Erst kam Corona, dann Sophia oder das Versteck im roten Haus - Rebekka Jost - E-Book

Erst kam Corona, dann Sophia oder das Versteck im roten Haus E-Book

Rebekka Jöst

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Beschreibung

Im Jahre 1886 nimmt sich in einem kleinen Dorf in Mecklenburg Marie Ebert auf dem Hof, den ihre Familie seit Generationen bewirtschaftet, in dem roten Häuschen, indem die Schweine gehalten werden, das Leben. Zuvor hat sie dort ihr Tagebuch versteckt. Über hundert Jahre später leben Amelie Kästner und ihre Familie auf dem ehemaligen Hof. Im Januar 2020 entschließt sich die Familie, die fünfzehnjährige Sophia in Pflege zu nehmen. Doch nicht nur dadurch, sondern auch durch die Ausbreitung des Coronavirus und die daraufhin beschlossenen Maßnahmen verändert sich das Leben der Familie innerhalb kürzester Zeit und von Grund auf. Doch während aufgrund der weltweiten Ereignisse die Familie ausgerechnet in dieser Zeit völlig auf sich gestellt ist, entpuppt sich der Ausnahmezustand auch als eine Chance, das nahezu Unmögliche zu schaffen, nämlich einem Kind, dass durch alle Raster der Gesellschaft gefallen ist, ein Zuhause zu geben. Doch wird der Lauf gegen die Geister der Vergangenheit in dieser auf den Kopf gestellten Zeit gelingen und welchen Einfluss haben die über hundert Jahre alten Aufzeichnungen der Marie Ebert auf die Ereignisse in der Familie im Jahr 2020?

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Das Buch: Im Jahre 1886 nimmt sich in einem kleinen Dorf in Mecklenburg Marie Ebert auf dem Hof, den ihre Familie seit Generationen bewirtschaftet, in dem roten Häuschen, indem die Schweine gehalten werden, das Leben. Zuvor hat sie dort ihr Tagebuch versteckt.

Über hundert Jahre später leben Amelie Kästner und ihre Familie auf dem ehemaligen Hof.

Im Januar 2020 entschließt sich die Familie, die fünfzehnjährige Sophia in Pflege zu nehmen. Doch nicht nur dadurch, sondern auch durch die Ausbreitung des Coronavirus und die daraufhin beschlossenen Maßnahmen verändert sich das Leben der Familie innerhalb kürzester Zeit und von Grund auf.

Doch während aufgrund der weltweiten Ereignisse die Familie ausgerechnet in dieser Zeit völlig auf sich gestellt ist, entpuppt sich der Ausnahmezustand auch als eine Chance, das nahezu Unmögliche zu schaffen, nämlich einem Kind, dass durch alle Raster der Gesellschaft gefallen ist, ein Zuhause zu geben. Doch wird der Lauf gegen die Geister der Vergangenheit in dieser auf den Kopf gestellten Zeit gelingen und welchen Einfluss haben die über hundert Jahre alten Aufzeichnungen der Marie Ebert auf die Ereignisse in der Familie im Jahr 2020?

Dies ist die überarbeitete dritte Auflage des Buches „Erst kam Corona, dann Sophia oder das Versteck im roten Haus“

Die Autorin: Rebekka Jost, geboren 1983 in Hamburg ist Juristin und lebt seit einigen Jahren mit ihrer Familie auf dem mecklenburgischen Land.

Weitere Bücher:

„Ein tiefes Vergessen liegt auch über ihren Gräbern Teil 1 und Teil 2“

„Mathilda und der Mann auf der Bank“

„Matilda and the man on the bench“

Für Fragen und Rückmeldungen:

autorin-rebekka-jost.de

Instagram: Autorin_Rebekka_Jost

Über eine Rezension oder Bewertung freue ich mich sehr. Kontaktieren Sie mich gerne.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Vorwort:

Liebe Leserin, lieber Leser,

vorneweg sei gesagt: Dies ist ein fiktiver Roman.

Er handelt zwar von Orten, die es teilweise real gibt, wie bestimmten Dörfern und Städten und auch Stätten wie bestimmten Schulen, Ämtern und Einrichtungen alle Personen hingegen sind frei erfunden und stellen keine real lebenden Menschen dar. Ähnlichkeiten sind reiner Zufall.

Es ist aber auch ein Roman mit einem Hintergrund, der viele Menschen aktuell und persönlich betrifft.

Dabei handelt es sich nicht nur um die Erkrankten und die Menschen, die verstorben sind, sondern um einen kaum zu fassenden Personenkreis. Betroffen sind auch alle Angehörigen von Erkrankten, alle Menschen, die zu den Risikogruppen gehören und alle Helfer. Alle Menschen, die durch die ergriffenen Maßnahmen betroffen sind, wie Berufstätige, die ihre Arbeit oder ihr Einkommen verloren haben. Unternehmer und Künstler, die um ihre Existenz bangen, genauso wie Menschen die Angst oder Depressionen entwickeln. Es sind Familien und pflegende Angehörige, es sind die Kinder, deren Leben auf den Kopf gestellt wurde und die teilweise unvorstellbar darunter leiden. Es sind Millionen Menschen, deren Operationen aufgeschoben werden, deren Behandlungen hintenangestellt werden, deren Therapien und Rehas eingestellt wurden. Kinder, deren Entwicklung wegen unterbrochener Therapien behindert wird und Menschen, die durch geschlossene Grenzen von ihren engsten Angehörigen getrennt werden und viele mehr.

Allen diesen Menschen gilt mein tiefstes Mitgefühl und meine Anteilnahme.

„Caminante no hay camino, se hace al andar“ „Wanderer, man braucht keinen Weg, der Weg entsteht, indem man ihn geht.“

Antonio Machado

1

April 1886

Als Marie die Holzleiter anhob, um sie gegen die Balken zu lehnen, spürte sie in beiden Armen und in ihrem Brustkorb stechende Schmerzen. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie biss die Zähne zusammen und konnte die Leiter gerade eben solange und so weit anheben, dass sie den Balken erreichen würde.

Als sie die Leiter losließ und diese gegen den Balken kippte, erklang der Laut eines dumpfen Aufpralls. Marie zuckte zusammen.

Eine der Sauen gab ein Grunzen von sich und Marie konnte am Rascheln des Strohs hören, dass mehrere Ferkel sich wieder zurecht wühlten. Sehen konnte sie die Tiere nicht, denn es war dunkel im roten Stall.

Der Gedanke an die kleinen Ferkel versetzte ihr einen Stich ins Herz. Soweit sie zurückdenken konnte, hatten sich hier die Ferkel getummelt. Und von Kleinkindesbeinen an hatte sie Mutter begleitet, wenn diese die Schweine versorgte.

Ungezählte Male hatte sie bei den Koben gestanden und beobachtet, mit welcher Fürsorglichkeit die Sauen sich um ihre vielen Ferkelchen sorgten und kümmerten und sie hegten und aufzogen. Wie die Ferkel immer dicker und größer und immer mutiger und lebendiger wurden und ihre winzige Welt eroberten.

All das würde ihr Kleines nicht erleben können.

Sie hatte sich vor langer Zeit auch vorgestellt, sich einmal so fürsorglich um ihre und Lukas Kinder zu sorgen und dass diese dann auch so munter herumtollen würden, wenn sie ihre Welt eroberten.

Das würde nie geschehen.

Für ihr Kleines konnte sie nur noch eines tun.

Wie oft war ihr schließlich der Gedanke gekommen, wofür die Sauen ihre Kleinen so umsorgten und großzogen, wenn sie doch alle auf der Schlachtbank endeten? Und wozu sollte sie ihr Kleines umsorgen und großziehen, wenn es sich doch nur in dieser elenden Welt plagen würde?

