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Das Biest Berlin. Eine Stadt, deren Puls schneller schlägt als unsere Herzen. Nächte, die länger sind als Tage. Und mittendrin: Mali, ein Mädchen aus der Kleinstadt, das keine Ahnung hat, was es vom Leben erwarten soll. Sie ist einsam in den beängstigenden Weiten Berlins. Orientierung verspricht Sara, die schillernde Königin der Nacht, bekannt wie ein bunter Hund und doch gefährlich. Die neu gewonnene Freundschaft zwischen den beiden jungen Frauen ist für Mali die Chance, endlich aus ihrem langweiligen Dasein auszubrechen und eine Welt kennenzulernen, die ihr bis dahin gänzlich fremd war. Eine Welt voller Farben, voller Leichtigkeit, voller Möglichkeiten. Auch ihre große Liebe Viktor lernt sie hier kennen. Zusammen mit Sara und Viktor erlebt Mali in den Clubs der Hauptstadt die besten Nächte ihres Lebens – und die schlimmsten Tage danach. Was Mali zunächst nicht wahrhaben will, wird schließlich zur dramatischen Gewissheit: Ohne Drogen ist dieser Feiermarathon nicht zu ertragen. Die Folgen für Körper und Seele wiegen schwer. Der Wunsch nach Vergessen und der Zwang, sich stets selbst zu überholen, die eigenen Grenzen zu überschreiten, wird übermächtig und unkontrollierbar. Mali flieht mehr und mehr aus der Realität in ihre eigene Welt, Sara stellt die Mittel bereit, die sie dafür benötigt. Der Strudel bewegt sich immer schneller, zieht Mali abwärts in eine Schwärze, aus der es bald kein Entkommen mehr geben wird. Jeder weitere Rausch, jede Ekstase, jeder Exzess ist lebensgefährlich. Die Nacht fordert ihren Tribut, gnadenlos und unnachgiebig. Freundschaft und Liebe zerbrechen. Viktor und Sara feiern weiter, während Mali versucht, wieder clean zu werden … Mit ihrem ersten Roman ENTZWEIT gewährt die Autorin Natalie Harapat Einblick in das Herz einer Generation, die die Stimulation ebenso sehr braucht wie die Luft zum Atmen.
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Seitenzahl: 329
Natalie Harapat
Für heute.
Für morgen.
Für immer.
Für ewig.
Mali blickte auf die Uhr. Die Uhr an der Wand. Der Wand in der Küche. Der Küche in ihrer Wohnung. Ihrer Wohnung in Berlin. Sie schaute auf die Uhr, deren Zeiger sich noch nie bewegt hatten. Seit sie damals angekommen war, in dem gelben Wagen der Deutschen Post. Sie hatte sie ausgepackt, voller Freude. Sie hatte an dem weißen Plastikstückchen gezogen, das die Batterie zum Laufen bringen sollte. Doch sie lief nicht. Es gab kein Ticken. Und auch eine neue Batterie konnte daran nichts ändern.
Mali hängte sie trotzdem in ihrer kleinen Küche auf, weil sie sie schön fand und es nicht übers Herz brachte, keine Zeit hatte, keinen Nerv hatte, um sie zu reklamieren. Sie war feuerwehrrot. Eigentlich gar keine Farbe, die Mali bevorzugte. Sie wollte noch nie auffallen, außer mit Intellekt, aber den kann man ja bekanntlich nicht sehen, nur hören. Also passierte es oft, dass sie unsichtbar blieb.
Es gab Tage, an denen genau das Mali unfassbar störte. Wenn die Menschen sich nicht mehr an ihren Namen erinnerten, sie verwechselten oder sie komplett vergessen hatten. Dann überlegte sie, ob sie sich genau deshalb immer an alle Menschen erinnerte und sich selbst Namen unfassbar gut merken konnte. Ob das ihre Strafe war. Immer zu wissen, wer vor ihr stand, und dabei selbst immer diejenige zu sein, die man vergessen hatte.
Das war sicherlich einer der Gründe gewesen, warum sie aus dem Kleinstädtchen raus musste, das sich ihre Heimat schimpfte. Es gab eigentlich keinen Menschen, den sie nicht kannte. Sie hatte jeden schon mal gesehen oder von ihm gehört oder war mit ihm zur Schule gegangen oder hatte ihn über Freunde oder in der Disco kennengelernt. Und so kam es, dass sie das Gefühl hatte, eine Unsichtbare zu sein. Unbekannt unter lauter Bekannten.
Aber das war nicht der einzige Grund. Es war dieses Gefühl in ihr, sie würde etwas verpassen. Seit Jahren träumte sie davon, einmal auf die Loveparade nach Berlin zu fahren, auch wenn Techno nicht gerade ihre Musikrichtung war. Oder zum Kölner Karneval, oder zum Oktoberfest in München. In der Welt war so viel los, doch sie war immer in dem Kleinstädtchen, schaute sich die Feste im Fernsehen an und war sauer, dass sie nicht dabei war. Dass sie war, wo sie immer war.
Je älter sie wurde, desto mehr Möglichkeiten gab es für Mali, das Kleinstädtchen hinter sich zu lassen. Doch diese Möglichkeiten waren alle an Geld gebunden und an Mut. Von beidem besaß Mali nicht gerade viel, und so blieb sie und versuchte, sich damit abzufinden, oder sie verschob es. Aber den Traum, dem allem zu entfliehen, gab sie nie auf.
Ne gute Line reicht und mir wachsen Flugel, bin hellwach, hellwach, hellwach
OK KID - Hellwach
1.
Seit Tagen hatte Mali nichts gegessen. An Schlaf war kaum zu denken. Sie lag, das spürte sie. Aber wo war sie? Wer redete da? Sie konnte nicht verstehen, was dort gesagt wurde. So nah und doch so weit weg, dass es ihr Bewusstsein nicht erreichen konnte. Als hätte ihr jemand große Kopfhörer aufgesetzt. Ihre Augen waren geschlossen, doch ihre Gedanken rasten. Dabei wollten auch die nur schlafen. Aber jeder kennt es: Wenn man den Schlaf am meisten sucht, dann kommt er nicht. Er will einen einfach nicht erlösen. Und je mehr man versucht, ihn endlich zu finden, desto verdeckter hält er sich.
