Erbe und Schicksal - Jeffrey Archer - E-Book
SONDERANGEBOT

Erbe und Schicksal E-Book

Jeffrey Archer

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

England 1945: Der Zweite Weltkrieg ist beendet. Harry Clifton, der sich aus den Hafendocks Bristols hochgearbeitet hat, und sein treuer Jugendfreund Giles Barrington, Sprößling der Schifffahrt-Dynastie Barrington, haben überlebt. Endlich hat Harry zu seiner großen Liebe gefunden, zu Giles' Schwester Emma Barrington. Doch ein langer Schatten droht auf die jungen Menschen zu fallen. In einer dramatischen Verhandlung obliegt es dem Haus der Lords festzulegen, wer das Vermögen der Barringtons rechtmäßig erben wird: Harry oder Giles. Harry weiß, dass die Entscheidung seine Verbindung mit Emma für immer zerstören könnte. Für die Familien Clifton und Barrington beginnt eine neue Epoche voller Intrigen und Verrat.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 583

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DASBUCH

Harry Clifton, aufgewachsen bei den Hafendocks in Bristol, und Giles Barrington, Nachkömmling einer großen Schifffahrt-Dynastie, verbindet seit ihrer Jugend eine tiefe Freundschaft. Aus der Enge des Arbeitermilieus hat Harry es auf eine Eliteschule geschafft und steht als junger Mann jetzt an der Seite seiner großen Liebe Emma, der Schwester von Giles. Mit dem Eintritt Englands in den Zweiten Weltkrieg 1939 werden die Schicksale beider Familien erschüttert. Giles gerät in Kriegsgefangenschaft und Harry verschlägt es von Bristol nach New York, wo er eines Mordes angeklagt und verhaftet wird. Emma macht sich auf, um den Mann zu retten, den sie liebt …

DERAUTOR

Jeffrey Archer, geboren 1940 in London, verbrachte seine Kindheit in Weston-super-Mare und studierte in Oxford. Er schlug eine bewegte Politiker-Karriere ein, die bis 2003 andauerte. Weltberühmt wurde Archer als Schriftsteller. Er verfasste zahlreiche Bestseller und zählt heute zu den erfolgreichsten Autoren Englands. Sein historisches FamilieneposDie Clifton-Sagastürmte die englischen und amerikanischen Bestsellerlisten und begeistert eine stetig wachsende Leserschar. Archer ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in London und Cambridge.

LIEFERBARETITEL

Die Clifton-Saga:

Spiel der Zeit

JEFFREY ARCHER

ERBE UND

SCHICKSAL

DIE CLIFTON-SAGA 3

ROMAN

Aus dem Englischen

von Martin Ruf

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe BEST KEPT SECRET

erschien 2013 bei Macmillan, London

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2013 by Jeffrey Archer

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Thomas Brill

Umschlagillustration: Johannes Wiebel/punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von

CollaborationJS/Arcangel Images und shutterstock.com

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-15521-6V006

www.heyne.de

FÜR

SHABNAM UND ALEXANDER

PROLOG

Big Ben schlug viermal.

Obwohl der Lordkanzler erschöpft war und die Ereignisse der letzten Nacht seine ganze Kraft gefordert hatten, strömte noch so viel Adrenalin durch seinen Körper, dass er nicht einschlafen konnte. Er hatte Ihren Lordschaften versichert, dass er in der Sache Barrington gegen Clifton ein Urteil sprechen und darüber entscheiden würde, welcher der beiden jungen Männer den Titel und die umfangreichen Besitztümer der Familie erben würde.

Noch einmal erwog er die Fakten, denn er war davon überzeugt, dass die Fakten – und nur die Fakten – seine endgültige Wahl bestimmen sollten. Schon als er vor etwa vierzig Jahren nach Beendigung seines Jurastudiums sein Praxisjahr begonnen hatte und noch bevor er als Anwalt zugelassen worden war, hatte sein Supervisor ihm eingeschärft, alle persönlichen Gefühle, vagen Eindrücke und Voreingenommenheiten zurückzustellen, wenn es darum ging, gegenüber dem Mandanten und dem Fall, mit dem er sich beschäftigte, zu einer Entscheidung zu kommen. Das Gesetz, so hatte sein Supervisor betont, war nichts für ängstliche Gemüter oder romantische Schwärmer. Doch obwohl der Lordkanzler vier Jahrzehnte lang dieses Mantra beherzigt hatte, musste er zugeben, dass er noch nie mit einem Fall befasst war, in welchem der Anspruch beider Seiten auf eine so nachdrückliche Weise gleichermaßen berechtigt schien. Er wünschte sich, F. E. Smith wäre noch am Leben, damit er ihn um Rat fragen könnte.

Auf der einen Seite … wie er diesen klischeehaften Ausdruck hasste. Auf der einen Seite war Harry Clifton drei Wochen vor seinem besten Freund Giles Barrington geboren worden: eine Tatsache. Auf der anderen Seite war Giles Barrington zweifellos der eheliche Sohn von Sir Hugo Barrington und seiner ihm rechtmäßig angetrauten Frau Elizabeth: eine Tatsache. Doch das machte Giles Barrington noch nicht unbedingt zu Sir Hugos Erstgeborenem, und genau auf diesen Punkt bezog sich die entscheidende Passage des Testaments. Auf der einen Seite hatte Maisie Tancock Harry am achtundzwanzigsten Tag des neunten Monats nach ihrer einmaligen Beziehung zu Hugo Barrington – sie hatten an jenem Tag an einem Ausflug nach Weston-super-Mare teilgenommen – zur Welt gebracht. Eine Tatsache. Auf der anderen Seite war Maisie Tancock mit Arthur Clifton verheiratet, als Harry geboren wurde, und in der Geburtsurkunde wurde Arthur unmissverständlich als Vater des Kindes genannt. Eine Tatsache.

Auf der einen Seite … die Gedanken des Lordkanzlers schweiften ab zu den Ereignissen, die sich im Oberhaus abgespielt hatten, nachdem von den Mitgliedern der Kammer darüber abgestimmt worden war, ob Giles Barrington oder Harry Clifton den Titel samt allem, was darin inbegriffen ist, erben sollte. Er erinnerte sich an die genauen Worte des leitenden Repräsentanten der Parteien, mit denen dieser einem bis auf den letzten Platz besetzten Haus das Ergebnis der Abstimmung verkündet hatte:

»Ja-Stimmen zur Rechten: zweihundertdreiundsiebzig. Nein-Stimmen zur Linken: zweihundertdreiundsiebzig.«

Unruhe war daraufhin auf den roten Bänken ausgebrochen. Der Lordkanzler akzeptierte, dass ihm aufgrund der Stimmengleichheit die wenig beneidenswerte Aufgabe zufiel, über das Erbe des Familientitels der Barringtons einschließlich der angesehenen Schifffahrtslinie, der Ländereien und aller sonstigen Besitztümer zu entscheiden. Wenn doch nur nicht so viel von seiner Entscheidung abhängen würde im Hinblick auf die Zukunft der beiden jungen Männer. Sollte er sich von der Tatsache beeinflussen lassen, dass Giles Barrington den Titel erben wollte und Harry Clifton nicht? Nein, keineswegs. Wie Lord Preston in seiner überzeugenden Rede für die Opposition ausgeführt hatte, würde dies einen Präzedenzfall schaffen, der höchst unglückliche Folgen haben konnte, auch wenn eine solche Entscheidung im Augenblick bequem erscheinen musste.

Wenn er jedoch auf der anderen Seite zum Schluss käme, dass Harry zu begünstigen wäre … der Lordkanzler nickte schließlich ein, doch nur um, so schien es, gleich darauf von einem leisen Klopfen an seiner Tür zu ungewöhnlich später Stunde wieder geweckt zu werden: Es war sieben Uhr morgens. Er seufzte, doch seine Augen blieben geschlossen, während er die Schläge Big Bens zählte. Schon in drei Stunden würde er seine Entscheidung verkünden müssen, und er war noch immer zu keinem Entschluss gelangt.

Der Lordkanzler seufzte ein zweites Mal, senkte die Füße auf den Boden, schlüpfte in seine Hausschuhe und ging ins Bad. Selbst als er in der Badewanne saß, ließ ihm das Problem keine Ruhe.

Eine Tatsache: Harry Clifton und Giles Barrington waren genauso farbenblind wie Sir Hugo. Eine Tatsache: Farbenblindheit wird nur über die mütterliche Linie vererbt, weswegen dieses Charakteristikum nur ein Zufall war und nicht in die Überlegungen mit einbezogen werden sollte.

Er stieg aus der Wanne, trocknete sich ab und streifte einen Morgenmantel über. Dann verließ er das Bad und ging durch einen mit dicken Teppichen ausgelegten Korridor in sein Arbeitszimmer.

Der Lordkanzler griff nach einem Füllfederhalter, schrieb die Namen »Barrington« und »Clifton« auf ein weißes Blatt Papier und notierte darunter die Dinge, die für oder gegen den jeweiligen jungen Mann sprachen. Als drei in seiner fein säuberlichen Handschrift abgefasste Seiten vor ihm lagen, schlug Big Ben achtmal. Aber der Lordkanzler hatte immer noch keine Lösung gefunden.

Er legte den Füllfederhalter nieder und erhob sich widerstrebend, um etwas zu essen.

