Email in den Tod - CM Groß - E-Book

Email in den Tod E-Book

CM Groß

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Beschreibung

Du hast noch einen Tag zu Leben - wie verbringst du diesen? Folgen einer Email, eines makaberen Scherzes, Vorbestimmung oder Zufall? Drei Kriminalerzählungen und eine unmoralische Geschichte schildern in autobiographischer Erinnerungen schmerzliche Begebenheiten im zweiten Weltkrieg, über die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten, die Folgen der Teilung Deutschlands und das Finden einer neuen Identität.

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Inhaltsverzeichnis

Der Knabenraub

Der alte Mann und sein Gewissen

Dirty Wossi

Email in den Tod

Über - “Steuer“ - rung

Widmung

Dieses Buch widme ich den vielen Hilfsorganisationen und Einzelpersonen, die Menschen aus Ostdeutschland und Osteuropa mit Päckchen unterstützten oder aufnahmen. Mein Dank gilt den Menschen, die nie aus welchem Grund auch immer, Anerkennung für ihre menschliche Nächstenliebe erhielten.

Email in den Tod

Drei Kriminalerzählungen und eine unmoralische Geschichte schildern in autobiographischer Erinnerungen, schmerzliche Begebenheiten im zweiten Weltkrieg, über die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten, die Folgen der Teilung Deutschlands und das Finden einer neuen Identität.

Jede Übereinstimmung mit Personen ist rein zufällig. Die Orte und die Handlungen sind fiktiv.

Exposé

Der Knabenraub

Vor dem Magnet Kaufhaus steht ein unbeaufsichtigter Kinderwagen. Nach ihrem Einkauf findet die Mutter den Wagen ohne Baby vor. Verzweifelt suchen, die Mutter, Polizei und Bevölkerung den Säugling. Die Mutter wird selbst zur Täterin erklärt. Wenig später findet die Transportpolizei auf dem Bahnhof einen ausgesetzten Säugling.

Der alte Mann und sein Gewissen

Ein alter, reicher, sterbenskranker Mann erkennt nach dem Tod seiner Frau, dass die Flucht vor der Verantwortung seinen letzten Lebensabschnitt bestimmt. Jahrelang hat er, mit nur wenigen Mitwissern ein schreckliches Geheimnis vor seiner Frau verbergen können und sich tausend Kilometer von der Heimat entfernt, der Strafverfolgung entzogen. Ein Brief aus der Heimat, der die Erinnerungslücke aufgreift, wird ihm zum Verhängnis.

Dirty Wossi

oder Entwicklungshelfer ohne Buschzuschlag

Eine unmoralische Geschichte!

Werner, geboren in Ostdeutschland, wächst in Saarland auf. Nach dem Fall der Mauer will er zu seinen Wurzeln zurück und den Menschen in Ostdeutschland das Arbeiten beibringen. Dabei überschätzt er sich und wird auch im Osten abgelehnt. Seine kleine Familie die zu ihm hält, bringt er ins Frauenhaus und sich ins Obdachlosenheim.

Email in den Tod

Du hast noch einen Tag zu Leben - wie verbringst du diesen?

Mystische Kriminalerzählung

Folgen einer Email, eines makaberen Scherzes, Vorbestimmung oder Zufall?

Über „Steuer-“ rung;

ein Bericht der kurfürstlich-sächsischen Steueraufsicht Satiere

Der Knabenraub

Eine Mutter unter Verdacht

„Was es nicht gibt – darf auch nicht sein!“

Bei einer Straftat, Täter unbekannt, kommen zuerst die engsten Verwandten in Verdacht. In diesem Fall war es die effektivste Lösung für ein Unrechtsregime. Die Mutter fand sich mit ihrer Abschiebung in die BRD nicht ab, sondern suchte weiter nach ihrem Kind.

Es gab in der Vergangenheit viele Kindesentführungen, die auf Grund fehlender Kooperationen der Staaten untereinander, nicht geklärt werden konnten.

Dichter Nebel hängt über dem Flusstal. Vom Krematorium weht der Wind beißenden Geruch in das nahe gelegene Neubaugebiet. Die Sirene der Zigarettenfabrik ruft die Arbeiter zu den Maschinen. Eine verschmutzte Stadt ist erwacht.

Wie an jedem Morgen seit ihrer Eheschließung sitzen Helga und Peter Schmidt am Frühstückstisch der kleinen Neubauküche. Die hübsche junge Frau hat vor vier Monaten Paul entbunden. Der blonde blauäugige Knabe mit dem kleinen Muttermahl gedeiht zur Freude seiner Eltern prächtig. Peter ist stolz auf seinen Stammhalter, der unverwechselbar das Muttermahl seiner Familie geerbt hat. Er selbst trägt stolz die kleine Lilie, vererbt von seinem Vater, unterhalb des linken Ohrläppchens, das meist durch seine Haare verdeckt wird.

„Nun beginnt für unseren Paul ein neuer Lebensabschnitt, er muss lernen mit anderen Kindern zu spielen“, stellt der fortschrittlich denkende Vater fest.

„Ich möchte Paulchen noch nicht anderen Menschen überlassen, er ist noch zu klein!“

„Mir geht dein Jammern auf die Nerven. Ich will, dass aus ihm sehr früh ein richtiger pflichtbewusster Junge wird.

Was sollen die Genossen von mir denken, wenn wir das Geschenk nicht annehmen? Wir haben schließlich bevorzugt eine Neubauwohnung und einen Krippenplatz erhalten.“

Das Stadtwerk, in dem das junge Paar sich kennen lernte und arbeitet, hat dem verdienten Aktivisten des Volkes, Brigadier der Automatendreherei und Mitarbeiter der Arbeiter und Bauerninspektion bevorzugt einen Krippenplatz zugesprochen.

„Ist schon gut, mir war nur so betrüblich. Ich habe von der Nachbarin einen Roman gelesen, da war die Mutter bis zum 3. Lebensjahr des Kindes zu Hause. Und weißt du, das Kind hatte auch ein Muttermahl. Durch dieses Zeichen erkannte der reiche Graf seinen verschollenen Enkel wieder.“

„Immer wieder muss ich feststellen, dass du die Ansicht vertrittst, der Mann habe allein die Brötchen zu verdienen. Trenne dich endlich von dieser Einstellung, wie du dich von deinen altmodischen Eltern, die jeden Sonntag die Kirche aufsuchen und noch immer im Hinterhaus wohnen, getrennt hast. Du hast einen Aktivisten, mit einer alten kommunistischen Familientradition, zum Mann genommen!“

„Peter ich liebe dich und unser Paulchen. Ich weiß ja, dass wir uns noch einen neuen Trabbi anschaffen wollen.

