Tiefes Vergessen Teil 1 - Rebekka Jost - E-Book

Tiefes Vergessen Teil 1 E-Book

Rebekka Jöst

0,0

Beschreibung

Februar 2020. Der 89-jährigen Aurelia wird mit einem Mal bewusst, dass ihre Familie vollkommen zerrüttet ist. So beginnt sie, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen, um herauszufinden, wie kam, wozu es kam. Zur selben Zeit, als Aurelias Eltern Elsa und Eduard bei ihrer Hochzeit 1913 große Hoffnungen in ihr Leben setzen, werden die verhängnisvollen Schritte in den Großen Krieg gesetzt. 1933 ist Aurelia drei Jahre alt und es haben sich längst die Stricke zugezogen, die ihr Leben bestimmen sollen, doch auch in der Ge-genwart nehmen die Ereignisse ihren verhängnisvollen Lauf und die Zeit für Aurelia und ihre Kinder verrinnt plötzlich viel schneller, als sie es erwartet hatten. Dies ist eine Familiensaga und ein geschichtliches Werk. Geschichts-, Politik-, und Soziologiebegeisterte finden hier in ansprechender und kurzweiliger Weise die historischen Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts anhand einer fiktiven Familiensaga dargestellt und die Hintergründe und Zusammenhänge veranschaulicht. Zudem werden an vielen Stellen Bezüge zum aktuellen Zeitgeschehen hergestellt. Alle historischen Begebenheiten werden mittels zahlreicher Quellenangaben belegt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 510

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch: „Ein tiefes Vergessen liegt über diesen Gräbern, ein trauriges Umsonst“, schrieb der Pazifist Carl von Ossietzky am 6. November 1928 in der Weltbühne1.

Februar 2020. Der 89-jährigen Aurelia wird mit einem Mal bewusst, dass ihre Familie vollkommen zerrüttet ist. So beginnt sie, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen, um herauszufinden, wie kam, wozu es kam.

Während Aurelias Eltern Elsa und Eduard bei ihrer Hochzeit 1913 große Hoffnungen in ihr Leben legen, sind die verhängnisvollen Schritte in den Großen Krieg längst getan.

1933 ist Aurelia drei Jahre alt, doch es haben sich bereits die Stricke zugezogen, die ihr Leben bestimmen sollen, doch auch in der Gegenwart nehmen die Ereignisse ihren verhängnisvollen Lauf und die Zeit für Aurelia und ihre Kinder verrinnt plötzlich viel schneller, als sie es erwartet hatten.

Dies ist eine Familiensaga und ein geschichtliches Werk.

Geschichts-, Politik-, und Soziologieinteressierte finden hier in ansprechender und kurzweiliger Weise die historischen Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts anhand einer fiktiven Familiensaga dargestellt und die Zusammenhänge und Hintergründe veranschaulicht.

Der Roman ist mit Illustrationen der Autorin versehen.

1 Carl v. Ossietzky, „Deutschland ist ...“ in Weltbühne Nr. 45 vom 6. Nov. 1928 S. 689 ff. Informationen zur Weltbühne finden Sie im Anhang auf Seite 300.

Die Autorin: Rebekka Jost, geboren 1983 in Hamburg, ist Juristin und lebt seit einigen Jahren mit ihrer Familie auf dem mecklenburgischen Land.

Sie hat inzwischen mehrere Romane und Kinderbücher veröffentlicht.

www.autorin-rebekka-jost.de

[email protected]

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

Kennen Sie die herzerweichende Geschichte vom Jesuskind, das von seinen fürsorglichen Eltern Joseph und Maria durch die unerbittliche Wüste nach Hause getragen wird, während der grausame Herodes in seinem wahnhaften Hass seine Schergen durchs Land schickt, um alle neugeborenen Knaben ermorden zu lassen?

Natürlich! Wer im Abendland kennt diese Geschichte nicht. Sie wird uns seit hunderten Jahren alljährlich zur besinnlichen Weihnachtszeit in Erinnerung gerufen. Den Kleinsten von ihren Eltern zu Weihnachten vorgelesen. Im Religionsunterricht von der lieben Lehrerin erzählt und bemalt und bebastelt – von der einzigen Lehrerin, die keine Noten für schlechte Arbeiten vergibt! –. Von lieben Kinderlein an Schulen und in Kindergottesdiensten für Vati und Mutti und Omi und Opi aufgeführt, im KinderTV durch niedlichste Bebilderung an die lieben Kleinen herangetragen.