Der Lordkanzler saß alleine und stumm beim Frühstück. Er verzichtete bewusst darauf, einen Blick in die Morgenzeitungen zu werfen, die ordentlich am anderen Ende des Tisches ausgebreitet waren, oder das Radio einzuschalten, denn er wollte nicht, dass irgendein schlecht informierter Kommentator sein Urteil beeinflussen würde. Die seriösen Zeitungen sprachen in besorgtem Ton über die zukünftigen Aussichten bei der Vererbung von Adelstiteln, sollte der Lordkanzler zugunsten Harrys entscheiden, während die Massenblätter nur daran interessiert schienen, ob Emma den Mann, den sie liebte, würde heiraten können.

Als er ins Badezimmer zurückging, um sich die Zähne zu putzen, hatte sich Justitias Waage noch in keine Richtung geneigt.

Kurz nachdem Big Ben neun geschlagen hatte, ging der Lordkanzler wieder ins Arbeitszimmer und sah seine Notizen durch, denn er hoffte, dass sich jetzt eine der beiden Schalen senken würde, doch die Waage befand sich noch immer in vollkommenem Gleichgewicht. Er war gerade im Begriff, seine Notizen ein weiteres Mal durchzusehen, als ein Klopfen an der Tür ihn daran erinnerte, dass er trotz all seiner Macht die Zeit nicht aufhalten konnte. Er stieß ein tiefes Seufzen aus, riss die drei Seiten von seinem Block ab, stand auf und las sie, während er sein Arbeitszimmer verließ und den Korridor hinabging. Als er das Schlafzimmer betrat, sah er, dass East, sein Kammerdiener, für das morgendliche Ritual am Fuß des Bettes bereitstand.

Flink und geschickt streifte East seinem Herrn den seidenen Morgenmantel von den Schultern, bevor er ihm mit dem Anlegen des weißen Hemds half, das vom Bügeln noch warm war. Dann folgten der steife Kragen und das Halstuch aus feiner Spitze. Als der Lordkanzler die schwarze Kniehose anzog, bemerkte er nicht zum ersten Mal, dass er seit dem Antritt seines Amts ein paar Pfund zugelegt hatte. Danach half ihm East in die lange, schwarze, mit Goldbrokat verzierte Robe, um sich anschließend seinem Kopf und seinen Füßen zu widmen. Eine Perücke wurde ihm übergestreift, und dann schlüpfte er in ein Paar Schnallenschuhe. Aber erst als die goldene Amtskette, die neununddreißig Lordkanzler vor ihm getragen hatten, um seine Schultern drapiert wurde, glich er nicht mehr jener grotesken alten Dame, die in englischen Weihnachtsstücken von männlichen Schauspielern dargestellt wird, sondern verwandelte sich in die höchste juristische Autorität des Landes. Ein kurzer Blick in den Spiegel, dann war er bereit, die Bühne zu betreten und seine Rolle im sich entfaltenden Drama zu spielen. Bedauerlich war nur, dass er seinen Text immer noch nicht konnte.

Die minutiöse Genauigkeit, mit der sich der Lordkanzler an den Zeitplan hielt, als er den Nordturm des Palace of Westminster betrat und wieder verließ, hätte jeden Ausbilder beim Militär beeindruckt. Punkt neun Uhr siebenundvierzig klopfte es an die Tür, und sein Sekretär David Bartholomew trat ein.

»Guten Morgen, Mylord«, sagte Bartholomew.

»Guten Morgen, Mr. Bartholomew«, erwiderte der Lordkanzler.

»Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen«, sagte Bartholomew, »dass Lord Harvey letzte Nacht auf dem Weg in die Klinik im Rettungswagen verstorben ist.«

Beide Männer wussten, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Lord Harvey, Giles und Emma Barringtons Großvater, war nur wenige Augenblicke, bevor die Glocke zur Abstimmung rief, in der Kammer zusammengebrochen. Der Lordkanzler und sein Sekretär folgten jedoch einer jahrhundertealten Tradition: Wenn ein Mitglied des Ober- oder Unterhauses während einer Sitzung starb, so musste eine Untersuchung der genauen Todesumstände stattfinden. Um diese unangenehme und überflüssige Scharade zu vermeiden, verständigte man sich in solchen Fällen auf die allgemein anerkannte Wendung »auf dem Weg in die Klinik«. Der Brauch ging zurück auf die Zeit von Oliver Cromwell, als es den Mitgliedern der Kammer erlaubt war, Schwerter zu tragen, und durchaus die Möglichkeit bestand, dass es nicht immer mit rechten Dingen zuging, wenn es zu einem solchen Todesfall kam.

Der Tod Lord Harveys stimmte den Lordkanzler traurig, denn er hatte diesen Kollegen gemocht und bewundert. Es wäre ihm allerdings lieber gewesen, wenn ihn sein Sekretär mit dieser Nachricht nicht an eine Tatsache erinnert hätte, die er in seiner fein säuberlichen Handschrift unter Giles Barringtons Namen notiert hatte – nämlich dass Lord Harvey nicht mehr in der Lage gewesen war, an der Wahl teilzunehmen, bevor er zusammengebrochen war, und dass er, wäre es ihm möglich gewesen, für Giles Barrington gestimmt hätte. Damit wäre die ganze Angelegenheit ein für alle Mal entschieden worden, und der Lordkanzler hätte eine ruhige Nacht verbringen können. Nun jedoch musste er ein für alle Mal eine Entscheidung treffen – eine Entscheidung, die für alle galt.

Unter Harry Cliftons Namen hatte er eine weitere Tatsache eingetragen. Als der Fall sechs Monate zuvor vor die Lordrichter gekommen war, hatten sie mit vier zu drei Stimmen zugunsten von Clifton entschieden. Er sollte den Titel erben samt allem, was darin inbegriffen ist, wie die genauen Worte des Testaments lauteten.

Ein zweites Klopfen an der Tür, und der Schleppenträger erschien. Auch er wirkte, als trüge er ein Kostüm aus einem Musical von Gilbert und Sullivan, doch seine Anwesenheit bedeutete, dass die traditionelle Zeremonie in wenigen Augenblicken beginnen würde.

»Guten Morgen, Mylord.«

»Guten Morgen, Mr. Duncan.«

In dem Augenblick, in dem der Schleppenträger den Saum der langen, schwarzen Robe des Lordkanzlers hob, trat David Bartholomew nach vorn und stieß die Doppeltür des Prunkzimmers auf, damit sein Herr den siebenminütigen Weg zur Kammer des Oberhauses antreten konnte.

Mitglieder des Hauses, Boten und sonstige Mitarbeiter, die mit ihren täglichen Aufgaben beschäftigt waren, traten rasch beiseite, als sie sahen, dass der Lordkanzler sich näherte, damit ihn niemand auf seinem Weg in die Kammer behindern würde. Als er an ihnen vorbeikam, verbeugten sie sich tief, doch diese Verbeugung galt nicht ihm, sondern dem Herrscher, den er repräsentierte. Genauso schnell wie an jedem Tag in den sechs zurückliegenden Jahren folgte er dem mit rotem Teppichboden ausgelegten Korridor, damit er mit dem ersten Schlag des vormittäglichen Zehn-Uhr-Läutens von Big Ben die Kammer betreten würde.

An einem normalen Tag erwarteten ihn in der Kammer nur eine Handvoll Oberhausmitglieder, die sich höflich von ihren roten Bänken erheben und vor dem Lordkanzler verbeugen würden; danach würden sie stehen bleiben, während der diensthabende Bischof das Morgengebet spräche, woraufhin man sich den anstehenden Aufgaben des Tages widmen würde.

Heute nicht. Schon lange bevor er die Kammer erreicht hatte, hörte er das Gemurmel zahlreicher Stimmen. Sogar der Lordkanzler war überrascht, welcher Anblick sich ihm bot, als er das Oberhaus betrat. Die roten Bänke waren so dicht besetzt, dass einige Mitglieder des Hauses sich auf die Stufen vor dem Thron begeben hatten, während andere am Geländer vor den Bänken standen, weil sie nirgendwo mehr einen Sitzplatz finden konnten. Es gab nur eine einzige andere Gelegenheit, bei der das Haus so gut gefüllt war, nämlich dann, wenn der König die Thronrede hielt und Ober- wie Unterhaus über die von seiner Regierung für die nächste Legislaturperiode getroffenen Pläne informierte.

Als der Lordkanzler in die Kammer schritt, beendeten Ihre Lordschaften unverzüglich die Unterhaltungen, erhoben sich wie ein Mann und verbeugten sich, während er vor den Wollsack trat.

Der höchste Jurist des Landes sah sich langsam in der Kammer um, wobei sich über fünfhundert ungeduldige Augenpaare auf ihn richteten. Er ließ seinen Blick schließlich auf drei jungen Leuten ruhen, die auf der gegenüberliegenden Seite der Kammer direkt über ihm auf der Galerie für die Ehrengäste saßen. Giles Barrington, seine Schwester Emma und Harry Clifton trugen schwarze Trauerkleidung aus Respekt für ihren geliebten Großvater oder, was Harry betraf, einen Mentor und guten Freund. Der Lordkanzler fühlte mit allen dreien, denn er war sich bewusst, dass das Urteil, das er sogleich sprechen würde, ihr ganzes Leben ändern würde. Er betete darum, dass es eine Änderung zum Besseren wäre.

Als der Right Reverend Peter Watts, Bischof von Bristol, sein Gebetbuch aufschlug – und dass gerade er es war, schien dem Lordkanzler überaus passend –, senkten Ihre Lordschaften die Köpfe und hoben sie erst wieder bei den Worten: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«

Die Mitglieder des Hauses setzten sich, nur der Lordkanzler blieb stehen. Sobald sie – wo auch immer – einen Platz gefunden hatten, lehnten sie sich zurück und warteten darauf, dass er sein Urteil sprechen würde.