Sie setzte den rechten Fuß auf die erste Sprosse und begann die Leiter hinaufzusteigen.

Jeder Schritt bereitete ihr Schmerzen. Schmerzen in den Armen, dem Rücken, dem Brustkorb und Schmerzen in den Beinen, aber sie stieg weiter die Sprossen empor.

Oben angelangt zog sie sich auf den Balken und krabbelte auf den Knien an das rechte Ende des Balkens. Es war mühsam, sich nicht in den Röcken zu verfangen.

Als sie am Ende des Balkens angekommen war, griff sie in eine Nische im Mauerwerk und holte eine Kerze und eine Schachtel hervor. Sie öffnete die Schachtel und entnahm ein Schwefelhölzchen, das sie entzündete, um die Kerze zu entfachen. Jetzt umhüllte sie der flackernde Schein der Kerze. Sie sah nun die nähere Umgebung, aber bis auf die gemauerte Stallwand, an die sie sich lehnte und den Balken, auf dem sie saß, gab es hier oben nichts.

Eine Weile saß sie still da. Die Schmerzen ließen nun etwas nach.

Marie kam oft nachts hier herauf. Hier hatte sie ihre Ruhe, hier fand er sie nicht.

Sie legte die Hände auf ihren gewölbten Bauch, fühlte vorsichtig nach der Stelle, an ihrer Taille, die er mit seinem Fuß getroffen hatte. Sie spürte einen ziehenden Schmerz in der Rippengegend.

Dann strich sie über die Wölbung, wo der Rücken des Kindes lag, wie ihr die Hebamme versichert hatte.

Sie streichelte sanft mit den Fingerspitzen über den Rücken des Kindes. Sie wartete, dann wiederholte sie dasselbe. Sie wiederholte es immer wieder. Für gewöhnlich erwachte das Kind davon und regte sich, als antwortete es ihr, aber heute rührte es sich nicht.

„Schlaf nur...“, flüsterte sie.

Sie griff wiederum in die Nische im Mauerwerk und zog ein kleines Buch, Feder und Tintenglas hervor. Sie klappte das Buch auf und suchte die letzte beschriebene Seite. Diese nannte den 29. März als Datum. Kurz überlegte sie, dann begann sie zu schreiben.

Als sie fertig war, verharrte sie noch eine Weile. Dann klappte sie das Buch zu und legte es sorgsam an seinen Platz zurück.

Sie lehnte den Kopf an die harte Stallwand und schloss die Augen. Ihr Herzschlag ging ruhig und gleichmäßig. Von unten vernahm sie die leisen Geräusche der schlafenden Schweine, von draußen den seichten Wind.

Wieder legte sie die Hände auf ihren Bauch. Aber es rührte sich noch immer nichts. „Schlaf nur...“, flüsterte sie. „Es wird für immer sein.“

Dann erhob sie sich langsam. Dabei durchzuckten sie erbärmliche Schmerzen. Sie zog das Seil aus ihrer Rocktasche und begann, es an dem Balken festzuzurren. Anschließend band sie eine Schlinge und legte sie sich um den Hals, so verharrte sie für eine Weile. Es kostete doch Mut.

„Bitte, Vater, nimm uns, das Kind und mich zu dir...“, waren ihre letzten, leisen Worte. Sie pustete die Kerze aus und sprang ins Nichts...

2

Freitag, 10. Januar 2020

Sophia öffnete die Wagentür und warf ihre Tasche auf die Rückbank, anschließend ließ sie sich selbst auf den Rücksitz fallen und zog die Tür zu.

Im Wageninnern roch es nach Parfüm. Es war ein beißendes Parfüm, ein ekliger Altfrauengeruch. Die, zu der der Geruch gehörte, Frau Brinkmann, stieg vorne auf der Fahrerseite ein und startete den Motor. Frau Brinkmann war doch höchstens fünfzig, dachte Sophia, warum trug sie ein Parfüm, dass für Siebzigjährige gemacht worden sein musste?

„Hast du sicher an alles gedacht, Sophia?“ Frau Brinkmann warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel.

„Hm“, machte Sophia.

„War das jetzt ein Ja oder Nein? Ich dreh nicht wieder um.“

Sophia verdrehte die Augen. Musste Frau Brinkmann immer so rumstressen? Sie betonte überdeutlich: „Ja, ein Ja war das“.

„Warum bist du denn so unfreundlich? Es wäre doch nur ärgerlich, wenn wir gleich noch einmal zurückfahren müssen. Du willst doch nicht zu spät kommen?!“

„Nein, Frau Brinkmann, nein, natürlich nicht“, erwiderte sie noch einmal überdeutlich. Konnten sie nicht einfach losfahren? Wenn Frau Brinkmann sie doch nur in Ruhe ließe und einmal die Klappe halten könnte. Mann, war sie froh, dass die Brinkmann in Kürze nicht mehr für sie zuständig war.

„Ach Mensch, Sophia, wie lange kennen wir uns jetzt schon und wieder kommt von dir nur schlechte Laune, dabei dachte ich, du freust dich, dass nun alles so wird, wie du es dir gewünscht hast.“

Sophia musste beinahe lachen. Wie sie es sich gewünscht hatte?! Klar! Und wie lange sie sich nun schon kannten... haha... Sie antwortete nicht. Vielleicht würde die Brinkmann aufgeben, sie zu bequatschen, wenn Sophia einfach die Augen schloss...

Sie lehnte den Kopf an die Fensterscheibe, aber das war nicht besonders bequem. Sie rutschte in dem Polster tiefer und lehnte den Kopf an die Lehne, das war etwas besser, aber nun schnürte der Gurt... Egal, Hauptsache kein Gequatsche!

„Sollen wir unterwegs noch irgendwo ran fahren und was essen? Hast du Hunger?“

Sophia spürte Wut in sich aufsteigen. Sie würde so tun, als hätte sie die Frage nicht gehört. „Können Sie das Radio anstellen?“

„Okay... Ich habe dich etwas gefragt!“

„Nein.“

„Willst du bei Frau Kästner und Herrn Hege gleich einen schlechten Eindruck machen? Oder wirst du dich dort wenigstens etwas freundlicher benehmen?“

„Ich will gar nichts! Ich will nur nicht reden!“, platzte es aus Sophia heraus.

„Gut, in Ordnung, dann lass ich dich mal. Ich meine, du wirst ja auch aufgeregt sein, ja, dann fahren wir jetzt einfach und ich lass dich in Ruhe...“

Sophia hoffte inständig, die Brinkmann würde sich an diese Ankündigung halten. Sie sah aus dem Fenster. Draußen war es windig und es nieselte, der Himmel war grau. Gerade bogen sie von der Tonndorfer Hauptstraße auf die Jenfelder Allee. Gleich hatten sie die Autobahnauffahrt Jenfeld erreicht und dann würde sie Hamburg verlassen.

Es war ein komisches Gefühl. Hier hatte sie nun solange gelebt. Von heute an würde ein neuer Abschnitt beginnen. Sie hoffte, dass sie auf diese Weise Leo schnellstmöglich vergessen würde und Elena gleich mit. Dieses Miststück! Und dabei waren sie beste Freundinnen gewesen... Aber auf solche Freundinnen konnte sie gut verzichten.

Überhaupt, am besten, sie würde überhaupt niemanden mehr an sich heranlassen. So etwas wollte sie nie wieder erleben. Nur bei dem Gedanken an all das krampfte sich ihr Magen zusammen und sie hätte sich am liebsten erbrochen! Sie wollte weg, - weg von hier!

Und ein Umzug nach Mecklenburg bot einen weiteren Vorteil: Sie würde viel dichter bei Mama wohnen. Das würde einiges leichter machen, aber darüber würde sie nicht jetzt nachdenken. Das konnte sie machen, wenn sie erstmal bei der neuen Pflegefamilie wohnte.

