Elias Canettis Poetik der Masse - Konrad Kirsch - E-Book

Elias Canettis Poetik der Masse E-Book

Konrad Kirsch

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Beschreibung

Elias Canettis Poetik ist darauf ausgerichtet, den Tod in all seinen Erscheinungsformen zu bekämpfen. Umgekehrt will er mittels eines poetischen Animismus potentiell die gesamte Welt beleben. Mit der Episode um den Schmied Jean gibt Canetti die hypertextuelle Lektüre zur Analyse seines Romans DIE BLENDUNG vor. Dies liefert den Rahmen für die Betrachtung von vier Aspekten der BLENDUNG: Kiens Bezug zum ersten chinesischen Kaiser Shi-Hoang-Ti und zum chinesischen Ahnenkult; Kien transformiert die Tod-Figur des Totentanzes und des Motivs ›Der Tod und das Mädchen‹; in den »Gorilla« der BLENDUNG sind Rousseaus Naturmensch und King Kong eingegangen; schließlich: KING KONG als Film über den Versuch eines Ausgegrenzten, sich zu integrieren, und dessen Einfluss auf die Gestaltung des Juden Fischerle in der BLENDUNG. Abschließend wird die Messer-Metapher in Canettis Werk betrachtet.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Konrad Kirsch

Elias Canettis Poetik der Masse

konradkirschverlagkonradkirschverlagkonradkirschverlagkonradkirschverlagkonradkirschverlag

Impressum

Konrad Kirsch

Elias Canettis Poetik der Masse

November 2024

eBook

isbn 978-3-929844-35-1

Copyright © 2024 by Konrad Kirsch

All rights reserved.

No part of this book may be used or reproduced in any matter whatsoever without written permission except the case of brief quotations embodied in critical articles and reviews.

konrad kirsch verlag

c/o block service, stuttgarter str. 106, 70736 fellbach

kir-v[ät]use[dot]startmail[dot]com

konrad-kirsch-verlag.de

konradkirsch.de

Inhalt

I. Jean und die Methode

II. Die Poetik der Masse

III. Die hypertextuelle Lektüre an vier Beispielen

1. Irrungen und Wirrungen eines Sinologen

2. DIE BLENDUNG als Totentanz

3. Canettis »Gorilla« als transformierter Naturmensch

4. King Kong wird »zu einem riesengroßen Zwerg«

IV. Die Messer-Metapher

 

»Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen

und es klingt hohl, ist das allemahl im Buch?«

Georg-Christoph Lichtenberg

http://www.literaturkritik.de/public/mails/rezbriefe.php?rid=10588#842

I. Jean und die Methode

Mit einer scheinbar marginalen Episode gibt Elias Canetti die Methode zur Analyse seines Romans dieblendung vor: Weil ihn seine Frau mit einem Unteroffizier betrogen hat, wurde der Schmied Jean irrsinnig und zündete sein Dorf an. Seine Geschichte erzählt er einem Lehrer, woraufhin ihn dieser fragt, wie er heiße. Nachdem Jean seinen Namen genannt hat, entgegnet der Lehrer: »Unsinn! Sie heißen Vulkan! Sie schielen und hinken. […] Ihre Frau heißt Venus, und der Sergeant heißt Mars. Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen«.1 Der Lehrer führt Jeans Geschichte auf ihr mythisches, also literarisches Muster zurück, er interpretiert sie folglich avant la lettre inter- oder besser: hypertextuell. Nicht ohne ironischen Unterton lässt Canetti den Lehrer anfügen »Ich bin gebildet. Ich hab' nur gestohlen« (dbg 447), womit er zum einen thematisiert, dass es eines gewissen kulturellen Wissens bedarf, um in Jeans Erzählung den mythischen Ehebruch zu erkennen, und zum zweiten, dass der ihr zugrundeliegende Schreibprozess an die (produktive) Aneignung eines fremden Textes gekoppelt ist.2 Darüberhinaus spiegelt die Episode um Jean Préval die Geschichte von Peter Kien, dem Protagonisten der blendung, der von seiner Frau Therese ebenfalls betrogen wird und der seine Bibliothek in Brand steckt wie der Schmied das Dorf. Diese Parallelität von Text und Binnentext unterstreicht, dass das vorgestellte Vorgehen auf den gesamten Roman zu übertragen ist.3

Wie das Stichwort Hypertextualität bereits angeklingen ließ, liegt dem Folgenden die Begrifflichkeit Gérard Genettes zugrunde.4 Im Vergleich zu anderen Versuchen, das Phänomen der Inter- oder Hypertextualität zu beschreiben, zeichnet sich Genettes Klassifikation dadurch aus, dass sie frei von ideologischen Implikationen ist. In palimpseste definiert Genette das Verhältnis von Text und Prätext als das von Hyper- und Hypotext: Der Hypotext (die Geschichte von Vulkan, Venus und Mars) liegt dem Hypertext (der Episode um Jean, seiner Frau und ihrem soldatischen Liebhaber) zugrunde, der die Strukturen und Motive des Hypotexts auf die eine oder andere Weise transformiert.

Genette betrachtet allerdings nur Hypertexte, die als solche deklariert sind, z.B. ulysses von James Joyce oder Thomas Manns doktor faustus. Für ihn wäre dieblendung folglich kein Untersuchungsgegenstand, da Canetti – abgesehen von der Episode um Jean – seine Hypotexte nicht ausweist. Das heißt, sie müssen erst noch freigelegt werden. Daher ist es erforderlich, Genettes Methodik mit einer hermeneutischen Herangehensweise zu korrellieren. Hierbei beziehe ich mich auf wahrheit und methode von Hans Georg Gadamer und seine Darstellung von Heideggers Vorstruktur des Verstehens.5 Allerdings rekurriere ich nur auf seine gewissermaßen technischen Ausführungen; Gadamers Versuch, das Klassische als Norm zu restitutieren, schließe ich mich nicht an.

Nach Canetti ist (in seiner Diktion:) der Dichter »ein experimenteller Kulturhistoriker«.6 Canetti rekurriert in seiner Poetik und der blendung daher neben literarischen auch auf philosophische, religiöse und psychologische Texte, auf Riten, Bräuche und religiöse Vorschriften, historische Personen und Ereignisse, mit king kong auf einen Film und sogar auf Bauwerke. Deshalb lege ich meiner Untersuchung einen moderat erweiterten Textbegriff zugrunde, während Genette den Begriff der Hypertextualität ausschließlich auf literarische Texte anwendet. Das ist ohne Weiteres möglich, weil Genettes Begrifflichkeit strukturell ausgerichtet und folglich nicht an bestimmte Gattungen oder Medien gebunden ist.

An der Episode um den Schmied Jean fällt außerdem auf, welch geringe Anzahl von Elementen dem Lehrer genügen, dessen Geschichte auf jene von Vulkan, Venus und Mars zurückzuführen. In einer Aufzeichnung bringt Canetti das Verfahren dazu auf den Punkt: »Verkürzung der Philosophen zu Spielkarten«.7 Für sich genommen ist das Notat aus das geheimherz der uhr einigermaßen kryptisch, zumal es nur aus diesem einzigen Satz besteht. Auf Canettis hypertextuelle Praxis bezogen, beschreibt es allerdings den produktionsästhetischen Aspekt der Episode um Jean: Canetti ›verkürzt‹ die antike Ehebruchsgeschichte und ihr Personal auf markante, für die blendung relevante Motive und Attribute. Das macht sie und weitere Hypotexte operationalisierbar, sodass er sie als »Spielkarten« einsetzen kann.

II. Die Poetik der Masse

Es kann allerdings nicht allein darum gehen, Canettis »Spielkarten« aufzulisten. Um zu verstehen, wie er sie einsetzt, ist es nötig, die ›Regeln‹ seines ›Spiels‹ zu kennen. Daher gilt es also in einem ersten Schritt Canettis Poetik zu rekonstruieren, woraufhin anschließend an vier Beispielen gezeigt werden kann, auf welche Weise er sie mittels der Hypertextualität umsetzt. Eine umfassende Darstellung dessen findet sich in der Studie Die Masse der Bücher. Eine hypertextuelle Lektüre von Elias Canettis Poetik und seines Romans die blendung, auf welcher der vorliegende Beitrag beruht.

Seine Poetik hat Canetti nicht in einem Text zentral dargelegt, sondern sie ist den unterschiedlichen Teilen seines Werks mal mehr, mal weniger offen eingeschrieben. Die großen Koordinaten – Verwandlung versus Tod – finden sich in der Rede zu Ehren Hermann Brochs und in jener über den beruf des dichters. Ergänzt werden sie durch bewusst lancierte Bemerkungen in Interviews sowie durch gezielte Betrachtungen in den Essays, den Aufzeichnungen und in seiner Autobiografie. Über diese expliziten Teile der Poetik lassen sich die impliziten, wie der poetologische Gehalt der Figurenrede, erschließen, sodass selbst Äußerungen von Figuren, die dezidiert in Widerspruch zu seiner Poetik stehen, diese ex negativo ergänzen können.

Canettis Poetik ist gegen den Tod gerichtet, mit seinen Texten leistet er »Widerstand gegen den Tod«.8»Das ganz konkrete und ernsthafte, das eingestandene Ziel meines Lebens ist die Erlangung der Unsterblichkeit für die Menschen. Es gab Zeiten, da ich dieses Ziel der zentralen Figur eines Romans leihen wollte, die ich bei mir den Tod-Feind nannte«.9 Es gibt eine Vielzahl ähnlicher Aussagen von ihm, exemplarisch für sie sei hier noch folgende angeführt: »Ich anerkenne keinen Tod«, schreibt er im Aufzeichnungsband die fliegenpein. »So sind mir alle, die gestorben sind, rechtens noch lebendig, […] weil sie nie hätten sterben dürfen. Alles Sterben bis jetzt war ein vieltausendfacher Justizmord, den ich nicht legalisieren kann«.10 Die juristische Metaphorik impliziert, dass der Tod an sich eklatant gegen das ›eigentliche (also Canettis) Gesetz‹ verstößt.11 Der emphatischen »Tod-Feind«-schaft steht darum seine ebenso unbedingte Positionierung für das Leben gegenüber. Das Mittel, über das er als Dichter verfügt, um den Tod zu bekämpfen, ist, Unbelebtes poetisch zu beleben.