Als kleines Mädchen hatte sie in solchen Momenten mit ihrer Decke gespielt. Sie hatte den weichen Stoff auf ihre Nagelbett gezogen, bis er den Übergang zum Finger berührte, und an dieser Stelle hatte sie den Stoff hin und her gerieben. Immer wieder. Dieses Gefühl, das ihr das Deckenspiel gab, vermochte sie so sehr zu beruhigen, dass sie dabei einschlief.
Sie wollte dem Deckenspiel auch jetzt eine Chance einräumen. Doch so sehr sie auch nach ihr fasste, hier war keine Decke. Das machte sie nervös. Sie war überreizt. Das lag daran, dass sie schon seit Tagen nicht schlafen konnte. Dazu kam das generelle Unwohlsein. Ihre Haut fühlte sich an jeder Stelle wund und kaputt an. Vielleicht war sie das auch? Sie konnte die Augen aufmachen und nachsehen. Sie konnte und konnte doch nicht. Ihr Körper war schwer und träge, und außerdem konnte sie ja noch nicht mal richtig hören, sonst hätte sie doch verstehen können, wer dort redete.
Die Stimmen waren wie der Ton deines Weckers, wenn du ihn in deinen Traum eingebaut hast. Er klingelt, doch du schläfst noch, und du merkst nicht direkt, dass es dein Wecker ist. Es dauert eine Ewigkeit, und du sitzt in deinem Traum fest und wünschst dir nichts sehnlicher, als dass jemand doch bitte, bitte diesen Ton ausstellt. Doch niemand macht deinen Wecker aus. Und niemand machte, dass diese Stimmen aufhörten zu sprechen. Warum sagte denen niemand, dass sie still sein sollten?
Sie öffnete ihre zur Faust geballte Hand und legte sie auf das, worauf sie lag. Kalt. Hart. Rau. Stein. In Malis Bewusstsein kroch die Erkenntnis, dass sie auf Asphalt lag. Gab es Wohnungen mit Asphalt? Hatte sie schon jemals eine Wohnung gesehen, in der der Boden wie Asphalt war? Bereits bei dem Gedanken an das Unvermeidbare spürte sie, wie der Asphalt sich gegen ihre Knochen stemmte. Plötzlich spürte sie den stechenden Schmerz. Alles tat ihr auf einmal weh. Alles in ihr tat weh. Ihre Lippen waren an verschiedenen Stellen aufgerissen und brannten. Ihr Rachen war trocken und irgendwie kaputt, sie konnte kaum schlucken, so gereizt war er. Sie musste gebrochen haben. Als der Gedanke ihre Sinne erreichte, spürte sie mit der anderen Hand die Kotze, in der sie lag. Der beißende Gestank wehte in ihre Nase, und ihr Magen gab den nächsten Schwall Erbrochenes frei. Doch das war egal, das war ihr alles egal. Das Bewusstsein über ihr Befinden war nicht in der Lage, sie endlich aufzuwecken.
Sie wollte doch nur schlafen. Sie suchte Erholung. Vielleicht sollte sie mal wieder wegfahren, vielleicht nach Hause. In Muttis Armen Suppe essen, wieder etwas an Gewicht zulegen und klarkommen. Vielleicht auch einfach nur weg von Berlin. Dann würde der Schlaf ganz sicher zurückkommen.
So verlor sie sich weiter in ihren Gedanken, ließ sie Karussell fahren, immer wieder die gleiche Runde auf dem gleichen Pferd in Dauerschleife. Träumte sich weg von dem Asphalt und fiel langsam in einen tieferen Schlafzustand, bis sie schließlich ganz eingeschlafen war. Sie wollte gar nichts wissen von der Realität, von dem harten, steinigen Weg, den ein Leben zu nehmen hat. Sie wollte gar nicht wissen, dass sie auf der Straße lag und es die Stimmen der Menschen waren, die gerade auf dem Weg zur Arbeit waren, die ihr den Schlaf hatten nehmen wollen.
*
Beat, kotzen, tanzen, trinken, trinken, trinken, ein Zug über den Klodeckel, Geschrei vom Nachbarklo, Tritt gegen die Toilettentür, Kopf unklar, muss unklar sein, muss unklar bleiben, noch ein Zug. Der Boden kommt mir bebend entgegen, die Wand drückt sich auf mich zu, aber alles Spaß. Weitwinkel, Fisheye, Weitwinkel, Fish-eye, im steten Übergang zueinander machen sie mir das Erkennen schwer. Ich stoße an Wände, Menschen, weiche Brüste, harte Ecken. Ich merke nichts mehr, mache einfach nur noch weiter. Das ist gut, das tut gut, ich fühle mich gut. Weiter.
Was ist real, was ist wahr, was die Wirklichkeit? Und was ist alles erträumt und gar nicht da? Ich hab mich im Kater verlaufen. Glaube ich. Die vielen Treppen, die vielen Wege, die im Nichts enden. Überall sind Menschen, aber nie dieselben. An jeder Ecke wartet jemand auf dich, doch mein verschwommener Blick kann hier weder etwas noch jemanden erkennen. Vielleicht bin ich schon gar nicht mehr im Kater, vielleicht sind wir schon woanders hingegangen. Ich weiß es nicht.
Auf einmal zieht mich jemand am Arm hinter sich her. Der Schmerz bringt mich zum Lachen. Der, der gezogen hat, lacht auch. Durch das Gewumme und Gebrumme der Räume und Wände glaube ich zu hören, dass es Viktor ist. Als ich mit einem letzten Ruck an einen Körper gezogen werde und eine Zunge quer über mein Gesicht leckt, bin ich mir sicher. Sein halb nackter Körper ist nass, als hätte er gerade eine Minute in einem Platzregen gestanden. Von seinen schwarzen Haarspitzen tropft es. Ich lecke über sein Gesicht, verschmiere mit meinen Händen Speichel und Schweiß. Er hebt mich mit einem Ruck hoch, verliert das Gleichgewicht, und wir fallen zusammen um. Ich spüre nichts. Alles Spaß.
Morgen werde ich es spüren. Oder übermorgen. Mal sehen.