Frau Brinkmann bog nun auf die Autobahnauffahrt. Dann beschleunigte der Wagen und der Motor wurde stetig lauter.

„Puh!“, machte Frau Brinkmann vorne. Offenbar war sie erleichtert und zufrieden damit, sich zwischen zwei dröhnenden LKW eingeordnet zu haben und nun mit neunzig Sachen zwischen diesen Ungetümen dahinzugurken.

Sophia bedachte Frau Brinkmann mit einem genervten Blick, dann holte sie ihr Smartphone hervor und steckte sich die Ohrstöpsel in die Ohren.

Die Gitarre setzte ein, dann das Schlagzeug.

Als Kurt Cobains raue Stimme zu „The man who sold the world“ erklang, lehnte sie sich wieder an die Rücklehne und sah aus dem Fenster.

Sie fuhren eine ganze Weile auf der A 24. Als Frau Brinkmann den Blinker setzte und eine ziemlich verspannte Haltung einnahm, die Sophia untrüglich verriet, dass die Brinkmann sich nun innerlich auf das Abfahren von der Autobahn einstellte, las Sophia auf dem Abfahrtschild: „Zarrentin“.

Zunächst fuhren sie auf einer langweiligen langen Strecke, an der es nichts zu sehen gab.

Dann aber, nach einigen Abbiegungen durchquerten sie vereinzelte Dörfer und Ortschaften.

Die meisten Häuser waren alt, aber recht gut in Schuss gehalten oder renoviert. Die Gärten waren zumeist riesig. In Hamburg konnten die Leute froh sein, wenn sie auch nur einen winzigen Garten hatten.

Dazwischen fanden sich aber auch Neubauten, wobei Sophia feststellte, dass diese ausnahmslos besser zu den alten Häusern passten, als so mancher Kasten, der Hamburg verunstalten durfte.

Die meisten Straßen waren sehr gut erhalten, nur dreimal fuhren sie auf Kopfsteinpflaster.

Als „All Apologies“ endete, fragte sich Sophia, wie weit es wohl noch sein mochte.

Sophia suchte am Smartphone Metallica heraus. „Nothing else matters“ erklang aus den Ohrstöpseln.

Sie fuhren auf einer langen, geraden Straße zwischen alten Kastanien und anderen knorrigen Bäumen, die aussahen, als stellten sie die Kulisse eines Märchens dar.

Obwohl sie in die Ferne fuhren und Sophia bisher die Vorstellung gehabt hatte, nun würde ihre Welt weiter, weil sie das enge Hamburg verließ, erschien es ihr nun, als würde die Straße vorne immer schmaler und enger.

Schließlich ging es eine endlos erscheinende, geschwungene Straße an einem Wald entlang und dann fuhren sie auf das Ortseingangsschild „Karmin“ zu.

„Hier ist es!“, stellte die Brinkmann überflüssigerweise fest. „Jetzt muss ich nur noch das richtige Haus finden. Du kannst ja mal mit Ausschau halten, bei dem Wetter ist das aber auch schlecht zu sehen...“

Sophia dachte gar nicht daran, mitzusuchen. Das sollte die Brinkmann mal schön allein machen.

Sie bogen um eine Kurve, folgten weiter der Hauptstraße.

Sie fuhren an einem hässlichen Reihenhaus auf der rechten Seite vorbei.

Frau Brinkmann fuhr langsam an einigen weiteren Häusern vorüber, dann trat sie abrupt auf die Bremse. Sophia blickte aus dem Fenster und sah das Haus, dass es sein musste. Sie runzelte verwundert die Stirn.

Sie standen vor einem alten, klapprigen Zaun vor einem potthässlichen alten Klotz, der aussah, als würde er jeden Moment zusammenbrechen.

An dem Zaun prangten mit Kinderkreide gekritzelte Zahlen, die leider unverkennbar jeweils die Nummer 18 b darstellten. Es gab offenbar zwei Einfahrten. Ein kleiner roter Wagen stand in der rechten Einfahrt.

Frau Brinkmann warf einen Blick auf die Uhr. „Wir sind etwas zu früh. Ich dachte, wir brauchen länger für die Fahrt hier heraus. Ich parke mal hier vor das Grundstück. Deine Tasche ist doch nicht zu schwer?“ Die Brinkmann drehte sich mit hochgezogenen Augenbrauen und fragendem Blick zu Sophia um.

Die war noch damit beschäftigt den ersten Schock wegen des hässlichen Hauses zu verarbeiten und reagierte deshalb verzögert und weniger schroff, als es ihrer Laune entsprochen hätte. „Nein, das geht schon.“ Sophia öffnete die Tür und stieg aus.

„Warst du nicht angeschnallt?“

„Nein.“ Sophia griff nach der Tasche und sah sich um.

Auf dem Rasen vor dem Haus, der tatsächlich vorwiegend aus Moos bestand, entdeckte sie Schneeglöckchen.

„Sieht doch ganz hübsch aus, nicht?“ Frau Brinkmann sah Sophia aufmunternd an.

„Wenn Sie´s sagen“, erwiderte Sophia ausdruckslos.

In dem Augenblick nahm sie eine Bewegung hinter einem der Fenster wahr und entdeckte dort ein Kindergesicht. Schnell verschwand es jedoch und sie hörte gedämpft eine Kinderstimme rufen: „Sie ist da!“

„Ach Gott, du wirst ja schon regelrecht erwartet!“, rief die Brinkmann in erfreutem Ton.

„Hm“, machte Sophia nur.

Da ging eine unscheinbare Tür an der Seite des Hauses auf. Sie wirkte viel zu klein für das klobige Haus.

Eine Frau sah heraus und lächelte freundlich. „Kommen Sie nur herein!“, forderte sie sie, an die Brinkmann gerichtet, auf.

Sophia war unschlüssig, ob sie vorgehen, oder der Brinkmann den Vortritt lassen sollte. Sie wollte nicht wie ein kleines Kind wirken, das am Rockzipfel hing, sie wollte auch unbedingt weg von der Brinkmann, aber andererseits war es auch komisch, sich so aufzudrängen... Sie hasste es, irgendwo neu hinzukommen.

Amelie fühlte sich hin und her gerissen.

Sie traute sich kaum, hinzusehen, weil es ihr seltsam und aufdringlich erschien und sie das Mädchen nicht verschrecken wollte, nicht wollte, dass es sich unwohl fühlte, andererseits war sie unendlich aufgeregt, ihr erstes Pflegekind anzuschauen und kennenzulernen. So lange hatte sie auf diesen Tag gewartet und dann war es alles mit einem Mal so schnell gegangen.

Noch einmal checkte sie mit einem Blick in alle Richtungen, ob alles in Ordnung war. Sie überflog mit ihren Augen den Eingangsbereich, in dem sie nun stand. Sie hatte alles aufgeräumt und geputzt, aber hier wurde es nie ordentlich, wie ihr schien. Die Tür des blauen Schranks schloss natürlich wieder nicht richtig, aber das ließ sich nun auch nicht mehr ändern. Der Ofen brannte orangeflackernd, wenigstens wirkte das gemütlich, einladend und warm.

Leonie, Julien und Amber, ihre Kinder, standen wie eine Schar um sie. Nur Joel war nicht da, aber er wohnte ja auch nicht mehr zuhause. Hoffentlich würden sie sich nicht gleich wieder streiten, das würde keinen guten Eindruck machen vor der Frau vom Jugendamt. Aber die Kinder wussten, dass es wichtig war, einen guten ersten Eindruck zu machen und sie waren auch gespannt auf das Mädchen aus Hamburg, jedenfalls machten sie jetzt gerade den Eindruck, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Leonie hatte sogar dafür gesorgt, dass sie und die beiden Kleinen etwas Schickes angezogen hatten.