Canetti unterscheidet nicht zwischen physischem und symbolischem Tod, gleiches gilt entsprechend für das Leben. Der Antagonismus von Leben und Tod bildet sich auf den unterschiedlichen Ebenen ab als der Gegensatz von Mythos (der bei ihm gleichbedeutend mit der Kunst ist) versus Wissenschaft, Verwandlung versus Erstarrung und Masse versus Individuum, um nur die wichtigsten zu nennen. In dieser Gegenüberstellung korrespondiert der jeweils erste Teil mit dem Leben: Mythos/Kunst, Verwandlung und Masse, der zweite hingegen mit dem Tod: Wissenschaft, Erstarrung und Individuum. Zwischen diesen Polen wird nicht vermittelt, es kommt zu keinem Ausgleich der Gegensätze, zu keiner Versöhnung des Lebens mit dem Tod.

Der Tod entspricht in Canettis Poetik der Verdinglichung des Lebendigen, worin sich sein physischer und sein symbolischer Aspekt treffen. Die Verdinglichung hängt wesentlich mit der eindeutigen Identifizierung zusammen: Wer auf eine einzige Identität festgelegt werden kann, ist funktionalisierbar. Auf diese Weise ist sein Leben fremden Zwecken untergeordnet, es verliert seine Selbstzweckhaftigkeit und ist auf die Ebene der Gegenstände gedrückt. Auf symbolischer Ebene ist es damit bereits tot. Der Ort, an dem man der Identifizierung entgehen kann, ist die Masse. Das lässt sich leicht so vorstellen, dass man in ihrer Anonymität untertauchen und so die Identifizierung vermeiden kann. Diesem gewissermaßen quantitativen Aspekt der Masse stellt Canetti einen qualitativen zur Seite. Er ist mit dem für sein Werk so zentralen Begriff der Verwandlung korrelliert. Durch sie ist man in der Lage, sich der todbringenden Identifizierung zu entziehen: Bevor man auf eine Identität festgelegt worden ist, hat man schon eine neue, noch unbekannte angenommen.12 Das Repertoire dieser Identitäten oder Rollen, die einem zur Verfügung stehen, stellt die Masse dar. Je größer und heterogener sie ist, desto erfolgreicher können ihre Elemente dem Tod entgehen.

Doch je heterogener sie ist, desto instabiler ist sie auch. Deshalb besteht sie (noch) lediglich für zeitlich begrenzte Momente der subjektiven Wahrnehmung: »Noch pflegt sie bald zu zerfallen, und dann sind wir wieder wir, arme, einsame Teufel. […] Indessen rüstet sich die Masse in uns zu einem neuen Angriff. Einmal wird sie nicht zerfallen, vielleicht in einem Land erst, und von diesem aus um sich fressen, bis niemand an ihr zweifeln kann, weil es kein Ich, Du, Er mehr gibt, sondern nur noch sie, die Masse« (bdg 449f). Weil es in ihr »kein Ich, Du, Er mehr gibt«, ist die Masse dem Individuum entgegengesetzt, das die Verwandlung ablehnt und in seiner Identität erstarrt. Um sie zu bewahren, versucht es, alles in seiner Umgebung zu identifizieren und auf eine Identität festzulegen. Daher hat jede der Canettischen Figuren eine eigene »Welt im Kopf« (bdg 399), so der Titel eines der drei Teile der blendung, und ist bestrebt, sie gegen die anderen Figuren und deren Kategorien durchzusetzen. Kommunikation ist zwischen ihnen folglich kaum möglich, ihre Begegnungen gleichen eher Kollisionen. Wenn ein Individuum seine Umgebung weitgehend kontrolliert und nahezu alles seinen Zwecken untergeordnet hat, ist es in Canettis Diktion zu einem Machthaber geworden. Dieser reduziert die Vielfalt, verdinglicht das Leben und tötet es letztlich. Dem Tod will er entgehen, indem er ihn allen anderen bringt. Damit bildet er die Gegenfigur zur Masse.

Dem Folgenden sei eine weitere Aufzeichnung Canettis vorangestellt: »Seine Wahrhaftigkeit liegt in der Übertreibung. Er lügt, wenn er nicht übertreibt«.13 Auch dies ist eine Lektüreanleitung. Man soll Canetti beim Wort nehmen, selbst wenn es den Anschein hat, dass er »übertreibt«; wenn er nicht ›übertreiben‹ würde, würde er ›lügen‹. Um die (poetische) ›Wahrheit‹ zu finden, spitzt er also zu, bis ins nicht mehr steigerbare Extrem. Das zeigt sich beispielsweise darin, dass in Canettis Poetik nicht nur alles auf den Gegensatz von Leben und Tod hinausläuft, sondern dass er nichts weniger als den Tod aus der Welt tilgen will. Aus diesem Grund sucht er nach dem Mittel, die gesamte Welt poetisch zu beleben. Er hat es in der Masse gefunden.

Diesen vertrauten, abseits der Physik meist despektierlich verwendeten Begriff lädt er dazu neu auf. In seinem monumentalen Essay masse und macht entwickelt Canetti verschiedene Spielarten der Masse und diskutiert, auf welche Weise und in welchem Grad sie die Forderungen nach Größe, Heterogenität und Dauer erfüllen. Eine relativ stabile Form der Masse bezeichnet er als »Doppelmasse« (mum 71), die aus zwei komplementär aufeinander bezogenen Massen besteht; als Beispiele dafür nennt er Männer und Frauen sowie die Lebenden und die Toten. Zuvor legt er über die Masse dar: »In ihrem idealen Falle sind sich alle gleich. Keine Verschiedenheit zählt, nicht einmal die der Geschlechter. Wer immer einen bedrängt, ist das gleiche wie man selbst. Man spürt ihn, wie man sich selber spürt. Es geht dann alles plötzlich wie innerhalb eines Körpers vor sich« (mum 14). »In ihrem idealen Falle« sind also die Kategorien Frau und Mann gefallen, mit dem Ergebnis, dass sie einen gemeinsamen Kollektivkörper bilden.14 Fasst man diese Masse als Chiffre für die gesamte Menschheit auf, hat sich die einstige »Doppelmasse« der Frauen und Männer zur Masse der Lebenden vereint. Sie steht nun den Toten gegenüber, mit denen sie die zweite »Doppelmasse« bilden, die Canetti nennt. Können sich die Lebenden und die Toten ebenfalls zu einer gemeinsamen Masse vereinen wie dieFrauen und die Männer? Die Annahme, dass das unmöglich wäre, unterminiert Canetti, wenn er feststellt, »daß die Masse sich nie gesättigt fühlt. Solange es einen Menschen gibt, der nicht von ihr ergriffen ist, zeigt sie Appetit. Ob sie diesen auch behalten würde, wenn sie wirklich alle Menschen in sich aufgenommen hätte, kann niemand sicher sagen, doch es ist sehr zu vermuten« (mum 22). Der letzte Satz und insbesondere sein Schluss legt nahe, dass sich die beiden Teile dieser »Doppelmasse« ebenfalls vereinen können.15 Oder allgemeiner formuliert und etwas vorzugreifen: dass nicht nur lebende Menschen Teil der Masse werden können.

»In ihrem idealen Falle« ist die Masse allumfassend, maximal heterogen und besteht ewig. Die »offene Masse« kommt diesem Ideal am nächsten; um sie soll es hier wesentlich gehen, denn: »Die offene Masseist die eigentliche Masse […]« (mum 20). Bei ihrer Betrachtung ist Canettis ›übertriebene‹ Diktion wörtlich zu nehmen. So kann die »offene Masse«»ins Unendliche wachsen« (mum 20), sie hat »ein universelles Interesse« (mum 15) und »ihrem Wachstum ist überhaupt keine Grenze gesetzt« (mum 15). Davon angetrieben, hebt sie die Ordnungskategorien auf, die die Phänomene voneinander trennen. Während das Individuum immer neue, immer subtilere Kategorien errichtet, um sich die Welt untertan zu machen, ist die »offene Masse«»nichts als ein Angriff auf alle Grenzen« (mum 19). Sie reißt die Kategorien ein, in die ihre Bestandteile separiert werden sollen, denn diese erscheinen ihr als »Gefängnisse«: »Sie haßt ihre künftigen Gefängnisse, die ihr immer Gefängnisse waren. Der nackten Masse erscheint alles als Bastille« (mum 19). Mit dem Stichwort »Bastille« wird ihr revolutionärer Charakter betont; wie radikal die Masse die bestehenden Verhältnisse umstürzt, zeigt sich darin, wie Canetti den Ausdruck die»offene Masse« auffasst: »›Offen‹ ist hier in jedem Sinn zu verstehen, sie ist es überall und in jeder Richtung« (mum 15). Auch das ist wörtlich zu nehmen: »[E]in Angriff auf alle Grenzen« und »›Offen‹ […] in jedem Sinn« schließt nicht nur die Grenze zwischen den Toten und den Lebenden ein, sondern auch die zwischen Totem und Lebendigem. Denn die »offene Masse« nimmt nicht nur Menschen in sich auf: »Solange sie kann, nimmt sie alles auf […]« (mum 15; Hervh. Vf.).

