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Niemis Held ist 16 Jahre alt und geht aufs Gymnasium. Er teilt seine Klasse in Hosenscheißer und Idioten ein. Die Hosenscheißer bekommen alles vorgesetzt und haben Eltern, die dafür sorgen, dass es ihnen im Leben gut geht. Die Idioten wissen, dass die Hosenscheißer immer siegen werden, finden sich jedoch damit ab und wollen nur nicht stören. Niemis Held ist fest entschlossen, nicht so ein kriecherischer Idiot zu werden. Auch wenn ihn seine erste große Liebe wie den letzten Dreck behandelt. Er gewinnt viele Feinde, aber auch einige Freunde. Wie das schwarzhaarige Mädchen aus dem musischen Zweig mit den grünen Augen. Oder Pålle, den sie mobben und der aus schwierigen Familienverhältnissen stammt. Den Hosenscheißern werden sie es schon noch zeigen – und auch der übrigen Welt ...
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Seitenzahl: 288
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Die schwedische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Skjut Apelsinen« bei Rabén & Sjögren, Stockholm
Gunnar Ekelöf, frei zitiert nach der Übersetzungvon Klaus-Jürgen Liedtke in Unfoug Gedichte 1955 – 1962,Verlag Kleinheinrich, Münster 2001
Knut Hamsun, zitiert nach der Übersetzungvon J. Sandmeier und S.Angermann in Knut Hamsun:Hunger © 1958 Paul List Verlag © Januar 1982 dtv.
Copyright © der Originalausgabe 2010 by Mikael Niemi
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-05743-5V002
www.btb-verlag.de
Dinge, die man beachten sollte, wenn man sich verliebt.
Erstens: Verlieb dich nicht.
Und wenn man sich trotzdem verliebt? Dann such dir niemals das hübscheste Mädchen der Schule aus.
Und wenn man sich trotzdem in das hübscheste Mädchen der Schule verliebt? Dann betrachte es als Geisteskrankheit. Versuch, wieder gesund zu werden. Denk nicht mehr an sie.
Und wenn man trotzdem an sie denkt? Halt bloß deinen Mund. Sag, was du willst. Aber nur nicht das. Lass es sie niemals wissen. Vielleicht hat sie schon etwas geahnt, bei deinem feuchten Dackelblick, aber dabei muss es bleiben. Sie wird sich nie in dich verlieben, nur weil du in sie verliebt bist, so funktioniert das nicht. Du möchtest natürlich glauben, dass ein Wunder passiert. Vielleicht hast du es mal im Film gesehen. In der Schlussszene, nach unzähligen Missverständnissen, schenkt er ihr rote Rosen, und sie schmilzt dahin, fällt ihm willenlos in die Arme. Es besteht eine Chance von vielleicht eins zu tausend, dass so was passiert. Neunhundertneunundneunzig Mal sagt sie Nein, aber vielleicht das letzte, tausendste Mal …
Fang nie an, über dieses tausendste Mal zu sinnieren. Dass ausgerechnet heute dein absoluter Glückstag ist, der Traumtag, an dem die Sterne perfekt für dich stehen. Sie wird Ja sagen. Sie nimmt die Rosen und …
Ich kaufe ein Dutzend Rosen und verstecke sie unter meiner Jacke. Ich warte und warte, und zum Schluss kommt sie aus dem ganzen Gewühl heraus. Sabina Stare. Alle anderen sind Schatten, doch um sie herum ist ein Lichtkegel. Und plötzlich bekomme ich Angst, fange an zu zögern, aber dennoch hole ich die Blumen heraus und gehe auf sie zu.
Und das Publikum merkt, dass da etwas im Busche ist. Die Schatten teilen sich. Alle verstummen, der ganze Schulflur zoomt die Szene heran. Ganz vorn steht sie und strahlt, das ist wie Röntgen, ich werde durchsichtig, ein Loch. Die Haut schält sich von den Händen, als ich ihr die Rosen hinstrecke, das Fleisch schmilzt zu Flocken, die Knochen leuchten kreideweiß, und ich kriege nur heraus:
»Hier.«
»Was soll das?«, fragt sie.
Meine Hand schießt nach vorn, so dass sie gezwungen ist, die Rosen zu nehmen.
»Weil ich dich liebe.«
Eine Welle durchläuft den Flur, die Hunderte von Zuschauern, ein ionisiertes Gas. Es ist wie im Film, obwohl es wirklich stattfindet. Und nach einer halben Sekunde wird allen die Komik der Situation klar. Da bricht das Lachen aus. Ein zerstückeltes Lachen von Zähnen, weißen Emailzacken, die alles zerhacken. Sie lässt die Blumen auf den schmutzigen Boden fallen, dreht sich um und geht. Ich bleibe stehen, während die Zähne immer noch kauen und essen, meinen Brustkorb bis auf die Knochen abnagen, bis aufs Herz, und da sterbe ich. Die ganze Schule sieht, wie ich sterbe. Es passiert hier und jetzt, vor aller Augen. Mein sechzehnjähriges Leben ist beendet.