Auf einmal sind wir zusammen irgendwo. In mir dreht sich alles so sehr, dass ich nicht mal mehr unterscheiden kann, was Oben und was Unten ist. Ich spüre nur eine heiße Atmosphäre, die mich umgibt und mir mit pulsartigen Wellen ins Gesicht weht. Der Beat pumpt in meiner Brust. Viktor schüttet mir Wasser über und dann sich. Doch was ist Wasser, was ist Schweiß? Was ist wahr, was Fantasie? Ist das hier alles noch zu unterscheiden? Und hat unterscheiden einen anderen Sinn, als etwas voneinander zu trennen, was eigentlich zusammengehört?
Augen zu, Augen auf. Sara kommt aus der Masse der Tanzenden auf mich zugesprungen und schreit irgendwas in mein Ohr. Unverständlich. Taktlos. Dann Gezerre Richtung Fläche, mit uns Viktor, und abgehen. Augen zu, Augen auf, Viktor ist weg, Augen zu, Augen auf, Viktor ist wieder da und reicht Wasser. Sara redet und redet, ich verstehe einfach gar nichts, ich sehe nur ihr schönes Gesicht, ihre schönen vollen Lippen, ihr verschwitztes Antlitz, das eingerahmt ist von ihren aschblonden Haaren. Diese kühle Schönheit im Strudel meines drogenverstörten Hirns. Dann versucht sie, mir eine Sonnenbrille aufzusetzen, und ich weiß, was sie meint, ohne sie akustisch verstanden zu haben: Ich hab Gesichtsfasching und Tellerpupillen.
Koks wird in weißem Papier aufbewahrt. So quadratisches, wie man als Notizzettel nutzt. Sieht harmlos aus, richtig harmlos. Da denkt man an einen Einkaufszettel statt an einen Rausch. Man faltet das Papier von einer Ecke zur diagonal gegenüberliegenden Ecke, streut das weiße Pulver hinein und faltet das Ganze zu einer Art Minibrief. Und diesen Minibrief steckt man sich dann in die Hosentasche oder in sein Portemonnaie und läuft damit rum. Wichtiges Utensil ist auch heute immer noch der Spiegel. Das scheint immer noch dazuzugehören. Genauso obligatorisch ist die Kreditkarte. Sie zerdrückt und zerhackt das Koks, das man auf den Spiegel gekippt hat, und schiebt das feine Pulver dann zu Linien zusammen. Alle am besten gleich lang, alle am besten gleich dick. Damit keiner zu kurz kommt, wäre ja schade drum. Es gibt sicher auch genug, die sich darum streiten.
Viktor hat das Zeug angeschleppt. Er kam in unsere Wohnung, wo Sara und ich bereits am Küchentisch saßen und kifften. Das Zeug hatte mich schon so weggeknallt, dass ich Viktor küsste und damit nicht aufhören wollte. Am liebsten hätte ich ihn direkt in mein Zimmer gezerrt. Dann hätte er mich ausgezogen, ich hätte meine Augen zugemacht und es zugelassen, wie er sich erst an mich und dann in mich drückte.
Doch stattdessen haben wir uns um den Tisch versammelt und er hat das weiße Pulver daraufgekippt. Sara hat direkt angefangen, an ihren Fingernägeln zu kauen, so heiß war sie aufs In-die-Nase-Ziehen gewesen. Mich befielen stattdessen rote Stressflecken am Hals, und Viktor zog mich auf seinen Schoß, um jeden einzelnen Fleck mit seinem Zeigefinger zu berühren. Dann steckte er seinen Kopf in meine Haare und roch daran.
Währenddessen hackte Sara bereits auf das Zeug ein, als sei es Hackfleisch in einem großen Bolognese-Topf, das ganz klein gestoßen werden muss. Ich schüttete uns Wodka-Mische in die Gläser. Da hatte Sara sich schon über den Tisch gebückt und wieder aufgerichtet. Es ist immer wieder hart zu sehen, wenn jemand, den man kennt, sich was Chemisches einverleibt. Immer wieder hat man verquere Filmszenen im Kopf von Spun oder Berlin Calling. Dann schaute mich Viktor auffordernd an, und ich machte es Sara nach. Du ziehst das Pulver in deine Nase und merkst es nicht mal. Die Filme lügen, die Menschen zeigen, die sich lautstark das Zeug reinziehen. Es ist lautlos: Wenn die Line danach nicht weg wäre – du hättest nichts gemerkt. Erst mal zumindest. Es kitzelt dann in der Nase und brennt, aber nur minimal. Ich sitze da und spüre in mich hinein. Passiert da gerade was oder passiert da nichts? Und dann wird meine Nase taub und das Atmen fühlt sich komisch an, und irgendwie habe ich ’ne Zahnarzt-Assoziation. Und da läuft mir das Koks den Hals herunter und es schmeckt widerlich, es schmeckt bitter. Ich trinke, um den Geschmack loszuwerden, aber das macht es schlimmer. Ich muss einen Würgereiz unterdrücken. Nach einer Weile stellt sich ein warmes, waches Gefühl ein, die Stimmung zieht sich zu einem Hoch hinauf und bleibt dort einfach mal stehen und stehen und stehen.
Viktor zieht den Rest. Er liebt das Zeug.
Auf die Straße, Friedrichshain, Haltestelle Weberwiese. Der warme Dunst weht mir ins Gesicht, das Neonlicht verscheucht die Dunkelheit, die ockerfarbenen Wände sind fast schön in diesen Minuten. Auf den Fliesen klackern Absätze, gackern aufgestylte Tussen, die sicher zum Soda fahren, um jemanden zu suchen, der sie fickt und Sekt in rauen Mengen spendiert.
Als ich das denke, muss ich Viktor direkt küssen. Berlin ist nicht romantisch. Wir schon.
Die U5 fährt vor, wie eine gelbe Riesenlimousine, guten Tag, Herr Fahrer, bitte einmal zum Alex. Wir springen von der U5 in die U8 und fallen an der Jannowitzbrücke wieder raus. Zu Fuß wären wir wahrscheinlich schneller da gewesen, aber das macht ja nichts. Es hat ja keiner eilig, oder? Es stoßen noch keine Freunde zu uns, weil wir am besten alle reinkommen wollen. Keine Absprache, außer: Wir sehen uns drinnen. Auf der Michaelbrücke, unter mir die fließende Spree, spüre ich in meiner Jeans das Koks-Briefchen, das Viktor Sara und mir jeweils zugesteckt hat. Wir werden heute sehr viel Spaß haben.