»Verehrte Lords«, begann er. »Ich kann nicht behaupten, dass mir die Entscheidung, mit der Sie mich betraut haben, leichtgefallen ist. Im Gegenteil. Ich muss gestehen, dass sie eine der schwierigsten war, die ich in all meinen Jahren als Jurist treffen musste. Aber schließlich war es Thomas More höchstselbst, der uns daran erinnert, dass jeder, der diese Robe trägt, bereit sein muss, Entscheidungen zu treffen, die nur selten die Zustimmung aller finden werden. Und in der Tat, verehrte Lords, kam es in der Vergangenheit schon dreimal dazu, dass der Lordkanzler nach seinem Urteilspruch noch am selben Tag enthauptet wurde.«

Das Gelächter, das sich daraufhin erhob, löste die Anspannung ein wenig, doch nur für einen kurzen Augenblick.

»Und doch ist es meine Pflicht«, fuhr er fort, nachdem das Gelächter verklungen war, »dass ich nur dem Allmächtigen Rechenschaft schuldig bin. Und in diesem Bewusstsein, verehrte Lords, habe ich in der Sache Barrington gegen Clifton hinsichtlich der Frage, wer Sir Hugo Barrington als rechtmäßiger Erbe folgen und den Familientitel und die Ländereien samt allem, was darin inbegriffen ist, erben soll …«

Wieder sah der Lordkanzler hinauf zur Galerie. Er zögerte. Noch einmal ruhte sein Blick auf den drei unschuldigen jungen Leuten, die da oben wie auf einer Anklagebank saßen und zu ihm hinunterstarrten. Er betete um die Weisheit eines Salomo, bevor er fortfuhr: »Habe ich nach Abwägung aller Fakten zugunsten von … Giles Barrington entschieden.«

Sofort stieg lautes Stimmengewirr von den Bänken auf. Reporter verließen eilig die Pressegalerie, um ihren wartenden Redakteuren zu berichten, dass durch die Entscheidung des Lordkanzlers die tradierte Form der Vererbung von Adelstiteln nicht angetastet worden war und Harry Clifton jetzt Emma Barrington zu seiner rechtmäßigen Ehefrau nehmen konnte, während sich die Gäste auf der Besuchergalerie über das Geländer beugten, um zu sehen, wie Ihre Lordschaften auf das Urteil reagierten. Aber das hier war kein Fußballspiel, und der Lordkanzler war kein Schiedsrichter. Niemand musste zur Pfeife greifen und ein Match mit einem Pfiff unterbrechen, da jedes Oberhausmitglied das Urteil des Lordkanzlers ohne Widerspruch oder öffentliche Kritik akzeptieren würde. Während der Lordkanzler darauf wartete, dass der Lärm abklingen würde, sah er noch einmal hinauf zu den drei Menschen auf der Galerie, die am meisten von diesem Urteil betroffen sein würden. Harry, Emma und Giles starrten immer noch mit ausdruckslosen Mienen zu ihm herab, als hätten sie die volle Bedeutung seiner Entscheidung noch gar nicht begriffen.

Nach Monaten der Unsicherheit fühlte sich Giles vor allem erleichtert, obwohl der Tod seines geliebten Großvaters jegliches Triumphgefühl verhinderte.

Harry hatte nur einen einzigen Gedanken, als er Emma fest bei der Hand nahm. Jetzt konnte er endlich die Frau heiraten, die er liebte.

Emma war unsicher. Schließlich kamen durch die Entscheidung des Lordkanzlers eine ganze Reihe neuer Probleme auf sie zu, die nicht er lösen musste, sondern sie, Harry und Giles.

Der Lordkanzler öffnete seine mit goldenen Quasten verzierte rote Ledermappe und studierte die vor ihm liegenden Aufgaben. Eine Debatte über die Einrichtung eines nationalen Gesundheitsdienstes war der zweite Punkt auf der Tagesordnung. Mehrere Lordschaften verließen die Kammer, als die Dinge wieder ihren gewohnten Gang zu nehmen begannen.

Niemals würde der Lordkanzler gegenüber irgendjemandem, nicht einmal gegenüber seinem engsten Vertrauten, zugeben, dass er seine Meinung im allerletzten Augenblick noch einmal geändert hatte.

HARRY CLIFTON UND EMMA BARRINGTON

1945 – 1951

1

»Weshalb jeder, der einen berechtigten Grund dafür vorbringen kann, warum diese beiden nicht nach Recht und Gesetz vereint werden sollten, jetzt sprechen oder für immer schweigen möge.«

Harry Clifton würde nie vergessen, wie es gewesen war, als er diese Worte zum ersten Mal gehört hatte und sein Leben nur wenige Augenblicke später ins Chaos gestürzt wurde. Old Jack, der genau wie George Washington unfähig war zu lügen, hatte in einer hastig einberufenen Familienzusammenkunft in der Sakristei enthüllt, dass Emma Barrington, die Frau, die Harry anbetete und die kurz davorstand, ihn zu heiraten, möglicherweise seine Halbschwester war.

Alles stand kopf, als Harrys Mutter zugab, dass sie – wenn auch nur bei einer einzigen Gelegenheit – mit Emmas Vater Hugo Barrington geschlafen hatte. Deshalb war nicht auszuschließen, dass er und Emma Kinder desselben Mannes waren.

Während der ganzen Zeit vor und nach ihrer kurzen Affäre mit Hugo Barrington war Arthur Clifton, ein Hafenarbeiter der Barrington-Werft, der feste Partner von Harrys Mutter gewesen. Trotz der Tatsache, dass Maisie Arthur kurz danach geheiratet hatte, hatte sich der Pfarrer geweigert, die Hochzeitszeremonie von Harry und Emma fortzuführen, da die Möglichkeit bestand, dass diese den althergebrachten Gesetzen der Kirche bezüglich der Ehe von Blutsverwandten widersprach.

Wenige Augenblicke später war Hugo aus der Kirche verschwunden wie ein Feigling, der vom Schlachtfeld flieht. Emma und ihre Mutter waren nach Schottland gefahren, während Harry, der zu diesem Zeitpunkt eine wahrhaft einsame Seele war, zunächst in seinem College in Oxford geblieben war, ohne zu wissen, was er als Nächstes tun sollte. Adolf Hitler hatte ihm die Entscheidung schließlich abgenommen.

Harry verließ wenige Tage später die Universität. Er zog seine Studentenrobe aus und die Uniform eines vierten Offiziers auf einem Handelsschiff an. Doch er hatte noch nicht einmal vierzehn Tage auf hoher See verbracht, als ein deutscher Torpedo sein Schiff versenkte und der Name Harry Clifton auf der Liste der auf See Verstorbenen erschien.

»Willst du diese Frau zu deiner dir rechtmäßig angetrauten Ehefrau nehmen und treu zu ihr stehen, solange ihr beide leben werdet?«

»Ich will.«

Erst nach Kriegsende, als Harry verletzt, aber hochdekoriert vom Schlachtfeld zurückgekehrt war, hatte er erfahren, dass Emma ihren gemeinsamen Sohn Sebastian Arthur Clifton zur Welt gebracht hatte. Und erst als er wieder völlig gesund war, hatte er herausgefunden, dass Hugo Barrington unter grässlichen Umständen getötet worden war und der Familie ein weiteres Problem hinterlassen hatte, das Harry als ebenso verheerend empfand wie die Tatsache, dass er die Frau, die er liebte, nicht heiraten konnte.

Harry hatte der Tatsache, dass er ein paar Wochen älter war als Giles Barrington – Emmas Bruder und sein bester Freund –, nie besondere Aufmerksamkeit geschenkt, bis ihm erklärt worden war, dass er selbst möglicherweise der nächste Erbe des Familientitels, der ausgedehnten Ländereien und der zahlreichen Besitztümer samt allem, was darin inbegriffen ist, wie es wörtlich im Testament hieß, sein könnte. Er stellte rasch klar, dass er kein Interesse am Barrington-Erbe hatte, und war nur allzu gerne bereit, zugunsten von Giles auf sein Erstgeburtsrecht zu verzichten, sofern ihm dieses denn tatsächlich zukommen sollte. Auch der Garter King of Arms, der Leiter des Wappenkönigamtes, schien bereit, sich darauf einzulassen, und alles Weitere hätte sich problemlos aus dieser Entscheidung ergeben können, hätte Lord Preston, der für Labour im Oberhaus saß, nicht beschlossen, sich für Harrys Anspruch auf den Titel einzusetzen, ohne Harry überhaupt zurate zu ziehen.

»Es geht ums Prinzip«, hatte Lord Preston jedem politischen Korrespondenten erklärt, der ihn danach gefragt hatte.

»Willst du diesen Mann zu deinem dir angetrauten Ehemann nehmen und mit ihm nach Gottes Willen im heiligen Stand der Ehe zusammenleben?«

»Ich will.«

Harry und Giles waren während dieser ganzen Episode unzertrennliche Freunde geblieben, obwohl sie sich vor dem höchsten Gericht des Landes wie auch auf den Titelseiten sämtlicher Zeitungen als Gegner gegenüberstanden.

Die Freude der beiden über die Entscheidung des Lordkanzlers wäre noch größer gewesen, hätte Emmas und Giles’ Großvater Lord Harvey bei ihrer Verkündigung noch auf seiner Bank im Oberhaus gesessen, doch dem alten Herrn war es nicht mehr vergönnt, seinen Triumph mitzuerleben. Die Nation blieb auch weiterhin gespalten, und den beiden Familien blieb es überlassen, mit diesem Ergebnis zurechtzukommen.