Seit sechzehn Jahren bin ich grau. Ich sage das, als wäre es immer noch so, obwohl es vorbei ist. Ein sinnloses Leben war das, was ich da betrachte, ein Leben, das nicht den geringsten Abdruck hinterlassen hat. Seit ich klein war, habe ich mich immer in der Mitte gehalten. Nie war ich der Beste bei irgendwas, und immer war ich der gleichen Meinung wie alle. Ich habe schwimmen gelernt, als die halbe Klasse schwimmen konnte. Ich fing an, Hiphop zu mögen, als alle anderen Hiphop mochten, und ich hörte auf, es zu mögen, als es nicht mehr in war. Pizza war mein Lieblingsgericht. Blau war meine Lieblingsfarbe. Ich fieberte für denselben Fußballverein wie die anderen, mochte dieselben Filme, dieselben Automarken, die gleiche Kleidung. In der Essensschlange in der Kantine stand ich immer in der Mitte. Ich bin mittelgroß, mittelschwer, mitteltraurig, ich habe mich nie hervorgetan. So war mein Leben, und so hätte ich weiterleben können, eine graue Staubmaus, die von großen Füßen hin und her getreten wird, vollkommen unwichtig für die Welt. Mein Leben ist zu Ende, und ich bin wütend, während ich dies schreibe, der Stift zittert in meiner Hand, ich würde am liebsten losschreien, etwas kaputt machen, zerstören.
Schließlich hole ich die Blumenreste aus meiner Schultasche, sie sind verwelkt und stinken nach Beerdigung. Ich radle ins Industriegelände und finde eine Kiesgrube, in die ich sie werfe. Dann kippe ich eine Flasche Spiritus darüber, die ich aus dem Putzschrank geklaut habe, ich gieße die Flüssigkeit über die Stiele, ertränke die Blumenblätter. Anschließend werfe ich ein Streichholz. Das flackert auf, eine blaue Flamme schießt hoch, dann knistert es und fängt an zu rauchen. Eine Weile bleibe ich so stehen und sehe es brennen, mein sechzehnjähriges Leben. Ich opfere es. Alles verschwindet, verkohlt. Tränen steigen mir in die Augen, aber ich kann nichts machen. Alles muss weg, ausradiert werden. Bald bleibt nur noch ein ekliger, glimmender Haufen zurück.
Ein Kerl, der auf dem Rad vorbeifährt, starrt mich an und ruft:
»Was machst du denn da?«
»Würstchen grillen«, antworte ich.
Es ist nicht leicht, ein Klassenzimmer zu betreten, wenn man keine Haut hat. Wenn man rundum neu ist und empfindlich wie eine frisch geschlüpfte Libelle, die Hülle dünner als Seide, wenn man weiß ist wie ein Papier, auf das noch niemand etwas gekritzelt hat, weder Mutter noch Lehrer oder Freunde. Wenn man Schürfwunden kriegt und zu bluten anfängt, sobald einen jemand nur streift, dann kommt man schon ins Zweifeln. Dann holt man tief Luft. Man öffnet ein Loch im Gesicht, das Mund genannt wird, damit das Fruchtwasser herausgedrückt werden kann, und dann fängt man an, etwas Kaltes, Scharfes einzusaugen, das Luft genannt wird, mit kleinen spitzen Kügelchen darin, die Sauerstoff genannt werden und die in der Brust platzen wie Kohlensäurebläschen in der Cola, und dann kippt der Kopf mit der Stirn voran nach vorn und stößt gegen die Tür, die weich und fleischig ist und in alle Richtungen nachgibt, dass es platzt und einen Spalt reißt, und dann wird es leuchtstoffröhrenweiß.
Nur langsam treten Konturen hervor. Formen, die sich im Dunst bewegen, die flüstern, die sich in die eigene Richtung winden und rascheln. Dann ist das erste Kichern zu hören. Ein abgehacktes, flüsterndes Pisskichern, das schnell anwächst und Gesellschaft bekommt. Ein Murmeln aus dem Tal der Todesschatten, die Zombies erwachen mit keuchenden Ventilen. Es riecht nach Tod, der ganze Raum stinkt nach Obduktion und Verwesung, und man fängt schon an, alles zu bereuen, warum ist man nicht umgekehrt, was macht ein neugeborener Menschensohn unter diesen Spermawalen?
Man zwängt sich hinein, so läuft das, man tritt ein Loch in die Welt, und dort hinein presst man seinen Körper. Und diese Mulde, dieser Tubus, wird dich den Rest deines Lebens begleiten. Eine zähe Hülle, gerade mal so groß wie man selbst, die einem folgt, wohin man auch geht, eine eigene kleine Räumlichkeit. Und innerhalb dieser Höhle bestimmt man selbst. Aber der Rest, alles, was außerhalb ist, das ist etwas, über das man keinerlei Kontrolle besitzt.