So wie Viktor mir mit seinem anorektischen Aussehen ins Berghain verhilft, verhelfe ich ihm ins Kater. Die Lesbe liebt Sara und mich, sodass sie Viktor nur milde belächelt, während sie uns gierig abtastet. Es fühlt sich an, als würde ich ihn hintergehen, deshalb denke ich im Gegenzug an Viktors harten Penis und daran, was wir heute noch machen werden, aber dann sind wir schon auf dem Zaubergelände, und herumhüpfende Mädchen und heftige Bässe nehmen uns auf. Erst mal nachlegen. Weiß. Pulver. Zug. Weg. Sara lacht hysterisch und streckt ihre weißen Nasenlöcher in die Luft. Doch das reicht nicht, das reicht irgendwie alles nicht, da muss noch mehr geschehen, noch mehr aus den Reihen fallen, noch mehr Kreise ziehen, noch mehr Unklarheit herrschen. Also ziehen wir noch mal und trinken dann Mexikaner an der Bar. Viktor ist verloren gegangen, aber das ist normal, das ist der Sinn, wir wollen heute alle verloren gehen an diesem Ort und arbeiten ja auch schon kräftig darauf hin.
Irgendwann hat die Mexikaner-Koks-Mische mich so weggehauen, dass ich in diesen komischen Zustand geraten bin, in dem ich immer noch stecke. Es ist eine Mischung aus Wachsein und Schlafen. Ich versuche mich also auf den Beinen zu halten, aber das gelingt nicht, ich falle ständig gegen irgendwas und irgendwen. Ich muss jetzt erst mal schlafen, kurz schlafen, denke ich, und mache mich auf die Suche nach einem Ort, wo ich das tun kann.
Das war’s. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin, keine Ahnung, warum ich mich einfach auf den Boden gelegt habe, und hey, keine Ahnung was währenddessen mit Sara und Viktor passiert ist.
Irgendwann hat jemand an mir gerüttelt. Ein älterer Mann, Türke schätzte ich. Er hatte grau meliertes Haar und einen Schnauzer und ganz dunkelbraune Augen, die mich angesehen haben. Nur langsam realisierte ich, wo ich war und was dieser Mann von mir wollte: Ich sollte aufwachen. Der Moment, in dem die Realität so bitter und hart auf mich drauffiel, zog einen Gefühlsschlund mit sich, der aus Angst, Ekel, Scham, Wut und unsagbaren Schmerzen bestand. Der Mann versuchte, mir aufzuhelfen, aber mir wurde direkt schlecht, und ich kotzte ihm vor die Füße. Nur mit Mühe konnte ich ihn davon abhalten, einen Krankenwagen zu rufen. Stattdessen diktierte ich ihm die Nummer von Viktor und ließ mir ein Taschentusch geben, aber das brachte auch nichts mehr. Ich hatte mich komplett vollgekotzt, inklusive meiner Schuhe. Verblüfft dachte ich darüber nach, dass dieser Mann mich wirklich angefasst hatte und ob es vielleicht an meinem Rücken eine Stelle gab, die unverschont geblieben war.
*
Viktor hatte sich direkt, mit einem großen Müllsack und ein paar Klamotten bewaffnet, auf den Weg gemacht, um Mali aufzusammeln. Das war nicht das erste Mal. Er war darauf vorbereitet gewesen. Er hatte kein Auge zugemacht und stattdessen sein Handy von der einen in die andere Hand genommen.
Während der drei Monate, die er und Mali nun zusammen waren, hatten sie schon viele Diskussionen darüber geführt. Beim ersten Mal hatte er sie noch gesucht, aber irgendwann hatte er es aufgegeben und sich damit abgefunden, sie wollte es anscheinend so. Vielleicht wollte sie nicht irgendwo aufwachen und sich fragen, wie sie dahin gekommen war, aber sie wollte entgleisen, so sehr, dass sie darin nicht zu bremsen war. Sie wollte übertreiben und bekam den Hals einfach nicht voll. Oft hatte eine gute Seele sie mit zu sich nach Hause genommen und sie dort auf den Boden gelegt, doch dieses Mal, es war eine milde Aprilnacht gewesen, hatte sie niemand aufgesammelt.
Viktor ersparte sich und Mali seine Predigt über die Gefahren der Berliner Nächte, die Gefahren von Überdosierungen oder Mischkonsum. Mali würde nur heulen und es beim nächsten Mal trotzdem wieder machen.
Dabei hatte er wirklich alles versucht, um Mali, aber natürlich auch sich selbst, vor weiteren solchen Aktionen zu bewahren. Er hatte ihr Links zu Polizeiberichten von getöteten und vergewaltigten Frauen geschickt, er hatte versucht, sie die ganze Nacht im Auge zu behalten, er hatte ihr die Drogen weggenommen, er hatte sie schwören lassen, dass sie es nie wieder macht – es hatte alles nichts gebracht.
Er hatte sogar mal darüber nachgedacht, sie mit einem Peilsender auszustatten, damit er sie zumindest, wenn sie irgendwo aufwachte, schneller finden konnte. Aber genauso wie ein Handy würde sie auch den Peilsender verlieren, so wie sie schon alles Mögliche verloren hatte, wenn sie erst mal ihr Level erreicht hatte: Geld, Schmuck, Schlüssel, einmal hatte er sie sogar ohne Schuhe aufgefunden. Zugegeben, irgendwann lachte man über all diese Geschichten, aber zu den Zeitpunkten, in denen sie geschahen, war ihm nie nach Lachen zumute gewesen.
Genauso wie ihm dieses Mal eher fast die Tränen kamen, als er Malis jämmerliche Gestalt in der Nähe der Jannowitzbrücke aufsammelte und ihr erst mal aus ihren vollgekotzten Sachen half. Es reichte schon, dass er nichts sagte, damit sie weinte. Doch sie weinte ganz leise und stumm vor sich hin, während er jedes Kleidungsstück, das sie von ihrem Körper gezogen hatte, in die Mülltüte stopfte und ihr im Gegenzug frische Sachen aus seinem Rucksack reichte. Mit Mineralwasser wusch sie sich Haare, Gesicht und Hände ab, und unter dem ganzen Dreck der Nacht hatte sich tatsächlich das Mädchen versteckt gehalten, das er so sehr liebte wie keinen anderen Menschen.