Wie die Presse ihren begierigen Lesern versicherte, hatte das Urteil des Lordkanzlers noch eine weitere Folge. Die Entscheidung des höchsten Gerichts des Landes bedeutete nämlich auch, dass Harry und Emma keine Blutsverwandten waren, weshalb es Harry freistand, Emma zu seiner ordentlich angetrauten Ehefrau zu nehmen.

»Mit diesem Ring heirate ich dich, mit meinem Leib ehre ich dich, und all meine weltlichen Güter gebe ich dir.«

Doch Emma und Harry wussten, dass eine von Menschen getroffene Entscheidung nicht mit absoluter Sicherheit beweisen konnte, dass Hugo Barrington nicht doch Harrys Vater war, und als praktizierende Christen hatten sie zunächst Bedenken, dass sie Gottes Gesetz brechen könnten.

Ihre Liebe war nicht geringer geworden angesichts dessen, was sie durchgemacht hatten. Sie war eher noch gewachsen, und ermutigt von ihrer Mutter Elizabeth und mit dem Segen von Harrys Mutter Maisie akzeptierte Emma Harrys Heiratsantrag. Es machte sie nur traurig, dass keine ihrer Großmütter mehr am Leben war, um an der Hochzeitszeremonie teilzunehmen.

Anders als ursprünglich geplant fand die Hochzeit nicht in Oxford statt. Die Beteiligten entzogen sich dem Pomp und Prunk, den eine solche Zeremonie an der Universität mit sich gebracht hätte, ebenso wie der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, die unvermeidlich damit verbunden gewesen wäre, und entschieden sich stattdessen für eine einfache standesamtliche Trauung in Bristol, an der nur die Familie und einige gute Freunde teilnahmen.

Die vielleicht traurigste Entscheidung, zu der Harry und Emma sich mühsam durchrangen, bestand darin, dass Sebastian Arthur Clifton ihr einziges Kind bleiben sollte.

2

Nachdem Harry und Emma ihren Sohn Sebastian in Elizabeths umsichtiger Obhut zurückgelassen hatten, fuhren die beiden nach Schottland, um ihre Flitterwochen auf Mulgelrie Castle zu verbringen, dem Stammsitz von Emmas verstorbenen Großeltern Lord und Lady Harvey.

Das Schloss weckte in ihnen viele glückliche Erinnerungen an jene Zeit, die sie gemeinsam hier verbracht hatten, bevor Harry nach Oxford gegangen war. Während des Tages durchstreiften sie die nahe gelegenen Hügel, und sie kehrten nur selten zum Schloss zurück, bevor die Sonne hinter den höchsten Bergen untergegangen war. Nach dem Abendessen – in der Küche wusste man noch genau, wie sehr Master Clifton seine drei Portionen Suppe genossen hatte – saßen die beiden am Kamin, in dem ein Feuer prasselte, und lasen Evelyn Waugh, Graham Greene und Harrys Lieblingsschriftsteller P. G. Wodehouse.

Nachdem sie vierzehn Tage lang mehr Hochlandrinder als Menschen gesehen hatten, machten sie sich widerwillig auf die lange Rückreise nach Bristol. Sie erreichten das Manor House, Elizabeths Landsitz, voller Vorfreude auf ein Leben in häuslicher Ruhe, doch die sollten sie nicht finden.

Elizabeth gestand ihnen, dass sie es gar nicht erwarten konnte, dass das Paar wieder die Verantwortung für Sebastian übernahm. Es habe einfach zu viele tränenreiche Auseinandersetzungen vor dem Schlafengehen gegeben, erklärte sie Harry und Emma, während Cleopatra, ihre Siamkatze, auf ihren Schoß sprang und auf der Stelle einschlief. »Ehrlich gesagt seid ihr keinen Augenblick zu früh gekommen«, fügte sie hinzu. »In den letzten zwei Wochen habe ich es nicht ein einziges Mal geschafft, das Kreuzworträtsel in der Times zu lösen.«

Harry bedankte sich bei seiner Schwiegermutter für ihr Verständnis, und dann nahmen er und Emma ihren hyperaktiven Fünfjährigen mit zurück nach Barrington Hall.

Vor Harrys und Emmas Hochzeit hatte Giles darauf bestanden, dass sie Barrington Hall als ihr Zuhause betrachten sollten, da er die meiste Zeit in London war, um seinen Pflichten als Labour-Abgeordneter nachzukommen. Mit seiner Bibliothek von zehntausend Bänden, dem weitläufigen Park und den großen Stallungen war der Landsitz ideal für sie. Harry konnte in Ruhe seine Kriminalromane um William Warwick schreiben, während Emma jeden Tag ausritt und Sebastian irgendwo auf dem Grundstück spielte, wobei er regelmäßig seltsame Tiere mitbrachte, wenn sich die Familie zum Tee zusammensetzte.

Oft kam Giles am Freitagabend früh genug nach Hause, um mit den anderen gemeinsam zu Abend zu essen. Am Samstagmorgen lud er als Parlamentsabgeordneter regelmäßig zur Bürgersprechstunde, bevor er zusammen mit seinem leitenden Wahlhelfer Griff Haskins auf ein paar Biere im Club der Hafenarbeiter vorbeisah. Am Nachmittag besuchten er und Griff zusammen mit etwa zehntausend jener Menschen, die er im Unterhaus vertrat, das Eastville Stadion, wo sie zusahen, wie die Bristol Rovers häufiger verloren als gewannen. Giles hätte niemals zugegeben, dass er sich an den Samstagnachmittagen lieber ein Rugbyspiel anschauen würde. Hätte er es getan, hätte Griff ihn daran erinnert, dass die Menge, die im Memorial Ground zusammenkam, kaum mehr als zweitausend Besucher zählte und die meisten von ihnen die Konservativen wählten.

Am Sonntagmorgen konnte man Giles Seite an Seite mit Harry und Emma auf den Knien in der St. Mary Redcliffe finden. Harry vermutete, dass Giles dies nur als eine weitere Pflicht gegenüber seinen Wählern verstand, denn in der Schule hatte er sich immer bemüht, einem Kirchenbesuch aus dem Weg zu gehen. Niemand konnte jedoch bestreiten, dass Giles schon nach kurzer Zeit als sorgfältiger, hart arbeitender Parlamentsabgeordneter galt.

Plötzlich wurden Giles’ Wochenendbesuche ohne jede Vorwarnung seltener. Als Emma das Thema ihrem Bruder gegenüber ansprach, murmelte dieser etwas über seine parlamentarischen Pflichten. Harry überzeugte das nicht, und er hoffte, dass die häufige Abwesenheit seines Schwagers in der Bürgersprechstunde ihn bei der nächsten Wahl nicht die bescheidene Mehrheit kosten würde, die er bisher noch besaß.

An einem Freitagabend fanden sie den wirklichen Grund dafür heraus, warum Giles während der zurückliegenden Monate mit etwas ganz anderem beschäftigt gewesen war.

Einige Tage zuvor hatte er Emma angerufen, um ihr mitzuteilen, dass er über das Wochenende nach Bristol kommen und am Freitag zum Abendessen eintreffen würde. Er hatte nicht gesagt, dass er in Begleitung wäre.

Die Freundinnen von Giles waren stets attraktiv und häufig ein wenig verrückt, und ausnahmslos alle bewunderten ihn. Meistens mochte Emma diese jungen Frauen, auch wenn kaum eine von ihnen so lange mit Giles zusammenblieb, dass sie sie näher kennenlernen konnte. Diesmal jedoch war es anders.

Als Giles ihr Virginia am Freitagabend vorstellte, fragte sich Emma ratlos, was ihr Bruder in dieser Frau sehen mochte, auch wenn sie hübsch war und zahlreiche gute Verbindungen hatte. Virginia selbst erwähnte mehr als einmal, dass sie 1934 Debütantin des Jahres gewesen war. Und noch vor dem Essen wies sie dreimal darauf hin, dass sie die Tochter des Earl of Fenwick war.

Emma hielt das zunächst für reine Nervosität, doch dann stocherte Virginia nur lustlos in ihrem Essen herum und flüsterte Giles zu, wie schwierig es doch sei, in Gloucestershire gutes Küchenpersonal zu finden; dieses Flüstern war so laut, dass auch die anderen sie hören mussten. Zu Emmas Überraschung beschränkte sich Giles darauf, zu allem, was sie sagte, zu lächeln und ihr nicht ein einziges Mal zu widersprechen. Emma wollte gerade etwas sagen, das sie, wie sie wusste, später bereuen würde, als Virginia erklärte, dass sie nach einem so langen Tag erschöpft sei und sich zurückzuziehen wünsche.

Nachdem sie aufgestanden und mit Giles im Schlepptau gegangen war, marschierte Emma quer durch den Salon, schenkte sich einen großen Whisky ein und sank in den nächsten Sessel.

»Ich will gar nicht wissen, was meine Mutter von Lady Virginia halten wird.«

Harry lächelte. »Es spielt keine Rolle, was Elizabeth denkt, denn ich habe das Gefühl, dass uns Virginia auch nicht länger erhalten bleiben wird als die meisten anderen Freundinnen von Giles.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, erwiderte Emma. »Aber ich frage mich wirklich, was sie von Giles will, denn sie ist ganz offensichtlich nicht in ihn verliebt.«

Als Giles und Virginia nach dem Lunch am Sonntagnachmittag nach London zurückfuhren, dachte Emma kaum noch an die Tochter des Earl of Fenwick, denn sie musste sich mit einem viel dringlicheren Problem beschäftigen. Ein weiteres Kindermädchen kündigte. Die Tatsache, dass die arme Frau einen Igel in ihrem Bett gefunden hatte, so erklärte sie, habe das Fass zum Überlaufen gebracht. Harry konnte sie gut verstehen.