In der Mittagspause schließe ich mich in eine der Toilettenkabinen ein und tue so, als würde ich scheißen, spüle ab und zu, wenn ich höre, dass jemand herein kommt, und versuche mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Es tut so verdammt weh in der Lunge, besonders in dem Bereich, wo das Herz sitzt. Ich höre Stimmen da draußen, jemand redet über den Idioten, der sich blamiert hat, haha, du hast doch bestimmt auch schon davon gehört, was gestern passiert ist, dieser Typ, der es probiert hat, der geglaubt hat, er würde es hinkriegen, ich hab es selbst gesehen, was für eine Flasche, haha, du hättest sein Gesicht sehen sollen, haha, wie er hinterher geguckt hat, ich dachte, der kippt um …
Erst als die Stunde anfängt, husche ich hinaus, und trotzdem, verdammt, als würde ein Dämon alles lenken, geht sie genau in der Sekunde vorbei, ich stoße fast mit ihr und ihren Freundinnen zusammen, sie weichen zurück und glauben, ich hätte das mit Absicht getan, dass ich mich wie eine Hyäne an sie heranschleiche und mich an sie schmeiße, und sie sagt:
»Verpiss dich! Hast du es immer noch nicht kapiert: Du sollst dich verpissen!«
Und die Meute hat uns bereits entdeckt, das Publikum steht da, und der Tratsch ist bereits in vollem Gange, bevor ich noch um die Ecke bin, er hat sich wieder an sie rangemacht, habt ihr das gesehen, der Kerl hat sie auf dem Klo abgepasst, man glaubt es kaum, der muss einen Totalschaden haben.
Es tut verdammt weh, es sich einzugestehen. So wird es bleiben. Mein altes Ich gibt es nicht mehr, ich bin gestorben und ein anderer geworden, aber das interessiert niemanden. Für die ist alles wie vorher. Die Welt ist dieselbe, und keiner merkt, dass ich ausgestiegen bin.
Der muss einen Totalschaden haben.Du hättest sein Gesicht sehen sollen, haha …
Nach der Schule ging ich nach Hause und habe mich ins »Büro« gesetzt, wie Mama es nennt. Ich habe kein eigenes Zimmer, weil wir nur in einer Ein-Zimmer-Wohnung leben, aber wir haben alles so eingerichtet, dass wir uns so wenig wie möglich auf die Nerven gehen. Das »Büro« befindet sich in der Küche und besteht aus einem Schreibtisch mit einem uralten Computer, an dem Mama ihre Rechnungen bezahlt, einem Regal mit Ordnern und einem Aktenschränkchen, wo mir die beiden unteren Schubladen gehören. Die Küchentür kann geschlossen werden, wenn der andere Fernsehen guckt, und dort in dem Geruch vom Bratenfett nach dem Essen mache ich normalerweise meine Hausaufgaben für die Schule.
Das heißt: so habe ich es bis jetzt gemacht. Aber nun gibt es nur noch eins: aussteigen. Das Gymnasium links liegen lassen, die Schulbücher ins Altpapier werfen und das Zuchthaus verlassen. Mama wird wahnsinnig werden. Mich einen Sozialfall nennen. Aber lieber ihr Wutausbruch als noch ein einziger Tag mit diesen Erniedrigungen. Gleich morgen werde ich zum Arbeitsamt gehen. Anfangen zu stempeln. Den ganzen Winter mit kaputten Hosen herumlaufen, bestenfalls im Sommer einen Praktikumsplatz bekommen und Friedhöfe harken.
Mir war trübsinnig zu Mute. So hatte es ja nicht kommen sollen. Ich opferte schließlich mein altes Leben, um ein neues zu bekommen.
Ohne große Begeisterung suchte ich eine Tiefkühlpizza heraus und machte sie in der Mikrowelle heiß. Sie schmeckte fade und sinnlos. Warum schmecken tiefgefrorene Pizzen immer nach alten Turnschuhen, während die frischgebackenen aus der Pizzeria so wahnsinnig gut sind? Äußerlich sehen sie vollkommen gleich aus, und sie enthalten die gleichen Zutaten: Schinken, Tomate, Käse und alles andere. Das müssten die Herren Professoren mal untersuchen.
Hinterher war ich nur halb satt, obwohl ich auch noch drei Glas Milch getrunken hatte. Ich schlich zurück ins »Büro« und starrte den dunklen Computerbildschirm an. Scheiß aufs Gymnasium. Aussteigen. Mich in einer Mulde im Wald verstecken und auf die ganze Welt pfeifen. Sabina Stare gab es nicht mehr. Ich musste sie wie ein Pflaster abreißen, wie eine Brandwunde von der Haut kratzen.
Der Gedanke an sie tat so weh, dass ich mich gekrümmt vorbeugen musste. Ich griff nach dem Erstbesten, einem Stift. Fand ein Stück Schmierpapier, ließ beide sich begegnen. Sah, wie die Bleistiftspitze Worte formte:
Sterne aus Blut, wenn die Brust geöffnet wird.
Das kam von ganz allein. Ganz automatisch. Als wäre nicht ich derjenige, der das schrieb, als würde sich der Stift von allein bewegen. Erstaunt las ich die Zeile, immer und immer wieder.
Sterne aus Blut, wenn die Brust geöffnet wird.
Das war eine Nachricht an mich selbst. Doch was bedeutete sie? Dass ich am Herzen operiert werden sollte? Dass ich erschossen werden würde? Oder handelte es von Hoffnung, von einer Art Feuerwerk?
Eine ganze Weile lang saß ich nur da und spürte die Kraft der Worte. Und langsam begriff ich es. Das war ein Gedicht. Das war die erste Zeile eines Gedichts. Aus reinem Zufall hatte ich einen Faden gefunden, an dem ich ziehen konnte. Der Rest des Gedichts war noch in mir, eingewickelt in ein riesenhaftes Wollknäuel.