Schließlich gab er ihr eine Sonnenbrille, nahm ihre Hand und brachte sie zur WG. Dort lag Sara in ihrem üblichen Diaz-Schlaf und bekam wie immer nichts von der Heimkehr Malis mit. Viktor stellte Mali unter die Dusche, die sich kaum auf ihren dünnen Beinen halten konnte und sich an der Duschkabine festklammern musste, während Viktor sie einseifte und ihr die Haare wusch. Schlussendlich gab er seinem Drang nach, entkleidete sich und stellte sich zu ihr unter das warme Wasser, hielt das weinende Etwas in seinen Armen und ließ für eine Weile die Zeit außer Acht sowie seinen Gefühlen freien Lauf. Die ganze aufgestaute Angst entwich nun, nachdem sein Adrenalinspiegel wieder gesunken war.
Als seine Hände bereits hässlich aufgequollen waren, stellte er das Wasser ab und half ihr aus der Wanne, legte ein Handtuch um ihre Schultern und trocknete sie ab. Er föhnte ihre Haare ein wenig und brachte sie in ihr Bett. Dann erst trocknete er sich ab. Dabei überfiel ihn plötzlich eine jähe Müdigkeit, wie eine unvorhersehbare Welle. Der ganze Stress der letzten Stunden schien der Zerschlagenheit seines eigenen Körpers nur bis zu diesem Moment eine Gnadenfrist eingeräumt zu haben. Nachdem er Mali sicher im Arm hatte, fielen ihm schon die Augen zu. Er hörte noch, wie sie sich entschuldigen wollte, doch er legte ihr nur seinen Zeigefinger auf den Mund und brachte sie damit zum Schweigen.
*
Irgendwann klopfte es an der Tür, was den Schlaf der beiden erst störte und dann beendete. Da stand Sara schon in Malis Zimmer und rüttelte und schüttelte und diktierte das sofortige Aufwachen.
»Mali, ey, Alta, du musst aufstehen!«
»Boa, Sara, wir gehen nicht ins Berghain mit dir.«
»Was laberst du? NEEE!!! Mali, wach auf! Du musst zur Arbeit!«
»WAAAAAASSSS?«
So schnell war Mali noch nie in ihrem Leben wach gewesen. Sie richtete sich kerzengerade im Bett auf und schaute auf ihren Wecker. Zehn Uhr.
»Zehn Uhr????????«
»Jaaaaa!!!!«
»AHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHH!!!!!!«
Schon stand Mali nackt auf ihrer Matratze, sprang über Viktor hinweg aus dem Bett, kramte in ihrer Kommode und zog, so schnell sie konnte, das Erste, was sie zu fassen bekam, über. In ihrem Kopf pochte der Tumor mit Namen Probezeit im unregelmäßigen Takt mit ihrem Herzschlag, denn ihr Herz war sicher schon längst stehen geblieben.
»Kann ich so gehen?«
»Ey Tante, willst du mich verarschen? Geh einfach!«
Im Sprint fasste sie noch nach ihrer Tasche und dem Schlüsselbund, um kurz danach die Haustür hinter sich zuzuschlagen.
Bahnfahren oder Fahrrad?
Was war jetzt schneller?
Oder sollte sie einfach weiterrennen?
Und wo musste sie eigentlich hin?
War heute ein Dreh, oder musste sie in der Produktionsfirma Papierkram machen?
Als Allererstes musste sie auf jeden Fall Bescheid sagen, dass sie zu spät war.
So kramte sie im Rennen in ihrer Tasche rum und fand natürlich ihr Handy nicht sofort und auch nicht später, weshalb sie doch anhalten musste zum Weitersuchen. Da fing das iPhone schon an zu klingeln und erleichterte ihr zwar die Suche, machte sie aber auch direkt panisch, weil sie sich vor dem Anruf ihres Chefs, Dr. Keiner, fürchtete.
Als sie jedoch auf das Display blickte, war es Viktor.
»Hallo?«
»Auch hallo, sag mal, wo bist du denn schon?«
»Jetzt wirklich? Ich weiß noch nicht mal, wo ich genau hin muss, und wollte eigentlich gerade schnell Bescheid sagen, dass ich zu spät bin, und dir fällt nichts Besseres ein, als mich zu fragen, wo ich schon bin???«
»Mali, schau dich mal um, sieht so der Montags-Verkehr aus?«
Durch die Hörmuschel vernahm Mali im Hintergrund Sara, die anscheinend so sehr lachte, dass sie, der Geräuschkulisse nach, daran zu ersticken drohte.
»Sag, dass das nicht wahr ist, bitte sag mir einfach, dass das nicht wahr ist!«
»Es ist Sonntag, Mali. Sara sagt, du sollst Brötchen mitbringen.«
Als Mali die Wohnung betrat, war Sara immer noch am Lachen, so sehr, dass sie nicht nur keine Luft bekam, sondern sogar weinen musste. Da konnte Mali sich nicht mehr halten und musste Sara ein bisschen mit dem Küchentuch hauen, aber vor allem mitlachen. Nachdem Sara sich halbwegs beruhigt und die Lachtränen aus dem Gesicht gewischt hatte, ging sie zum Kühlschrank, nahm das Glas Honig raus und donnerte es auf den Küchentisch.
»Wo wir jetzt alle wach sind, können wir auch ins Berghain gehen.«
2.
Ich weiß auch nicht, warum ich immer wieder sonntags mit Sara und Viktor zum Berghain gehe. Es gab viele Tage, an denen ich nicht reingekommen bin, und egal wie wenig Bock ich hatte, wenn ich nicht reingekommen bin, fühlte ich mich dadurch auch nicht besser. Es gibt viele Gerüchte darüber, was an der Berghain-Tür zum Reinkommen führt, und nach all dem Gerede habe ich eine eigene Hotlist erstellt. Du kommst am besten rein, wenn du:
mit einem schwulen Model da bist,
mit einem Schwulen da bist,
mit einem Model da bist.
Meine eigene These untermauernd, kam ich mit Sara kein einziges Mal rein. Erst als Viktor meine Hand haltend vor die Türsteher trat, öffnete sich die Tür für mich. Obwohl Viktor weder schwul noch Model ist. Das wundert mich überhaupt nicht, seinem Aussehen nach könnte er beides sein. Wer weiß, was er schon alles im Berghain getrieben hat. Drogen lassen einen ja jeden lieben, vor allem denjenigen, von dem man sie bekommen hat.