Du kannst dich auf mich verlassen, ich werde nicht mehr sentimental. Heute noch gehe ich ins Magnet Kaufhaus und kaufe alles Notwendige für die Kinderkrippe ein.“

Liebevoll verzeihend schaut Peter, ein stattlicher Mann mit Vollbart und braunen Augen, beim Aufstehen seine junge Frau an und streicht den Knaben über den Kopf.

„Ich muss los!“

Der attraktive Mann verlässt die gemütliche Küche und zieht sich seine Joppe auf dem Flur an. Dabei fällt ihm ein, dass seine Frau mit der Straßenbahn und dem Kinderwagen in die Stadt fahren muss.

„Helga willst du wirklich mit Paulchen allein ins Zentrum fahren? Warte bis Samstag, dann fahren wir gemeinsam und du bist in der Straßenbahn nicht auf fremde Hilfe angewiesen.“

Die Angesprochene schüttelt mit dem Kopf, „ich muss heute ins Magnet Kaufhaus, morgen soll ich die Babydecke und Windeln zum Besticken bringen und am Freitag muss alles in der Kinderkrippe sein, damit Paulchen am Montag ein vorbereitetes Bettchen hat. Ich darf unseren Kleinen 6.00 Uhr in die Krippe bringen und 6.30 Uhr beginnt meine Arbeit am Fließband.“

„Ich verstehe, na dann macht’s gut, ihr zwei!“

Die Tür fällt ins Schloss. Kurz darauf klingelt es.

„Hat Peter etwas vergessen“, denkt Helga laut. Sie ist noch aufgeregt, weil er ihr immer die Vergangenheit und ihre bürgerliche Familie vorhält.

„Ach sie sind es, Frau Heinrich. Ich habe den Roman fertig gelesen, hier“, damit reicht sie der neugierigen, Nachbarin mit der bunten Nylonkittelschürze den Dreigroschenroman.

„Wollen sie noch einen haben, liebe Frau Schmidt?“

„Nein, um Gottes willen. Mein Mann hat was gegen Schmöker aus dem Westen, vielen Dank!“ Helga schließt die Tür und lässt die Nachbarin nicht herein. Paul beginnt zu weinen. Die Mutter nimmt ihr Baby auf den Arm und streicht über den Rücken, „mach dein Bäuerchen, damit wir uns anziehen können, um schnell wieder zu Hause zu sein.“

Das Baby kann sich nicht beruhigen, schreit unentwegt. Die Nachbarin steht beleidigt vor der Wohnungstür, sie wollte noch etwas schwatzen.

„Warum nur beruhigt sich das Kind nicht?“, denkt sie. Das Telefon klingelt. Helga bemüht sich um Paul, sie ignoriert das Klingeln.

Wenig später hängt Frau Heinrich im Hof Wäsche auf. Sie hört das Baby immer noch herzzerreißend schreien.

„Was macht die da oben bloß?“

Dabei schaut sie zum Fenster und sieht, wie Helga das Fenster schließt, danach ist es plötzlich still.

Das Telefon klingelt wieder, Helga nimmt aufgeregt den Hörer ab.

„Mutti du bist es, entschuldige, ich muss ins Magnet Kaufhaus, Babysachen für die Kinderkrippe kaufen. Ja, ja ich weiß, Paulchen ist viel zu klein für die Kinderkrippe. Ich kann mich nicht gegen den Willen von Peter stellen. Was ihr habt ein schönes Gedicht über das Chaos in unserem Kaufhaus, lass schnell hören. Nein warte erst noch. Paulchen hat Kneiper, ich habe ihm etwas zum Beruhigen gegeben. Ich schau noch einmal kurz nach ihm, dann kannst du mir das Gedicht vorlesen.“

Helga lacht herzlich!

„Prima, wer hat das geschrieben? Weißt du nicht, Schade! Ich werde mich daran erinnern, wenn ich dann ins Magnet Kaufhaus gehe, viel anders ist es ja nicht. Der Schreiber hat das angesprochen, was alle denken, nur Peters Partei verbietet uns die Wahrheit, zu sagen. Ja, ich weiß, das darf mein Mann nicht hören! Das Gedicht ist toll, lies bitte noch einmal vor, ich schreibe mir alles ab, damit kann ich am Montag meine Frauen am Fließband überraschen. Also ich habe meinen Bleistift, es kann losgehen;

Wie es uns geht?

Vom Kaufhaus da komm ich her,

ich muss euch sagen die Regale sind leer,

und überall auf den Straßen und Kanten

sitzen die Polen und ihre Verwandten.

Und draußen vor dem verschlossenen Tor,

stehen die Deutschen geduldig, wartend davor!

Und als ich so streife am Markt vorbei,

da sehe ich auch Leute aus der Tschechei,

sie haben gekauft und gefüllt ihre Taschen,

da gugen sie dumm, die Deutschen,

die Flaschen.

Und als ich dann heimfuhr mit dem Busse,

saß mir gegenüber auch noch ein Russe.

Vor Wut ging ich in den Konsum und

kaufte Käse, wer stand vor mir –

ein Vietnamese.

Ich stolperte zur Tür hinaus ich Armer und

stieß zusammen mit einem Kubaner.

Komm lieber Walter sei unser Gast,

gib mir nur die Hälfte von dem, was du hast!

Der Pole hat Kohle,

der Russe Erdöl und Licht,

wir haben die Freundschaft,

mehr brauchen wir nicht!

Auf der Straße große Löcher,

in den Läden leere Fächer,

zu Ostern keine Geschenke,

zu Pfingsten keine Getränke,

zu Weihnachten keen Boom,

in der HO keene Verwandte,

im Konsum keene Bekannte,

aus dem Westen keen Packet,

da fragst du noch, wie es uns geht!

Ich habe alles aufgeschrieben. Was, du hast noch eins, schnell lass hören. Das stimmt wie die Faust aufs Auge. Ich musste gerade das Fenster schließen, weil sie im Krematorium wieder die Öfen angeworfen haben und der Gestank zieht voll in unser Fenster. Das schreibe ich mir auch noch auf.“

Die Heimatstadt im Dreck

Kennst du die Stadt am Ende der Welt,

wo Ruß und Asche vom Himmel fällt?

Wo man die Häuser liederlich baut,

wo sich der Verkehr in den Schlaglöschern staut,

wo Futterkübel stinkend am Straßenrand stehen,

deren Duft durch die Straßen und Häuser wehen,

wo Polen und Tschechen nicht nur Zigaretten

verkloppen, und unsere Zöllner sie dabei überhaupt

nicht stoppen, das ist für mich der schönste Fleck –

meine Heimatstadt im Dreck!