Ich beugte mich vor, umklammerte den Stift, blinzelte und versuchte es noch einmal:
Fontänen der Ekstase. Von großer Ekstase.Brennender Ekstase.
Nein. Ich strich es durch.
Zottiger Asphalt auf dem Tier.
Ja, da war es zurück. Jetzt bekam ich es wieder zu packen. Es ging darum, sich nicht anzuspannen, nicht zu viel zu denken.
Zwei Stürme in der Pistole,durch die Stadt schlängelt sich ein zerborstenes Rohrauf der Jagd nach Wasser.
Ich legte den Stift hin. Das Gedicht war fertig. Meine Hand zitterte, es prickelte in den Fingerspitzen, als würden sie auftauen, nachdem sie erfroren gewesen waren. Ich las das Gedicht immer und immer wieder. Ganz aufgeregt. Das sagte etwas über mich, was ich selbst nicht wusste. Es erklärte nichts. Und trotzdem war es hundertprozentig wahr.
Im selben Moment kam Mama nach Hause. Schnell versteckte ich den Zettel in der Schreibtischschublade.
»Du hast Pizza gegessen«, sagte sie.
»Ich habe keine Pizza gegessen.«
»Das kann ich riechen. Die war für Samstag gedacht. Das war unsere Samstagspizza, die du da gerade reingestopft hast.«
»Hoppla«, sagte ich.
Was hätte ich sonst sagen sollen.
Meine Mutter, also die Person, die mich einst geboren hat, besteht aus einer Nase. Diese glänzt, ist spitz und hat große Poren. Um die Nase herum befindet sich ein Teig, der Gesicht genannt wird. Der Teig bewegt sich, wenn sie isst. Dann öffnet sich ein Loch im Teig, und ein Rohr führt hinunter zu einem Sack, der Magen genannt wird. Um den Magen herum befindet sich ein warmer, wogender Sack, der Bauch genannt wird. Unterhalb des Bauchs gibt es zwei gebogene Würste, die Beine genannt werden. Sie gehen in platte Hornhaut über, die Füße genannt wird. Unterhalb der Füße gibt es etwas Glänzendes, das man Kunststofffußboden nennt. Da ist meine Mutter zu Ende, und etwas anderes hat angefangen. Etwas, das Wohnung heißt.
Meine Mutter ist nicht Einstein. Ich meine das gar nicht böse, ich sehe das nur als Information an. Sie ist nicht die Schlauste von uns beiden. Ich bin Mama in fast allem überlegen, auch physisch. Ich schlage sie im Armdrücken, im Steinwerfen, im Weitspucken, Balljonglieren, Entfernungen schätzen, in der Lautstärke und beim Computerspiel. Ich bin größer als Mama. Ich scheiße längere Würste.
Seit ich auf dem Gymnasium bin, merke ich immer deutlicher, dass ich meiner Mutter auch intellektuell überlegen bin. Dabei handelt es sich oft um Basiswissen, sie glaubt beispielsweise, dass Afghanistan größer ist als Pakistan. Oder dass der Mensch mehr Gehirnzellen besitzt, als es Sterne im Universum gibt. Sie versteht nichts von Integralen oder Gleichungen zweiten Grades, was wohl auf die Mehrzahl der Bürger unseres Landes zutrifft, aber sie ist außerdem felsenfest davon überzeugt, dass Entgelt mit d geschrieben wird, obwohl ich ihr zum Schluss sogar ein Wörterbuch neben ihren Haferbreiteller gelegt habe.
Und da sieht man eine weitere Eigenschaft meiner Mutter, eine Sturheit, fast zum Verrücktwerden. Selbst wenn ich sie überzeugt habe, wenn ich ihr die Fakten schwarz auf weiß präsentiert habe, kann sie einwenden, dass das Wörterbuch zu alt ist. Ich zeige auf das Jahr der Herausgabe, 1998, unsere Sprache wird sich seitdem wohl kaum besonders verändert haben, aber sie erklärt, das Buch sei ja aus dem letzten Jahrhundert, was in gewisser Weise natürlich stimmt. Und außerdem kann jeder so ein Wörterbuch drucken. Nur weil es in irgendeinem Buch steht, muss es nicht stimmen. Ich erkläre, dass Svenska Akademiens ordlista nicht irgendein Buch ist. Da schnappt sie sich das Buch, blättert darin, zeigt auf eine Seite und ruft, dass es ja in Norwegen gedruckt wurde. Stimmt nicht, widerspreche ich. Stimmt wohl, erklärt sie, ob ich vielleicht die norwegische Schreibweise bei uns einführen wolle? Ich hole mir das Buch wieder und lese auf dem Vorsatzblatt Gedruckt bei AIT Gjøvik AS Norge. Ich traue meinen Augen nicht. Mama mustert mich triumphierend, während ich die Mitglieder der Schwedischen Akademie wie achtzehn Pisslöcher im Tiefschnee versinken sehe.