Wenn man reinkommt, bekommt man einen riesigen Stempel entweder auf die Hand oder den Unterarm gedrückt. Außerdem wird man nach Geräten, die in der Lage sind, Fotos zu machen, untersucht – die sind nämlich verboten. Es wird ein Riesengeheimnis um das Ganze gemacht. Über eine Stahltreppe gelangt man zur Tanzfläche, deren Decke ungefähr 20 Meter hoch ist. Das ist sehr beeindruckend. Ein Stockwerk höher dann die Panorama Bar mit der Südseiten-Fensterwand, sehr viel tiefer die sagenumwobenen Darkrooms. Das industrielle Flair, das von der vorherigen Nutzung übrig geblieben ist, ist der perfekte Hintergrund für Werke von Künstlern wie Piotr Nathan oder Joseph Marr. Aber erst die unendlich vielen Menschen, die hier machen, was sie woanders nie machen würden, komplettieren den Berghain’schen Mythos. Sex, Drugs and Techno.
Die Berliner Clubs sind im Allgemeinen nicht dafür bekannt, dass dort alles züchtig und geordnet vonstattengeht. Doch das Berghain ist noch mal eine Spur härter als alles, was man je gesehen oder mitgemacht hat. Und das macht bei mir das Fass nicht voll, sondern bringt es zum Überlaufen. Ich kann mich dort nicht wohlfühlen, es sei denn, ich bin durch irgendwas völlig enthemmt. Trotz der Entwicklung, die ich hier in Berlin gemacht habe, ist mir diese ätzende, verstockte und neurotische Art geblieben, die ich so an mir hasse und die sich nur mit vollkommenem Wegknallen meines Bewusstseins bekämpfen lässt.
So geht es mir zwar auch in anderen Clubs ab und zu, aber im Berghain habe ich so was wie eine Garantie darauf. Deshalb hat sich Viktor mal geweigert, mit uns hinzugehen, was mein eigenes Hingehen unnötig gemacht hat. Nachdem ich ihn eine Stunde vollgequatscht hatte, hat er eingelenkt und ist doch mit mir los. Mit dem Resultat, dass er mich erst verloren, dann nach Stunden orientierungslos in einer Ecke wiedergefunden hat und mich nach Hause schleppen musste.
Im Gegensatz zu Sara, die von meinen Eskapaden recht unbeeindruckt ist, weiß ich, dass Viktor mein Verhalten zusetzt. Und wirklich, ich würde es gerne ändern, aber jedes Mal, wenn ich auch nur das Gefühl habe, dass mich jemand anschaut oder mir ansieht, dass ich was genommen habe, ist das dermaßen unangenehm für mich, dass ich mir mehr reinschmeißen muss. Das Beste ist einfach, wenn ich so weg bin, dass ich nur das Hoch in meinen Zellen spüre, aber sonst gar nichts mehr. Das hat leider die Nebenwirkung, dass ich nicht nach Hause finde, sowieso gar nichts und niemanden mehr finde. Aber das ist gar nicht schlimm, das ist, warum die Leute ins Berghain kommen, sie wollen sich hier verlieren. Es geht nicht darum, an diesem Ort zusammenzubleiben und aneinanderzukleben wie die Kletten. Es geht darum, seinen eigenen kleinen Berghain-Film zu schieben, den zu konservieren und mit nach Hause zu nehmen, wo man ihn immer und immer wieder ablaufen lassen kann.
Auch ich habe diese Filmsammlung, auch wenn ich nicht genau sagen kann, ob das, was ich da aufgezeichnet habe, wirklich passiert ist oder nicht. Einmal hatte ich das Gefühl, dass Sky du Mont neben mir stand. Er ließ seine Sonnenbrille auf die Koks-Nasenspitze rutschen und zwinkerte mir über die Gläser hinweg zu. Dann könnte ich schwören, dass ich einmal einen Hund dabei beobachtet hab, wie er gegen ein knutschendes und ineinander verwobenes Pärchen gepinkelt hat. Und ein wunderschönes Mal regnete es Sternschnuppen von der 20-Meter-Decke auf uns Tanzende herunter – ganz bestimmt.
Nicht zu verachten ist zudem, dass man immer wieder, wenn man dort ist, sehr interessante Menschen kennenlernt. Sie kommen aus allen möglichen Ländern in diesen Laden gefallen (zumindest behaupten sie das), deshalb sieht man die meisten nie wieder. Dann gibt es die, die einen beim nächsten Mal euphorisch ansprechen, aber man selbst erkennt sie nicht und natürlich die, die du euphorisch ansprichst, die sich aber an dich nicht mehr erinnern. Das bleibt nicht aus bei dem ganzen Drogenquatsch, das schlägt einem einfach aufs Gedächtnis.
Aber auch wenn wir heute alle schon wach sind und der Gang fast schon Routine ist – ich will heute nicht mitgehen. Ich möchte heute meinen schönen Freund im Arm halten, möchte, dass er mich im Arm hält, als seien wir beide ein ganz langweiliges, normales Paar, und dann möchte ich an seiner nackten Brust ganz behutsam einschlafen, wieder aufwachen, ihn riechen, ihn anfassen, ihn unendlich lieben und dann wieder einschlafen. Und das den ganzen lieben langen Tag. Sara soll allein den pinkelnden Hund in diesem Zirkus suchen.
*
Ob Sara eifersüchtig auf Viktor war? Das war eine ziemlich berechtigte Frage, denn jedem, der Sara kannte, war klar, dass sie Pärchen verachtete. Am schrecklichsten waren diejenigen, die ohne ihre neue bessere Hälfte nichts mehr unternehmen konnten, die sich ständig gegenseitig überall mit hinschleppen mussten. Das konnte nur noch durch einen richtig ätzenden Partner getoppt werden. Doch meistens war die Geschichte mit der Liebe sehr einfach: Paare, die sich gefunden hatten, verschwanden von der Bildfläche, wurden durch andere Menschen ersetzt und nach ein paar Monaten Friede-Freude-Eierkuchen kamen sie vom Beziehungsvirus genesen zurück.