Welche Mutter spürt nicht die Not dieser großen Frau Maria, die nach den Strapazen einer Geburt im Stall ohne Arzt, ohne PDA, ohne Hebamme, ohne Einhaltung des Mutterschutzes ihr Baby durch die Wüste schleppt?

Welchem Vater wird nicht das Herz weit, wenn ihm vor Augen geführt wird, was Vaterliebe bedeuten kann, wenn es gilt, sein Baby vor den feindlichen Mördern zu retten?

Diese Geschichte hat niemals stattgefunden.

Die Historiker haben längst geklärt, dass es den Säuglingsmordauftrag von Herodes nicht gegeben haben kann, denn als die Volkszählung stattfand, zu der Jesus geboren worden sein soll, war Herodes bereits seit elf Jahren tot2.

Sie wussten das? Dann zählen sie im Abendland zur absoluten Minderheit.

Erich Kästner werden in dem Film „Kästner und der kleine Dienstag“ folgende Worte in den Mund gelegt: „Es kommt nicht darauf an, ob eine Geschichte wirklich geschehen ist. Es kommt nur darauf an, ob sie wahr ist.“

Das Problem an dieser Geschichte ist jedoch: Sie ist nicht wahr.

Mancher mag denken, das spiele keine Rolle, es sei eine so wunderschöne Geschichte, die eine gemeinschaftsstiftende Wirkung habe, dass man sie immer wieder erzählen könne ...

Diese Ansicht hat mindestens drei kleine Haken, die mir auf Anhieb einfallen:

Erstens den, dass die gemeinschaftsstiftende Wirkung darüber erzielt wird, dass ein gemeinsamer Feind erschaffen wird.

Zweitens den, dass es Herodes tatsächlich gab und ihm mit dieser Geschichte aufs Übelste Unrecht getan wird.

Ist es richtig, einen Menschen, der als „strenger aber fähiger und erfolgreicher König“ seinem Land „eine dreißigjährige Periode des Friedens und Wohlstands“3 beschert hat, als Kindermörder zu verunglimpfen?

Drittens, dass die gemeinschaftsstiftende Wirkung dieses Märchens in der Geschichte bereits mehrfach dafür ausgenutzt wurde, Menschen in manipulativer Weise auf einen Krieg einzustimmen.

Leider haben das die Briten Anfang des 20. Jahrhunderts nicht gewusst, als ihre Regierung ihnen 1914 im Rahmen ihrer Kriegspropaganda weisgemacht hat, die Deutschen hätten Gräueltaten an belgischen Kindern verübt, ihnen die Hände abgehackt.4

Auch diese Geschichte war eine Lüge. Mit ihr hat die britische Regierung gezielt die britische Bevölkerung auf den Kriegseintritt Großbritanniens gegen Deutschland eingestimmt. Ein Kriegseintritt, der nach Auffassung zahlreicher Historiker unnötig und verheerend war.5

Vielleicht wären die Briten misstrauischer gewesen, als ihnen die Notwendigkeit des Kriegseintritts eingetrichtert wurde, wenn sie gewusst hätten, dass sie durch die Verinnerlichung des herodischen Säuglingsmordes empfänglicher waren, für solche Geschichten.

Solche Lügen wirken, wenn die Menschen nicht Herr ihrer Geschichte sind. Sie müssen deshalb glauben, was ihnen weisgemacht wird. Wären sie Herr über ihre Geschichte, wären sie spätestens auf die Irakpropaganda nicht einfach hereingefallen.

Denn hier haben sich die USA dieses Propagandamittels bedient, um Stimmung gegen den Irak zu machen, indem sie die 15-jährige Nayirah vor dem Menschenrechtsausschuss des US-Kongresses am 19.10.1990 über die Ermordung von kuwaitischen Babys durch irakische Soldaten berichten ließen. Eine Erfindung der PR-Agentur Hill & Knowlton im Dienste der kuwaitischen Organisation „Citizens for a Kuwait“.6

Dies zeigt in tragischer Weise, wie die Kreation einer angeblichen Geschichte, wie also die Herrschaft über die Vergangenheit, die Menschen in der Gegenwart manipulieren kann.

Nur wer seine Vergangenheit kennt, ist befähigt, in der Gegenwart die richtigen Entscheidungen für seine Zukunft zu treffen.