„Danke Mutti, ich habe alles, nun muss ich schnell los. Du hast Recht, ich räume den Zettel sofort weg, wenn ich wieder zu Hause bin, Peter kommt erst am Abend von der Schicht. Bis bald grüße Papa, Conny und den Rest der Familie von mir.“

Helga nimmt das Babybündel, die Einkaufstasche und verlässt eilig die Wohnung. Da sieht sie, wie die geschwätzige Nachbarin sich wieder an sie heranpirscht, „nein nicht schon wieder!“

Sie muss noch über das ulkige Gedicht der Frau schmunzeln. Mit dem leeren Wäschekorb eilt Frau Heinrich zur Haustür und stürzt förmlich über den Kinderwagen, den Helga eilig wegschiebt.

Die Kittelschürze schüttelt mit dem Kopf, „warum hat es die junge Frau plötzlich so eilig, nicht mal grüßen kann sie, ja, ja die Jugend!“

Glück und Enttäuschung hat Peter in seiner Laufbahn zur Genüge kennen gelernt. Bei der Europameisterschaft war er bereits in der Qualifikation ausgeschieden. Er ist also nur ein Außenseiter gewesen. Bei seinem ersten Olympiastart war er wieder nur ein Statist. Damals hatte ihm die beste Taktik nichts genutzt.

Technische Fehler kann man zwar mit einem enormen Mehraufwand an Kraft zu einem Teil ausgleichen. Doch wenn Peter auch diese fehlte, war nichts zu machen.

Diese Lehre zog er nach seinen zwei Misserfolgen und noch mehr. Wenn er, Peter Schmidt, künftig mit den Weltbesten konkurrieren wollte, dann sollte er wie sie trainieren, vor allem musste er sich die Technik und Erfahrungen der Besten zu Eigen machen. Peter war dazu bereit. Seine Frau Helga jedoch nicht. Sie redete ihm nie motivierend zu. Sie hatte ihre eigenen Probleme, so trauerte sie ihrem Musikstudium nach und der Band ihres Bruders. Mit ihrem Musiktick war sie ihm sogar ein Klotz am Bein.

Die Genossen in seinem Betrieb unterstützten ihn und motivierten Peter nicht aufzugeben. Von seiner Kindheit an hatte ihm der Vater, der anfangs zwischen CDU und SED wankte und sich später für den Stärkeren entschied, zu einem Kämpfer erzogen. In Peters Unterbewusstsein hatten sich die Worte des strengen Vaters eingeprägt, „Wenn du etwas machst, dann mache es richtig!“

Als er zur Leichtathletik-Europameisterschaft mit der erste selbständige DDR - Mannschaft ins Budapester Neppstadion zog und diese acht Europameistertitel, drei Silber- und sechs Bronzemedaillen erkämpften, war Peter dabei. Auch wenn er nur einen hinteren Platz errang, waren es Stunden, des Jubels und der Freude. Ihm durchfließt noch heute bei dem Gedanken daran ein Glücksgefühl, als drei gleiche Fahnen, die seiner Heimat gehisst wurden und die Hymne „Auferstanden aus Ruinen …“ aus den Lautsprechern ertönte.

Peter hatte fortan bei zahlreichen Wettkämpfen und in unzähligen Trainingsstunden seine Zielstrebigkeit und Energie getrennt von seiner unsportlichen Frau bewiesen. Parallel zu seiner sportlichen Entwicklung verlief seine berufliche Qualifikation. Ihm hat niemand etwas geschenkt, eher verlief sein Leben zu straff organisiert und kontrolliert. Nach der Rückkehr von der Europameisterschaft ehrte ihn der Betriebsdirektor, als Aktivist der sozialistischen Arbeit, mit der Begründung:

„Lieber Jugendfreund Schmidt, deine Leistungen als Brigadier sind für die Kollegen gleichermaßen Ansporn, wie es deine sportlichen Erfolge für deine Sportkameraden sind!“

Peter stand beschämt da. Die meiste Zeit war er vom Betrieb abwesend, zu Wettkämpfen oder in Trainingslagern, kaum zu Hause bei seiner Familie.

Der Genosse Direktor musste schon wissen was er tat, dafür liebt Peter seinen Staat. Kritischer sehen das seine Kollegen in der Automatendreherei, vor allem sein Stellvertreter, der während Peters Abwesenheit die gesamte Abrechnung allein bewerkstelligen muss und dafür bisher nie eine Anerkennung erhielt.

Peter erklärt eine Woche später, nachdem er gefragt wurde, für den Bezirkstag, als Abgeordneter für die Kommission Jugendfragen und Sport zu kandidieren. „Meine Brigademitglieder sind über diese neue Herausforderung besonders kritisch, denn ich werde noch mehr ausfallen, wie es bisher schon war. Doch gerade diese Kritik, hat einen großen erzieherischen Einfluss auf meine Entwicklung, denn ich weiß, was ich anfasse – mache ich richtig!“

Im November aus Anlass des 50. Jahrestages der großen sozialistischen Oktoberrevolution in Russland bat Peter um Aufnahme als Kandidat in die Reihen der Partei der Arbeiterklasse, in die SED.

Dem Presseorgan Neues Deutschland erklärt der neugebackene Genosse diesen Schritt.

„Es war für mich nur eine Frage der Zeit, wann ich diesen Schritt vollziehe.

Wer aufmerksam die Entwicklung unserer Republik verfolgt, wer bewusst mit erlebt, wie unsere Republik unter der Führung der SED gewachsen und erstarkt ist, wie wir zu einem der bedeutendsten Industriestaaten der Welt wurden, für den kann es keine andere Schlussfolgerung geben. Warum gerade zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution fragen sie. Ganz einfach zu erklären, die sowjetischen Freunde sind unsere Befreier, ich vertraue auf ihre Ehrlichkeit und unerschütterliche Freundschaft!“

Im Magnet Kaufhaus herrscht reges Treiben, es ist Urlaubszeit. Urlauber kaufen Souvenirs und die es werden wollen, suchen für die heißen Tage luftige Kleidung. Helga wühlt in einem Haufen von Babydecken, dabei murmelt sie vor sich hin, „hässlich, wieder nur sozialistische Massenproduktion!“

Sie findet viele Babydecken alle haben den gleichen geschmacklosen Aufdruck, so muss sie eine von diesen nehmen. Nun braucht sie noch Baumwollwindeln. Auf ihre Frage, nach diesem Babyartikel, bekommt sie von der Verkäuferin nur ein Achselzucken und die Antwort, „Ham mer nich, sie können Viskosewindeln haben.“

Helga wird ungehalten, zu viel ist am Morgen geschehen.

„Gibt’s in diesem Scheiß Staat nicht mal für Babys ordentliche Sachen?“

Die Verkäuferin sieht Helga beleidigt an. Nun entdeckt sie an der Kittelschürze das Parteiabzeichen mit den abgehackten Händen. Verdammt ich muss mich mehr zusammenreißen, mein Mann hätte mir jetzt eine Szene gemacht. Helgas Gesicht ist vor Scham rot angelaufen. Nur weg von hier!