David sah sie mit fragendem Gesichtsausdruck an. Er stand hinter ihnen allen, hielt sich wie meistens lieber etwas im Hintergrund.

Dann blickte sie wieder zu den beiden Menschen, die sich dem Eingang näherten. Die Frau wirkte rigoros. Sie musste so Anfang vierzig sein, schätzte Amelie. Das Mädchen, - Amelie wagte einen erneuten Blick -, sah aus wie etwa zwölf Jahre alt. Das irriterte sie, denn die Frau vom Jugendamt in Wismar hatte gesagt, es handele sich bei Sophia um eine Fünfzehnjährige.

Sophia war klein, sehr schmal und sehr zart. Sie hatte braunes, überwiegend glattes Haar, mit wenigen Löckchen an den Seiten, wo das Haar etwas gestuft geschnitten war. Ihr Blick wirkte abwesend und ernst. Sie trug eine Reisetasche. Ob das alles war, oder hatte sie noch einen Koffer im Auto?

„Hallo, mein Name ist Amelie Kästner, kommen Sie doch herein!“ Amelie streckte der Frau die Hand entgegen.

„Guten Tag, Brinkmann ist mein Name.“ Frau Brinkmann reichte Amelie die Hand. „Sehr gerne. Sophia, kommst du bitte auch?“

Amelie sah zu Sophia, die zaghaft nickte. Es musste für sie ebenfalls eine seltsame Situation sein.

„Hallo Sophia, schön, dich kennenzulernen!“ Amelie versuchte so fröhlich wie möglich zu klingen und streckte auch Sophia die Hand entgegen.

Sophia reichte ihr artig die Hand, wirkte dabei aber nicht gerade so, als fühle sie sich wohl. Amelie ärgerte sich über sich selbst. Hätte sie nicht einfühlsamer sein können, indem sie Sophia erst einmal ankommen ließ, ohne gleich Druck auf sie auszuüben und sich wie eine Spießerin aufzuführen? Soviel zum guten ersten Eindruck!

Es wurde eng im Flur, als alle drinnen standen. Der unangenehme Geruch des Parfüms der Jugendamtsmitarbeiterin machte sich breit.

„Sie können ruhig die Schuhe anlassen, wir können uns in die Küche setzen. Wir gehen schon mal durch, dann ist mehr Platz!“, erklärte David in seiner unbefangenen Art.

Amelie war froh, dass er die Situation damit auflockerte.

„Ich bin Leonie“, Leonie winkte Sophia lächelnd zu.

Amelie betrachtete ihre vierzehnjährige Tochter. Sie stellte sich immer schnell auf neue Menschen ein und beteiligte sich problemlos an Gesprächen jeglicher Art.

„Hi“, gab Sophia mit zurückhaltendem Gesichtsausdruck zurück.

„Sophia wird bestimmt gesprächiger, wenn sie erstmal angekommen ist“, klärte Frau Brinkmann Leonie auf. „Aber wenn du sie gleich so nett begrüßt, wird das bestimmt nicht lange dauern!“

Amelie musste sich beherrschen, nicht die Stirn zu runzeln. Wie respektlos Frau Brinkmann über Sophias Kopf hinweg über diese sprach. Unfassbar. Sophia war doch nicht mehr drei Jahre alt! Sie sah kurz zu Sophia, die wirkte mit ihren Gedanken weit weg. Hatte sie das gar nicht mitgekriegt?

„Wollen wir reingehen?“ David zeigte einladend zur Küche.

„Ja, genau!“ Amelie schob sich eilig an Leonie vorbei und zog Julien und Amber mit sich. Sie war froh, der unangenehmen Atmosphäre im Flur zu entkommen. Frau Brinkmann folgte bereitwillig.

Leonie und Sophia blieben zurück, aber das sollte Amelie nur Recht sein. Vielleicht kamen die zwei so leichter ins Gespräch.

In der Küche stand auf dem Tisch der Kuchen, den Amelie mit den Kindern gebacken hatte. David war fürs Kaffeekochen zuständig. „Trinken Sie einen Kaffee?“ wandte er sich an Frau Brinkmann. Amelie wusste, wie sehr David solch gezwungenen Situationen verabscheute. Sie rechnete es ihm hoch an, dass er sich dieser hier trotzdem stellte. Sie waren nicht verheiratet, Amelie hätte auch allein ein Pflegekind aufnehmen können, aber er hatte sich einverstanden erklärt, das mit ihr zusammen zu machen.

„Nein, danke, ich werde gleich wieder fahren müssen und wenn ich jetzt einen Kaffee trinke, dann werde ich zu hippelig. Nein, nein, ich will Sie auch gar nicht allzu lange aufhalten. Sie wollen sicher in Ruhe Sophia kennenlernen. Es gibt auch gar nicht soviel zu besprechen. Sie haben ja in wenigen Tagen dass Gespräch mit der neuen Sachbearbeiterin in Wismar...“

„Ja, genau, am Donnerstag.“ Amelie nickte bekräftigend.

„Mama, mir ist langweilig, kann ich spielen gehen?“ Amber zupfte vorsichtig an Amelies Ärmel.

„Na klar, lauf zu, Spatz!“ Amelie lächelte ihre Vierjährige an.

Amber trippelte tänzelnd aus der Küche und dann hörte man sie die Treppe hinaufkraxeln Dabei erzählte sie sich irgendetwas. Alle in der Küche lauschten ihr einen Augenblick nach.

„Ich geh auch, ja?“, fragte nun auch Julien.

Amelie nickte ihrem Achtjährigen lächelnd zu.

Nachdem auch Julien abgezogen war und die Mädchen noch immer nicht in der Küche angekommen waren, wandte sich Frau Brinkmann an Amelie. „Sie haben doch schon so viele Kinder? Wieso wollen Sie sich das mit einem Pflegekind zumuten?“

Amelie sah sie irritiert an. „Wie meinen Sie das denn? Zumuten?“

„Das wird nicht einfach, kein Spaziergang, das sage ich Ihnen gleich. Ich kenne dieses Kind schon eine Weile. Aber Sie werden selber sehen und das Jugendamt in Wismar ist ja Ihr Ansprechpartner. Da kriegen Sie auch Unterstützung, wenn Sie welche brauchen. Es gibt auch noch Vereine, die Pflegeeltern unter die Arme greifen. Sind Sie da schon irgendwie in Kontakt?“

„Naja, wir haben mal gestöbert, im Internet, aber das kam jetzt doch so schnell und überraschend, ich meine, nachdem wir unsere Bereitschaft erklärt haben.“ Amelie ärgerte sich, dass sie so unbeholfen rüberkam. Warum ließ sie sich verunsichern? Ihr war doch klar, dass es eine Herausforderung werden würde. Aber ihr gefiel die Art von Frau Brinkmann nicht. Sie war herablassend und wirkte, als wenn sie sich überlegen fühlte. Hoffentlich ging sie bald. Zugleich spürte Amelie aber auch, dass die Verunsicherung fruchtete und das ärgerte sie noch mehr.

Sie wollte unvoreingenommen sein und Sophia aufgeschlossen gegenübertreten und nicht schon im Vorfeld mit Misstrauen geimpft werden.

Sie sah zu David. Ließ er sich verunsichern? Konnte man ihm ansehen, was er dachte?

Aber David wirkte unbeeindruckt. Nur kurz hatte er seine Aufmerksamkeit auf Frau Brinkmanns Ausführungen gerichtet, dann trat er zur Küchentür und rief in den Flur: „Wo bleibt ihr denn? Leonie?“

„Hier!“ Leonie warf einen Blick Richtung Küche. „Sophia hat doch ihre Schuhe ausgezogen, weil ich ihr gleich ihr Zimmer zeigen will.“

„Okay, das ist eine gute Idee!“ David sah sich kurz unschlüssig um und zog sich dann einen Stuhl heran, auf den er sich setzte.