Angesichts seiner Bibliothek16 zweifelt daher selbst Kien, das Individuum par excellence, an der Grenze von tot und lebendig: »Jedes denkende Wesen überkommen Augenblicke, in denen ihm die hergebrachte Grenze, welche die Wissenschaft zwischen Organischem und Anorganischem gezogen hat, künstlich und überholt erscheint, wie alle menschlichen Grenzen. Unser heimlicher Widerspruch gegen diese Scheidung verrät sich im Ausdruck ›tote Materie‹. Was tot ist, hat gelebt« (dbg 69). Dadurch, dass die Masse sämtliche Kategorien aufhebt, verwandelt sie alles, was in sie eingeht, permanent und belebt es. Denn die Verwandlung nimmt die Verdinglichung zurück: Wie durch die Verdinglichung Lebendiges auf die Ebene der Gegenstände gedrückt und damit symbolisch getötet wird, wird in diesem Sinne ›Totes‹ – wieder – ›lebendig‹, da es durch die Auflösung der Kategorien nicht mehr instrumentalisierbar ist und damit seine Selbstzweckhaftigkeit wiedererlangt. Deshalb schreibt Canetti in seiner Autobiografie seinem kindlichen Ego die Ansicht zu: »Ich glaubte nicht, daß etwas ganz tot sein könnte«.17 Diese potentiell universelle Fähigkeit, Unbelebtes zu beleben, ist es, der die Masse zu Canettis poetologischer Utopie macht: »Manchmal kommt die Masse über uns, ein brüllendes Gewitter, ein einziger tosender Ozean, in dem jeder Tropfen lebt […]« (bdg 449).18

Canetti schreibt der Masse Empfindungen (»[s]ie haßt ihre künftigen Gefängnisse«), ein Interesse (sie hat »ein universelles Interesse«), »Appetit«, einen Willen (»Sie will jeden erfassen […]« [mum 15]), gar eine Art Urteils- (»Häuser, Türen und Schlösser erkennt sie nicht an […]« [mum 15]) und Vorstellungsvermögen (»Eine offene Masse hat kein klares Gefühl oder Bild davon, wie groß sie werden könnte« [mum 20]) zu. Auf diese Weise konzipiert er sie als ein lebendiges Wesen: »Sie ist trotz ihrem Alter das jüngste Tier, das wesentliche Geschöpf der Erde, ihr Ziel und ihre Zukunft« (bdg 449); »Es sind die kräftigen Lebenslaute eines neuen Geschöpfes, die Schreie eines Neugeborenen« (mum 18), denn sie ist »am Leben« (mum 22). Kien bereut es daher, Türen in seiner Bibliothek angebracht zu haben, deren Bücher gleichfalls eine Masse bilden: »Manchmal machte er sich Vorwürfe, weil er einen einheitlichen Organismus, sein eigenes Geschöpf, aus freiem Willen zerschnitten hatte« (dbg 69).

Mit der Masse als lebendigem Wesen stehen Innen und Außen im Verhältnis von Mikro- und Makrokosmos zueinander. Es gibt also nicht nur eine äußere Masse, sondern auch eine innere, psychische Masse: die »Masse in uns«(dbg 449, 450). Gemäß dieser Anthropologie ist der Mensch ein metaphorisch aufgefasster Schizophrener: Der von außen sichtbare Mensch stellt lediglich die Hülle jener »Masse in uns« dar. Aus je mehr Identitäten er besteht, desto besser kann er dem Tod entgehen. Damit kommt den Dichterïnnen eine hochmoralische Aufgabe zu. Denn sie haben die Fähigkeit, die »Masse in uns« zu erzeugen beziehungsweise zu vergrößern. Dies schildert Kien ex negativo. Zwar erkennt er, dass die Bücher seiner Bibliothek eine Masse und damit »einen einheitlichen Organismus«, ein »Geschöpf« darstellen; aber bei ihnen handelt es sich um wissenschaftliche Bücher. Durch Romane hingegen sieht er seine Identität bedroht: »Den Genuß, den sie vielleicht bieten, überzahlt man sehr: sie zersetzen den besten Charakter. Man lernt sich in allerlei Menschen einfühlen. Am vielen Hin und Her gewinnt man Geschmack. Man löst sich in die Figuren auf, die einem gefallen. Jeder Standpunkt wird begreiflich. Willig überläßt man sich fremden Zielen und verliert für länger die eigenen aus dem Auge. Romane sind Keile, die ein schreibender Schauspieler« – also eine Dichterin oder ein Dichter – »in die geschlossene Person seiner Leser treibt. Je besser er Keil und Widerstand berechnet, um so gespaltener läßt er die Person zurück. Romane müßten von Staats wegen verboten sein« (dbg 41f). Ein Roman stellt folglich eine Art trojanisches Pferd dar: Durch die Lektüre gelangen die Figuren ins Innere der Lesenden und vergrößern so »die Masse in ihnen« (dbg 450).19 Auf diese Weise wird ihr Verwandlungspotential vervielfältigt, wodurch sie über mehr Möglichkeiten verfügen, dem Tod zu entrinnen.20 Literatur hat für Canetti somit eine in höchstem Maß existentielle Dimension: Die Dichterin oder der Dichter »verdichtet«21 die »Masse in uns«. Die Körpermetaphorik der Masse lässt sich auch auf Canettis Gesamtwerk übertragen: Dadurch, dass seine Texte aufeinander bezogen sind, sich gegenseitig ergänzen und erläutern, sind sie ebenfalls zu einem Corpus »verdichtet«.

Genauso sind in seinen Figuren andere Figuren versammelt, auch sie haben eine ›Masse in sich‹, bestehend aus den Figuren der Weltliteratur (im Sinne des erweiterten Textbegriffs). In das erste buch: die blendung hält Canetti fest: »Die Hauptfigur dieses Buches, heute als Kien bekannt, war in den ersten Entwürfen mit B. bezeichnet, was kurz für Büchermensch stand. Denn als solchen, als Büchermenschen, hatte ich ihn vor Augen […]. Daß er aus Büchern bestand, war damals seine einzige Eigenschaft, er hatte vorläufig keine anderen«.22 Dass hier nicht bloß von seiner Eigenschaft als Bibliophilem oder Bibliomanem die Rede ist, sondern metaphorisch seine Konzeption gemeint ist – »[d]aß er aus Büchern bestand« –, wird zu Beginn der blendung offengelegt. Kien hat einen Alptraum: »Da zückt der rechte Jaguar einen wuchtigen Steinkeil und stößt ihn dem Opfer« – also Kien – »mitten ins Herz. [...] Entsetzlich: aus der aufgerissenen Brust springt ein Buch hervor, ein zweites springt nach, ein drittes, viele. Sie nehmen kein Ende [...] Da reißt das Opfer die Brust weit, weit auseinander. Bücher, Bücher kollern hervor. Dutzende, Hunderte, sie sind nicht zu zählen [...]« (dbg 38f). Kien besteht folglich aus einer – Masse – von Büchern, und er präsentiert sie den Lesenden, indem er seine Brust »weit, weit« aufreißt. Sie machen sein »Herz« aus; das Gleiche gilft für andere Figuren der blendung.

III. Die hypertextuelle Lektüre an vier Beispielen

Um diese Bücher sowie die Art und Weise, wie sie in die blendung integriert sind, geht es im Folgenden. – Einen ersten substantiellen Beitrag dazu hat Christine Meyer23 vorgelegt. Sie unternimmt es, die in der Forschung24 immer wieder hergestellte Verbindung zwischen Kien und Don Quijote eingehend zu untersuchen. Canettis asthenischer Protagonist ist nicht nur von der gleichen traurigen Gestalt wie der spanische Ritter, sondern er hat wie dieser eine eigene »Welt im Kopf« und sein Wahn hängt ebenfalls mit Büchern zusammen. Darüberhinaus lassen sich Fischerle, der Kien auf seinen Irrfahrten begleitet, als Sancho-Pansa- und Therese als Dulcinea-Transformation entschlüsseln. Als Büchernarr könnte Kien auf Seiten der Literatur, der Kunst, des Mythos, der Verwandlung, kurz: auf Seiten der Masse stehen. Doch er ist ein »Don Quichotte de l'érudition«,25 wie Christine Meyer schreibt, ein Anti-Don-Quijote, dessen Wahnsinn nicht aus der Lektüre von Romanen resultiert, sondern von wissenschaftlicher Literatur. Als wissenschaftlicher Büchernarr hasst Kien alles, was sich verwandelt und sich eindeutigen Definitionen entzieht. Innerhalb des Koordinatensystems von Canettis Poetik wendet er sich damit vom Prinzip des Lebendigen ab, und an ihm wird demonstriert, was demjenigen droht, der sich dem ›Evangelium der Verwandlung‹ verschließt: Kiens Weg ist selbstmörderisch und endet dem entsprechend. Daher ist die blendung als ein negativer Bildungsroman angelegt.

Dass Kiens Bibliothek am Romanende in Flammen aufgeht, stellt vor diesem Hintergrund eine Befreiung von der Wissenschaft und dem Rationalismus dar. Auch Don Quijotes Bücher werden verbrannt: Die Vertreter der Vernunft vernichten sie in der Hoffnung, ihn so von seinem Wahn zu heilen. Die beiden Brände gleichen sich insofern, als dass mit beiden die Ursache für den Irrsinn des jeweiligen Protagonisten ausgemerzt werden soll. Zugleich aber ist das Feuer in der blendung jenem in don quijote entgegengesetzt, da hier durch den Brand die Vernunft (genauer: der Rationalismus) ausgetrieben, bei Cervantes jedoch wieder hergestellt werden soll. Diese Operation – ein Motiv aufzugreifen und es gleichzeitig umzukehren – nimmt Canetti wiederholt an Hypotexten vor; bündig notiert er in die provinz des menschen: »Jedes Thema als Handschuh betrachten. Umstülpen«.26