Muttis Gedicht trifft Hundertprozent zu! Kommt es ihr in den Sinn, als sie von einer rothaarigen Ausländerin angerempelt wird, die sich nicht einmal entschuldigt sondern zügig das Magnet Kaufhaus verlässt.

„Eigenartig, diese Frau und eine Jüngere standen die ganze Zeit neben mir, ich konnte bei ihrem Parfümgestank gar nicht richtig atmen. Ich werde dann nachsehen, ob ich noch alles in meiner Tasche habe!“

Helga kauft noch ein Kuscheltier für das Bettchen in der Kinderkrippe, danach eilt sie aus dem Kaufhaus zum Kinderwagen. Am Schaufenster steht Pauls Wagen. Die junge Mutter hat auf einmal ein beklemmendes Gefühl, haben sich Pauls Bauchschmerzen gegeben, hat die Arznei geholfen? Sie tritt zum Wagen und schlägt das zu warme Federkissen zurück. Der Wagen ist leer. Ein eigenartiger Maiglöckchenduft schlägt ihr entgegen. Verzweifelt rennt Helga am Kaufhaus entlang und fragt Passanten.

„Haben sie mein Baby gesehen?“

„Wie alt ist ihr Baby, wie sieht es aus?“

„Es lag im Wagen, der Wagen ist leer!“, schreit Helga hysterisch. Sie ist nicht in der Lage eine klare Beschreibung ihres Babys zu geben. Durch das Geschrei der unruhigen Frau laufen immer mehr Passanten zusammen, alle rufen nach dem Kind Paul. Weil keiner die richtige Beschreibung kennt, suchen die Passanten Kinder bis zehn Jahre in der Fußgängerpassage. Erst ein Polizeikommando beruhigt die aufgeregte Menschenmenge.

„Kidnapping in der DDR unmöglich, wird hier ein Film gedreht?“, fragt ein vorwitziger junger Mann.

Das Fehlen des Babys wurde 10.00 Uhr der Polizei gemeldet. Bereits 12.00 Uhr waren alle Sicherheitsorgane der Stadt, Hilfspolizei, Transportpolizei und Staatssicherheitsdienst über die mutmaßliche Entführung informiert. Alle Straßen und Züge, die aus der Stadt fahren, unterliegen einer strengen Kontrolle. Ein Transportpolizist meldet seinem Vorgesetzten, „drei Züge nach Polen sind uns leider durch die Lappen gegangen!“

Helga wird inzwischen ins Kaufhaus gebracht. Eine Abteilungsleiterin, die Räume für die polizeiliche Ermittlung zur Verfügung stellt, ist die Dame mit den abgehackten Händen an der Kittelschürze, die Helga in der Kinderabteilung bedient hatte.

Helga sieht in ihrem Schmerz und unter Tränen nicht das heimtückisch lächelnde Gesicht der Frau. Diese macht gegenüber einem Polizisten die Bemerkung, „ich kenne die Kundin, sie war schon beim Einkauf nervös, bevor sie das Fehlen des Babys entdeckt hat!“

„Ich danke dir Genossin, wir werden dich dazu später nochmals zu einer Aussprache bitten.“

Der Polizist gibt Helga ein Glas Wasser und spricht sanft auf sie ein, „beruhigen sie sich Bürgerin, wir werden alles Menschenmögliche tun, um ihr Baby wieder zu finden. Zuerst müssen sie uns einige Fragen beantworten, sonst können wir ihnen nicht helfen.“

Helga nickt, schnäuzt sich die Nase und antwortet bereitwillig.

„Mein Sohn Paul ist vier Monate alt, hat blonde Haare, blaue Augen und ein Muttermahl am linken Ohr. Er trägt einen blauen Strampler und ein weißes Hemdchen sowie ein blaues Mützchen und blaue Schuhe mit weißen Bommeln.“

„Wo kann ich den Vater finden?“

„Mein Mann, Peter Schmidt, arbeitet als Brigadier im Stadtwerk.“

„Danke, meine Kollegen werden alles in die Wege leiten, beruhigen sie sich. Ach noch eine Frage haben sie Feinde?“

„Ich glaube nicht, natürlich haben wir Neider. Wir bekamen die Neubauwohnung und den Krippenplatz vorzeitig, das löste unter unseren Kollegen Ärger und Missgunst aus!“

„Ich verstehe. Können sie mir Namen nennen, nein besser ich befrage ihren Mann.“

Ein weiterer Polizist hat inzwischen die Abteilungsleiterin nochmals befragt. Er kommt kopfschüttelnd zu Helga, „ich glaube sie halten uns zum Narren, meine Liebe!“

Die Tür geht auf und im Rahmen steht kreideweiß Peter.

„Wo hast du meinen Sohn gelassen?“, schreit er unbeherrscht seine Frau an.

Helga geht in sich, nur nichts hören und sehen. Keiner spendet der verzweifelten Mutter Trost. Die Polizisten bitten Peter nochmals um Angaben zu dem Baby, der Kleidung und dem Kinderwagen.

Helga wird von einem Krankenwagen abgeholt und in eine Anstalt gebracht. Nachdem sich die verstörte Frau beruhigt hat und endlich das Krankenzimmer wahrnimmt, sieht sie, dass die Fenster vergittert sind. Die Tür öffnet sich knarrend. Eine Krankenschwester stellt ihr eine Schüssel mit Brot und Brühe auf den Nachttisch. Sie verlässt ohne ein Wort den Raum und schließt das Zimmer ab.

„Was habe ich verbrochen, wo bin ich, wo ist mein Kind?“, schreit Helga und hämmert an die Zimmertür. Sie erhält keine Antwort.

Nachdem Peter der Polizei alle Informationen zu seinem vermissten Sohn gegeben hat und seine verstörte Frau ins Neurologische Krankenhaus gebracht worden war, kehrt er verzweifelt in die leere Wohnung zurück. Peter schaut sich um. In der Wohnung herrscht ein großes Durcheinander. Der Medizinschrank steht offen, Arznei liegt herum. Er hebt vom Fußboden ein nasses zusammen gewickeltes Handtuch auf. Dann fällt sein Blick auf den kleinen Tisch mit dem Telefon. Peter liest die schnell hin gekritzelten Zeilen, sein Gesicht läuft beim Lesen rot an. Wutentbrannt zerknüllt er den Zettel und wirft diesen auf den Fußboden.

„Was soll das alles bedeuten? Ich muss weg, am besten zu einem guten vertrauenswürdigen Freund. Herbert, der Parteisekretär des Werkes fällt ihm ein. Mein bester Freund wird mich verstehen!“, überlegt Peter. Er hält schon den Wohnungsschlüssel in der Hand, als es an der Tür klingelt.