Leonie kam, gefolgt von Sophia zur Küche geschlendert.

„Habt ihr Durst? Wollt ihr was trinken, bevor ihr hoch geht?“ Amelie war stolz auf ihre Große, dass die so unbefangen mit Sophia umging.

„Willst du was? Ich habe Light live gekauft, das mag ich am liebsten!“ Sie sah Sophia freundlich an.

„Kenn ich nicht. Nee, ich habe keinen Durst“, wich diese jedoch aus.

Amelie hoffte, dass Leonie sich nicht so leicht abweisen ließ oder gar eingeschnappt sein würde. Sie hatte Leonie erklärt, dass es anfangs schwierig werden könnte und Leonie hatte versichert, dass sie das verstehen konnte, weil ja alles neu war für das neue Mädchen in ihrer Familie und das Mädchen es bestimmt bisher nicht sehr leicht gehabt hatte.

Amelie wusste aber auch, dass Leonie sich sehr darauf gefreut hatte, dass eine etwa Gleichaltrige in die Familie kam. Sie hatte sogar einmal Leonie mit ihrem älteren Bruder telefonieren und über das bald eintreffende Pflegekind sprechen hören. Das war unglaublich süß gewesen, wie vernünftig und voller Vorfreude sie gesprochen hatte! Sie wollte die beiden ablenken. „Dann zeig doch Sophia mal ihr Zimmer!“, rief sie deshalb so unbeschwert wie möglich.

„Ja, willst du?“, rief Leonie Sophia zu.

„Hm, okay.“ Zögerlich folgte Sophia Leonie, die begann, die Treppe hinaufzusteigen.

„Da werde ich auch einmal mitgehen, wenn es Ihnen Recht ist“, erklärte Frau Brinkmann.

„Natürlich!“ David wies zur Treppe. „Da entlang!“

„Das ist ja ein riesiges Haus. Haben Sie das geerbt?“

„Nein, nein, wir haben es gekauft.“ Amelie folgte Frau Brinkmann.

„Ach, die Treppe ist aber schmal.“

„Ja, das ist ein altes Haus, da entspricht vieles nicht den heutigen Ansprüchen vieler Leute.“ Amelie kannte bereits alle Sprüche, mit denen Besucher Kritik an ihrem Haus mehr oder weniger schön verpackten. Ihr war das gleichgültig. Das Beste an diesem Haus war, dass sie und David alles so gestalten konnten, wie sie wollten. Da würden sie nicht anfangen, sich nach den unterschiedlichen Wünschen und Vorstellungen etwaiger Besucher zu richten.

Sie hoffte allerdings, Frau Brinkmann wäre mit Sophias Zimmer zufrieden, nicht, dass es da noch Probleme gab.

„Das ist das Zimmer“, sagte Leonie in diesem Augenblick oberhalb der Treppe.

Amelie hielt intuitiv den Atem an. Würde es Sophia gefallen?“

Noch bevor Sophia geantwortet hatte, war Frau Brinkmann oben angelangt. „Ach das ist aber hübsch! Ungewöhnlich, ja, aber sehr schön, wirklich! Nicht wahr, Sophia, ein tolles Zimmer. Hier wird es dir gefallen!“, schnatterte Frau Brinkmann los.

Amelie konnte ihre Irritation kaum verbergen.

Es trat ein Moment unangenehmen Schweigens ein.

„Das war das Zimmer von unserem Großen, aber er ist inzwischen ausgezogen“, durchbrach Amelie die Stille.

„Seine Möbel hat er natürlich mitgenommen, wir haben Neue für dich besorgt!“, erklärte Amelie, als Sophia noch immer weiter schwieg.

Schweigen.

Amelie überflog mit ihrem Blick noch einmal den Raum.

Sie hatten die Anordnung nicht so übernommen, wie bisher Joel den Raum genutzt hatte, sondern auf Leonies drängende Bitte hin deren Stil angepasst. Schließlich war Sophia ja ungefähr in Leonies Alter und sie hatten gehofft, damit auch deren Geschmack zu treffen.

Aber der Raum kam Amelie noch immer seltsam vor, ohne Joels Möbel und mit der neuen Einrichtung.

Amelie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass ihr Ältester nicht mehr im Haus lebte.

Ein großes dunkelgraues Boxspringbett stand vor der lehmverputzten Fachwerkwand im hinteren Bereich des Zimmers, dort hatte Joels Sofa gestanden.

Sie hatten schlichte weiße Bettwäsche aufgezogen, weil sie nicht gewusst hatten, welche Farben Sophia mochte. Die Wände waren ebenfalls weiß gehalten. Joel hatte es so schlicht gemocht und Sophia konnte lieber selber entscheiden, wie sie ihr Zimmer farblich gestalten wollte.

Das Fenster an der linken Seite des Bettes zeigte gen Osten, man konnte von dort aus in den Garten und auf das rote Haus, den früheren Schweinestall, sehen. Der Schreibtisch stand dem Bett gegenüber an der linken Seite des Raumes, daneben stand ein Regal. Der Kleiderschrank stand rechts neben der Tür.

„Du kannst ja erstmal ankommen, wenn etwas fehlt, sagst du uns einfach Bescheid.“ David sah Sophia aufmunternd an.

„Okay.“ Sophia trat vorsichtigen Schrittes ein. Sie sah sich um und stellte ihre Tasche auf dem Boden vor dem Bett ab.

„Willst du den Rest des Hauses sehen, oder erstmal in deinem Zimmer ankommen?“, fragte Amelie zögerlicher als beabsichtigt.

„Ich bleibe erstmal hier, okay?“

„Na klar, gerne!“, sagte Amelie. Sie hatte sich das Kennenlernen lockerer vorgestellt, aber das war wohl auch dumm von ihr gewesen. Natürlich war es seltsam und ungewohnt und alle waren angespannt...

„Danke, für das Zimmer... die Möbel... und alles...“, Sophia blickte sich zögerlich um.

„Komm erstmal in Ruhe an, wenn du Fragen hast, dann rufst du uns einfach oder kommst in die Küche...“, schlug David vor.

„Ich werde mich jetzt auch verabschieden, es scheint ja alles bestens zu laufen.“ Frau Brinkmann sah sich energisch um und ließ erkennen, dass sie beabsichtigte, nun die Treppe hinabzusteigen.

„Ach so, okay, ja...“, stammelte Amelie. „Ich dachte, … gibt es denn nichts weiter zu besprechen?“

Frau Brinkmann begann bereits, die Treppe runter zugehen. „Was sollten wir denn noch besprechen? Eigentlich gibt’s da nicht viel zu sagen. Ich meine, Sophia wird sich hier schon einleben und wenn es Probleme gibt, dann ist ja ab Montag das Jugendamt in Wismar für sie erreichbar. Ich habe es ein wenig eilig, weil ich gleich zu einer Besprechung muss.“

Frau Brinkmann verlor keine Zeit. Kaum unten angelangt, war sie auch schon auf dem Weg zu ihrem Auto.

„Und nun?“ David blickte Amelie mit etwas ratlosem Blick an.

Amelie war auch unschlüssig, was sie nun tun sollten.

„Wann gibt es Essen, Mama?“, rief Julien in diesem Moment und nahm ihnen damit die Entscheidung ab, was nun zu tun war.

„Dann mach ich mal Essen.“ David legte kurz den Arm um Amelie und drückte sie.

„Ja, ich seh mal nach den Kindern.“ Amelie ging wieder Richtung Treppe, während David sich ans Kochen machte.