Ich bin besser als Mama beim Kreuzworträtsel, bei Sudoku, bei Pincodes und längeren Telefonnummern, bei den Nachnamen von Leuten, den Ministern in der Regierung und bei Automarken. Ich kann ihre beiden festen Lottotippreihen auswendig, während sie selbst sie auf einem Notizzettel in ihrem Portemonnaie aufgeschrieben hat. Ich kann den ganzen Text auf dem Milchkarton auswendig herunterleiern, inklusive Riboflavinanteil und dem Verfallsdatum, bevor sie HALLO SUSSI nur mit Großbuchstaben eintippen kann. Sie findet Amerika reizend, und dann frage ich sie immer, ob sie Nord- oder Süd- oder Zentralamerika meint und ob es die Ausrottung der Indianer, der Irakkrieg, die Hiroshimabombe, die Wasserfolter beim CIA oder die Kunst ist, am meisten CO2 – Ausstoß pro Person in der Welt zu erzeugen, was sie so begeistert. Sie erklärt, dass New York die coolste Stadt der Welt ist. Ich erwidere, dass ich bereits in der dritten Klasse aufgehört habe, das Wort cool zu benutzen. Daraufhin ist sie beleidigt und beugt sich über den Teller. Auf dem liegt eine ungenießbare Masse, die sie als Gesundheitsbrei bezeichnet. Sie hat ihn selbst gekocht, da er laut der grünen Seite im Internet so besonders gesund und ökologisch ist, und hat Schalen, Kleie und Stiele hinzugefügt, bis der Nährwert dasselbe Niveau wie das von Sägespänen erreicht hat. Mamas Haferbrei ist so unverdaulich, dass sie ihn einen halben Tag lang einweichen muss, bevor sie ihn kochen kann, sie isst den Matsch unter lautem Stöhnen und spuckt die Schalenreste aus, sammelt sie auf dem Tellerrand, und noch bevor sie vom Tisch aufsteht, fängt ihr Magen an, zu rumoren und Pupsgase zu erzeugen, und in diesem Zustand macht sie sich hastig auf zur Arbeit.
Morgen. Ein neuer Tag, ein neues Leben. Verschlafen schlurfte ich ins Badezimmer. Ich versuchte zu vergessen, wie ich aussah, versuchte so zu tun, als liefe ich durch die Stadt und sähe eine unbekannte Person das erste Mal. Dann begegnete ich mir im Spiegel.
Stell dir ein Omelett vor. Ein Sechserpack Eier, die du mit dem Holzlöffel verrührst. Beiß von einer Knackwurst ab und spuck den Zipfel in die Mitte. Kräftig pfeffern, schwarze Hautunreinheiten. Kipp zwei starrende Perlzwiebeln, wässrig und leer, hinein. Schneid von einem Haushaltshandschuh einen Finger ab, so ein schlabberiges Lippenetwas, das etwas schief sitzt. Wirf ein paar dicke Preiselbeeren dazu, die scharf anbraten, bis sie zur reifen Akne platzen und anfangen zu tropfen.
Fertig ist mein Aussehen. Mein Werbeplakat.
Gleichzeitig, und das ist schon merkwürdig, erwecke ich keinerlei Aufmerksamkeit. Die Leute sehen mich nicht. Ich bin wie eine hässliche Tapete, ein leerer Teller, den man zur Seite schiebt, der Blick bleibt nicht haften, rutscht ab. Oft merke ich, wie die Leute mich einfach vergessen. Man kann mir eine witzige Begebenheit erzählen, ohne sich daran zu erinnern, dass ich dabei war, als sie passierte. Es ist schwer, so ein Leben zu akzeptieren. Ich würde niemals die Hauptrolle bekommen. Wenn der Film einmal zu Ende sein wird, wird man mich nicht im Abspann finden. »Ein Dank an alle Statisten« wird als Allerletztes in der kleinsten Buchstabengröße stehen. Das war dann die Spur, die ich hinterlasse. Der Applaus gilt anderen. Den Schönen. Den Zufriedenen.
Ich wühlte ziellos in meiner Hälfte des Flurschranks herum. Was meine Kleidung betraf, so war alles kackfarben. Unbegreiflich, dass ich das nicht schon vorher bemerkt hatte. Tag für Tag hatte ich die gleiche Art von dunklen Pullovern angezogen, und wenn einer verschlissen war, hatte ich einen neuen in haargenau demselben Stil gekauft.
Unangenehm berührt warf ich die Schranktür zu und ging in die Küche. Mein Blick fiel auf den Putzschrank. Ich öffnete die Tür und entdeckte das Ekligste, was es in Richtung Kleidung jemals gegeben hat. Es hing dort an einem Haken, ich holte es heraus, befühlte den billigen Polyesterstoff, war kurz vorm Kotzen, als ich das Muster betrachtete. Mamas Putzkittel. Er stammte aus dem Mittelalter, sie hatte ihn von ihrer Mutter geerbt, eine knallgrüne, knielange Angelegenheit aus den Sechzigern mit psychedelischen roten und lilafarbenen Blumen. In der Tasche lagen ein benutztes Taschentuch und ein paar aneinander klebende Putzhandschuhe. Hier und da gab es Flecken, Ausfransungen, kleine Risse, eine Naht, die sich gelöst hatte, so dass lange Fäden heraushingen. Der Kittel war so hässlich, dass er die Grenze zum Hässlichen bereits überschritten hatte und etwas anderes geworden war, ein Schock. Ich würde darin wie ein Zwischending aus einem Verrückten und einem farbenblinden Oberpriester aussehen, und ich wusste, dass keiner in meinem pupsvornehmen Gymnasium jemals in etwas Ähnlichem herumgelaufen war.