»Es ist nicht gerade hilfreich, dass er ein Einzelkind ist«, erklärte Emma, nachdem sie es schließlich geschafft hatte, ihren Sohn in jener Nacht ins Bett zu bringen. »Es kann kein Vergnügen sein, wenn man niemanden hat, mit dem man spielen kann.«

»Mir war das nie unangenehm«, sagte Harry, ohne von seinem Buch aufzublicken.

»Deine Mutter hat mir gesagt, dass du kaum zu bändigen warst, bis du auf die St. Bede’s gekommen bist. Ganz davon abgesehen hast du in seinem Alter mehr Zeit im Hafen verbracht als zu Hause.«

»Na ja, so lange geht es ja nun nicht mehr, bis er selbst auf die St. Bede’s kommt.«

»Und was soll ich bis dahin tun? Ihn jeden Morgen im Hafen absetzen?«

»Keine schlechte Idee.«

»Im Ernst, Liebling. Hätte es Old Jack nicht gegeben, wärst du immer noch dort.«

»Stimmt«, sagte Harry und hob sein Glas auf diesen großen Mann. »Aber was sollen wir tun?«

Es dauerte so lange, bis Emma antwortete, dass Harry sich bereits fragte, ob sie eingeschlafen war. »Vielleicht wäre es an der Zeit, ein weiteres Kind zu haben.«

Harry war so überrascht, dass er sein Buch schloss und seine Frau aufmerksam musterte. Er war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. »Aber wir waren uns doch einig …«

»Ja, natürlich. Und in dieser Hinsicht hat sich meine Einstellung überhaupt nicht geändert. Aber es gibt keinen Grund, warum wir nicht über eine Adoption nachdenken sollten.«

»Wie kommst du darauf, Liebling?«

»Ich kann das kleine Mädchen nicht vergessen, das in der Nacht, in der mein Vater starb« – Emma konnte bis heute noch nicht aussprechen, dass er umgebracht worden war –, »in seinem Büro gefunden wurde. Und an die Möglichkeit, dass sie vielleicht sein Kind ist.«

»Aber dafür gibt es überhaupt keinen Beweis. Und ich kann mir nicht vorstellen, wie du nach so langer Zeit herausfinden willst, wo sie ist.«

»Ich hatte daran gedacht, mich mit einem bekannten Autor von Kriminalromanen zu unterhalten und mir von ihm einen Rat geben zu lassen.«

Harry dachte eine ganze Weile lang nach, bevor er antwortete. »William Warwick würde dir wahrscheinlich empfehlen, dass du versuchen sollst, zu Derek Mitchell Kontakt aufzunehmen.«

»Aber du hast doch sicher nicht vergessen, dass Mitchell für meinen Vater gearbeitet und dabei keine besondere Rücksicht auf deine Interessen genommen hat.«

»Stimmt«, sagte Harry. »Und das ist auch der Grund, warum ich ihn um Hilfe bitten würde. Schließlich ist er der einzige Mensch, der weiß, wie viele Leichen dein Vater noch im Keller hatte.«

Sie hatten ausgemacht, sich im Grand Hotel zu treffen. Emma kam ein paar Minuten zu früh und wählte einen Platz in einer Ecke der Lounge, wo niemand ihr Gespräch würde mithören können. Während sie wartete, ging sie noch einmal die Fragen durch, die sie ihm stellen wollte.

Mr. Mitchell kam um Punkt vier Uhr in die Lounge. Obwohl sein Haar etwas grauer war und er ein wenig zugenommen hatte, seit sie ihm das letzte Mal begegnet war, sorgte sein charakteristisches Hinken noch immer dafür, dass man ihn mit niemandem verwechseln konnte. Auf den ersten Blick wirkte er auf sie eher wie ein Bankmanager und weniger wie ein Privatdetektiv. Es war offensichtlich, dass er Emma sogleich erkannt hatte, denn er ging direkt auf sie zu.

»Schön, Sie wiederzusehen, Mrs. Clifton«, sagte er.

»Bitte, setzen Sie sich«, erwiderte Emma und fragte sich, ob er ebenso nervös war wie sie. Sie beschloss, gleich zur Sache zu kommen. »Mr. Mitchell, ich wollte Sie sprechen, weil ich die Hilfe eines Privatdetektivs benötige.«

Mitchell rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

»Als wir uns das letzte Mal getroffen haben, habe ich Ihnen versprochen, das ausstehende Honorar zu bezahlen, das mein Vater Ihnen schuldig geblieben ist.« Das war Harrys Idee gewesen. Er war der Ansicht, dass ein solches Angebot Mitchell klarmachen würde, wie ernst es ihr damit war, ihn zu engagieren. Sie öffnete ihre Handtasche, zog einen Umschlag heraus und reichte ihn Mitchell.

»Danke«, sagte Mitchell. Offensichtlich war er überrascht.

Emma fuhr fort. »Sie erinnern sich sicher noch daran, dass wir bei unserer letzten Begegnung über das Baby gesprochen haben, das man in einem Weidenkorb im Büro meines Vaters gefunden hat. Detective Chief Inspector Blakemore, der, wie Sie wahrscheinlich wissen, für die Ermittlungen verantwortlich war, hat meinem Mann gesagt, dass das kleine Mädchen den zuständigen Behörden übergeben wurde.«

»Das ist jedenfalls die übliche Vorgehensweise, wenn niemand Anspruch auf das Kind erhebt.«

»Ja, so viel habe ich bereits herausgefunden, und erst gestern habe ich mit der zuständigen Person geredet, deren Abteilung in der Stadtverwaltung dafür verantwortlich ist. Der Mann hat sich jedoch geweigert, mir irgendwelche Einzelheiten darüber mitzuteilen, wo das kleine Mädchen inzwischen sein könnte.«

»Weil das die Anweisung des Leiters der Voruntersuchung gewesen sein dürfte. So sollte das Kind wohl vor den Nachstellungen aufdringlicher Journalisten geschützt werden. Das bedeutet aber nicht, dass es keine Möglichkeit gäbe herauszufinden, wo das Mädchen ist.«

»Ich bin froh, das zu hören.« Emma zögerte. »Doch bevor wir irgendetwas in dieser Richtung unternehmen, muss ich absolut überzeugt davon sein, dass das kleine Mädchen das Kind meines Vaters ist.«

»Ich versichere Ihnen, Mrs. Clifton, dass daran nicht der geringste Zweifel besteht.«

»Wie können Sie da so sicher sein?«

»Ich könnte Ihnen die entsprechenden Einzelheiten nennen, doch ich fürchte, dass Ihnen das unangenehm wäre.«

»Mr. Mitchell, ich glaube nicht, dass Sie mir irgendetwas über meinen Vater berichten könnten, das mich noch überraschen würde.«

Mitchell schwieg einige Augenblicke. Schließlich sagte er: »Sie wissen wahrscheinlich, dass Sir Hugo während der Zeit, in der ich für ihn gearbeitet habe, nach London gezogen ist.«

»Er ist am Tag meiner Hochzeit davongelaufen – das wäre wohl eine angemessenere Beschreibung.«

Mitchell ging nicht darauf ein. »Etwa ein Jahr später begann er, mit einer gewissen Miss Olga Piotrovska in Lowndes Square zusammenzuleben.«

»Wie konnte er sich das leisten? Schließlich hat mein Großvater mit ihm gebrochen, ohne ihm auch nur einen Penny zukommen zu lassen?«

»Das konnte er auch nicht. Um es offen auszusprechen: Er hat nicht nur mit Miss Piotrovska gelebt, sondern auch von ihr.«

»Können Sie mir etwas über diese Frau erzählen?«

»Sehr viel sogar. Sie stammte aus Polen und konnte 1941 kurz nach der Verhaftung ihrer Eltern aus Warschau fliehen.«

»Was hatten ihre Eltern verbrochen?«

»Sie waren Juden«, sagte Mitchell in vollkommen neutralem Ton. »Miss Piotrovska schaffte es sogar, einige Dinge aus dem Familienbesitz mitzunehmen, und als sie nach London kam, mietete sie eine Wohnung in Lowndes Square. Wenig später traf sie Ihren Vater bei einer Cocktailparty eines gemeinsamen Bekannten der beiden. Ihr Vater umwarb sie ein paar Wochen lang und zog dann bei ihr ein. Er versprach ihr, sie zu heiraten, sobald seine Scheidung durch sei.«

»Ich habe behauptet, dass mich nichts mehr überraschen würde. Ich habe mich geirrt.«

»Es wird noch schlimmer«, sagte Mitchell. »Als Ihr Großvater starb, ließ Sir Hugo Miss Piotrovska von einem Tag auf den anderen fallen. Er ging wieder nach Bristol, um sein Erbe und seinen Posten als Vorstandsvorsitzender der Barrington-Schifffahrtslinie anzutreten. Doch zuvor stahl er den gesamten Schmuck von Miss Piotrovska sowie mehrere wertvolle Gemälde.«

»Wenn das stimmt, warum wurde er dann nicht verhaftet?«

»Er wurde verhaftet«, antwortete Mitchell. »Doch kurz bevor es zu einer Anklage kam, beging sein Partner Toby Dunstable, der sich bereit erklärt hatte, als Kronzeuge auszusagen, in der Nacht vor dem Prozess in seiner Zelle Selbstmord.«

Emma senkte den Kopf.