„Sie sind es Frau Heinrich.“

„Ist Paulchen wieder gesund?“, will die neugierige Frau wissen.

„Was wollen sie damit sagen?“

Die Nachbarin berichtet von dem Schreien des Kindes, das plötzlich abbrach und das fluchtartige Verlassen des Hauses seiner Frau mit dem Kinderwagen.

„Ich habe mich gewundert, warum ihre Frau bei der Hitze das Kind mit einem Federbett zugedeckt hat, das man es gar nicht mehr sah. Ist etwas passiert, ich entdecke ihre Frau nicht?“

„Meine Frau ist bei ihren Eltern.“

Die Nachbarin schaut ihn prüfend an und denkt. Mich kann der nicht verscheißern. Ich weiß schon lange, dass er den Umgang mit den Eltern und Geschwistern nicht will, das hat mir die Schmidten erzählt. Da muss sie noch einmal nachstoßen, irgendetwas stimmt nicht!

„So, so, mit dem Baby?“, sagt sie laut.

„Bitte entschuldigen sie Frau Heinrich, ich muss weg.“

Daraufhin stürzt Peter wieder aus dem Haus und lässt die Nachbarin stehen.

„Der kann sich auch nicht benehmen!“, nörgelt sie wieder.

Herbert hat schon von Peters Missgeschick erfahren. „Mensch komme rein, werde erst mal ruhig und setz dich in die Stube. Du kennst ja den Weg“, empfängt er Peter freundlich.

Herbert holt aus der Küche zwei Flaschen Bier und setzt sich zu Peter an den Stubentisch.

„Was ist wirklich passiert? Ich hörte, dass euer Kind aus dem Kinderwagen gestohlen wurde.“

Peter wischt sich beschämt die Tränen aus den Augen.

„Ist schon gut.“

Dabei schaut der Freund Peter mitleidig an. „Ich weiß, wie du an deinem Sohn Paul hängst. Es wird schon alles gut werden!“

„Es ist schlimmer, als wir annehmen. Mir kann keiner helfen“, stöhnt Peter.

„Was willst du damit sagen?“

„Meine Frau wird von der Polizei verdächtigt, Pauls Verschwinden vorgetäuscht zu haben. Die Unordnung in der Wohnung und die Informationen, die mir unsere Nachbarin gab, verhärten diesen Verdacht.“

„Das kann ich mir schlecht vorstellen. Du kennst Helga seit zwei Jahren. Ich kann mich noch daran erinnern, als du sie bei uns einführtest. Obwohl sie nur eine kleine Montiererin der Fließbandmontage war, durfte sie auf deine Fürsprache hin, als Nichtmitglied der Deutsch Sowjetischen Freundschaft, an einem Treffen mit unseren sowjetischen Brüdern teilnehmen. Sie trug ein adrettes Kostüm, war im Gegensatz zu den sowjetischen Genossinnen dezent geschminkt, die blonden Haare hochgesteckt, einfach wunderschön. Alle fanden deine Verlobte begehrenswert. Weißt du noch, der Kolchosvorsitzende wollte mit ihr Kassatschock tanzen?“, schwärmt der Parteisekretär von Helga.

„Ich weiß, dass er später auch empört war, weil sie es ihm dreimal abgelehnt hat, deshalb lies sich der Genosse Ivanow mit Wodka vollaufen. Mit seinen sowjetischen Kolleginnen tanzte er aus Trotz nicht!“, entgegnete Peter bitter.

„Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich sah aber, dass Helgas Augen immer an dir hingen.“

Die Männer lachen. Peter denkt an diesen Abend zurück, dabei legt er plötzlich die Stirn in Falten.

An diesem Abend gab es die erste Auseinandersetzung mit seiner Verlobten. Helga durfte erst nicht mit in die Veranstaltung, weil sie kein Mitglied der Deutsch Sowjetische Freundschaft war.

Der Genosse am Einlassdienst verlangte die DSF-Mitgliedsbücher und überprüfte die Beitragszahlung. Wer bisher nicht gezahlt hatte, konnte noch DSF Marken erwerben und an dem Besäufnis teilnehmen. Ehefrauen waren nicht erlaubt, weil die Gäste nur mit der Brigade anreisten. Selbst staatstreue sowjetische Ehepaare durften nicht zusammen verreisen. Der Einlassdienst genehmigte erst den Eintritt von Helga, weil sie mit Peter nur verlobt war, sofort einen Antrag zur Mitgliedschaft ausfüllte und der Parteisekretär ein Machtwort sprach. Helga verstand das ganze Prozedere nicht. Sie fragte, warum nur unverheiratete, sowjetische Genossinnen und Genossen einer Brigade reisen dürfen und nicht Ehepaare.

Peters Vater hat es ihr später erklärt. Auch er durfte seine Frau nicht zu einer vierwöchigen Erholungsreise auf die Krim nach Jalta mitnehmen. Da waren nur Genossinnen und Genossen unter sich. Das ist, um die Konversation zu fördern.

Helga hatte Peter direkt auf den Kopf zugesagt, „deine feinen sowjetischen Genossen haben Angst, dass die Abhauen, - von einem Gefängnis – ins Andere!“

Das war schon unverschämt von ihr, es kam an dem Abend noch viel schlimmer. Der Kolchosvorsitzende brüskierte sich damit, dass der russische Mann nur aufpasst. Er leitet schließlich den Transport und ist Spezialist im Organisieren, in der UDSSR müssen die Frauen arbeiten. „Rabota, Rabota!“

Das kritisierte Helga offen vor allen Genossen, die so viel Wodka getrunken hatten, dass sie ihr lallend zu lachten. Eine schöne Frau kann fast alles sagen und niemand hatte den Sowjets diese unangebrachte Kritik übersetzt, stellte Peter erleichtert fest. Nachdem alle Helga nicht für voll nahmen, das war sie ja auch nicht – denn sie hatte nur Wasser getrunken, griff sie nach Peters blauen DSF Mitgliedsbuch mit den zwei Fahnen, der größeren mit Hammer und Sichel und der kleineren der DDR und fragte Peter provozierend, mit dem Finger auf das Geleitwort von Walter Ulbricht zeigend:

Mit der Sowjetunion verbündet sein, das heißt den Bund mit der Zukunft, dem Frieden, mit dem Aufstieg der Menschheit schließen. Das heißt von der Sowjetunion lernen - heißt siegen lernen!“

Dazu sagte sie scharf, „also planen die DDR Männer zukünftig, dass die Frauen unter ihrer Knute arbeiten müssen. Das ist nach meiner Meinung, lieber Peter, ein Rückschritt in die Sklaverei der Frauen!“

Er war natürlich über diese Auslegung von Helga empört und lies sich seit dem Abend eine Woche nicht mehr bei ihr sehen. Peter hatte ins Auge gefasst die Verlobung zu lösen. Helga hatte ihm am Abend vorher gestanden, dass sie von ihm schwanger war.“

Der Freund sieht dass Peter grübelt, deshalb lässt Herbert ihm Zeit, bis er weiter spricht.