Nach meiner Auffassung ist dies einer der maßgeblichen Gründe dafür, dass heute so viele Menschen nicht mehr wählen gehen. Wie sollten sie auch? Sie können nicht unterscheiden, wem sie glauben können und wem nicht, was für sie gut ist und was nicht.

Wer das nicht unterscheiden kann, ist manipulierbar. Das wusste schon George Orwell. So hat er in seinem Buch 1984 das Regime die Vergangenheit auslöschen lassen.

Das Positive daran ist, dass viele Menschen das erkannt haben, was sie damit zeigen, dass sie nicht mehr wählen gehen.

Vielen ist vielleicht gar nicht bewusst, dass es dieses Gefühl ist, das einem den Weg aus der Unmündigkeit weist.

Ein wirksames Instrument, wieder mündig zu werden, liegt darin, die eigene Geschichte zu ergründen.

Denn im Umkehrschluss gilt genauso: Wer Herr über seine Vergangenheit wird, wird auch wieder Herr über seine Zukunft.

Carl von Ossietzky ist ein herausragendes Beispiel für einen der Wenigen, die nie eingeknickt sind, die Wahrheit zu suchen und zu benennen.

Deshalb habe ich mich bei der Arbeit an diesem Buch gründlich mit seiner Person und seinem Werk befasst und ihm dieses Buch gewidmet.

Es ist gewiss kein Roman, der als entspannende Bettlektüre dient und den man in einem Zuge durchlesen sollte. Doch wer ein Werk sucht, das die Zusammenhänge in Gesellschaft und Politik darstellt, der wird an diesem Roman Freude haben.

Der erste Teil ist ein Streifzug durch die letzten Züge des Kaiserreiches, die Schrecken des Ersten Weltkriegs unter Benennung der Kriegstreiber und der Kriegsgewinnler.

Es ist ein Streifzug durch die vielschichtigen Probleme der Weimarer Zeit. Einer Zeit der politischen und gesellschaftlichen Spannungen. Der Zeit des hoffnungslosen Kampfes Carl von Ossietzkys gegen die mediale Volksverhetzung, den monarchistischen und auf dem rechten Auge blinden Staat und gegen die großen Kriegstreiber. Einer Zeit in der längst mutige Frauen und auch Männer den Kampf gegen die Ungleichberechtigung aufgenommen hatten unter Gefährdung von Ruf und Leben, in der die großen Pädagogen der Geschichte längst aufgezeigt hatten, dass die sozialen Missstände und die schlechten Bildungsvorrausetzungen, aber auch die Methoden der Didaktik kleine Soldaten für den nächsten Krieg heranziehen, und eine Zeit, in der Ernst Gennat die Kriminalistik neu erfand. Auch damals schon fand Umweltzerstörung in verheerenden Ausmaßen statt. So werden auch die Zusammenhänge zwischen Umweltzerstörung, Waffenproduktion und Düngemittelproduktion sowie Pestizidherstellung dargestellt, und es wird offenbar, dass alle diese Bereiche immer dieselben Gewinner bedienen.

Mit diesem Buch werden die Missstände und ihre Zusammenhänge, ihre Ursachen und ihre Folgen gründlich recherchiert und mit umfangreichen Nachweisen und Quellenangaben anschaulich und verständlich aufgezeigt. Und allzu oft werden leider Parallelen zu heute deutlich.

„Ich lese gerne historische Romane, aber was mich daran immer stört, ist, dass im Grunde die Geschichte nur als Hintergrund für eine fiktive Story dient, die in der Regel immer dem gleichen Muster folgt. Es ist reine Unterhaltungsliteratur und das reicht mir nicht. Ich möchte etwas anderes.

In diesem Roman bekommen die historischen Ereignisse einen eigenen Stellenwert. Die fiktive Geschichte ist geprägt durch die Ereignisse. So ist es schließlich auch in der Realität. Die Menschen werden durch ihre Zeit und die Umstände, unter denen sie leben, stark beeinflusst und nur wer das anerkennt, kann sich etwa Fragen nähern, wie jener nach Verantwortlichkeiten für Geschehen, aber auch der zentralen