Julien saß oben im Flur mit seinem Playmobil und spielte einen dramatischen Verkehrsunfall nach. Zahlreiche Tiere mussten von der Feuerwehr gerettet werden. Hierfür kombinierte er das Playmobil mit seiner großen Feuerwehr.

„Ich habe Hunger!“, unterbrach er die Rettungsaktion, als er Amelie bemerkte.

„Papa kocht schon was.“

„Was gibt es denn?“

„Chili gibt es. Wo steckt denn Amber?“ Während ihrer Frage sah sie verstohlen zu Joels, nunmehr Sophias Zimmer hinüber. Was Sophia wohl gerade machte. Sollte sie klopfen und stören, oder sie lieber in Ruhe lassen?

„Amber ist in ihrem Zimmer. Sie malt.“

„Okay, danke. Ich seh mal nach ihr.“ Amelie ging zu dem Zimmer ihrer Jüngsten und klopfte.

Amber liebte es, wie die Großen die Tür zu schließen und „ihr Ding“ zu machen. Dabei war ihr Ding vor allem, zu malen.

„Ja!“, antwortete Amber.

„Ich bin´s, was machst du denn, mein Schatz?“ Amelie trat ein.

Amber lag auf dem Boden und malte ein großes Bild.

„Ist das Mädchen noch da und die Frau?“

„Frau Brinkmann ist weggefahren, aber Sophia ist in Joels Zimmer, also, es ist ja jetzt Sophias Zimmer.“

Amber sah ihre Mutter einen Augenblick an. Sie dachte offensichtlich nach. „Warum wohnt Sophia jetzt in Joels Zimmer?“

„Sophia wohnt jetzt bei uns, weil sie ein neues Zuhause braucht. Das habe ich dir doch schon erklärt.“

„Ja, ich weiß. Aber wenn Joel wieder bei uns wohnen will?“

Tja, das wird er wohl nicht, weil er doch jetzt seine Ausbildung macht.“

„Ich will aber lieber, dass Joel bei uns wohnt. Das Mädchen kenn ich ja gar nicht.“

„Sophia, meinst du. Nun, du wirst sie kennenlernen. Wir alle müssen sie ja noch kennenlernen.“

„Ist sie nett?“

„Mal sehen, ich denke schon...“

„Wann kommt Joel wieder zu uns?“

„Meinst du, zu Besuch?“

„Ja.“

„Vielleicht am kommenden Wochenende. Er will ja auch Sophia kennenlernen.“

„Er soll aber nicht mit ihr spielen, sondern nur mit mir.“

„Ach, Spatz, natürlich wird er mit dir spielen. Gleich essen wir übrigens. Hast du schon Hunger?“

„Hm. Dann mal ich jetzt noch, bis wir essen.“

„Okay, ich geh mal zu Leonie.“ Amelie strich ihrer Tochter über den Rücken und über das Haar. Dann verließ sie den Raum. „Soll ich die Tür offen lassen?“

„Nee! Ich will mein Ding machen!“

Amelie musste grinsen. - Amber und ihr Ding...

Amelie stieg über Julien hinweg, der noch immer im Flur auf dem Boden spielte und durchquerte den kleinen Flur zwischen den Zimmern von Julien und Leonie. Dort musste sie wie immer zwischen einem Labyrinth aus unzähligen Spielsachen balancieren, um zu Leonies Tür zu gelangen.

„Jemand da?“, fragte sie, während sie klopfte.

„Ja!“ Leonies Stimme durchdrang die Musik von Billie Eilish.

Amelie öffnete die Tür und sah ihre Große auf dem Bett liegen.

Leonie war damit beschäftigt, Fotos von sich und den Pferden in ihr Album zu kleben.

Ihr PC spielte „Bad Guy“ auf Youtube ab.

„Wir essen gleich.“

„Okay.“

„Alles okay?“

„Hm...“

„Was ist denn los?“ Amelie setzte sich auf die Bettkante.

„Weiß nicht.“ Leonie zuckte mit den Schultern.

Amelie erkannte sofort, was los war. „Es ist ganz schön ungewohnt so, oder?“

„Hm“, seufzte Leonie, Amelie hatte es also auf den Punkt getroffen.

„Sie will nichts mit mir machen. Sie will nur in ihrem Zimmer sein.“

„Sie ist doch gerade erst angekommen.“

Die Playlist schaltete um auf „No time to die“.

„Sie sagt, Pferde sind öde und sie will auch nicht mit raus, Freunde kennenlernen.“

„Es ist bestimmt alles noch zu neu für sie. Sie wird noch Zeit brauchen.“

„Hm...“ Leonie klang wenig überzeugt, aber doch etwas besänftigt.

„Wir essen gleich mal und dann sehen wir weiter. Aber verlang ihr nicht gleich am ersten Tag zuviel ab. Sie taut bestimmt noch auf.“ Amelie betrachtete nachdenklich das Bild auf dem PC. „Irgendwie sieht sie Billie Eilish ein bisschen ähnlich, oder nicht?“

Leonie sah prompt auf. „Nö, finde ich nicht.“

Sophia hatte die Tür hinter sich zugemacht und sich anschließend in dem Raum umgesehen.

Endlich Ruhe, keiner mehr, der sie erwartungsvoll an-sah.

Gott, sie hasste es, wenn alles neu war.

Einen Augenblick blitzte die Erinnerung an Elli auf, an das kleine, schmale Zimmer mit dem alten, weichen Bett. Es hatte immer so stark nachgegeben und geknarrt, wenn sie sich darauf gesetzt hatte, dass sie dachte, es könne jeden Augenblick in der Mitte durchbrechen.

In Ellis Wohnung waren die Böden mit Teppichen bedeckt gewesen. Der graue Teppich in ihrem Zimmer und dem Flur hatte Rillen gehabt und war rau gewesen. Nein. Sie wollte daran nicht mehr denken. Das war vorbei. Elli war nicht mehr.

Sie ging die wenigen Schritte über den Laminatboden zum Bett und setzte sich kraftlos. Das Bett war auch weich, aber es war ganz neu, dass merkte man sofort. Der Raum war hell und gepflegt. Etwas kahl vielleicht und Farbe fehlte. Sophia mochte Lila.

Aber darüber würde sie gar nicht nachzudenken brauchen, denn hier würde sie nicht lange bleiben.

Jetzt wo sie nicht mehr bei Elli leben konnte, würde ihre Mutter sie ganz bestimmt zu sich holen. Das war jetzt schließlich etwas anderes.

Sie schwang sich auf, der Gedanke an ihre Mutter gab ihr wieder etwas Kraft.

Sie ging ans Fenster und sah hinaus. Gegenüber des Fensters stand ein roter, alter und ziemlich kleiner Backsteinbau mit einem alten, vergilbten Dach aus gewellten Platten. Solche Dächer hatte sie einige auf der Fahrt hierher gesehen.

Sie hörte, dass jemand die Treppe hochstieg. Die Treppe knarrte. Dann vernahm sie die Stimme von Amelie, oder wie sie hieß. Sie sprach mit dem kleinen Jungen. Sophia konnte verstehen, dass es wohl gleich essen geben würde. Chili.

Hoffentlich würde Amelie nicht reinkommen wollen. Sie wollte am liebsten niemanden mehr sehen heute. Aber Amelie klopfte nicht. Sie ging wohl zu einem der Mädchen. Amber war die Kleinere. Die Größere hieß Leonie.

Pferde! Leonie hatte erzählt, dass sie Pferde hatte. Aber vor allem nervte es, dass Leonie sie offenbar unbedingt kennenlernen wollte. Sophia wollte am liebsten einfach die kurze Zeit überstehen, bis ihre Mutter sie abholte, ohne mit irgendjemandem zu reden oder irgendwas. Sie ließ sich wieder auf das Bett fallen.