„Gut, deine Frau stammt aus einem bürgerlich, christlichen Haus, aber sie liebt dich und Paul, genauso sehr wie du sie, oder?“

„Das ist alles richtig, sie wollte nicht, dass Paul jetzt schon in die Krippe geht, er sollte getauft werden und ich sprach immer dagegen. Kann es nicht sein, dass sie durchgedreht ist und die Entführung nur vorgetäuscht hat?“

„Wenn es aber doch eine Entführung war, tust du deiner Helga Unrecht. Vielleicht gibt es eine Geldforderung der Entführer, dann solltest du zu Hause am Telefon sitzen.“

„Herbert ich bin dir so dankbar, vor Verzweiflung habe ich nur an die Schuld von Helga gedacht. Ich werde nach Hause gehen und am Telefon warten. Die Polizei muss wissen, dass ich noch aussagen muss, was mir die Nachbarin berichtet hat.“

„Das tue noch ganz schnell, ich denke, dass die Herren von der Polizei dich begleiten werden, um Spuren in der Wohnung zu sichern.“

Den Fall bearbeitet bereits Oberkommissar Busse. Nach Aktenlage wurde sofort eine „Sonderkommission Knabenraub“, ins Leben gerufen. Busse wird ein, ihm unbekannter Neuer zur Seite gestellt. Der Neue ist ungewöhnlich gesprächig, stellt Busse fest. Dazu hinterfragt dieser jede Entscheidung, einfach nervig. Der Oberkommissar hat das Gefühl von dem Genossen bevormundet zu werden.

„Wer fragt der führt!“, kommt ihm sein Standartsatz in den Sinn. Der gestandene Polizist beherrscht die Kunst des Gesichtlesens, eine jahrelang antrainierte Fähigkeit, die ihm bereits half, schwierige Fälle schneller zu lösen. Meist erkennt der geschulte Polizist schon nach der ersten Vernehmung, ob der Zugeführte schuldig oder unschuldig ist. Er hat sich nur selten geirrt.

Beim Einarbeiten in den Fall beobachtet Busse wie der Neue die Akten bearbeitet. Das kann er besonders gut, da der Genosse einen Platz direkt ihm gegenüber am Fenster belegt.

Sein Schädel ist sehr ausgeprägt, hohe Stirn – also ein Denker. Der Hinterkopf für das Handelszentrum im Gehirn ist eher flach – also muss der linke Hände haben. Die breiten Kieferknochen verraten den noch in der Entwicklung befindlichen Autoritätsanspruch. Das schmale Gesicht des charismatischen Genossen zeigt, dass sein an dem Tag gebrachtes Selbstvertrauen einstudiert sein muss. Die sich beim Lesen der Akte ständig veränderten unterschiedlichen Gesichtshälften zeigen sehr deutlich, dass es Busse mit einem unberechenbaren, flexiblem Streber zu tun hat. Der Ältere verspürt nach seiner Analyse Antipathie gegen den Neuen, aber er muss schließlich mit ihm auskommen! Alles in Busses Innerem ist auf Vorsicht eingestellt. Jedoch was kann er gegen seinen Vaterinstinkt ausrichten, der ihm sagt, „nimm den Neuen an die Hand und zeige ihm das Handwerk eines richtigen Kriminalisten!“

Auf die Fragen des jungen Genossen, nach dem Aktenstudium, geht Busse freundlich und helfend ein.

„Wie schätzt du die Verdächtige ein?“

„Nach meinen ersten Erkenntnissen ist diese Frau unschuldig in eine große Gefahr geraten.“

„Wie kommst du darauf?“

Ich habe das in ihrem Gesicht gesehen.“

„Wie kann man das in einem Gesicht erkennen?“

„Ich fragte die Frau unter großen Druck, an was sie sich erinnern kann.“

„Konnte sie das überhaupt?“

„Ja, sie hat sich an einen Duft erinnert. Diesen Duft will sie dann auch im verlassenen Kinderwagen gerochen haben. Weiter berichtete sie von zwei aufdringlich bemalten Ausländerinnen, die sich ständig in ihrer Nähe aufhielten. Dazu vermisst sie den Personalausweis der Deutschen Demokratischen Republik!“

„So, so!“, bemerkt der Neue laut.

Er stellt dabei fest, wie kann die Polizei nur so einen Spinner im Dienst belassen. Ich werde dem Alten schon beweisen, dass meine Methoden Erfolg versprechender sind.

Peter informiert die Polizei über das Gespräch mit der Nachbarin und den Zustand der Wohnung.

„Es war richtig uns zu informieren und nichts zu berühren. So können wir die Spurensicherung in ihre Wohnung schicken. Sagen Sie uns bitte, was für ein Parfüm benutzt ihre Frau?“

„Parfüm keins, sie nimmt heimlich mein Rasierwasser“, antwortet Peter wahrheitsgetreu. „Gut, natürlich werden wir ihr Telefon überwachen, falls die vermeintlichen Entführer eine Lösegeldforderung äußern. Ihr Telefon erhält eine Fangschaltung.“

Die Sonderkommission nimmt sich die Wohnung gründlich vor, sie können keine Blutspuren entdecken, sie finden jedoch einen eng beschriebenen, zusammengeknüllten Zettel.

Peter kocht für die Ermittler Kaffe und schaut zu, wie ein Techniker die Fangschaltung installiert. Nach Stunden klingelt das Telefon. Die Fangschaltung springt an, es ist Helgas Bruder.

„Nein Helga kann nicht ans Telefon kommen, sie versorgt Paul“, stößt Peter hervor und legt sofort den Hörer wieder auf die Gabel. Nach endlosen stundenlangen Warten klingelt das Telefon wieder. Auch diesmal ist es ein belangloses Telefonat einer Bekannten von Helga. Die Nerven von Peter liegen blank. Völlig unerwartet klingelt das Telefon. Die Beamten geben Peter ein Zeichen, bis das Tonband und die Fangschaltung angeschaltet sind zu warten. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt merkwürdig rau und dumpf.

„Was haben sie mit meinem Sohn gemacht!“, brüllt der verzweifelte Vater den Anrufenden entgegen.

„Nicht sie, sondern ich bin der tatsächliche Vater des Kindes, das ich heute am Magnet Kaufhaus an mich genommen habe. Nun haben sie begriffen, dass es nur um Gerechtigkeit geht!“, hört Peter den Mann sagen.