Frage, wie das Geschehen in der Gegenwart und Zukunft gelenkt werden kann, darf, sollte oder muss. Wichtige Fragen, denen ich mich in diesem Mehrteiler widme. Fragen, die unbedingt diskutiert werden sollten. Das wird doch gerade wieder deutlich in einer Zeit, in der der Pazifismus als feige und weltfremd abgewatscht wird, während die Börsenkurse der Waffenindustrie durch die Decke gehen. Wir erleben doch gerade jetzt, dass es gilt, Entscheidungen zu treffen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr weitreichende und nachhaltige Folgen haben werden. Ich bin der Überzeugung, dass wir aus den Ereignissen und Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts gelernt haben könnten. Vieles kommt immer wieder und jedesmal gibt es politische oder institutionelle Entscheidungsträger, die bewusst Entscheidungen zu ihrem eigenen Vorteil, aber entgegen jeder historischen Erfahrung treffen.“ (Rebekka Jost)

2 Meidenbauer, S. 146 ff.

3 Meidenbauer, S. 146 ff.

4https://www.welt.de/geschichte/article126782684/Der-Kriegseintritt-kostete-England-sein-Empire.html, aufg. am 30.8.2020 um 8:44; Zentner, S. 111; Ponsonby, S. 77-81, zit. aus: Schulte, S. 98 f. Der Themenkomplex Gräueltaten der Deutschen an Belgiern im ersten Weltkrieg ist einer der umstrittendsten überhaupt, zumal an dieser Frage viele weitere Fragen anhängen, nämlich vor allem die Frage, ob es „nötig“ war, dass die Briten in den Krieg eingriffen. Die Historiker sind sich weitgehend einig, dass es die damals behaupteten Kinderhandabhackungen nicht gab. Im übrigen gibt es große Meinungsverschiedenheiten zu der Frage, ob es unter den Belgiern eine Resistance gab oder nicht. Es hat zu dieser Frage am 27.10.2017 eine Konferenz an der Universität Potsdam gegeben. https://www.hsozkult.de/conference_report/id/tagungsberichte-7409. Sie war initiiert worden, nachdem ein neues Buch mit dem Titel: Schuldfragen: Belgischer Untergrundkrieg und deutsche Vergeltung im August 1914“ zu dem Thema von Prof. Ulrich Keller erschienen war. https://de.wikipedia.org/wiki/Rape_of_Belgium, aufg. 1.9.2020 um 23:00; Schulte, S. 99.

5https://www.welt.de/geschichte/article124404887/Kriegseintritt-war-Englands-groesster-Fehler.html, aufg. am 1.9.2020 um 23:00; https://www.welt.de/geschichte/article124289827/Zocker-brachen-1914-den-grossen-Kriegvom-Zaun.html, aufg. am 1.9.2020 um 23:00.

6https://www.bpb.de/gesellschaft/medien-und-sport/krieg-in-den-medien/130707/geschichte-der-kriegspropaganda?p=1, aufg. am 1.9.2020 um 23:00.

Vorneweg sei noch gesagt:

Dies ist ein teilweise fiktiver Roman.

Alle Protagonisten und viele weitere Personen sind frei erfunden und stellen keine real lebenden Menschen dar. Ähnlichkeiten sind reiner Zufall.

Die historischen Ereignisse hingegen haben stattgefunden und viele Personen in der Geschichte sind historische Figuren. Sie werden durch Quellen und Hinweise im Anhang belegt und konkretisiert. Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gearbeitet und mir die größte Mühe gegeben, gründlich zu recherchieren, auch zeitgenössische Quellen heranzuziehen und präzise zu schreiben. Dennoch bin ich keine Historikerin und habe zu Primärquellen in der Regel keinen Zugang. Wenn es mir passiert sein sollte, an irgendeiner Stelle ungenau oder in verzerrender Weise formuliert zu haben, dann bitte ich dies zu entschuldigen. Außerdem ist es, wie Sie hoffentlich verstehen werden, schlicht unmöglich, die Zeit von 1913 bis 1933 vollumfänglich darzustellen. Natürlich musste ich eine Auswahl treffen, die in engem Bezug zur fiktiven Geschichte steht.

Widmung

Dieses Buch widme ich Carl von Ossietzky, der sein ganzes Leben unermüdlich ind unerschrocken und trotz ständiger Bedrohung seiner Freiheit gegen die Volksverhetzung, die Volksverdummung und die manipulative Lüge angeschrieben hat und dafür schließlich von den Nazis zu Tode geguält wurde. und Clara Immerwahr, die als Einzige versucht hat, und dafür gestorben ist, den Gaskrieg zu verhinder, wofür sie bis heute keite Fridensnobelpreis erhalten hat, während ihr Ehemann Fritz Haber und sein Kumpan Carl Bosch mit Nobelpreisen für Chemie füe ihr Werk, das den Gaskrieg bewirht hat, belohnt wurden.