»Wäre es Ihnen lieber, wenn ich nicht fortfahren würde, Mrs. Clifton?«

»Nein«, sagte Emma und sah ihm direkt in die Augen. »Ich muss alles wissen.«

»Miss Piotrovska war schwanger, als Ihr Vater nach Bristol zurückkehrte. Er wusste allerdings nichts davon. Sie brachte ein kleines Mädchen zur Welt, dessen Geburtsurkunde auf den Namen Jessica Piotrovska lautet.«

»Woher wissen Sie das?«

»Miss Piotrovska hat mich engagiert, nachdem Ihr Vater meine Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte. Ironischerweise hatte sie selbst genau dann kein Geld mehr, als Ihr Vater ein Vermögen geerbt hat. Das war auch der Grund, warum sie mit Jessica nach Bristol gefahren ist. Sie wollte Sir Hugo wissen lassen, dass er noch eine Tochter hatte, denn ihrer Ansicht nach war er für das Mädchen verantwortlich.«

»Und jetzt ist es meine Verantwortung«, sagte Emma leise. Sie schwieg einen Augenblick, bevor sie fortfuhr. »Aber ich habe keine Ahnung, wo ich sie finden kann. Ich hatte gehofft, dass Sie mir helfen könnten.«

»Ich werde tun, was ich kann, Mrs. Clifton. Aber nach so langer Zeit wird das nicht einfach sein. Wenn ich irgendetwas herausfinde, werden Sie es als Erste erfahren«, sagte der Privatdetektiv und stand auf.

Nachdem Mitchell davongehinkt war, hatte Emma ein schlechtes Gewissen. Sie hatte ihm nicht einmal eine Tasse Tee angeboten.

Emma konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und Harry von ihrem Treffen mit Mitchell zu berichten. Als sie in Barrington Hall in die Bibliothek stürmte, legte Harry gerade den Telefonhörer auf die Gabel. Er hatte ein so breites Grinsen im Gesicht, dass sie nichts weiter sagte als: »Du zuerst.«

»Mein amerikanischer Verleger will, dass ich eine Lesereise in den Staaten mache, wenn er nächsten Monat das neue Buch veröffentlicht.«

»Das sind ja wunderbare Nachrichten, Liebling. Endlich wirst du Großtante Phyllis kennenlernen, ganz zu schweigen von meinem Cousin Alistair.«

»Ich kann es gar nicht erwarten.«

»Spotte nicht, mein Kind!«

»Ich spotte überhaupt nicht. Mein Verleger hat nämlich vorgeschlagen, dass du mich begleitest. So kannst du die beiden wiedersehen.«

»Ich würde gerne mit dir gehen, Liebling, aber der Zeitpunkt könnte nicht ungünstiger sein. Nanny Ryan hat ihre Koffer gepackt, und ich muss dir leider sagen, dass uns die Agentur nicht mehr als Interessenten führen wird.«

»Vielleicht könnte ich meinen Verleger dazu bringen, dass Seb ebenfalls mitkommen kann.«

»Was wahrscheinlich damit enden würde, dass sie uns allesamt des Landes verweisen«, erwiderte Emma. »Nein, ich bleibe mit Seb zu Hause, während du losziehst und die Kolonien eroberst.«

Harry umarmte seine Frau. »Schade. Ich hatte mich schon auf unsere zweiten Flitterwochen gefreut. Übrigens, wie war dein Treffen mit Mitchell?«

Harry war in Edinburgh, um bei einem literarischen Lunch eine Rede zu halten, als Derek Mitchell Emma anrief.

»Ich habe vielleicht eine Spur«, sagte er, ohne seinen Namen zu nennen. »Wann können wir uns treffen?«

»Morgen um zehn. Am gleichen Ort wie das letzte Mal?«

Sie hatte kaum den Hörer aufgelegt, als das Telefon erneut klingelte. Sie nahm ab. Es war ihre Schwester.

»Welch angenehme Überraschung, Grace. So wie ich dich kenne, hast du sicher einen guten Grund, warum du anrufst.«

»Einige von uns arbeiten den ganzen Tag«, erinnerte sie Grace. »Aber du hast recht. Ich rufe an, weil ich gestern Abend einen Vortrag von Professor Cyrus Feldman gehört habe.«

»Der zweimal den Pulitzerpreis gewonnen hat?«, sagte Emma, indem sie versuchte, ihre Schwester zu beeindrucken. »Von der Stanford University, wenn ich mich recht erinnere.«

»Ich bin beeindruckt«, sagte Grace. »Aber was noch wichtiger ist: Der Vortrag hätte dich sicher fasziniert.«

»Soweit ich weiß, ist er Wirtschaftswissenschaftler«, sagte Emma, die sich alle Mühe gab, in diesem Gespräch auch weiterhin Oberwasser zu behalten. »Das ist kaum mein Gebiet.«

»Meins genauso wenig. Aber als er über das Thema Warentransport gesprochen hat …«

»Hört sich spannend an.«

»Das war es auch«, erwiderte Grace, die den Sarkasmus ihrer Schwester ignorierte. »Besonders, als er auf die Zukunft der Schifffahrtsindustrie eingegangen ist. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die British Overseas Airways Corporation eine regelmäßige Flugverbindung zwischen London und New York einrichten will.«

Plötzlich begriff Emma, warum ihre Schwester sie angerufen hatte. »Wäre es irgendwie möglich, an das Manuskript seines Vortrags zu kommen?«

»Das musst du gar nicht. Seine nächste Station ist Bristol. Du kannst zu seinem Vortrag gehen und ihn dir selbst anhören.«

»Vielleicht könnte ich mich nach dem Vortrag kurz mit ihm unterhalten. Es gibt so viele Dinge, die ich ihn gerne fragen würde«, sagte Emma.

»Gute Idee, aber ich muss dich warnen. Obwohl er zu den seltenen Männern gehört, deren Gehirn größer ist als ihre Eier, ist er bereits zum vierten Mal verheiratet, und gestern Abend war seine Frau nirgendwo zu sehen.«

Emma lachte. »Du bist so derb, Grace. Trotzdem vielen Dank für deine Warnung.«

Am folgenden Morgen nahm Harry den Zug von Edinburgh nach Manchester, und nach einer Lesung vor einer eher kleinen Gruppe von Besuchern in der Stadtbücherei erklärte er sich bereit, einige Fragen zu beantworten.

Die erste Frage kam unweigerlich von einem Pressevertreter. Journalisten kündigten sich nur selten an, und sie schienen wenig bis überhaupt kein Interesse an seinem neuesten Buch zu haben. Heute war derManchester Guardianan der Reihe.

»Wie geht es Mrs. Clifton?«

»Gut. Vielen Dank«, antwortete Harry vorsichtig.

»Stimmt es, dass Sie beide im selben Haus wie Sir Giles Barrington wohnen?«

»Es ist ein ziemlich großes Haus.«

»Sind Sie in irgendeiner Weise darüber verstimmt, dass Sir Giles das gesamte Erbe seines Vaters zuerkannt wurde und Ihnen überhaupt nichts?«

»Absolut nicht. Ich habe Emma bekommen, und das ist alles, was ich je wollte.«

Das schien den Journalisten einen Augenblick lang zum Schweigen zu bringen, wodurch ein anderer Mann aus dem Publikum die Möglichkeit bekam, eine Frage zu stellen.

»Wann wird William Warwick Chief Inspector Davenports Posten übernehmen?«

»Im nächsten Buch noch nicht«, antwortete Harry lächelnd. »Das kann ich Ihnen versichern.«

»Stimmt es, Mr. Clifton, dass bei Ihnen in weniger als drei Jahren sieben Kindermädchen gekündigt haben?«

Offensichtlich gab es mehr als eine Zeitung in Manchester.

Im Taxi, das ihn zurück zum Bahnhof brachte, begann Harry auf die Presse zu murren, obwohl der Reporter aus Manchester darauf hingewiesen hatte, dass die öffentliche Aufmerksamkeit den Verkaufszahlen seiner Bücher nicht zu schaden schien. Aber Harry wusste, dass Emma sich besorgt fragte, welche Auswirkungen das ungebrochene Interesse der Zeitungen auf Sebastian haben würde, sobald der Junge in die Schule käme.

»Kinder können so brutal sein«, mahnte sie ihn.

»Wenigstens wird man ihn nicht verprügeln, weil er die Porridge-Schale ausleckt«, erwiderte Harry.

Obwohl Emma ein paar Minuten zu früh eintraf, saß Mitchell bereits in einer abgelegenen Ecke, als sie die Hotelhalle betrat. Er stand auf, als sie auf ihn zukam. Noch bevor sie sich setzte, fragte sie: »Möchten Sie eine Tasse Tee, Mr. Mitchell?«

»Nein, danke, Mrs. Clifton.« Mitchell, der noch nie viel auf eine unverbindliche Plauderei gegeben hatte, nahm wieder Platz und öffnete sein Notizbuch. »Anscheinend hat die zuständige Behörde Jessica Smith …«

»Smith?«, unterbrach ihn Emma. »Warum nicht Piotrovska. Oder meinetwegen auch Barrington?«

»Ich vermute, weil man ihren Weg dann zu leicht hätte zurückverfolgen können. Wahrscheinlich bestand der Leiter der Voruntersuchung darauf, dass die Anonymität des Mädchens gewahrt bleiben sollte. Die zuständige Behörde«, fuhr er fort, »hat Miss J. Smith an das Waisenhaus eines gewissen Dr. Barnardo in Bridgewater überstellt.«

»Warum Bridgewater?«

»Wahrscheinlich weil es damals das nächstgelegene Waisenhaus war, das noch einen Platz frei hatte.«

»Ist sie immer noch dort?«

»Soweit ich weiß, ja. Aber ich habe herausgefunden, dass Barnardo seit Kurzem plant, mehrere der Mädchen an Häuser in Australien zu schicken.«

»Warum das denn?«

»Es ist Teil der australischen Einwanderungspolitik. Der australische Staat beteiligt sich mit jeweils zehn Pfund an der Überfahrt junger Leute ins Land. Dabei besteht ein besonderes Interesse an Mädchen.«

»Ich hätte gedacht, dass das Interesse an Jungen größer ist.«

»Anscheinend haben sie von denen schon genug«, sagte Mitchell. Er gestattete sich ein Grinsen, was er nur höchst selten tat.