Sara selbst war notorischer Single. Jeder in einer Beziehung steckende Mensch nannte ihr Verhalten »beziehungsunfähig«. Sie selbst nannte es »singlefähig«. Damit eröffnete sie eine neue Sichtweise, denn das Wort »Single« hatte schon immer einen frustrierten Unterton gehabt. Es war wie eine Warze, ein Makel, etwas, was man schnellstens beseitigen musste, was man auf gar keinen Fall so lassen konnte.
Aus der Steinzeit hatte sich der Drang nach Zweisamkeit in die Neuzeit gerettet. Und all denjenigen, die ihren Deckel einfach nicht fanden, war das Mitleid aller glücklichen Zweisamen garantiert.
Nach Saras Meinung war der ganze Quatsch aber total veraltet.
»Der Mensch ist nicht für die Fickerei mit einem einzigen Menschen gemacht, und die lila Latzhosen-Fraktion hat uns Bitches endlich annähernd genug Rechte erkämpft, damit wir selbst für uns sorgen können.«
Sie konnte sich nicht Besseres vorstellen, als allein zu sein, am Wochenende in Clubs rumzuknutschen oder Sex zu haben, um danach wieder in ihrem Zimmer zu sitzen und sich mit sich und ihren ganz eigenen Zielen und Projekten zu beschäftigen.
Dabei hatte Sara unzählbar viele Verehrer. Wirklich viele, die in ihr die Liebe ihres Lebens sahen. Sie bekam Einladungen zu den tollsten Events und Restaurants, aber es gab nur eine Kombi, mit der man Sara locken konnte: Koks und VIP-Plätze. Das musste man als Verehrer auch erst mal herausfinden, aber das schafften wenige. Bis dahin hatten sie schon längst aufgegeben und ihre romantischen Avancen einer anderen zukommen lassen, die es eher zu schätzen wusste.
Die einzige halbwegs gefestigte Beziehung, auf die sich Sara eingelassen hatte, war die zu Mali. In Mali hatte Sara damals ein Projekt gesehen, an dem sie sich abarbeiten konnte, und direkt nach ihrer ersten Begegnung damit begonnen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Mali Viktor traf, war Sara mit ihren Ergebnissen sehr zufrieden gewesen und war anfangs auch erzürnt darüber, dass Mali Viktor wirklich gefunden hatte. Doch sie musste schnell feststellen, dass er nur ein Rädchen war, das sie zur Manipulation Malis gut gebrauchen konnte. Viktor machte seinen Job ziemlich gut. Vor allem in Situationen, in denen sie selbst keinen Nerv für Mali hatte, kam er ihr sehr gelegen.
Zudem liebte er Koks genauso wie Sara, brachte immer genug mit und schüttelte ab und zu auch die ein oder andere VIP-Reservierung aus dem Ärmel. Er war eben ein Berliner Junge, so wie Sara ein Berliner Mädchen war. Blieb nur noch zu klären, wie es dazu kommen konnte, dass er sich ausgerechnet in Mali statt in Sara verliebt hatte. Ganz einfach: Plus und Plus stößt sich eben ab. Sie waren sich für Liebe zueinander viel zu ähnlich.
Dafür konnten sie beide sehr viel eigenwillige Liebe für Mali aufbringen, die war nämlich ein waschechtes Minus: ängstlich, ahnungslos, dünnhäutig, anfällig, loyal, treu, redselig, neurotisch und für jede ihr gereichte Hand blind dankbar.
Um die Frage also zu beantworten: Nein, Sara war nicht eifersüchtig auf Viktor. Sie sah in ihm eher ihren unwissenden Verbündeten.
Schwieriger verhielt es sich da mit Malis Mutter. Schon ihr ganzes Leben über hatte Sara eine Aversion gegen Eltern. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Sara verkörperte alles, was aus Elternsicht »schlechten Umgang« ausmacht: Sie war eigenwillig, frühreif, reich und gewohnt, sich durchzusetzen, ausschweifend, was Sex betraf, überhaupt grenzenlos.
Sara war wahrlich kein einfaches Kind für ihre Eltern gewesen. Doch die waren sowieso viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich wirklich mit ihr auseinanderzusetzen, was Sara umso mehr Antrieb bei der Verfolgung ihrer einmal eingeschlagenen Laufbahn verlieh. Sara war schon immer die falsche Freundin für jeden gewesen. Eltern versuchten, ihre Kinder von ihr fernzuhalten, aber das gelang nur mäßig. Denn natürlich hat das Verbotene eine viel stärkere Anziehungskraft als das Erlaubte.
Inzwischen war Sara dazu übergegangen, bei dem ganzen Elternkennengelerne nicht mehr mitzumachen. Aber Malis Mutter war sehr hartnäckig. Immer wieder wollte sie, dass Mali Sara zu Besuch mitbrachte, oder wollte von Mali die Genehmigung erzwingen, selbst mal vorbeizuschauen. Gut, dass Mali wenigstens die Besuche ihrer Mutter abwehrte. Was die Besuche bei ihrer Mutter betraf, war sie weniger durchsetzungsfähig. Also versuchte Sara, ihr mit dem Hinweis Angst zu machen, dass ihre Mutter direkt sehen würde, was sie sich ständig reinpfiff. Mütter hätten dafür einen ganz besonderen Blick. Das leuchtete Mali ein und sie unterließ daraufhin auch das Skypen.
Malis Mutter beruhigte dieses Verhalten natürlich keineswegs. Sie machte sich mehr und mehr Sorgen um ihre Tochter. Aber je mehr sie nach ihr zu fassen versuchte, desto weiter entfernte sie sich, wurde immer unzugänglicher für sie. Sie beruhigte sich stets damit, dass Mali auf der Suche nach sich selbst sei und dafür auch einen gewissen Freiraum benötigte. Sie hoffte damit auch darauf, dass dieser Zustand bald überwunden war und ihre Tochter wieder näher an sie heranrücken würde. Doch in naher Zukunft hatte sie nicht damit zu rechnen.
3.
Das Telefon klingelt. Es klingelt wieder seinen dummen, sich ständig wiederholenden Ton. Die Melodie von Just Can’t GetEnough. Seit der Depeche-Mode-Song die Hintergrundmusik von einer grungigen H&M-Kampagne gewesen ist, haben Christina und ich diesen Klingelton füreinander. Am Anfang fanden wir ihn so dumm, dass wir ihn schon wieder lustig fanden, dann fanden wir ihn retro, und irgendwann machten wir uns keine Gedanken mehr darüber. Es war einfach unser Song. Der zog von Handy zu Handy mit um, war beständig in seinem Kultstatus, war unendlich in seiner Melodie.