Ohne meine Mutter zu wecken, lief ich die Treppen hinunter und blieb in der Haustür stehen. Noch war alles wie immer. Ich konnte weiterhin als mein altes, normales Ich rausgehen, die Maske weitertragen, alle täuschen.
Bei Tageslicht war der Kittel vielleicht sogar noch hässlicher, die reinste Migräneattacke. Mit zitternden Händen zog ich ihn über, knotete den Gürtel in der Taille, konnte den Ajaxgeruch riechen. Dann holte ich dreimal tief Luft, schob die Tür auf und rannte zur Bushaltestelle.
Es war herbstlich kühl, es wehte unangenehm, und die üblichen morgenmüden Verdächtigen warteten schon. Zwei Frauen, ein Papa mit Kinderwagen, die Thailänderin, der Türke und noch ein paar. Merkwürdigerweise reagierte niemand auf meinen Aufzug. Sie froren weiter vor sich hin, unterhielten sich, knirschten mit den Zähnen oder schwiegen, genau wie sie es immer taten. Hinten vom Doppelhaus her sah ich Pålle kommen. Er ging in den Politikkurs ein Jahrgang über mir, ein giraffenähnlicher Loser mit wässrigem Blick, der sich in sinnlosem Wissen suhlte. Mal handelte es sich um die Angriffstaktik von Panzern im Zweiten Weltkrieg, mal um englische Automarken, dann um alte Synthesizer oder um globale Epidemien. Das letzte Mal hatte er davon gelabert, er wolle sich zum zivilen Landesschutz melden.
Pålle wich einen Schritt zurück, als er mich sah, und schlenkerte mit seinem Giraffenhals, als hätte er das Gleichgewicht verloren. Dann schaute er weg. Er hatte den Putzkittel gesehen, soviel stand fest, versuchte aber sein Gesicht zu wahren.
»Ich habe eine englische Homepage gefunden«, legte er los. »Du mailst denen die Musikfiles, die du magst, und dann konvertieren sie sie ins Analoge und pressen eine echte Vinylscheibe. Ist doch super, was, gutes altes schwarzes Vinyl mit Nadelrille und Abstand zwischen den Songs. Und den Umschlag drucken sie auch in dem großen alten LP-Format, ich kann dir die Adresse geben, wenn du willst …«
Zum Glück kam da der vollgestopfte Bus, und ich landete weit weg von ihm, irgendwo im Gang. Der eine oder andere warf dem Putzkittel einen irritierten Blick zu, aber mehr passierte nicht. Vielleicht war es noch zu früh am Morgen, die Leute waren noch zu müde.
Aber als ich im Zentrum in einen anderen Bus stieg, da ging’s los. Ein fetter Typ mit Plastiktüte, ganz offensichtlich ein Alki, zwängte sich dicht neben mich, so nahe, dass ich den Gestank seines Morgenbiers riechen konnte. Ich glaube, er wollte mir Angst einjagen. Zuerst wollte ich ihm ausweichen, an einem normalen Tag hätte ich das getan, aber in dem Morgengedränge war das gar nicht möglich. Außerdem hatten die Nächststehenden bereits bemerkt, dass da was los war. Mehrere Schüler meiner Schule flüsterten sich grinsend was zu, und vor denen wollte ich nicht als Feigling dastehen.
»Hö hö, hör mal«, grölte der Kerl, dass alle es hören konnten, »is der Zirkus gekommen?«
Ich starrte ihn an, direkt in seine rotgeäderten Augen.
»Wieso«, erwiderte ich. »Brauchste ’nen Job?«
Kichern von den Umstehenden. Eins zu Null für mich.
»Biste schwul, oder was, sieht man ja, dass du schwul bist, du kleiner Scheißer.«
»Wenn du eine Gelegenheit suchst, musste woanders fragen. «
Wieder Kichern. Unser Publikum wuchs. Der Putzkittel fühlte sich wie eine Schlangenhaut an, wie Gift.
»Ich finde solche wie dich zum Kotzen, hau ab.«
»Hau doch selbst ab.«
»Ne, du sollst verschwinden. Weg hier.«
Der Kerl packte den Putzkittel mit seinen Bierwürstchenfingern und schüttelte mich hin und her. Er war unangenehm stark. Keiner protestierte oder rührte auch nur einen Finger, um mir zu helfen. Der Bus näherte sich einer Haltestelle, und mir wurde klar, dass das meine Chance war. Als der Fahrer bremste und der Saufkopf auf mich fiel, sprang ich schnell zur Seite. Der Kerl fiel weiter, stolperte in die Menschenmenge und donnerte dann schwer zu Boden. Die Plastiktüte ließ ein Glasklirren vernehmen, und ein süßlicher Schnapsgeruch breitete sich aus. Der Fahrer bemerkte den Tumult, zog die Handbremse und stand von seinem Sitz auf. Ich beschloss, den beiden die Diskussion zu überlassen, verließ den Bus durch die Hintertür und spazierte die letzten Stationen entlang zur Schule. Mir war etwas wunderlich zumute. Schwindlig. Vielleicht war es das Adrenalin.