...deren Namem heute kaum einer mehr hennt und über deren Gräbern längst ein tiefes Vergessen liegt...

Hamburg, 23. Februar 2020

Aurelias Blick richtete sich auf die große Schrankwand. Oben rechts stand das Familienalbum. Während sie sich auf den Gehstock stützte, griff sie mit der Linken nach einem der Stühle. Sie zog ihn an den Schrank und stützte sich auf die Lehne, während sie sich mühsam daran hochzog. Das war eine wackelige Angelegenheit, aber sie hatte keine andere Wahl, wenn sie an das Album reichen wollte.

Es war anstrengend, sich auf dem Stuhl aufzurichten. Zum Glück war sie noch ziemlich fit für ihre 89 Jahre.

Als sie endlich – etwas unsicher – stand, merkte sie die Anstrengung aber doch daran, dass ihr Herz wild pochte.

Einen Augenblick verschnaufte sie, dann reichte sie mit der Linken hoch zum Album. Mit der Rechten musste sie sich an einem der Regalböden festhalten. Sie bekam das Buch zu fassen und holte es herunter. Sie kippelte. Schnell wieder runter hier. Nach unten sah sie lieber nicht, sondern stieg so vorsichtig, wie sie konnte, hinab. Unten musste sie sich erst einmal setzen. Aber sie hatte es geschafft. Sie sah auf den Einband. Er war lapislazuliblau. Das war ihre Lieblingsfarbe.

Sie schlug das Album auf. Es begann mit dem Hochzeitsfoto ihrer Eltern, Elsa und Eduard. Das war im Jahr 1913.

Dann kamen drei Seiten, auf denen die wenigen Bilder aus Aurelias Kindheit zu sehen waren: Mutter und Vater mit Leopold, ihrem ersten Kind, Aurelias ältestem Bruder. Darunter stand 1914. Ein Foto von Vater, Großvater Alexander und Vaters Bruder Ernst, den Aurelia nicht kennengelernt hatte. Das Einzige, was sie über ihn wusste, war, dass er ein Lotterleben geführt hatte und auf sehr unehrenhafte Weise ums Leben gekommen war. Ein Familienfoto von allen 1925 mit Vater und Mutter, dem etwa elfjährigen Leopold, der achtjährigen Emilia Johanna, dem noch nicht dreijährigen Hans Fridolin und Theodor, der noch ein Baby war. Aurelia war noch nicht geboren. Dann eines von 1935, da war Aurelia 5 Jahre alt. Mehr Fotos gab es nicht. Aurelia konnte sich auch nicht entsinnen, dass jemals Fotografien aufgenommen worden waren, während ihrer Kindheit. Ihrer Erinnerung nach waren ihre Eltern und Geschwister immer beschäftigt gewesen. Sie selbst hatte vor-wiegend allein gespielt. Ihre früheste Erinnerung an Leopold war aus der Zeit, als Leopold bereits um die 25 Jahre alt war. Zu der Zeit hatte er nicht mehr im Elternhaus gelebt. An Emilia hatte sie ebenfalls nur wenige Erinnerungen. Aurelia war noch klein gewe-sen, als auch sie das Elternhaus verlassen hatte. Auch Hans war deutlich älter gewesen als sie und sie konnte sich kaum an ihn erinnern. Der Einzige, mit dem sie eine enge Beziehung erinnerte, war Theodor. Doch alles, was sie bezüglich dieses Bruders noch wusste, spielte in ihrer frühesten Kindheit.

Aurelia blätterte eilig weiter. Diese Stelle des Albums rang ihr ein gequältes Seufzen ab, hier fehlten einige Seiten. Unschön ragten winzige Fetzen hervor, wo die Seiten entfernt worden waren. Schnell blätterte sie weiter. Ein größeres Foto lag lose zwischen den Seiten. Es war das Hochzeitsbild von ihr und Emil. Das war 1946. Eine Weile ruhte ihr Blick auf Emil. Er sah glücklich aus auf diesem Foto. Nur kurz betrachtete sie sich selbst. Wie jung sie damals gewesen war! Ihr Blick wirkte kühl. Sie blätterte weiter.