Dann hörte sie die Stimme von David. Er rief die Treppe hoch, dass das Essen fertig sei. Sie wollte nicht mit diesen Leuten essen.

Aber was sollte sie sagen? Sie wollte nicht hier sein und vor allem wollte sie nicht, dass sie versuchten, so nett zu ihr zu sein.

Es klopfte.

„Ja?“, rief sie widerwillig.

„Hier ist Leonie, wir essen jetzt. Kommst du auch?“

„Ich habe Kopfschmerzen, ich will lieber etwas schlafen.“

„Okay, ich sag Bescheid.“

Das war ja einfach gewesen. Sophia blieb einfach liegen.

Und schließlich schlief sie ein.

3

Als Sophia erwachte, wurde es draußen gerade hell. Sie musste sich erst orientieren, wo sie war, aber dann fiel es ihr schlagartig wieder ein. Sie war bei dieser Familie in Mecklenburg.

Sie lauschte. Durch ihre Tür drangen die Stimmen von Kindern. Sie spielten offenbar vor ihrer Zimmertür.

Dann erklang auch die Stimme von Amelie und ermahnte die Kinder, leiser zu sein.

„Wir haben aber Hunger!“

„Okay, ich steh jetzt auf.“

Das Haus war ja echt hellhörig.

Sophia spürte, dass sie auch hungrig war. Sehr hungrig sogar. Dabei wollte sie gar nicht aufstehen und auch nicht aus dem Zimmer gehen, aber ihr Magen knurrte.

„Ist das Mädchen schon wach, Mama?“ Das war die Stimme des kleinen Mädchens.

„Ich weiß es nicht. Seid mal bitte etwas leiser.“

„Machst du jetzt Essen?“

„Kommt mal mit runter.“

Dann verklangen die Tritte auf der Treppe. Langsamere, behäbige und schnellere, ungleichmäßige.

Wieder spürte sie ihren Magen knurren. Sollte sie doch hinuntergehen? Immerhin traf sie jetzt wohl nur auf Amelie und die kleineren Kinder. Das war nicht so schlimm, wie wenn gleich alle da waren.

Sophia erhob sich. Sie hatte immer noch die Kleidung an, in der sie sich gestern Mittag aufs Bett gelegt hatte. Auf dem Boden lag ihre Tasche. Daraus holte sie ihr Zahnputzzeug heraus. Dann trat sie an die Tür und öffnete sie zaghaft. Auf dem Flur war niemand. Langsam ging sie die Treppe hinunter.

„Wer kommt da?“, krähte auch schon das kleine Mädchen.

Amelies Gesicht erschien in der Küchentür. „Ach du bist das, Sophia, hast du gut geschlafen? Suchst du das Bad?“ Sie wandte sich an Julien. „Zeig´ doch mal Sophia das Badezimmer!“

„Welches?“

„Na, das Große.“

Als Sophia aus dem Bad kam, fühlte sie sich wesentlich wohler. Sie hatte Zähne geputzt und sich gewaschen. Das Bad war super. Total neu alles, am liebsten wäre sie sofort unter die Dusche gegangen, aber das traute sie sich nicht. Sie wollte die Familie erst besser kennenlernen. Vielleicht würde sie es heute Abend wagen, danach zu fragen.

Sie ging zögernd in Richtung Küche und blieb im Türrahmen stehen. Die Küche war ein riesiger Raum. In der Mitte stand ein Kamin. Rechts von der Tür befand sich die Küchenzeile. Gegenüber der Tür eine große Fensterfront, vor der der Küchentisch stand. Nach links öffnete sich der Raum zum Wohnzimmerbereich. Dort gingen einzelne Fenster in Richtung Straße. Mehr konnte sie von der Tür aus nicht erkennen, da der Schornstein des Ofens ihr die Sicht versperrte.

Die beiden Kinder saßen am Tisch. Jedes hatte einen Joghurt vor sich stehen. Amelie stand am Herd. Sie kochte irgendwas.

„Guten Morgen, Sophia, komm doch herein“, sagte sie.

Sophia ging zum Esstisch und zog sich einen Stuhl hervor, auf den sie sich setzte.

„Willst du auch einen Joghurt?“ Das kleine Mädchen lächelte sie fröhlich an. Es machte sich bereits daran, mit seinem Triptrapstuhl zurückzurutschen, um aufzustehen.

„Nein danke“, sagte Sophia schnell.

Amelie sah sie fragend an. „Was möchtest du denn essen? Oder willst du erstmal etwas zu trinken haben? Einen Kaffee? Oder Tee? Ich habe viele Tees, du kannst ja mal gucken..., ich kann auch Kakao machen!“

„Ich will Kakao!“, rief Julien sofort.

„Ich auch! Aber weißen! Kann ich Kakao machen? Ich brauche drei Becher, Mama!“ Das kleine Mädchen war schon aufgesprungen. Wie hieß sie nochmal?

Schnell verschwand sie in einem Raum hinter der Küche und dann hörte man es poltern.

„Mama!“ Unverkennbar brauchte das Mädchen Hilfe.

Intuitiv sprang Sophia auf und lief ebenfalls zu der Tür, hinter der das Mädchen verschwunden war. Sie befand sich nun offensichtlich in der Vorratskammer. Aber es handelte sich um einen großen Raum, also eher ein Vorratsraum. Das Mädchen stand inmitten von weißem Pulver. In der Hand hielt es die nunmehr leere Packung. Der Deckel lugte unter der Pulverschicht am Boden hervor. Verstreut lagen zudem eine Cappucchinodose und zwei Päckchen mit Kaffeepads. Hilflos blickte das Mädchen zu Sophia.

Sophia wusste nun gar nicht, was sie tun sollte. Sie hatte so schnell reagiert, ohne sich zuvor überlegt zu haben, was sie tun konnte.

„Das ist umgefallen und rausgefallen, als ich die Schranktür geöffnet habe!“, erklärte das Mädchen. „Ich war das gar nicht.“

„Alles okay, da drüben?“, drang Amelies Stimme durch die Tür.

„Wir brauchen einen Staubsauger!“, antwortete Sophia wieder mehr intuitiv als überlegt.

„Ja, ich hole ihn!“

Kurz darauf brachte Amelie den Staubsauger und Sophia half dem Mädchen, die Bescherung zu beseitigen.

„Jetzt ist kein weißer Kakao mehr da.“ Das Mädchen blickte enttäuscht auf den Boden.

„Gibt es noch...“ Sophia überlegte. Wie nannte das Mädchen wohl den richtigen Kakao, wenn das Zeug hier weißer Kakao war? „Gibt es noch braunen Kakao?“

„Ja.“

„Willst du den dann nehmen?“

„Nimmst du auch welchen?“ Die Augen des Mädchens leuchteten wieder auf.

Sophia war hin und her gerissen. Am liebsten hätte sie nein gesagt. Sie fühlte sich unwohl. Aber das Mädchen noch einmal enttäuschen, wollte sie auch nicht. „Okay“, sagte sie schließlich.

Leonie musste leider feststellen, dass sie wach war. Dabei war es draußen gerade mal ein bisschen hell. Es musste also noch früh sein. Und dabei war Samstag. Warum konnte sie denn nicht einfach noch weiter schlafen? Gleich würde das Generve bestimmt wieder losgehen. Erst nervten die Kleinen und dann wollte Mama bestimmt wieder mit ihr lernen. Nee... Sie würde die Augen nicht aufmachen. „Einschlafen!“, befahl sie sich. „Schlaf doch wieder ein!“

Aber es half nicht. Sie war unwiederbringlich wach.