„Sie sind nie und nimmer der Vater meines Sohnes“, versucht Peter den Anrufer hinzuhalten.

Die Beamten geben ihm ein Zeichen, das Gespräch so lange wie möglich aufrecht zu erhalten.

„Wer sind sie und was wollen sie wirklich?“, stammelt Peter, dabei stützt er sich völlig irritiert auf den Telefontisch. Die Fangschaltung entgleitet und fällt auf den Boden. Der Anrufer muss dieses Geräusch gehört haben und legt auf. Peter begreift nichts mehr.

Mitternacht kommt wieder ein Anruf. Peter schreckt aus dem Halbschlaf. Die Fangschaltung wird aktiviert. Da ist der Entführer wieder. Peter kann nicht an sich halten und schreit in den Hörer, „woher kennen sie meine Frau?“

Ein hässliches Lachen von der anderen Seite der Leitung, dann spricht der Mann, Peter kann nichts verstehen. Vermutlich ist beim Lachen des Anrufers, das Tuch welches dieser über den Hörer gelegt hat verrutsch, um seine Stimme zu verstellen. Nach einer Weile spricht er deutlicher. „Ich bin etwas in finanziellen Schwierigkeiten, sind sie bereit für ihren Sohn eine größere Summe zu übergeben“, wiederholt der Mann nun verständlicher.

„Überlegen sie es sich, ich melde mich morgen wieder, keine Polizei, sonst sehen sie ihr Kind nie wieder!“

Peter ruft verzweifelt, „bitte warten sie!“

Der Anrufer meldet sich nicht mehr. Die Ermittler machen ein nachdenkliches Gesicht.

„Viel zur kurz, sie sollten den Mann hinhalten!“ Leichenblass legt Peter den Hörer auf. Die Ermittler spulen das Band immer und immer wieder zurück, dabei trinken sie starken Kaffee. Gegen vier Uhr morgens stellt ein Ermittler fest, „wir kommen nicht ganz klar. Der Erpresser hat von einem Jungen gesprochen und nie seinen Namen genannt. Es kann sich um einen Trittbrettfahrer handeln, der aus der Not der Eltern noch Kapital schlägt! Wir werden die Fangschaltung aufrechterhalten. In zwei Stunden kommt unsere Ablösung. Sie“, zu Peter gewandt, „bleiben bitte den ganzen Tag zu Hause, melden sie sich in ihrem Betrieb krank.“

Es war für Peter eine unendlich lange Nacht. Im Halbschlaf fallen ihm die Worte des Erpressers ein. Peter kommt es dumm und töricht vor die Bemerkungen ernst zu nehmen, dennoch hat sie bei ihm einen Stachel hinterlassen. Er hört, wie die Nachbarin den Beamten die Haustür aufschließt. Bis zur Ablösung ist er eine Stunde allein. Der Mann hat das Bedürfnis unbedingt mit einem Menschen zu sprechen. Peter bittet die neugierige Frau in seine Wohnung.

„Liebe Frau Heinrich, ich muss mich bei Ihnen bedanken.“

“Sie meinen, weil ich ihre Freunde aus dem Haus gelassen habe. Keine Ursache, das mache ich doch gern für sie“, entgegnet die Frau liebenswürdig und ehrlich.

„Nein, ich bitte sie um Diskretion zu dem, was ich ihnen nun erzähle!“

„Deren können sie gewiss sein!“

Peter erzählt der Nachbarin von den Geschehnissen und den Anrufen in der Nacht.

„Solche Teufel!“, schimpft sie.

Peter nickt mit Tränen in den Augen.

„Ein Baby entführen ist wohl das Gemeinste, was es gibt. Ihre liebe Frau tut mir leid!“

Frau Heinrich vergisst völlig, dass sie am Vortage Helga noch schwer belastet hat. Sie kocht dem erschöpften Mann einen Tee. Bevor sie geht, findet sie unter der Wohnungstür einen Zettel, den sie Peter überreicht.

Peter denkt an eine Mitteilung der Polizei. Mit ungelenkter Hand geschrieben, liest Peter; „Hinterlegen sie 12.00 Uhr im Papierkorb, Eingang B, am Magnet einen Umschlag mit 1000 Mark. Danach erhalten sie ihr Baby zurück. Keine Polizei!“

Peter verlässt fluchtartig das Haus, holt das Geld vom Konto, über das er als Spitzensportler verfügen kann, und steckt es in eine Einkaufstüte.

Punkt zwölf Uhr lässt er die Tüte in den Papierkorb gleiten. Wenig später kommt ein Reinigungswagen und beräumt den Papierkorb. Der Mitarbeiter der Stadtreinigung fegt die gesamte Fußgängerzone und stellt nach Entleerung der Last den Reinigungswagen im Fuhrpark der Stadtreinigung ab.

Die ermittelnden Beamten sind verärgert, dass Peter auf eigene Faust gehandelt hat. Sie verhören den Angestellten der Stadtreinigung, der Mann ist unschuldig. Sie stellen fest, dass die Müllberge umgewühlt wurden, also ist der Erpresser flüchtig. Die Polizei findet weder das vorher bereitgestellte Geld, den Erpresser, noch das Kind. Der Brief des Erpressers war, wie Tags darauf Spezialisten des Kriminaltechnischen Institutes mitteilen, geradezu primitiv abgefasst. Die Abteilung Grafik hat durch Schriftvergleiche festgestellt, dass mit größter Wahrscheinlichkeit ein Friedrich Kupfer wieder sein Unwesen treibt.

Die Polizei kontrolliert alle Gegenstände aus der Einkaufstasche von Helga. In ihrer Geldtasche liegt eine Quittung über die Bezahlung eines Postschließfaches.

Nach Öffnen des Schließfaches und Kenntnisnahme des Inhaltes muss die Staatssicherheit eingeschaltet werden, die auch den zerknüllten Zettel aus der Wohnung zur Kenntnis erhält. Durch Helgas Nachlässigkeit wird einem Verdacht nachgegangen.

Nicht recht erklärlich ist, weshalb die kluge Frau, wenn überhaupt auch ihr Mann, die staatsfeindlichen Parolen durch Feindkontakte, zur Untergrabung der Staatsmacht in Umlauf bringen. Wenn die Frau ein Schließfach für ihre westlichen Kontakte unterhält, hat sie das vor ihrem Mann zu verbergen gesucht, also muss der Vorzeigekommunist vor seiner Frau geschützt werden.

In dem Postfach finden die Genossen einen Brief, der in Köln zum Versand gebracht wurde. Die Handschrift war dem Erkennungsdienst nicht bekannt, der Inhalt dagegen ist sehr aufschlussreich.