1955. Auf diesem Foto sah man sie und Emil mit Jonathan. Sie erinnerte sich gut an den Besuch beim Fotografen. Jonathan trug ein weißes Kleid. Emil hielt Jonathan, sie selbst stand an Emils Seite. Emils Blick verriet den Stolz über den ersten Sohn.

Die nächste Fotografie zeigte sie zu viert. Sie, Emil, Jonathan und Janna. Janna war ein Baby. Nun war sie es, die in die Kamera strahlte mit dem Baby auf dem Arm. Emil hielt Jonathan auf dem Schoß und Jonathan schlang seine kleinen Ärmchen um den Hals seines Vaters. Jonathan musste damals etwa drei Jahre alt gewesen sein. Unter dem Foto stand die Jahreszahl 1958.

Kurz betrachtete Aurelia ihren Sohn. Er hatte sehr an seinem Vater gehangen. Der war damals viel unterwegs gewesen und Jonathan hatte ständig nach Emil gefragt und gejammert. An dem Tag, an dem das Foto entstanden war, war er gerade aus West-Berlin zurückgekommen, wo er gearbeitet hatte. Am darauffolgenden Tag war er wieder abgereist, aber wenig später waren sie alle nach West-Berlin gezogen. Bis dahin hatten die Arbeitsorte ständig gewechselt. Zunächst Bonn, später auch einmal Köln und schließlich seit 1955 West-Berlin. Aber auch nach dem Umzug war Emil selten zuhause gewesen. Er war ständig gereist und Aurelia mit den Kindern immerzu allein gewesen.

Dann blickte sie auf Janna. Sie war so ein süßes Baby gewesen. Aurelia erinnerte sich noch gut, dass es ihr von Jannas Geburt an besser gegangen war. Wie hatte sie dieses Baby geliebt. Und nun war das alles schon über sechzig Jahre her.

Warum hatte sie das Album jetzt heruntergeangelt? Ja, der Film war das gewesen. Der Film, den sie eben geguckt hatte, im Fernsehen. Irgendwie hatte sie das alles an die Zeit erinnert, als ihre Kinder noch klein gewesen waren. In dem Moment regte sich in ihr der Wunsch, Janna anzurufen. Ja, am besten, sie rief Janna an.

Aurelia erhob sich schwerfällig und humpelte, auf den Gehstock gestützt, zum Telefon. Sie nahm den Hörer ab und suchte im Telefonbuch nach Jannas Nummer. Jonathan hatte ihr das alles eingestellt. Bis vor kurzem hatte sie noch ihr altes Telefon gehabt, aber das hatte nun den Geist aufgegeben. Jonathan hatte versucht, ihr die ganze Technik zu erklären, aber das war ihr nichts. Jetzt waren die Nummern im Telefonbuch eingespeichert und sie hatte immerhin begriffen, wie sie das Telefonbuch nutzen konnte. Im Hörer piepte es und dann tutete es. Es tutete eine ganze Weile, dann wurde abgehoben. „Mama?“ Jannas Stimme klang verschlafen. „Ist was passiert?“

„Nee, was soll denn passiert sein? Ich wollte mich nur mal melden.“

„Es ist gleich zwölf. Ich schlafe schon!“

Als der Wecker klingelte, war Janna müde. Aber sie musste hoch. Es war 5:00 Uhr und um 6:30 hatte sie Dienstbeginn. Als sie die Beine aus dem Bett schwang, fiel ihr der Anruf wieder ein. Na, wurde Mama jetzt doch langsam tüddelig? Kurz vor zwölf! Dabei hatte sie schon gedacht, es sei etwas passiert! Sie würde ihre Mutter am Nachmittag nach der Arbeit anrufen.

Daniel nuschelte „Guten Morgen“ und schlief weiter.

Janna ging ins Bad, danach in die Küche und stellte mit der einen Hand den Wasserkocher, mit der anderen das Radio ein. NDR Info.

Während das Dröhnen des Wasserkochers immer lauter anschwoll, erfuhr Janna durch das Radio, dass von Seiten des Gesundheitsministeriums festgestellt worden sei, dass das Corona-Virus jetzt in Deutschland angekommen sei, dass Grenzschließungen aber nicht Teil der Überlegungen seien und dass der Staat alles tue, um die Bürger zu schützen. In Italien seien bereits mehrere Menschen mit dem Virus gestorben, hieß es sodann.

Janna hörte nur mit einem Ohr zu, denn sie musste sich jetzt beeilen, um pünktlich zu kommen.