Noch ein wenig die Augen zu lassen, nochmal umdrehen! Das Bett war so gemütlich! Sie hatte dieses Bett noch nicht lange. Als ihr Zimmer endlich renoviert worden war, hatte sie es sich selber ausgesucht. Das war echt ein Highlight gewesen, denn die meisten Sachen hatte sie davor immer von Joel „geerbt“. Ob es die Betten oder die Regale waren, meistens waren es ausrangierte Sachen von Joel gewesen. Naja, bisher hatte es sie auch nie so interessiert, aber diesmal war es ihr echt wichtig gewesen, endlich mal was zu bekommen, was sie selber aussuchen konnte.

Es war lustig gewesen, denn Mama und Papa waren richtig verwundert gewesen, was sie mochte. Das war ihnen deutlich anzumerken gewesen. Ob die vorher jemals das Wort Boxspringbett gehört hatten, wagte Leonie zu bezweifeln, denn Mama hatte erstmal bei Otto gegoogled, wie die aussahen und echt gewirkt, als wenn das etwas völlig Neuartiges für sie gewesen sei und Papa, naja, der hatte ja nicht soviel mitgeredet, bei der Auswahl der Möbel, aber dafür hatte er die Sachen mit Leonie aufgebaut, jedenfalls das meiste und dabei geächzt, als wenn man sonstwas von ihm verlangt hätte. Als wenn es mit dem Kram, den Mama und Papa aussuchten einfacher war mit dem Aufbauen!

Und dann fiel ihr wieder ein, was gestern geschehen war, denn sie musste an die letzten Möbel denken, die sie ausgesucht hatte, nämlich die für das neue Zimmer für Sophia! Ja, seit gestern war Sophia da!

Ihre Stimmung wurde aber sogleich wieder gedämpft, denn ihr kam wieder in den Sinn, wie, - na sagen wir -, zurückhaltend Sophia gestern gewesen war. Sie war für nichts zu begeistern gewesen und hatte sogar gesagt, Pferde seien langweilig. Es war für Leonie völlig unverständlich, wie man sowas sagen konnte.

Sie räkelte sich und streckte sich zur Gardine. Sie zog sie ein Stück weit auf. Das nun auch das Licht herein schien, ignorierte sie großzügig, denn nun hatte sie freie Sicht auf das Foto von Sunny und Mira, dass sie eingerahmt auf der Fensterbank stehen hatte.

Zwar nervte das ewige Abäppeln, aber die beiden waren trotzdem ihre größten Schätze, naja, nach Mama und Papa und nach Amber und Julien und natürlich auch nach Joel... und Oma.

Sie drehte sich noch einmal herum und versuchte, wieder einzuschlafen, aber es war zwecklos. Also stand sie seufzend auf.

Sie suchte in dem Haufen Klamotten, der vor dem Kleiderschrank lag, nach Strümpfen und verzog das Gesicht. Wenn Mama das Chaos sah, würde sie wieder rumstressen, dass Leonie aufräumen sollte.

Aufräumen war doch so was überflüssiges. Sie hatte ja eh nicht soviel Kram und das Chaos entstand immer von allein wieder. Es war echt Zeitverschwendung das immer wieder aufzuräumen.

Da waren die neuen Reitsocken. Die würde sie anziehen. Sie sah zum Fenster rüber. Ja, heute würde sie auf jeden Fall zu den Pferden fahren. Vielleicht kam ja Suria mit.

Eigentlich hatte sie gedacht, dass Sophia mitkommen würde, aber die fand Pferde ja langweilig. Hm, Mama meinte ja, dass Sophia erst ankommen muss, aber wer sowas bescheuertes über Pferde sagte, der sollte sowieso lieber gar nicht mitkommen.

Naja, mal sehen, wie unten die Stimmung war. Ob Sophia schon aufgestanden war?

Leonie öffnete ihre Tür. Die Kleinen waren offenbar schon unten, sonst wäre es hier nicht so ruhig.

Sie lief zur Treppe und die Treppe hinab. Ja, aus der Küche drangen Stimmen.

Sie schob die Tür auf und verschaffte sich zunächst einen Überblick.

Die Küche sah noch nicht lange so aus. Sie hatten sie im vergangenen Jahr umgebaut. Vorher hatte das Erdgeschoss aus vielen Miniräumen bestanden. Jetzt war es viel gemütlicher.

„Hallo Leonie, hast du gut geschlafen?“ Mama stand am Herd. Sie kochte. Es dampfte aus dem Topf.

„Was machst du?“ Leonie ging die wenigen Schritte zu Mama herüber und umarmte sie. Dabei warf sie einen Blick in den Topf.

„Haferflocken. Sind gerade fertig. Willst du auch welche?“ Mama stellte den Herd aus.

„Ja, lecker!“ Leonie sah zum Tisch rüber. Dort saßen die Kleinen und auch Sophia. Tatsächlich.

Auf dem Tisch standen keine Schüsseln oder Teller.

Sie ging zum Schrank und holte Teller raus. In der Schublade fand sie Löffel.

„Danke Leonie!“ Amelie schnappte sich ein Brett aus dem Küchenschrank und stellte den Topf darauf auf denTisch.

Leonie verteilte die Teller und die Löffel an alle. „Ist Papa auch schon wach?“

„Du kennst doch Papa und es ist Samstag. Was meinst du wohl?“

„Nein!“, rief Amber lachend.

„Zimt und Zucker!“, rief Julien, während Mama ihm auffüllte.

Leonie schnappte sich das Glas mit dem ZimtZuckergemisch und streute den Kleinen etwas über ihren Brei.

„Nimmst du auch etwas?“ Mama sah Sophia freundlich an.

Leonie sah ebenfalls gespannt zu Sophia. War sie heute besser drauf?

Sophia nickte zögerlich.

„Was isst du denn sonst gerne?“ Mama füllte ihr etwas ein.

„Weiß nicht. Brot oder so, Toast...“, erwiderte Sophia lavierend.

„Mama backt selber!“, rutschte es Leonie raus. Aber das konnte sie ja auch sagen. Stimmte ja.

Sophia sah zu Mama.

„Ja, das stimmt!“, sagte diese. „Ich backe eigentlich immer selber. Aber Brot gibt’s meistens nur in der Schule, also, weil meine... also weil Leonie und Julien eigentlich nicht viel Brot essen, eben nur in der Schule. Wenn du gerne Brot möchtest, kannst du natürlich auch gerne Brot haben. Sehr gerne, kein Problem. Das Brot ist hier, in der Box. Du kannst dir auch alles nehmen, wie du möchtest...“

Leonie sah ihre Mutter stirnrunzelnd an, während sie auf den Löffel mit dem heißen Brei pustete. Was war denn mit ihrer Mutter los? Was redete sie da? Definitiv war sie auch nervös wegen Sophia. Leonie musste grinsen, aber das versteckte sie lieber hinter dem Löffel.

„Nein, schon okay, ich esse das hier. Das geht auch.“ Sophia pustete ebenfalls auf ihren Löffel.

Leonie sah vorsichtig zu Sophia rüber. Sie wirkte tatsächlich, als wäre sie besser drauf. Sollte Leonie nochmal fragen, ob sie doch mit zum Stall wollte? Das war auch die Chance, sich vor dem Lernen zu drücken. Wenn sie anbot, Sophia mit zum Stall zu nehmen, dann konnte Mama einfach nicht nein sagen. Das war einen Versuch wert.

„Ich wollte gleich zum Stall. Abäppeln und so.“ Leonie machte eine kurze Pause und sah dann Sophia an. „Du kannst gerne mitkommen. Ich zeig dir alles. Die Pferde sind echt toll.“

„Eigentlich würde ich gerne erst etwas mit dir für Mathe üben.“ Mama hatte schon wieder diesen „es ist Samstag und wir müssen das Wochenende nutzen, um alles zu schaffen, wozu du nie Lust hast“-Blick.