»Dann sollten wir Bridgewater so schnell wie möglich einen Besuch abstatten.«

»Langsam, langsam, Mrs. Clifton. Wenn Sie zu engagiert auftreten, könnte die Heimleitung zwei und zwei zusammenzählen und herausfinden, warum Sie so sehr an Miss J. Smith interessiert sind. Man könnte zum Schluss kommen, dass Sie und Mr. Clifton keine geeigneten Pflegeeltern sind.«

»Aber welchen Grund könnte es geben, uns abzulehnen?«

»Ihren Namen, zum Beispiel. Ganz zu schweigen davon, dass Sie und Mr. Clifton nicht verheiratet waren, als Ihr Sohn geboren wurde.«

»Was würden Sie empfehlen?«, fragte Emma leise.

»Stellen Sie einen Antrag auf dem üblichen Weg. Versuchen Sie, nicht den Eindruck zu erwecken, dass Sie es eilig hätten. Die Mitglieder der Heimleitung sollten immer das Gefühl haben, dass sie es sind, die alle Entscheidungen treffen.«

»Aber wie können wir dann wissen, dass sie uns nicht ohnehin ablehnen würden?«

»Sie werden die zuständigen Damen und Herren vorsichtig in die richtige Richtung schubsen müssen, meinen Sie nicht auch, Mrs. Clifton?«

»Was schlagen Sie vor?«

»Wenn Sie den Antrag ausfüllen, wird man Sie darum bitten, mögliche Präferenzen anzugeben. Das erspart eine Menge Zeit und Ärger. Deshalb wäre es sinnvoll, wenn Sie darauf hinweisen würden, dass Sie ein etwa fünf oder sechs Jahre altes Mädchen suchen, weil Sie bereits einen Sohn haben, der ein klein wenig älter ist.«

»Sonst noch irgendwelche Vorschläge?«

»Ja«, erwiderte Mitchell. »Wenn Sie nach der bevorzugten Religion gefragt werden, sollten Sie angeben, dass Sie in dieser Hinsicht keine Präferenzen haben.«

»Warum sollte das eine Hilfe sein?«

»Weil in Miss Jessica Smiths offiziellen Unterlagen steht, dass ihre Mutter Jüdin und ihr Vater unbekannt ist.«

3

»Wie kommt ein Engländer zu einem Silver Star?«, fragte der Einreisebeamte in Idlewild, als er Harrys Visum musterte.

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Harry. Es schien ihm nicht angebracht, dem Beamten zu erzählen, dass man ihn wegen Mordes festgenommen hatte, als er das letzte Mal seinen Fuß auf New Yorker Boden gesetzt hatte.

»Ich wünsche Ihnen eine schöne Zeit in den Staaten.« Der Beamte schüttelte Harry die Hand.

»Danke«, erwiderte Harry und versuchte, nicht allzu überrascht auszusehen, als er durch den Ankunftsbereich ging und den Schildern zur Gepäckausgabe folgte. Während er darauf wartete, dass sein Koffer auftauchte, warf er noch einmal einen Blick auf die Informationen, die man ihm vorab geschickt hatte. Er würde von der Leiterin der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit von Viking abgeholt werden, die ihn zu seinem Hotel bringen und die geplanten Veranstaltungen mit ihm durchgehen sollte. Wenn er eine englische Stadt besuchte, wurde er stets von einem lokalen Verkaufsleiter begleitet, weshalb er nicht ganz sicher war, was die Leiterin der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit genau tat.

Nachdem er seinen alten Schulkoffer gefunden hatte, machte sich Harry auf den Weg zum Zoll. Dort bat ihn der Beamte, den Koffer zu öffnen. Der Beamte warf einen kurzen Blick hinein, machte mit Kreide ein großes Kreuz an die Seite des Koffers und winkte Harry weiter. Harry trat unter einem großen, halbkreisförmigen Schild hindurch, das ein Bild des strahlenden Bürgermeisters William O’Dwyer trug, über dem die Aufschrift Willkommen in New York prangte.

Als er die Ankunftshalle erreicht hatte, sah er sich mehreren uniformierten Chauffeuren gegenüber, die Schilder mit Namen hochhielten. Er suchte nach »Clifton«, und als er es entdeckt hatte, lächelte er dem Fahrer zu und sagte: »Das bin ich.«

»Schön, Sie zu sehen, Mr. Clifton. Ich bin Charlie.« Der Mann hob Harrys schweren Koffer, als handele es sich um eine Aktentasche. »Und das ist Natalie, die Dame, die für Ihre öffentlichen Auftritte zuständig ist.«

Harry drehte sich um und sah eine junge Frau, die in seinen Vorabinformationen immer nur als »N. Redwood« aufgetaucht war. Sie war fast so groß wie er, trug ihr Haar modisch kurz und hatte blaue Augen. Ihre Zähne waren regelmäßiger und weißer als alle, die er – mit Ausnahme auf Werbeplakaten für Zahnpasta – jemals gesehen hatte. Und als sei das noch nicht genug, hatte sie auch noch eine Wespentaille. In einem von Rationierungen gezeichneten Nachkriegsengland war Harry noch nie jemandem wie ihr begegnet.

»Schön, Sie zu sehen, Miss Redwood«, sagte er und gab ihr die Hand.

»Schön, Sie zu sehen«, erwiderte sie. »Nennen Sie mich Natalie«, fügte sie hinzu, als die beiden Charlie aus der Eingangshalle folgten. »Ich bin ein absoluter Fan. Ich liebe William Warwick und zweifle nicht im Geringsten daran, dass Ihr jüngstes Buch ein weiterer Erfolg werden wird.«

Als sie ins Freie traten, öffnete Charlie die Hintertür der längsten Limousine, die Harry je gesehen hatte. Harry trat beiseite, damit Natalie als Erste einsteigen konnte.

»Oh, ich liebe die Engländer wirklich«, sagte sie, als er sich neben sie setzte und die Limousine sich in den Verkehr einfädelte, der sich langsam in Richtung New York schob. »Zunächst gehen wir in Ihr Hotel. Ich habe Sie im Pierre untergebracht. Dort haben Sie eine Suite im elften Stock. Ich habe Ihnen etwas Zeit in Ihrem Plan gelassen, damit Sie sich frisch machen können, bevor Sie mit Mr. Guinzburg im Harvard Club zu Mittag essen werden. Übrigens, er freut sich sehr darauf, Sie kennenzulernen.«

»Ich auch«, sagte Harry. »Er hat meine Gefängnistagebücher und den ersten William-Warwick-Roman veröffentlicht. Es gibt also genügend Dinge, für die ich ihm zu Dank verpflichtet bin.«

»Außerdem hat er jede Menge Zeit und Geld investiert, damit Wer nicht wagt auf die Bestsellerliste kommt, und er hat mich gebeten, Sie in allen Einzelheiten darüber zu informieren, wie wir die Sache angehen wollen.«

»Bitte, tun Sie das«, sagte Harry, während er aus dem Fenster sah und einen Anblick genoss, den er das letzte Mal von der Bank eines gelben Gefängnisbusses aus gesehen hatte. Am Ende der Busfahrt hatte ihn eine Zelle und keine Suite im Pierre Hotel erwartet.

Eine Hand berührte sein Bein. »Es gibt für uns noch viel zu erledigen, bevor Sie Mr. Guinzburg treffen werden.« Natalie reichte ihm einen dicken blauen Ordner. »Zunächst möchte ich Ihnen erklären, wie wir Ihr Buch auf die Bestsellerliste bringen wollen, denn hier laufen die Dinge ganz anders, als Sie das bei sich in England handhaben.«

Harry öffnete den Ordner und versuchte, sich zu konzentrieren. Nie zuvor hatte er neben einer Frau gesessen, die so aussah, als habe man sie direkt in ihr Kleid eingenäht.

»In Amerika«, fuhr Natalie fort, »hat man nur drei Wochen, um dafür zu sorgen, dass es ein Buch auf die Bestsellerliste der New York Times schafft. Wenn es Ihnen nicht gelingt, in dieser Zeit unter die ersten fünfzehn Titel zu kommen, packen die Buchhändler sämtliche Exemplare von Wer nicht wagt zusammen und schicken sie zurück an den Verlag.«

»Das ist verrückt«, sagte Harry. »Wenn ein Buchhändler in England bei einem Verleger ein Buch ordert, so gilt dieses Buch in den Augen des Verlegers als verkauft.«

»Bietet man bei Ihnen den Buchhändlern kein Remissionsrecht an?«

»Selbstverständlich nicht«, erwiderte Harry, der von dieser Vorstellung geradezu schockiert war.