An seinem Umgang mit don quijote lässt sich ein weiterer Aspekt der oben angeführten Aufzeichnung aus die fliegenpein –»Seine Wahrhaftigkeit liegt in der Übertreibung. Er lügt, wenn er nicht übertreibt«27 – veranschaulichen. In Bezug auf seine hypertextellen Transformationen verdeutlicht sie, dass er Tendenzen der Hypotexte »übertreibt« im Sinne von konsequent weiterführt oder zu Ende denkt. So hat in Cervantes' Roman einzig Don Quijote eine Ritter-Welt im Kopf; in der blendung wird dies hingegen ubiquitär, da alle Figuren des Romanensembles eine – je verschiedene – »Welt im Kopf« haben. Eine weitere zentrale Operation, die Canetti an den Hypotexten vornimmt, ließe sich als Partagierung bezeichnen. Damit ist gemeint, dass er die Elemente eines Stoffs auf mehrere Figuren verteilt und / oder zeitlich verschiebt, sodass sich der Hypotext erst durch eine synoptische Betrachtung erkennen lässt. Ein Detail mag dies illustrieren: Der Jude Fischerle begleitet den hageren Bibliomanen auf dessen Irrfahrten wie Sancho Pansa den Ritter von der traurigen Gestalt. Dabei ist der für Sanchos gemütliche Behäbigkeit stehende Bauch dem verwachsenen Fischerle gleichsam auf den Rücken gerutscht, um dort als Buckel zum Zeichen der sozialen Stigmatisierung des Juden zu werden.28

1. Irrungen und Wirrungen eines Sinologen

Jedes der Canettischen Individuen wähnt sich an der Spitze seiner »Welt im Kopf«; im Falle Kiens handelt es sich dabei um die Sinologie:29»Seine bisherigen Abhandlungen, gering an Zahl, aber jede ein Fundament für hundert andere, hatten ihm den Ruf des ersten Sinologen seiner Zeit verschafft. Die Fachkollegen kannten sie genau, beinahe auswendig. Sätze, die er einmal niedergeschrieben hatte, galten als entscheidend und bindend. In strittigen Fragen wandte man sich an ihn, die oberste Autorität auch auf Nachbargebieten der Wissenschaft« (dbg 16). Seine Bibliothek dient Kien dazu, seine Gelehrsamkeit zu vergrößern und seine Position als »oberste Autorität« auszubauen; zugleich stellt sie ein Bollwerk gegen die Uneindeutigkeit des Lebens und der Masse dar. Dies ist der Grund, weshalb er kaum etwas so sehr fürchtet wie einen Bibliotheksbrand, der diese Mauer aus Büchern einreißen würde. Die chinesische Geschichte hält ein Beispiel dafür bereit: »Im Jahre 213 vor Christi Geburt wurden auf Befehl des chinesischen Kaisers Shi-Hoang-Ti, eines brutalen Usurpators, der es gewagt hat, sich den Titel ›Der Erste, Erhabene, Göttliche‹ beizulegen, sämtliche Bücher Chinas verbrannt. [...] Auch auf bloße Gespräche über das klassische Liederbuch und das klassische Geschichtswerk der Chinesen stand der Tod. Die mündliche Tradition sollte zugleich mit der schriftlichen ausgerottet werden« (dbg 94).

Die Gründe sind unklar, die den historischen Shi-Hoang-Ti (Qin Shihuangdi, eigentlich Ying Zheng, 250–210 v.Chr.) dazu bewogen haben, alle Bücher seines Reichs verbrennen zu lassen (lediglich Werke von praktischem Wert sollen ausgenommen gewesen sein). Jedenfalls verdammte ihn die konfuzianisch geprägte Geschichtsschreibung, deren Tradition von dem kaiserlichen Erlass besonders betroffen war, als wüsten Unmenschen. Obwohl sich Kien dieser Verurteilung nachdrücklich anschließt, ist es am Ende des Romans ironischerweise er selbst, der seine Bibliothek in Brand steckt und damit die Tat Shi-Hoang-Tis wiederholt. Darüberhinaus unterschlägt Kien, dass dieser nicht nur für die Bücherverbrennung bekannt ist, sondern auch und vor allem für den Bau der Großen Mauer, die China vor Invasoren schützen sollte. Eine Transformation dieser Mauer stellt Kiens Bibliothek dar, mit der er sich gegen die uneindeutige, sich ständig wandelnde Außenwelt abschottet. Durch beide Elemente – Bücherverbrennung und Große Mauer – erweist sich Kien einerseits als Wiedergänger Shi-Hoang-Tis: Wie dieser baut er eine Mauer (aus Büchern) und verbrennt alle Bücher (seiner Bibliothek). Zugleich kehrt er dessen Taten um: Kien möchte die Bücher vor dem Feuer bewahren und zerstört die Mauer (indem er die Bibliothek verbrennt). Auf diese Weise überkreuzen sich in ihm Shi-Hoang-Ti und ein Anti-Shi-Hoang-Ti. – »Jedes Thema als Handschuh betrachten«, schreibt Canetti. »Umstülpen«.

Als Individuum hegt Kien zwar »Verachtung für die Masse« (dbg 44), doch wie gezeigt bildet seine Bibliothek eine Masse. Da sie als solche die Eigenschaft hat, Totes zu beleben, sind die in der Bibliothek versammelten Bücher lebendig: »er belebte die Bibliothek mit erlesenen Freunden. Am liebsten neigt er zu alten Chinesen. Er hieß sie dem Band und der Wand, welcher sie zugehörten, entsteigen [...]« (dbg 43). Umgesetzt wird dies, indem Metonymien der Art Konfuzius sagt ... wörtlich genommen werden, sodass die Bände zur aktuellen Rede ihrer Autoren werden: Kien »rief nach Konfuzius. Der kam ihm von der gegenüberliegenden Wand entgegen […]« – Konfuzius materialisiert sich also und tritt aus dem Bücherregal heraus – »Gemessen öffnete er den Mund und gab folgenden Ausspruch von sich [...]« (dbg 45f). Zwar sehnt sich Kien nach den belebten Büchern, andererseits erträgt er ihren Zustand nicht lange: Er beschimpft die chinesischen Philosophen und »bedrohte sie, […] legte ihnen ihre eigenen Worte in den Mund und focht seine Meinung so lange durch, bis sie schwiegen« (dbg 43). Da in Canettis Poetik das Schweigen dem Tod nahekommt, erweist er sich als Machthaber, der die Masse ›tötet‹ statt sich von ihrer ›Lebendigkeit‹ ›beleben‹ zu lassen (das Nämliche zeigt sich darin, dass Kien mit dem Einbau der Türen in die Bibliothek »einen einheitlichen Organismus, sein eigenes Geschöpf, aus freiem Willen zerschnitten hatte«).

Der Disput mit den metonymisch belebten »alten Chinesen« korrespondiert mit einer Rückblende, in der Kien als Kind beobachtet, dass in einer Bibliothek die Autoren auf ihren Werken sitzen: »Gespenster gab es doch. In der Nacht flogen sie alle her und hockten sich über die Bücher. [...] Zehntausend Bücher, auf jedem hockt ein Gespenst« (dbg 13). Sein Bücher-Animismus rekurriert auf den chinesischen Ahnenkult, in dem die Ahnentafeln eine besondere Rolle spielen. Bei ihnen handelt es sich um lackierte Holzbrettchen, auf denen die Namen und die Titel der Verstorbenen nebst weiterer Angaben verzeichnet sind. Sie repräsentieren die Toten, und im chinesischen Volksglauben wird angenommen, dass bei kultischen Handlungen deren Seelen auf den Tafeln sitzen.30Kiens Bücher-Animismus transformiert also Elemente des chinesischen Manismus: Die Ahnentafeln entsprechen dabei den Büchern, die auf ihnen verzeichneten Namen der Verstorbenen lassen sich als Namen der Autorïnnen und die übrigen Angaben als Buchtitel auffassen. Wie die chinesische Ahnentafel die Verstorbenen, so repräsentieren für Kien die Bücher ihre Verfasserïnnen, die aus ihren Bänden heraustreten und sprechen. Die Analogie setzt sich darin fort, dass die Tafeln bei wohlhabenden Familien in einem speziellen Ahnentempel untergebracht werden, dem in der blendung die Bibliothek entspricht. Herbeigerufen werden in China die Ahnen, um sie um Rat zu bitten. Genau dies schildert die angeführte Szene, in der Kien Konfuzius fragt, ob er seine Haushälterin Therese heiraten solle. Aus dem Spruch des Philosophen zieht er allerdings den falschen Schluss und ehelicht fatalerweise Therese, die ihn bald darauf aus seiner geliebten Bibliothek vertreiben wird. Darin deutet sich an, dass der hochgerühmte Sinologe letztlich ein mangelndes Verständnis der chinesischen Kultur hat.

Während der Ahnenkult Elemente aufweist, Tote zum Leben zu erwecken, so enthalten die chinesischen Sepulkralriten31 solche, die den Tod eines einzelnen Menschen vervielfachen; sie sindin den Bibliotheksbrand der blendung eingegangen. In ältesten Zeiten war es in China Brauch, mit sozial hochstehenden Toten lebende Menschen und Tiere mitzubestatten; sie sollten deren Status auch im Jenseits gewährleisten. Diese Begleitopfer wurden später dahingehend abgewandelt, dass den Toten Nachbildungen aus Holz und Ton mit ins Grab gegeben wurden; ein besonders eindrucksvolles Beispiel für ein solches Jenseitsgeleit stellt die Terrakotta-Armee Shi-Hoang-Tis unweit der alten Kaiserstadt Xian dar. Daraus ist im Laufe der Zeit der noch heute praktizierte Brauch geworden, Grabbeigaben aus Papier zu fertigen, die rituell belebt und bei Beerdigungen verbrannt werden. Diesen Opferpapieren entsprechen in der blendung die belebten Bücher in Kiens Bibliothek: »Wissen Sie, was das heißt, ein Bibliotheksbrand? […] Stellen Sie sich das vor! Zehntausende von Bänden, das sind Millionen Seiten – Milliarden Buchstaben – jeder einzelne davon brennt – fleht, schreit, brüllt um Hilfe […]« (dbg 236). Der Bibliotheksbrand ist auf dieser Ebene ein Begleitopfer für Kien, wodurch er sich erneut als Machthaber erweist, der Gegenfigur zur Masse. Zugleich ist das Feuer nach Canetti ein Symbol der Masse,32 sodass Kien in sie eingeht, als er in der Bibliothek verbrennt.