Als ich auf dem Schulhof ankam, merkte ich, dass die Leute reagierten. Zwei Wirtschaftsschüler standen am Eingang, sie verrenkten sich fast den Hals nach mir. Drinnen im Treppenhaus blieben die Leute stehen und japsten nach Luft, ich hörte Pfiffe, Gelächter, einen Ruf, den ich nicht verstand. Mechanisch stapfte ich weiter durch die Flure, als hätte mich jemand aufgezogen, vorbei an morgenmüden Klassen, die darauf warteten, dass der Lehrer kam.
»Guck mal … verdammte Scheiße … hehe … eine Transe … haste deinen Pyjama noch an…?«
Schließlich erreichte ich den Physikraum. Runlert hatte soeben aufgeschlossen, und ich ging mit dem Schülerstrom hinein. Ließ mich ganz hinten auf einen Stuhl fallen und holte meine Bücher heraus. Ruhig und gelassen, nur nichts übertreiben. Thermodynamik. Kapitel vier.
Ich musste der Wahrheit über meine Klassenkameraden in die Augen sehen. Ich musste mein neues Leben ohne Scheuklappen leben, es war an der Zeit, die Wahrheit zu sagen.
Meine Gymnasialklasse besteht zur Hälfte aus Arschgeigen, der Rest sind Idioten. Die Arschgeigen wollen Rechtsanwälte oder Ärzte werden, um Massen an Geld zu verdienen und etwas Schickes auf die Visitenkarte drucken zu können, nicht, um ihren Mitmenschen zu helfen. Sie werden gepuscht von ihren Daddys und Mamis, die locken und drängen, ermuntern und schmieren, damit es ihrer Nachkommenschaft gelingt, den Führerkranz zu übernehmen und als Erste von der Tafel zu nehmen, während die Reste für uns andere übrig bleiben. Die Arschgeigen haben alles, die Arschgeigen stehen nie Schlange, den Arschgeigen wird vorgekauter Kuchen ins Maul geschoben, um sie herum liegen Matratzen für den Fall, dass sie stolpern könnten. Einer Arschgeige kann es nie schlecht gehen im Leben. Was für Versager sie auch sind, es gibt immer jemanden, der hinter ihnen aufräumt. Wenn sie es nicht zum Jurastudium schaffen, weil sie zu blöd oder zu faul sind, dann blechen die alten Herrschaften für eine Ausbildung im Ausland hunderttausend Dollar, und schwups hat man das Papier, das man braucht. Und dann geht es geradewegs in Papas schicke Firma, da besteht kein Risiko, arbeitslos zu werden oder Stipendienschulden abzahlen zu müssen. Ist man reich, so wird man noch reicher, so lautet die Regel im Gesellschaftssystem der Arschgeigen, das sie selbst aufgebaut haben, also kein Wunder, dass es ihnen gut passt.
Die andere Hälfte, das sind die Idioten. Die Idioten sind merkwürdigerweise schlauer als die Arschgeigen. Aber die Idioten wissen, dass die Regeln gegen sie sprechen, dass die Arschgeigen gewinnen werden, egal wie sehr alle anderen auch pauken mögen, dass Idioten im besten Falle immer nur auf Platz zwei gelangen. Aber das finden sie ganz okay. Lieber der Zweite sein als gar nichts, das ist ihre Einstellung zum Leben, und deshalb sind sie Idioten.
Oft wollen sie was im Computerbereich machen, weil sie hoffen, dass die IT-Branche gerechter ist als andere, dass es dort nur darum geht, zu programmieren, zu beraten und schicke Homepages für Großkonzerne zu basteln, und dass derjenige, der am logischsten denken kann, den Job auch kriegt. Oder sie wollen Forscher werden in irgendeinem verstaubten Bereich der Universität, mit eigenem kuscheligen Labor, wo sie mit ihren Reagenzgläsern jonglieren und darauf warten können, bis alle, die älter sind als sie, gestorben sind, um dann selbst Professor zu werden. In den Mittagspausen bequatschen die Idioten Synnöve in der Schulbibliothek, merkwürdige ausländische Fachzeitschriften über Astrophysik oder Biomedizin zu abonnieren, worauf sie nur erwidert, dass die Schulbibliothek sich nur Teknikens Värld leisten kann. Die Idioten sind oft genauso arm wie ich, deshalb werden sie nicht so gehasst wie die Arschgeigen. Teilweise tragen sie verwaschene Kleidung, zerfetzte Jeans und billige Synthetikrucksäcke. Sobald sie eine Chance haben, suchen sie im Internet nach einem neuen Molekül, das ein Japaner entdeckt hat, oder ob es den Yankees gelungen ist, den Computerfehler bei der letzten Marslandung zu korrigieren. Es sind Nerds, und in guter alter Nerdmanier finden sie immer andere Nerds mit exakt den gleichen Interessen wie sie selbst, und dann hocken sie mit beschlagenen Brillen auf dem Flurboden und reden über Verschlüsselungsmethoden im Netz. Verdammt, sehen die süß aus, direkt zum Verlieben.