»Und stimmt es, dass Bücher bei Ihnen noch immer ohne irgendwelche Abschläge verkauft werden?«

»Ja, natürlich.«

»Nun, Sie werden sehen, dass das ein weiterer großer Unterschied zu den Verhältnissen in Ihrem Land ist, denn wenn Sie es hier unter die ersten fünfzehn Titel schaffen, wird der Verkaufspreis automatisch halbiert und das Buch im hinteren Bereich das Ladens platziert.«

»Warum? Ein Bestseller sollte doch unbedingt an auffälliger Stelle ganz vorne im Laden angeboten werden und am besten auch noch im Schaufenster liegen. Und man sollte ihn ganz sicher nicht mit irgendwelchen Abschlägen verkaufen.«

»Doch. Denn inzwischen haben die Jungs aus den Werbeabteilungen der Verlage herausgefunden, dass ein Kunde, der auf der Suche nach einem bestimmten Bestseller bis ans hintere Ende der Buchhandlung gehen muss, sich in einem von fünf Fällen auf dem Weg zur Kasse zum Kauf von zwei weiteren Büchern entschließt. Und einer von drei Kunden kauft wenigstens ein zusätzliches Buch.«

»Nicht schlecht. Aber ich bezweifle, dass sich das in England je durchsetzen wird.«

»Meiner Ansicht nach ist es nur noch eine Frage der Zeit. Aber auf jeden Fall wissen Sie jetzt, warum es so wichtig ist, dass wir Ihr Buch so schnell wie möglich auf die Bestsellerliste bringen, denn sobald der Preis halbiert wurde, dürfte es mit großer Wahrscheinlichkeit mehrere Wochen lang unter den ersten fünfzehn Titeln bleiben. Es ist in der Tat schwieriger, überhaupt erst auf die Liste zu kommen, als sich auf ihr zu halten. Aber wenn uns das nicht gelingt, wird Wer nicht wagt von heute an gerechnet innerhalb eines Monats aus den Buchhandlungen verschwunden sein, und wir werden sehr viel Geld verloren haben.«

»Ich habe verstanden, was Sie mir sagen wollen«, erwiderte Harry, als die Limousine langsam über die Brooklyn Bridge rollte und sie wieder von gelben Taxis und deren Zigarrenstummel rauchenden Fahrern umgeben waren.

»Das alles wird noch mühsamer, weil wir in nur einundzwanzig Tagen siebzehn verschiedene Städte besuchen müssen.«

»Wir?«

»Ja. Ich werde die ganze Reise über Ihre Hand halten«, sagte sie leichthin. »Üblicherweise bleibe ich in New York und überlasse es unseren Mitarbeitern vor Ort, sich um die Autoren zu kümmern, die die jeweilige Stadt besuchen, doch diesmal nicht, denn Mr. Guinzburg hat darauf bestanden, dass ich nicht von Ihrer Seite weiche.« Wieder berührte sie leicht sein Bein, bevor sie eine Seite im Ordner umschlug, der auf ihrem Schoß lag.

Harry warf ihr einen Blick zu, und sie schenkte ihm ein kokettes Lächeln. Flirtete sie mit ihm? Nein, das war unmöglich. Schließlich hatten sie sich eben erst kennengelernt.

»Ich habe bereits bei mehreren großen Radiostationen Termine für Sie ausgemacht, unter anderem in der Matt Jacobs Show, die jeden Morgen elf Millionen Hörer hat. Niemand ist effektiver als Matt, wenn es darum geht, dass ein Titel nicht lange in den Buchhandlungen liegt.«

Harry hätte gerne eine ganze Reihe von Fragen gestellt, doch Natalie hatte etwas von einer Winchester: Sobald man den Kopf hob, schoss einem zwar keine Kugel, wohl aber irgendeine Anweisung um die Ohren.

»Aber ich muss Sie warnen«, fuhr Natalie ohne Luft zu holen fort, »die meisten großen Sendungen werden Ihnen nur wenige Minuten zur Verfügung stellen. Es ist nicht so wie bei Ihrer BBC. ›In die Tiefe gehend‹ ist eine Vorstellung, mit der sie nichts anfangen können. Vergessen Sie also nicht, in der knappen Zeit, die Sie bekommen, den Titel des Buches so oft wie möglich zu wiederholen.«

Harry blätterte die Seiten mit den Terminen seiner Tour durch. Jeder Tag schien mit einer neuen Stadt zu beginnen, wo er in einer frühmorgendlichen Radiosendung auftreten würde, gefolgt von zahllosen Interviews mit weiteren Radiostationen oder der Presse. Danach galt es jedes Mal, wieder zurück zum Flughafen zu eilen.

»Behandeln Sie alle Ihre Autoren so?«

»Natürlich nicht«, sagte Natalie, und wieder lag ihre Hand auf seinem Bein. »Was mich auf das größte Problem bringt, das wir mit Ihnen haben.«

»Sie haben ein Problem mit mir?«

»Absolut. Die meisten Interviewer werden Sie nach Ihrer Zeit im Gefängnis fragen und wie es dazu kommen konnte, dass man Ihnen, einem Engländer, den Silver Star verliehen hat. Aber Sie müssen das Gespräch immer wieder zurück auf das Buch bringen.«

»In England würde so ein Verhalten als reichlich vulgär gelten.«

»In Amerika bringt vulgäres Verhalten Sie auf die Bestsellerliste.«

»Aber werden die Interviewer nicht über das Buch sprechen wollen?«

»Harry, Sie müssen davon ausgehen, dass keiner von denen das Buch gelesen hat. Jeden Tag landet ein Dutzend neuer Romane auf ihrem Schreibtisch, also können Sie es schon als Glück betrachten, wenn die mehr als den Titel kennen. Wenn diese Radioleute sich auch nur an Ihren Namen erinnern, ist das schon ein Bonus. Die nehmen Sie nur deshalb in ihre Sendungen, weil Sie ein ehemaliger Sträfling sind, der den Silver Star bekommen hat, also müssen wir das zu Ihrem Vorteil nutzen und überall mit Ihrem Buch wie verrückt hausieren gehen«, sagte sie, als die Limousine vor dem Pierre Hotel vorfuhr.

Harry wäre am liebsten wieder in England gewesen.

Der Fahrer stieg aus und öffnete den Kofferraum, als ein Portier des Hotels auf den Wagen zukam. Natalie führte Harry ins Hotel und durch die Lobby zur Rezeption, wo er nur seinen Pass vorzeigen und ein Meldeformular ausfüllen musste. Natalie schien alles perfekt vorbereitet zu haben.

»Willkommen im Pierre, Mr. Clifton«, sagte der Mann am Empfang und reichte ihm einen großen Schlüssel.

»Ich sehe Sie dann« – Natalie warf einen Blick auf ihre Uhr – »in einer Stunde wieder hier in der Lobby. Dann wird die Limousine Sie zu Ihrem Essen mit Mr. Guinzburg in den Harvard Club bringen.«

»Danke«, sagte Harry. Er sah ihr nach, wie sie zurück durch die Eingangshalle ging, kurz in der Drehtür verschwand und gleich darauf draußen auf der Straße wiedererschien. Ihm fiel auf, dass er nicht der einzige Mann war, der sich die ganze Zeit über nicht von ihr abwandte.

Ein Page begleitete ihn in den elften Stock, führte ihn in seine Suite und zeigte ihm, wie alles funktionierte. Harry war noch nie zuvor in einem Hotel gewesen, in dem es ein Bad und eine Dusche gab. Er beschloss, sich Notizen zu machen, damit er seiner Mutter alles genau erzählen konnte, wenn er wieder zurück in Bristol war. Er dankte dem Pagen und gab ihm den einzigen Dollar, den er besaß.

Noch vor dem Auspacken griff Harry zum Telefon und bat um die entsprechende Verbindung, damit er Emma direkt anrufen konnte.

»Ich rufe Sie in etwa fünfzehn Minuten zurück«, sagte die Dame von der Überseevermittlung.

Harry blieb zu lange in der Dusche, und nachdem er sich mit dem größten Handtuch seines ganzen bisherigen Lebens abgetrocknet hatte, wollte er gerade mit dem Auspacken beginnen, als das Telefon klingelte.

»Ihre Überseeverbindung ist am Apparat«, sagte die Dame von der Vermittlung, und gleich darauf hörte er Emmas Stimme.

»Bist du das, Liebling? Kannst du mich hören?«

»Sure can, honey. Aber klar doch«, sagte Harry lächelnd.

»Du hörst dich bereits wie ein Amerikaner an. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie das in drei Wochen sein wird.«

»Dann werde ich liebend gerne nach Bristol zurückkommen, vermute ich, besonders wenn es das Buch nicht auf die Bestsellerliste schafft.«

»Ist das dein Ernst?«

»Ja. Vielleicht komme ich auch schon früher.«

»Soll mir nur recht sein. Von wo rufst du an?«

»Aus dem Pierre. Sie haben mir das größte Hotelzimmer gegeben, das ich je gesehen habe. In meinem Bett könnten vier Leute schlafen.«

»Du solltest einfach dafür sorgen, dass nur einer darin schläft.«

»Hier gibt es eine Klimaanlage, und im Badezimmer haben sie ein Radio. Aber ich habe immer noch nicht herausgefunden, wie man die Sachen ein- oder wieder ausschaltet.«

»Du hättest Sebastian mitnehmen sollen. Er hätte inzwischen sicher herausgefunden, wie alles funktioniert.«

»Oder er hätte es auseinandergenommen, und ich müsste es wieder zusammensetzen. Wie geht es ihm?«

»Gut. Er scheint ohne Kindermädchen sogar etwas ruhiger zu sein als sonst.«

»Das ist wirklich eine Erleichterung. Und was macht deine Suche nach Miss J. Smith?«

»Die geht nur langsam voran, aber man hat mich für morgen Nachmittag zu einem Gespräch ins Heim von Dr. Barnardo gebeten.«

»Das klingt vielversprechend.«