2. DIE BLENDUNG als Totentanz

Physisch begeht Kien den Suizid am Ende der blendung; auf geistiger Ebene ist er schon zu deren Beginn tot, da er sich von der Masse, der Verwandlung und folglich vom Prinzip des Lebendigen abgewendet hat. Dem entsprechend wird bereits auf den ersten Romanseiten die Frage nach Kiens Wesen gestellt und beantwortet – in umgekehrter Reihenfolge: »Sie Skelett! […] Wissen Sie, was Sie sind?« (dbg 15). Somit verkörpert Kien das Gegenteil von jenem »Tod-Feind«, den Canetti einst ersonnen hat. Mit einem »Skelett« als Protagonisten stelltdie blendung darüberhinaus einen modernen »Totentanz« (dbg 509) dar – und erweist sich damit erneut als ein negativer Bildungsroman.

Der Totentanz entstand in Reaktion auf die mittelalterliche Pest.33 Mit dem Ende der großen Epidemien verschwand das Genre jedoch nicht; einerseits, weil in ihm bereits vorhandene Vorstellungen des Aberglaubens (der nächtliche Tanz der Toten) und tradierte Motive (die drei Lebenden und die drei Toten, die apokalyptischen Reiter) kulminierten, andererseits, weil es sich mit immer neuen Inhalten verbinden ließ.34 Besonders seit der Revolution von 1848 setzte eine Politisierung des Totentanzes ein, in deren Folge er beispielsweise auf die Schlachtgemetzel des 1sten Weltkriegs angewendet wurde.35

Im Verlauf der blendung wird Kien immer wieder als Knochenmann identifiziert, zum Beispiel, als ihn sein Bruder Georges im Kabinett des Hausbesorgers findet: »Peter? Er bückte sich und berührte das Skelett eines Menschen. Er hob es auf, der Mensch zitterte, oder ging hier ein Luftzug, nein, alles war verschlossen, jetzt hauchte jemand, tonlos und matt, wie ein Sterbender, wie ein Gestorbener, wenn er spräche […]« (dbg  463). Auch der Hausbesorger fragt sich bei dessen Anblick: »›Wo sind die Muskeln zu dem Gestell?‹« und empfindet »Mitleid mit dem traurigen Gerippe« (dbg 112). Kien wandelt also als lebende Leiche durch den Roman; in dem »traurigen Gerippe« sind die Tod-Figur und der Ritter von der traurigen Gestalt zusammengeführt.

Kien ist zwar tot, doch er verhält sich nicht so: »Er benimmt sich weder als Mensch noch als Leiche« (dbg 323), stellt ein Polizeibeamter fest.Therese ist darüber empört:»Tut man das, daß man lebt, wenn man tot ist, tut man das?« (dbg 112), fragt sie in ihrer unnachahmlichen Weise. Obwohl Kien Schauspieler verabscheut, weil sie ständig in neue Rollen schlüpfen und damit ihre Identität aufgeben,36 zeigt sich hier, dass er selbst einer ist: Er ist der Tod, der vorgibt, am Leben zu sein. In seiner Rolle geht er voll auf: »Sein Körper streckt sich, die Knochen klirren, hell und klar faßt seine Stimme zusammen: ›Es lebe der Tod!‹« (dbg 351).

Dem gemäß sind Kien mit Stundenglas, Lumpen und Sense Attribute des Todes beigeordnet. Das Stundenglas, das anzeigt, dass die Lebenszeit eines Menschen verronnen ist, hat er in einer modernen Fassung verinnerlicht: Er hat einen »Uhrzeiger in seinem Hirn« (dbg 172). Da er wenig auf Äußerlichkeiten achtet, ist er so schäbig gekleidet, dass seine Kleider Lumpen gleichen. Schließlich fragt der Passant zu Beginn des Romans mit Kien ausgerechnet den Tod nach dem Weg; damit findet sein Lebensweg ein Ende: »Ruhig drehte er [Kien] dem gestikulierenden Analphabeten den Rücken. Mit diesem schmalen Messer schnitt er sein Geschwätz entzwei« (dbg15). Sein langer, hagerer Rücken, mit dem Kien den Passanten zum Schweigen bringt, ist hier zur Sense mutiert, mit der der Schnitter die Menschen aus dem Leben reißt.37

Die zentrale Aussage des Totentanzes ist, dass niemand dem Tod entrinnen kann. Mit ihm greift Canetti also ein Genre auf, dessen Anlage seiner eigenen Poetik zuwiderläuft. Doch dessen Vorgaben werden in der blendung lediglich in der Episode mit dem Passanten, erfüllt und dies auch nur im übertragenen Sinne. Von ihm abgesehen, ist der einzige, der auf der Totentanz-Ebene in den Tod gerissen wird, der Tod selbst – verkörpert von Kien. Denn konsequenterweise darf nach Canettis auf das Leben ausgerichteter Poetik sogar der größte Feind, der Tod, nicht getötet werden. Folglich muss sich der Tod selbst vernichten, was Kien mit seiner Selbstverbrennung in der Bibliothek umsetzt. Das heißt, allein der Beginn des Romans entspricht dem Genre auf metaphorischer Ebene, anschließend wird es gegen dessen grausigen Helden gekehrt.

Nachdem er aus Sorge um seine Bücher ausgerechnet Therese geheiratet hat, kommt es mit Kiens nächtlicher Rückkehr ins Ehebett zu einer Szene, die ein Subgenre des Totentanzes transformiert. – Ursprünglich waren Totentänze als illustrierte Bußpredigten an den Außenwänden von Dominikaner- und Franziskanerklöstern angebracht und zeigen klassischerweise eineProzession von Vertretern aller Stände, die der Tod zwingt, mit ihm zu tanzen.38Gert Kaiser hebt das Element des Tanzes hervor, das oft übersehen werde: »der mittelalterliche Totentanz ist für eine Zeit gedichtet und gemalt, die weiß, daß der Tanz immer Liebesspiel und Liebeswerben und dass sein Ziel die endliche Vereinigung ist«.39 Daher verwundert es nicht, dass sich das Thema Eros und Thanatos in Form des Motivs DerTod und das Mädchen verselbständigt hat.40 Darin kommt es zur Trennung der für den Totentanz typischen Kombination von Text und Bild.41 Die Folge ist, dass sich einerseits eine rein graphische Tradition ausbildet und das Thema andererseits rein literarisch behandelt wird. Seine Spannung bezieht es aus dem noch verschärften Gegensatz von Leben und Tod, in dem die junge Frau als Symbol für Fruchtbarkeit und Sinnenlust figuriert. Zugleich wird mit ihm der Voyeurismus der Rezipierenden angesprochen, wie beispielsweise durch Hans Sebald Behams Stich der tod und das schlafende weib.42 Bildet dieser das gängige Schema des Motivs ab, so werden in einer Erzählung von Alfred Döblin daran einige Modifikationen vorgenommen. In das stiftsfräulein und der tod ist aus dem Mädchen eine alte Jungfer geworden, die den Tod herbeisehnt wie einen ersten und letzten Geliebten; doch der Tod kommt zu ihr nicht als zärtlich Liebender, sondern als brutaler Vergewaltiger. Döblin kehrt also in der Ausgangsposition seiner Erzählung das Motiv von der jungen Frau und ihrer Angst vor dem Tod um, um es am Schluss wieder zu erfüllen. Ein zentrales Requisit ist wie auf Behams Stich das Bett – wie auch in der angesprochenen Szene der blendung.

Dort findet sich eine ähnliche Konstellation wie in Döblins Erzählung. Trotz ihres Alters hatte auch Therese noch keinen Geschlechtsverkehr, was sie gelegentlich mit der Lust/Angst-Phantasie einer Vergewaltigung zu kompensieren sucht. Nachdem sie Kien geheiratet hat, erwartet sie, mit achtundfünfzig Jahren, endlich ihre »Seligkeit« (dbg 161) zu finden. Doch zu ihrer Enttäuschung denkt dieser nicht daran, die Ehe zu vollziehen. Wochen später scheint sich überraschend eine Gelegenheit zu bieten, das Versäumte nachzuholen. Therese hat in Abwesenheit ihres Mannes die Möbel umgestellt und sich,es ist schon spät, zu Bett gelegt – jenes für Der Tod und das Mädchen typische Requisit. Kien kommt als verängstigter Knochenmann nach Hause, er hofft inständig, dass sie bereits schläft: »Behutsam und leise, voller Angst, daß seine knochigen Finger an der Schnalle Lärm schlagen könnten,öffnete er die Tür«(dbg 159). Doch in dem Bett, in das er sich legt, liegt schon Therese: »Da spürte Kien etwas ungewohnt Weiches, dachte ›Ein Einbrecher!‹ und schloß so rasch wie möglich die Augen. Obwohl er auf dem Einbrecher lag, wagte er es nicht, sich zu rühren. Er spürte trotz seiner Angst, daß der Einbrecher weiblichen Geschlechts war« (dbg 159). Die Szene wiederholt das Motiv vom Tod und dem Mädchen: Der Tod pirscht sich an die Schlafende heran und legt sich auf sie; das Detail der »knochigen Finger an der Schnalle« zeigt, wie derb-subtil Canetti das Motiv umsetzt.

Aus Thereses Sicht stellt sich das Geschehen wie folgt dar: »Da er um neun noch nicht zurück war, legte sie sich ins Bett, wie es sich für einen anständigen Menschen gehört, und harrte des Augenblicks, da er Licht machen würde, um den Vorrat an Schimpfreden loszuwerden, der sich während seiner Abwesenheit angesammelt hatte. Wenn er kein Licht macht und zu ihr ins Bett kommt, wartet sie mit dem Schimpfen, bis es vorbei ist. Weil sie eine anständige Frau war, rechnete sie mit dem ersteren. Als er sich herschlich und neben ihr auszog, stockten ihr Mund und Herz. Um das Schimpfen nicht zu vergessen, nahm sie sich vor, die ganze Zeit während der Seligkeit ›Ist das ein Mann? Das ist ja kein Mann!‹ zu denken. Als er plötzlich über sie herfiel, gab sie keinen Laut von sich, sie fürchtete, er könnte wieder weggehen. Er lag nur wenige Augenblicke über ihr; ihr waren es Tage. Er rührte sich nicht und war leicht wie eine Feder; sie atmete kaum. Ihre Erwartung ging Zug um Zug in Erbitterung über. Als er aufsprang, spürte sie, daß er ihr entging. Wie eine Besessene schlug sie auf ihn los und überschüttete ihn mit den gemeinsten Worten« (dbg 161).