Und so hatte er selbst dann immer noch Bestand, als Christina und ich nicht mehr befreundet waren. Dabei hatte ich ihn eine ganze Weile schon nicht mehr gehört. Es verging sicherlich ein halbes Jahr, nachdem ich unser Telefonat damals mit einem zornigen Auflegen beendet hatte, bis ich diesen Klingelton wieder hörte. Es war, wie wenn man das erste Mal eine Sirene hört. Der Magen wird flau, der Schweiß tritt aus den Poren und der Mund wird trocken. Man weiß einfach direkt, das heißt nichts Gutes. Dabei hieß es früher mal was Gutes, wenn Christina angerufen hat. Meine Gefühle wussten also nicht wohin mit sich. Erst griff ich aus eingerosteter Routine nach dem Handy, dann ließ ich es erschrocken fallen, um es dann von einiger Entfernung unverwandt anzustarren.
Doch ich bin nicht rangegangen. Genauso wie die tausend weiteren Male danach nicht. Immer wieder, wenn die Melodie ertönt, rutscht mir das Herz in die Hose und die Röte ins Gesicht. Die Gefühle, die ich mittlerweile zu Christina habe, kann ich nicht in Worte fassen. Sie sind wirklich diffus und einfach nicht auseinanderzuhalten. Und ich glaube, das ist auch der Grund dafür, warum mir, nachdem sie angerufen hat, immer schlecht ist: Mein Körper ist einfach überfordert damit.
Nachdem sie das erste Mal angerufen hatte, hat es bis zum zweiten Mal eine ganze Weile, ich glaube eine Woche, gedauert. In der Woche habe ich jeden Tag daran gedacht, dass sie angerufen hatte, und mich erst gefragt warum. Aber als ein paar Tage verstrichen waren, war ich mir sicher, dass es aus Versehen passiert war. Vielleicht wollte sie eigentlich Maja anrufen, die in ihrem Kontaktspeicher über mir steht. Als ich darüber nachdachte, war ich plötzlich eifersüchtig auf Maja. Warum rief Christina sie an statt mich? Damit konnte ich fast noch weniger umgehen als damit, dass Christina mich hatte erreichen wollen.
Aber dann rief sie wieder an und zerschlug damit meine Eifersuchtstiraden. Und im ersten Moment war ich sogar froh über ihren Anruf, auch wenn ich wieder nicht dranging. Es gab mir ein gutes Gefühl, erst mal zumindest. Doch dann rief sie wieder und wieder und wieder an. Immer immer immer immer immer wieder. Erst rief sie ein Mal jede Woche an, dann alle drei Tage, dann alle zwei Tage, und nachdem sie jeden Tag angerufen hatte, steigerte sie sich auf ihr derzeitiges Pensum: drei Mal am Tag.
Jeder in meiner Umgebung ist davon genervt. Als sie nur ein Mal die Woche angerufen hat, ich sage schon NUR, ist das zu fassen? Na ja, als sie nur ein Mal die Woche angerufen hat, konnte ich das noch sehr gut für mich behalten. Es war wie ein kleines, unangenehmes, aber nicht weiter auffälliges Geheimnis, das mich an einem Tag störte, am anderen tröstete und am dritten nervte. Doch es war durchaus auszuhalten. Aber spätestens als sie dazu übergegangen war, täglich anzurufen, war es mit meinem kleinen Geheimnis vorbei: Alle wussten es. Einfach jeder, den ich in der Zwischenzeit gesehen habe, hat es mitbekommen, dass meine ehemalige Freundin mich telefonisch stalkt.
Das wäre alles halb so schlimm, wenn aus dem ständigen Geklingel, mit der Melodie, die sich wiederholt und wiederholt und wiederholt, nicht auch ein endloses Gespräch geworden wäre, das sich ständig selbst mit neuen Fragen füllte.
»Wer ruft dich da an?«
»Warum ruft die dich an?«
»Warum ruft die dich schon wieder an?«
»Warum gehst du nicht dran?«
»Warum machst du das Handy nicht lautlos?«
»Warum zeigst du sie nicht bei der Polizei an?«
»Warum änderst du deine Handynummer nicht?«
Und dann rief zu allem Überfluss auch noch meine Mutter bei mir an. Sie war total heimtückisch, so, als sei gar nichts. Es hörte sich an wie ein ganz normales Telefonat zwischen ihr und mir. Sie fragte nach meinem Befinden (»gut«), nach der Arbeit (»gut«), sie fragte nach Viktor (»gut«). Und erst, als sie ihren ganzen Mutti-Fragekatalog abgefragt hatte, und ich mich schon darauf eingestellt hatte, dass sie gleich auflegen würde, steckte sie mir das Messer in den Rücken:
»Christina sagt, sie versuche, dich seit Wochen zu erreichen.«
Da war die Petze doch echt zu meiner Mutter gelaufen und hatte sich bei ihr über mich beschwert. Noch ein Grund mehr, nicht dranzugehen. Aber natürlich fragte mich nach diesem ersten Gespräch auch meine Mutter ständig, warum ich nicht dranging.
Und Viktor? Der war auch keine große Hilfe beim Verdrängen der Anrufe. Er hat für jemanden, der dem allgemeinen Dummgelaber nach stark und hart sein muss, weil er der Spezies Mann angehört, ein sehr sehr weiches Herz. Es pocht unentwegt Liebe durch seinen Körper (was auch viel an den Drogen liegt), und dieser Fluss darf nicht gestört werden. Von nichts. Er hasst Streit, der ihn betrifft, aber auch den, der ihn gar nichts angeht. Wenn es nach ihm ginge, müsste sich die ganze Welt in den Armen liegen. Tut sie aber nicht. Erst recht nicht die Welt, in der Christina mich mit ihren Anrufen terrorisiert. Das sieht Viktor aber ganz anders:
Es tut ihr sicher leid.
Sie möchte sich bei dir entschuldigen.
Sie braucht dich.
Du schlägst ihr ins Gesicht, jedes Mal, wenn du nicht drangehst.