„Sehr geehrte gnädige Frau!“

Lautet die Anrede, wohl um den Namen zu vermeiden.

Wir sind alle von einem Scharlatan, dem Bekannten eines DDR-Medienvertreters, über den Tisch gezogen worden. Ich bin selbstverständlich, im Namen, des unter Kritik stehenden, renommierten Verlages, an der Klärung interessiert. Im Interesse einer freundlichen Zusammenarbeit, die für uns alle sehr nutzbringend werden kann, werde ich mich für die teilweise Rückerstattung des Ihnen entstandenen Schadens einsetzen und über den erlittenen Schadenersatz verhandeln.

Dieses Entgegenkommen meinerseits wird sie bestimmt erfreuen. Da ich im kommenden Monat einen Sänger auf Gastspielreise in ihre Stadt begleite, erwarte ich von ihnen einen Vorschlag, über das ob und wo wir uns treffen können.“

Die Unterschrift ist unleserlich, „Agent oder so“, kann der Stasioffizier kopfschüttelnd erahnen.

Was dieser Unbekannte mit der, in vorläufiger Verwahrung genommenen Frau zu tun hat, muss in einem Verhör geklärt werden. Er muss auf jedem Fall in Ost und West Geschäfte gemacht haben, in die die feine Frau mit verwickelt ist und beide wurden dabei betrogen. Es wird unseren Polizei- und Staatssicherheit-Organen viel Kraft kosten, den Lebenswandel der Frau und ihrem privilegierten Mann zu durchleuchten, zumal der Vater des Mannes Staatssekretär in Berlin ist.

„Wir müssen vor allem die Genossen der Normannenstraße mit einschalten. Ich will erst einmal, dass die Frau ins Frauengefängnis überführt wird!“

Weist der, für die Untersuchung beauftragte Genosse der Staatssicherheit an.

Der eifrige Neue, der alle Zusammenhänge nicht kennt, fragt seinen Vorgesetzten, „warum wird in dieses eindeutige Erpressungsdelikt die Staatssicherheit eingeschaltet?“

Er bekommt zur Antwort, die er erst nicht versteht oder vielleicht verstehen will?

„Ich las heute in der Zeitung, dass sich ein Staatssekretär mit der Klärung der gemischtwirtschaftlichen Betriebe, also Einzelhandel und Handwerk, befasst. Er sieht dabei eine bessere Aufsicht durch den Staat, durch eine Umwandlung in sozialistische Betriebe. Da die Entlohnung eh schon auf der Grundlage von volkseigenen Löhnen erfolgt und der volkseigenen Preisbildung unterliegt.“

„Das ist nach der Landwirtschaft in LPGs, eine Enteignung der Kleinhandels Unternehmen?“

„Richtig! Der Staatssekretär begründet das damit, dass das schlechte Beispiel der BRD-Wirtschaft Schule machen kann. Die westdeutsche Wirtschaft sei eh schon bald in der Krise, weil die Wirtschaftsbosse an die Bonner Regierung keine Steuern abführen. Mit Abschreibungen werden unrentable Betriebe betrieben, um die Steuern der Gutgehenden einzusparen. Die Unternehmer wirtschaften in die eigene Tasche, bezahlen keine Vermögenssteuer, ihre Betriebe erhalten zusätzlich Subventionen. Klever sind die Unternehmer, die sich im Saarland einnisten, als Patrioten für die inländische Entwicklungshilfe gefeiert werden und dafür fette Fördermittel abfassen.“

„Das verstehe ich nicht, in der BRD gibt es keine Engpässe!“

„Der Staatssekretär meint dazu, dass dies noch kommen wird. Es sei eine neue Chance der DDR, die BRD zu überholen. Zurzeit verfolgt unsere Regierung die Strategie, die Bonner Regierung in die Schranken zu weisen. Sie zu zwingen die angedichtete antinationale Politik und das Schüren von Spannungen aufzugeben. Dadurch kann der Ost-West-Handel mit Kontrolle des Staates maximal entfaltet werden.

„Ich verstehe das Ganze nicht, was hat das mit dem Fall der Kindesentführung zu tun?“

„Brauchst du auch nicht, jedoch dieser hundert prozentische Staatssekretär ist zufällig der Großvater des entführten Babys!“

„Nun verstehe ich, warum du mir Unterricht in der innerdeutschen Politik gibst. Das heißt für uns eine Nummer zu groß!“

„Richtig, und deshalb sehr gefährlich, wenn wir nicht aufpassen. Lieber junger Genosse, vergiss nicht; finde deine Bestätigung in der Pflege der Beziehungen von Mensch zu Mensch und im Vertrauen zur führenden Rolle der Partei, den Parteien der Nationalen Front und in der Deutsch Sowjetischen Freundschaft. Alles was dem im Wege steht, ist gegen die Interessen unseres Staates. Der von mir beschriebene Staatssekretär erklärt den kommenden Monat zum Monat der Partei, weil die Festigung dieser, eine unentbehrliche Voraussetzung unserer politischen und kriminalistischen Ermittlungsarbeit ist!“

„Mensch, in dir ist ein Agitator verloren gegangen. Ich verstehe, nicht der Mensch, sondern die Partei, ist in diesem Fall das versinnbildlichte Opfer!“

Peter ist verzweifelt, jedoch etwas erleichtert. Mit dem Erpresserschreiben steht Helga nicht mehr unter Mordverdacht, also kann er seine Frau am nächsten Tag aus der Anstalt holen.

Gemeinsam werden sie auf Pauls Rückkehr warten und hoffen. Zu Hause angekommen greift Peter zum Telefonhörer.

„Mama bist du es“, ruft er verzweifelt in die Hörmuschel.

„Was ihr wisst schon bescheid. Wie kannst du mir jetzt Vorwürfe machen, ich habe Angst um unseren Sohn und natürlich um Helga!“

Peter schüttelt mit dem Kopf, Tränen fließen aus seinen Augen.

„Mutter höre bitte zu, ich habe sonst niemanden, mit dem ich über meine Familienprobleme reden kann“, versucht er seine Mutter zu überzeugen.

„Ja ich weiß, dass Papa andere Probleme hat, hier geht es um seinen Enkel, kann er da wirklich nichts tun.“

Peter schnäuzt sich, dabei hellt sich sein Gesicht auf.

„Danke Mama, ich wusste, dass du mir helfen wirst. Ich glaube Papa tut das auch für mich und seinen Enkel. Natürlich halte ich euch auf dem Laufenden. Küsschen, grüß Papa!“

In der Sonderabteilung der Staatssicherheit arbeiten die Genossen auf Hochtouren, der Parteisekretär, Herbert Seifert wird zur Klärung eines Sachverhaltes in das Volkspolizeikreisamt gebeten.