Thereses rhetorische Frage »Ist das ein Mann? Das ist ja kein Mann« wiederholt, dass Kien eine Tod-Figur ist; als »Skelett« erscheint er ihr »leicht wie eine Feder«. Die Vokabel »Seligkeit« und der Hinweis auf ihren kaum mehr vorhandenen Atem verschränken ebenfalls Eros und Thanatos. Aber anders als auf den gängigenDarstellungen liegt im Bett keine junge, dem gängigen Ideal entsprechende Schöne (wie auf Behams Stich), sondern Therese, und statt dass der Tod sie vergewaltigt (wie in Döblins Erzählung), flieht er in Gestalt von Kien aus dem Bett und kassiert dafür von Therese fürchterliche Schläge. Damit wird das Motiv ins Burleske verkehrt: Nicht der Tod stillt seine grausige Lust an der Frau, sondern er wird von der Enttäuschten aufs Übelste verprügelt. Diese Parodie nimmt dem Motiv seinen Schrecken, aber nur um ihn gegen einen neuen einzutauschen, der sich nun gegen den Tod wendet. Folglich hat selbst der Hausbesorger »Mitleid mit dem traurigen Gerippe«. Da das Mitleid auf der Einfühlung in eine andere Person (oder Figur) basiert, ist es in Canettis Poetik mit der Fähigkeit zur Verwandlung verbunden. In der blendung wird es somit auf den Tod selbst angewendet, denn die Dichterin oder der Dichter »wird nach einem Gesetze leben […], es lautet: Daß man niemand ins Nichts« – also in den Tod – »verstößt, der gern dort wäre«.43

3. Canettis »Gorilla« als transformierter Naturmensch

Obgleich er nur einen kleinen Auftritt hat, ist der »Gorilla« eine der wichtigsten Figuren des Romans. Kiens Bruder Georges ist Psychiater, er lebt in Paris und macht dort die Bekanntschaft mit dem Bruder eines Bankiers , »einem harmlosen Irren« (dbg 436), den seine Familie als »Künstler und Sonderling« (dbg 437) vor der Öffentlichkeit verborgen hält. Die erste Begegnung mit ihm wird wie folgt geschildert: »Dr. Georges läutete. Man hörte einen wuchtig schleppenden Schritt. Hinter dem Guckloch erschien ein schwarzes Auge. […] Plötzlich ging die Tür lautlos auf. Ein angekleideter Gorilla trat vor, streckte die langen Arme aus, legte sie auf die Schultern des Arztes und begrüßte ihn in einer fremden Sprache. […] Seine Gebärden waren roh, aber verständlich und einladend« (dbg 437f). Durch seine Affennatur verweist der »Gorilla« auf den Dschungel, zusätzlich haben die beiden Räume, die er in der großbürgerlichen Villa bewohnt, den Charakter einer Urwald-Exklave. So ist ihr Boden »mit Erde belegt […], einer sicher sehr dicken Schicht«, der »Gorilla« schleudert Worte wie »lebende Baumstämme ins Zimmer« (dbg 439), und seine Sprache erinnert Georges »[a]m ehesten […] noch« – wie wir alle ist Canetti ein Kind seiner Zeit – »an einenNegerdialekt« (dbg 438). In den beiden ›Urwald‹-Zimmern lebt der »Gorilla« mit einer Pflegerin zusammen, die offiziell als seine »Sekretärin« (dbg 438) firmiert.

»Über die Sprache zerbrach sich der Arzt den Kopf« (dbg 438). »Für Gegenstände schienen die Bezeichnungen zu wechseln« (dbg 439). »Je nach der Empfindung, in der sie trieben, hießen sie« (dbg 441). »Das Bild meinte er hundertmal und nannte es jedesmal verschieden […]« (dbg 439), »Georges war jedes Wort neu« (dbg 438). Weil sie sich in jedem Moment verändert, ist Sprache des »Gorilla« aufs Engste mit Canettis Verwandlung verknüpft. Da die Sprache das Denken bestimmt, das Denken aber unser Bild von der Welt,44 erzeugt der »Gorilla« mit seiner Sprache eine Welt der permanenten Verwandlung. Dem entsprechend wird er mit Motiven des biblischen Schöpfergottes verbunden: »Er bevölkerte zwei Zimmer mit seiner ganzen Welt. Er schuf, was er brauchte, und fand sich nach seinen sechs Tagen am siebten darin zurecht. Statt zu ruhen, schenkte er der Schöpfung eine Sprache« (dbg 441). Indem seine Sprache die Welt permanent verwandelt, bannt sie den Tod aus ihr: »Sein Leben ging auf sie über […]« (dbg 441). Dadurch, dass er den Tod mittels der Sprache eliminiert, kommt er Canettis Dichterïnnenideal am nächsten.

Zugleich bildet der »Gorilla« die äußere Hülle der Masse, deren Animalität hervorgehoben wird. Sie wird als »eine höhere Tiergattung« bezeichnet, von der die Menschheit abstamme, denn »›[d]ie Menschheit‹« – von Canetti in Anführungszeichen gesetzt – »bestand schon lange, bevor sie begrifflich erfunden und verwässert wurde, als Masse. Sie brodelt, ein ungeheures, wildes, saftstrotzendes Tier in uns allen […]« (dbg 449). Über das Verhältnis des »Gorilla« zu Gegenständen heißt es: »Ihr Gesicht wechselte für den Gorilla, der ein wildes, gespanntes, gewitterreiches Leben führte. Sein Leben ging auf sie über […]« (dbg 441). Aus Sicht derer, die in die tierhafte Masse eingehen, stellt sich dies dem entsprechend umgekehrt dar: »Manchmal kommt die Masse über uns, ein brüllendes Gewitter, ein einziger tosender Ozean, in dem jeder Tropfen lebt […]«, heißt es in der blendung, und in masse und macht: »Es geht dann alles plötzlich wie innerhalb eines Körpers vor sich«. Die Zitate geben die Außen- beziehungsweise Innenperspektive der Masse und ihre belebende Wirkung wider, wobei in beiden Fällen das Bild des Gewitters verwendet wird.

Wie Kien aus einer Masse von Büchern besteht – »aus der aufgerissenen Brust springt ein Buch hervor [...] Dutzende, Hunderte, sie sind nicht zu zählen [...]« –, sind auch in den »Gorilla« Hypotexte eingegangen. Zum einen erinnert die zitierte Passage, dass die von außen als »Gorilla« erscheinende Masse der Ursprung des Menschen sei, an die vulgarisierte Theorie Charles Darwins, nach welcher der Mensch vom Affen abstammen würde. Entscheidender für den »Gorilla« ist allerdings der discours sur l'origine et les fondemens de l'inégalité parmi les hommes.45 Für die wesentlichen Übel, unter denen die Menschheit leidet, macht Jean-Jacques Rousseau darin bekanntlich die Zivilisation verantwortlich. Sie resultiere daraus, dass das Tier Mensch durch seine Fähigkeit zur Reflexion seinem natürlichen Zustand entfremdet sei. »En dépouillant cet Etre, ainsi constitué, de tous les dons surnaturels, qu'il a pu recevoir, et de toutes les facultés artificielles, qu'il n'a pu acquerir que par de longs progrès; [...] je vois un animal [...]«.46 Im »Gorilla« der blendung ist der Prozess der Zivilisation zurückgenommen, weshalb Georges sogleich dessen animalische Erscheinung ins Auge springt: Als sich die Zimmertür öffnet, sieht er sich einem »Gorilla« gegenüber.

Wie Rousseau den Menschen vertiert, vermenschlicht er den Affen. In einer ausführlichen Anmerkung ergänzt er seinen Entwurf des Naturmenschen mit der Vermutung, dass verschiedene Berichte über Menschenaffen eigentlich Begegnungen mit Naturmenschen schilderten und führt dies an verschiedenen zeitgenössischen Darstellungen aus. Darüber gelangt er zu der Frage, »si divers animaux semblables aux hommes, pris par les voyageurs pour des Bêtes sans beaucoup d'examen [...] ne seroient point en effet de véritables hommes Sauvages, dont la race dispersée anciennement dans les bois [...] se trouvoit encore dans l'état primitif de Nature«.47 Verwundert stellt er fest: »On ne voit point dans ces passages les raisons sur lesquelles les Auteurs se fondent pour refuser aux Animaux en question le nom d'hommes Sauvages [...]«.48 Der Naturmensch hat also die Gestalt eines Menschenaffen und findet sich in Canettis Roman in Form des »Gorilla« wieder, der als Gott der Verwandlung in einer Urwaldenklave inmitten von Paris residiert und eine eigene Sprache entwickelt. Nicht allein Heinrich Heine ist der Ansicht: »Paris ist nicht bloß die Hauptstadt von Frankreich, sondern der ganzen zivilisierten Welt […]«.49 Für den »Gorilla« repräsentiert die französische Sprache daher die Übel der Zivilisation. »›Sprechen Sie nicht Französisch?‹ fragte Georges [die Sekretärin]. ›Aber natürlich, mein Herr!‹ entgegnete sie heftig, ›was denken Sie von mir? Ich bin Pariserin!‹ Sie überschüttete ihn mit einem eiligen Schwall von Worten, die schlecht ausgesprochen und noch schlechter zusammengefügt waren, wie wenn sie die Sprache schon halb verlernt hätte. Der Gorilla brüllte sie an, sofort schwieg sie. Seine Augen funkelten. Sie legte den Arm auf seine Brust. Da weinte er wie ein kleines Kind. ›Er haßt die französische Sprache‹, flüsterte sie zum Besuch« (dbg 438).50