Ein Idiot zu sein, das heißt, sich zu ducken, den Lehrern nach dem Mund zu reden, während das Gesicht nur so von Fett glänzt, oder ein kicherndes, hysterisches Idiotenlachen vom Stapel zu lassen, sobald einer der Arschgeigen einen Witz erzählt. Die Idioten wollen es immer allen recht machen, so stellen sie sich ihr Leben vor, kleine, folgsame Haustierchen, die loslaufen, sobald man einen Stock wirft. Ich kriege eine Gänsehaut von denen. Eine Arschgeige kann ich nie werden, dazu ist meine Mutter zu arm, aber ein Idiot zu werden, das wäre einfach. Ich muss nur aufhören zu kämpfen, innerlich zu brennen. Nur tun, was einem gesagt wird und den Häuptlingen immer gefällig sein. Nein, lieber lege ich mich mit Benzin und einem plattgedrückten Rosenstrauch in eine Mulde und verabschiede mich.
»Warst du in Afrika?«, unterbrach Anselm von der Bank nebenan meine Überlegungen.
»Was?«, fragte ich verständnislos nach.
»Na, dein Hemd! Oder was auch immer das ist.«
Ich starrte ihn verwundert an. Er zeigte auf mich und schüttelte den Kopf. Ich zeigte gleichgültig zurück. Da gab er auf und drehte sich nach vorn. Runlert blätterte in Matrizen in seiner Aktentasche, während er mir nachdenkliche Blicke zuwarf und offenbar etwas Lustiges über mich sagen wollte. Ich starrte intensiv zurück, und das reichte offenbar, dass er seine Meinung änderte. Die Mode der Jugend, hm hm. Vielleicht lieber einfach nichts sagen …
Der Vormittag verging, und der Sturm nahm an Stärke zu. Sobald die Pause begann, fingen die Arschgeigen an zu stänkern:
»Warst du in der Mülltonne?«
»Guck mal, ’n Ufo!«
»Hat die Klapsmühle heute Ausgang?«
Ich verzog keine Miene. Tatsache ist: Ich sagte kein Wort. Stattdessen spürte ich etwas zwischen den Zähnen, ein Stückchen Sehne vom Schinkenbrot am Morgen. Ich stocherte gewissenhaft in meinen Zähnen und hielt das Ergebnis zwischen den Fingerspitzen, dass es alle sehen konnten. Eine kleine weiße Haut.
»Iih, wie eklig!«, riefen einige.
Sorgfältig legte ich sie dann auf meinen Daumennagel, und mit einem schnellen Schnipsen schoss ich sie in die Luft. Wo sie landete, kann ich nicht sagen.
»Scheiße, was bist du für eine Sau! Ich habe es in die Haare gekriegt, nimm das sofort weg …«
Da hielt ich den Daumen hoch. Das Sehnenstückchen klebte noch am Nagel. Ruhig lud ich erneut durch für einen weiteren Schnipsversuch und sah, wie die Arschgeigen in Deckung gingen.
Das Mittagessen wurde noch anstrengender. Zuerst hatte ich überlegt, es einfach zu überspringen, aber das erschien mir zu feige. Die Kantine lag auf der anderen Seite des Schulhofs, sie hatte ihren eigenen Charme. Zuerst latschte man je nach aktueller Wetterlage über den Hof – Schneesturm, prasselnder Regen oder arktische Kälte, ohne Jacke oder andere schützende Bekleidung, da keiner Lust hatte, sie erst aus dem Schrank herauszuholen. Anschließend stand man in einer sich windenden Schlange, die sich teilweise bis zur Außentür erstreckte und noch ein gutes Stück weiter auf den Asphalt. Langsam wie ein Tausendfüßler arbeitete sich die Schlange vorwärts zu Hackklößchen, den zerkochten Kartoffeln und dem aufgetauten Salat aus grünen Erbsen, Mais und Karotten, der immer noch kleine Eisklümpchen zeigte, und dann wanderte man mit dem Tablett in den Händen fünf Minuten herum, bis endlich ein Stuhl frei wurde und man sich auf den arschwarmen Platz werfen und anfangen konnte, den Fraß in sich hineinzuschaufeln.
Bereits in der Schlange war die Feuerprobe zu bestehen. Ich spürte, wie alle um mich herum einen Schritt von mir Abstand nahmen, so dass ich in einer Luftspalte stand. Sie wollten nicht Gefahr laufen, mich zu berühren. Ich könnte ja eine ansteckende Krankheit haben. Gleichzeitig merkte ich, wie die Leute an den nächststehenden Tischen mich anstarrten. Sie steckten die Köpfe zusammen, ließen Kommentare los, grinsten, zeigten und gestikulierten. Ich hielt sie lieber aus dem Augenwinkel heraus im Blick für den Fall, dass sie zum Angriff übergingen. Den Mündern konnte ich ansehen, wie sie grölten, aber die meisten Kommentare wurden vom Klappern von Hunderten von Tellern und Bestecken verschluckt, so dass ich kaum etwas mitbekam.
»Schwuchtel!«, drang es trotzdem zu mir.
»Hirnkranker.«
»Tunte.«