiflung und nicht, wie ein Erklärer schreibt, den seiner Schuld in ihnen, und beißt sich vor Verzweiflung in beide Hände.