Ähnlich verfährt Canetti mit dem Reflexionsvermögen, das Rousseau wesentlich für die Entstehung der Zivilisation verantwortlich macht. Der Mensch könnte sich von ihren Übeln befreien und sich seinem ursprünglichen Dasein wieder annähern, wenn sein Reflexionsvermögen reduziert werden würde: »Pourquoi l'homme seul est il sujet à devenir imbécile? N'est ce point qu'il retourne ainsi dans son état primitif [...]«.51»Il seroit affreux d'être obligés de loüer comme un être bien-faisant celui qui le premier suggera à l'habitant des Rives de l'Orenoque l'usage de ces Ais qu'il applique sur les tempes de ses Enfans, et qui leur assurent du moins une partie de leur imbecilité, et de leur bonheur originel«.52 In der Schwachsinnigkeit lasse sich die Zivilisation abstreifen, durch sie komme der Mensch seiner ursprünglichen Glückseligkeit so nahe wie in kaum einem anderen Zustand. Daher gleicht der »Gorilla« dem Naturmenschen ebenfalls darin, dass er ein »Irrer« ist.53

Auch die Konkretisierung als »Gorilla« ist dem discours sur l'inégalité entnommen. Rousseau referiert dort aus dem Bericht des niederländischen Afrikareisenden Olfert Dapper, der den Gorilla zum Gegenstand hat: »Cette Bête, dit-il, est si semblable à l'homme, qu'il est tombé dans l'esprit à quelques voyageurs qu'elle pouvoit être sortie d'une femme et d'un singe […]«.54 Obwohl er die Möglichkeit, der Gorilla könnte aus der Verbindung mit einer Menschenfrau entstanden sein, ablehnt, so scheint Rousseau eine Paarung beider doch für denkbar zu halten: Die Ureinwohner »[…] assurent non seulement qu'il force les femmes et les filles, mais qu'il ose attaquer des hommes armés; En un mot il y a beaucoup d'apparence que c'est le Satyre des Anciens«.55 In dieser Konstellation findet sich die Beziehung zwischen dem »Gorilla« der blendung und der »Sekretärin« vorgeprägt. Sie bricht seine strenge Einsamkeit auf, womit der Kern für die erste, für Rousseau noch akzeptable Stufe der Gemeinschaft gelegt ist, die Kleinfamilie. In der vor-familiären, uranfänglichen Phase treffen sich nach Rousseau die Geschlechter lediglich zufällig und bleiben nur so lange zusammen, bis ihr Trieb befriedigt ist. Das scheint jenes Gemälde zu zeigen, das Georges bei seinem ersten Besuch des »Gorilla« sieht: »Das Bild stellte die Vereinigung zweier affenartiger Menschen dar. Madame [die Sekretärin] [er]hob sich und besah es aus verschiedenen Entfernungen, von allen möglichen Seiten. Der Gorilla hielt den männlichen Besuch fest, er hatte ihm wohl viel zu erklären. Georges war jedes Wort neu. Nur eines begriff er: das Paar am Tisch stand in enger Verwandtschaft zu dem Paar auf dem Bild« (dbg 438). Als potenzierte Wirklichkeit stellt das Gemälde den tatsächlichen Charakter der Beziehung von der »Sekretärin« und dem »Gorilla« dar: als »Vereinigung zweier affenartiger Menschen«. – Ein Gorilla, der ein Liebesverhältnis mit einer Frau hat? Diese Konstellation führt zu einem weiteren Hypotext der blendung (der seinerseits in Relation zu Rousseaus discours steht56).

4. King Kong wird

»zu einem riesengroßen Zwerg«

Zwei Jahre vor Veröffentlichung der blendung, im März 1933, lief in den amerikanischen Kinos der Film king kong an.57 Er war international ebenfalls sogleich erfolgreich und kam bereits im Dezember desselben Jahres in die deutschsprachigen Kinos–unter dem Titel die fabel von king kong. ein amerikanischer trick- und sensationsfilm. Mit dieser Bezeichnung sollte der angebliche Schundcharakter des Films herausgestrichen werden, was aber nichts an dessen Erfolg änderte. Seit den 1950er Jahren ist er im deutschen Sprachgebiet als king kong und die weisse fraubekannt. – Zur Erinnerung: Ein Filmteam landet auf der Schädelinsel; an die geplanten Filmaufnahmen ist aber nicht zu denken, denn die (rassistisch verzeichneten) Indigenen entführen die blonde Hauptdarstellerin Ann Darrow (Fay Wray), um sie einem kultisch verehrten Riesengorilla zu opfern. Unerwarteterweise verliebt sich King Kong in die »weiße Frau«,58 trägt sie in sein Dschungelreich, wo er sie vor den Angriffen von Dinosauriern und ähnlich urzeitlichem Getier beschützt. Als hätte ihm die Liebe seine Unbesiegbarkeit genommen,59 gelingt es den überlebenden Expeditionsmitgliedern, King Kong zu überwältigen. Er wird nach New York verfrachtet und dort als Attraktion ausgestellt.60 Doch der liebestolle Affe befreit sich, raubt die blonde Ann und klettert mit ihr aufs Empire State Building, wo er schließlich von Jagdfliegern erschossen wird.

Wie king kong ist dieblendung mit den Räumlichkeiten des »Gorilla« vom Gegensatz zwischen Dschungel und zeitgenössischer Moderne bestimmt. In den urwaldartigen, von der Zivilisation weitgehend isolierten Zimmern residiert der »Gorilla« ebenfalls wie auf einer Insel, und wie King Kong als Gott verehrt wird, so verkörpert der »Gorilla« den Gott der Verwandlung. Die Rolle der »weißen Frau« übernimmt in der blendung die »Sekretärin«. Mit dem Paar schildert Canetti eine glücklichere Variante der Liebesgeschichte des Films: King Kong alias der »Gorilla« ist mit der »weißen Frau« alias der »Sekretärin« in einer Urwald-Exklave inmitten der Stadt vereint. Auch das Motiv der Opferung von Frauen findet sich im Roman. Es ist auf den Hausbesorger verschoben – partagiert –, der sich nicht nur in bezug auf Rousseaus Naturmenschen als Gegenfigur des »Gorilla« erweist.61 Als hätte er king kong gesehen, wünscht sich der Hausbesorger ein Gorilla zu sein, denn: »Dem fletschenden Gorilla schenken die Wilden frische Weiber. Weil der Gorilla von Muskeln kracht. So ist das gerechte Leben!« (dbg 414).

Neben dem »Gorilla« gibt es eine weitere Figur der blendung, in die Motive aus king kong eingegangen sind: der Jude Fischerle. Auf dieser Ebene symbolisiert King Kong den Fremden, der sich nach Integration sehnt; um dies zu erläutern, bedarf es eines Exkurses. – Die Fernseh-Dokumentation hollywoodismus – die erfindung des amerikanischen traums von Simcha Jacobovici, die auf Neal Gablers Buch gleichen Titels basiert, beleuchtet den jüdischen Hintergrund der kalifornischen Filmmogule und veranschaulicht, wie sich dieser in den Hollywood-Produktionen niedergeschlagen hat.62 Fast alle großen Studios, die noch heute die amerikanische Filmmetropole prägen, sind Anfang des 20sten Jahrhunderts von Juden deutscher, mittel- oder osteuropäischer Abstammung gegründet worden. Entweder sie selbst oder ihre Eltern wanderten aufgrund der Ausgrenzung und den bis in Pogrome mündenden Anfeindungen nach Amerika aus. Amerika erwies sich jedoch nicht als das ›gelobte Land‹, sondern auch hier wurde ihnen die gesellschaftliche Integration von den bereits etablierten Kreisen häufig verwehrt. Diese waren meist protestantisch geprägt, oft antisemitisch eingestellt und schotteten sich gegen jüdische und schwarze Menschen oder die Mitglieder anderer ethnischer Gruppen ab, die nicht ihrem Bild eines ›weißen Amerika‹ entsprachen. So blieb den jüdischen Immigrantïnnen wie zuvor in Europa auch hier der Zugang zu gesellschaftlich anerkanntenKreisen zumeist verschlossen.

Eine Möglichkeit, dennoch zu reüssieren, bot das damals noch relativ neue Medium Film. Den Markt der Ostküste beherrschte allerdings bereits Thomas Edison, der seine Vormachtstellung in der Filmproduktion mittels eines Trusts und der Anwendung von Gewalt zu behaupten suchte. Also wichen die späteren Filmmogule weiter nach Westen aus. In Kalifornien waren die sozialen Verhältnisse noch nicht so festgefahren wie an der Ostküste, und Edisons Schlägertrupps verfolgten die jüdischen Filmunternehmer nicht bis dorthin, und Hollywood entwickelte sich zum Zentrum der amerikanischen Filmindustrie.

Gabler zeigt, dass diese zweifache Diskriminierungserfahrung und der Wunsch nach gesellschaftlicher Integration in viele Hollywoodproduktionen eingegangen sind. Das gilt auch für solche Filme, deren Regisseurinnen oder Produzenten selbst nicht jüdischer Abstammung waren, da die Studiobosse jede Phase der Produktion bestimmten und überwachten. Beispielsweise reflektieren in vielen der sogenannten Western die Überfälle marodierender Banden die Pogrome in Osteuropa. Neben diesen konkreten Übertragungen resultiert aus der Diskriminierungserfahrung ein generelles Verständnis gegenüber Außenseitern und Unterpriviligierten, das die jüdischen Produktionen deutlich von anderen,wie beispielsweise denjenigen Edisons, abhebt.»Amerikanische Filme«, so Gabler in der Fernsehdokumentation »kommen im Ausland so gut an, weil man sich überall mit ihren Themen identifizieren kann. Zum Beispiel mit dem Außenseitertum, einem typisch jüdischen Thema. Als Außenseiter drehten Juden Filme über Außenseiter«. Dieser neue Blick, so Gabler weiter, sei auch in die Konzeption von Monstern wie Frankenstein oder King Kong eingegangen. Diese seien deshalb meist ambivalent angelegt, sodass sich das Publikum nicht nur vor ihnen fürchte, sondern auch Mitleid mit ihnen empfinde und sich mit ihnen identifiziere. Das unterscheide die jüdischen Produktionen deutlich von anderen zeitgenössischen, wie beispielsweise dem Film birth of a nation, der die Angst vor einer sogenannten ›Rassenmischung‹ schürt.

Vor diesem Hintergrund erscheint der zweite, in New York spielende Teil von king kong in neuem Licht. Der riesenhafte Affe lässt sich als ›Immigrant‹ auffassen, der per Schiff von einer fernen Insel in die Einwanderermetropole kommt. Hinter King Kongs Liebe zur »weißen Frau« verbirgt sich demnach die Sehnsucht nach einer gelungenen Integration, deren Symbol die Heirat mit einer Einheimischen ist, die dem regionalen Schönheitsideal entsprechend möglichst blond ist.63 Doch sein Traum, ein akzeptiertes Mitglied der amerikanischen Gesellschaft zu werden, erfüllt sich nicht, King Kong wird aufgrund seiner Fremdartigkeit zurückgestoßen und ermordet.

Dieser Subtext, um auf die blendung zurückzukommen, hat sich Canetti offensichtlich erschlossen, und er ließ ihn in die Figur des Juden Fischerle einfließen. Fischerle hängt einem Traum nach, in dem er nach Amerika auswandert, wo er die Schachweltmeisterschaft gewinnt und als Star überschwänglich gefeiert wird. Ein Teil dieses Traums greift Motive der Geschichte King Kongs auf beziehungsweise variiert sie. Ist in die »Gorilla«-Episode vor allem der erste, auf der Insel spielende Teil des Films eingegangen, so ist für Fischerle der zweite Teil von Bedeutung.

Wie King Kong kommt auch Fischerle – freilich nur in seinem Traum – per Schiff nach New York. Dort hofft er, den Verfolgungen (wie sie sich in dem Lynchmord an seiner Doppelgängerin, der Fischerin, manifestieren) zu entgehen und sich in die neue Gesellschaft zu integrieren:64 In Europa, so Fischerle, gehöre »›Jud'‹ zu den Verbrechen […], die sich selbst bestrafen« (dbg 268). In Amerika dagegen, glaubt er, dürfe er sogar »ein Jud' sein. Warum führt man diese glänzende Kombination nicht in Europa ein?« (dbg 379). Amerika firmiert für den Verfolgten daher als eine Art Utopia: »Fischerle fährt jetzt in ein weites Land, nach Amerika« (dbg  214). Kaum ist er in dem Land der Verheißung angekommen, erfüllt sich sein Traum von der Heirat mit einer »Millionärin« (dbg 397): Die Hochzeit mit einer schönen, reichen, aus der herrschenden Schicht stammenden Frau ist das Symbol für eine gelungene Aufnahme in die Gesellschaft. In Fischerles Phantasie greift Canetti das Klischee der Hollywood-Blondine auf und thematisiert explizit das Medium Film, wenn er Fischerle über die »Millionärin« sagen lässt: »sie ist schön und amerikanisch, sie ist blond wie im Film, sie hat« – wie King Kong – »eine riesige Gestalt und blaue Augen [...]« (dbg 397). Diesen Traum träumt auch King Kong und will ihn mit Ann Darrow realisieren.

Der kleinwüchsige Fischerle würde sich neben der riesigen blonden »Millionärin« ähnlich grotesk ausnehmen wie King Kong in Begleitung der »weißen Frau«, nur dass sich in Canettis Romandie Größenverhältnisse des ungleichen Paars verkehrt hätten. Diese Inversion wird bereits in king kong vorweggenommen: Auf der Fahrt zur Insel des Riesenaffen spielt Ann Darrow mit dem Schiffsmaskottchen, einem kleinen Äffchen. Als sie seine Hand ergreift, sind die Größenverhältnisse ungefähr die gleichen wie später zwischen ihr und King Kong, nur eben umgekehrt. Fischerle wird seinerseits in seinem Traum von einer jubelnden Menschenmasse »zu einem riesengroßen Zwerg erhoben« (dbg 356) und nimmt damit wenigstens gerüchtehalber die Ausmaße von King Kong an. Während im Film der Wunsch nach Integration allgemein gehalten ist und sich die vorgestellte Lesart nur über den jüdischen Kontext, nicht aber ›am Text‹ selbst erschließen lässt, hebt Canetti den jüdischen Hintergrund deutlicher hervor. So liebt Fischerles »Millionärin« gerade dessen als jüdisch apostrophierte (und sexuell konnotierte) Nase: »sie liebt lange Nasen, kurze kann sie nicht schmecken [...]« (dbg 397).65

Innerhalb der blendung stellt die erträumte Hochzeit Fischerles mit der amerikanischen »Millionärin« also eine Parallele zur Beziehung zwischen dem »Gorilla« und der »Sekretärin« dar und ist wie diese eine positive Variante der Liebesgeschichte von king kong. Folglich wird Fischerle nicht wie King Kong von den Flugzeugen, die um die Wolkenkratzer schwirren, erschossen, sondern sie huldigen ihm und »malen Dr. Fischer in die Luft« (dbg 396). Doch seine Aufnahme in die amerikanische Gesellschaft bleibt Phantasie, und den Juden Fischerle ereilt das Schicksal, vor dem die jüdischen Menschen aus Europa geflohen sind. Kurz bevor er den Zug erreicht, wird er in Wien ermordet: Der Knopfhans schneidet ihm den Buckel herunter.

IV. Die Messer-Metapher

Indem sich die tödliche Aggression gegen Fischerles Buckel richtet, richtet sie sich gegen das Zeichen seiner Stigmatisierung als Jude. Zusätzlich transformiert der Buckel – wir erinnern uns an den Zusammenhang mit don quijote – Sancho Pansas Bauch, wodurch er auf die hypertextuelle Dimension Fischerles verweist. Indem ihm der Buckel abgeschnitten wird, verliert Fischerle also symbolisch seine Mehrdeutigkeit und wird auf eine Identität festgelegt, was Canettis Poetik gemäß tödlich ist. Dadurch, dass Fischerle durch den mörderischen Schnitt ›begradigt‹ wird, steht das Messer auch in Zusammenhang mit dem Rationalismus. Analog dazu setzt der Rationalist Kien seinen – nicht-buckligen, sondern – ›geraden‹ Rücken gegen den »gestikulierenden Analphabeten« ein: »Mit diesem schmalen Messer schnitt er sein Geschwätz entzwei«. Auch in Zusammenhang mit der Zerteilung seiner Bücher-Masse wird das zugehörige Wortfeld verwendet: »Manchmal machte er sich Vorwürfe, weil er einen einheitlichen Organismus, sein eigenes Geschöpf, aus freiem Willen zerschnitten hatte«.

Das Motiv des Messers durchzieht Canettis Werk, stets ist es gegen den Körper gerichtet. Seine zentrale Stellung zeigt er dadurch an, dass er mit ihm seine Autobiografie eröffnet: »Meine früheste Erinnerung ist in Rot getaucht. Auf dem Arm eines Mädchens komme ich zu einer Tür heraus, der Boden vor mir ist rot [...]. Gegenüber von uns, in selber Höhe, öffnet sich eine Türe und ein lächelnder Mann tritt heraus, der freundlich auf mich zugeht. Er tritt ganz nahe an mich heran, bleibt vor mir stehen und sagt zu mir: ›Zeig die Zunge!‹ Ich strecke die Zunge heraus, er greift in seine Tasche, zieht ein Taschenmesser hervor, öffnet es und führt die Klinge ganz nahe an meine Zunge heran. Er sagt: ›Jetzt schneiden wir ihm die Zunge ab‹«.66 Das Entscheidende an dieser »früheste[n] Erinnerung« ist weniger die Farbe Rot, als das Messer und die Bedrohung, die von ihm ausgeht. Mit ihr lässt Canetti nicht nur seinen Text, sondern auch sein Leben beginnen; er ist ihr täglich ausgesetzt, sie schwebt über dem kleinen Elias wie ein Damokles-Schwert, und aus ihr leitet sich auch der Titel des ersten Bandes der Lebensbeschreibung ab: die gerettete zunge. Das Messer richtet sich hier gegen jenen Körperteil, der mit der Sprache und folglich mit dem Dichten verbunden ist. Diesem Kindheitsereignis entnimmt Canetti das Motiv des Messers und lädt es zur Metapher auf für das, was den Körper und sein poetisches Potential bedroht.

Solch einen poetischen Körper stellt auch die Masse dar. Das Messer zerteilt sie in immer kleinere Einheiten, bis alles, was in sie eingegangen ist, die Fähigkeit zur Verwandlung verloren hat und auf eine Identität festgelegt ist. Die wissenschaftliche Analyse kommt daher einer tödlichen Zergliederung gleich: »Alles Fragen ist ein Eindringen. Wo es als Mittel der Macht geübt wird, schneidet es wie ein Messer in den Leib des Gefragten« (mum 337). Das absolute Messer ist folglich der Tod: »Er hat den Härtegrad Zehn, und wie ein Diamant schneidet er auch«.67 Umgekehrt bewahrt und bringt die Masse das Leben: Sie trennt nicht wie das Messer, sie fügt (wieder) zusammen. Je heterogener sie ist, desto weniger lässt sie sich auf einen Begriff bringen, desto ›lebendiger‹ ist sie – und mit desto mehr Zungen spricht sie. Dies bildet den Hintergrund davon, dass sich Canetti als»ein experimenteller Kulturhistoriker« versteht, der seine Poetik umsetzt, indem er möglichst disparate Hypotexte transformiert und kombiniert, sodass in der blendung einander verschiedenste Bedeutungsschichten überlagern und durchdringen.