Sie goss schnell ihren Instant-Cappuchino auf und gab Milch dazu.

Während sie sich die Haare machte, trank sie den Cappuccino.

Um 5:45 saß sie im Auto und um 6:15 parkte sie am Amalie-Sieveking-Krankenhaus.

Als ihr eine ältere Dame in einem Rollstuhl entgegen geschoben wurde, musste sie wieder an ihre Mutter denken.

Ihre Mutter war noch wirklich rüstig für ihr Alter. Aber Janna wusste, dass sich so etwas manchmal schlagartig ändern konnte. Würde ihre Mutter zur Risikogruppe gehören, wenn es hier losgehen sollte? Janna wusste eigentlich von keinerlei Erkrankungen ihrer Mutter. Aber sonderlich oft sah sie sie auch wieder nicht. Vielleicht sollte sie mal wieder hinfahren? Janna seufzte. Ihre Mutter war ziemlich anstrengend. Das war sie schon immer gewesen. Sie klammerte so an Janna. Aber wenn sie jetzt schon mitten in der Nacht anrief und noch nicht einmal merkte, wie spät es war, dann war es wohl doch besser, mal nach dem Rechten zu sehen. Mal sehen, sie würde es davon abhängig machen, wie müde sie nach dem Dienst sein würde. Wenn sie noch genug Energie hatte, konnte sie ja mal lang fahren. Daniel würde sowieso wieder spät nach Hause kommen. Derzeit lief es ganz gut in seinem Geschäft. Janna war ja skeptisch gewesen, als sich Daniel vor einigen Jahren mit dem Modegeschäft für Übergrößen selbstständig gemacht hatte, aber es lief zunehmend besser.

Ach ja, fast hätte sie vergessen, dass sie auch noch Adrian anrufen musste. Sie wollten ja besprechen, in welcher Woche er mit Julie und den Kindern nach Deutschland kommen würde.

Als Janna gegen 15:30 die Klinik verließ, war sie aber doch zu müde, um ihre Mutter noch zu besuchen.

So erledigte sie schnell den Einkauf und fuhr dann nach Hause. Dort angekommen ließ sie sich aufs Sofa fallen und wählte die Nummer.

„Mama? Ja, ich bin es.“

„Hast du jetzt Feierabend?“

„Ja, ich bin gerade nach Hause gekommen.“

„Ach schade, ich dachte, du kommst mal wieder vorbei. Ich habe Kuchen gemacht.“

Janna verdrehte die Augen. Sie wusste schon, warum sie so ungern zu ihrer Mutter fuhr. „Du weißt doch, nach der Arbeit bin ich immer fertig.“

Schweigen.

„Warum hast du denn gestern angerufen?“

„Ja, das tut mir leid, ich habe gar nicht auf die Zeit geachtet. Ich wollte nur mal hören, wie es dir so geht und den Kindern und Daniel.“

„Es geht allen gut, soweit.“

Schweigen.

Janna überlegte, ob sie mit irgendeinem Thema beginnen sollte.

In dem Moment begann ihre Mutter zu sprechen. „Du verfolgst doch auch die Nachrichten, nicht? Du, wie ist denn das, muss ich mir Sorgen machen? Du weißt schon, wegen dieses... wegen dieses Virus.“

„Da fragst du mich ja was!“

„Na hör mal, du bist doch Krankenschwester!“

„Ja, das schon, aber doch keine Ärztin. Also, Vorerkrankungen hast du doch eigentlich nicht, oder? Hast du dich mal durchchecken lassen?“

„Ach was, mir geht’s doch gut. Was soll ich beim Arzt?“

„Ja, das stimmt schon. Da ist höchstens die Gefahr, dass du dir da was wegholst. Nee, also eigentlich denke ich nicht, dass du dir Sorgen machen musst. Aber du musst ja auch kein unnötiges Risiko eingehen.“

„Also jetzt eher nicht nach China fahren?“

Janna musste grinsen. Manchmal hatte ihre Mutter tatsächlich Humor.

„Hast du denn vielleicht morgen Zeit für ein Stück Kuchen?“

Janna überlegte. Das würde wieder anstrengend werden und Daniel hatte bestimmt keine Zeit, mitzukommen. „Wollen wir das nicht lieber am Wochenende machen? Das wird mir bestimmt zu viel, nach der Arbeit. Es ist immer ziemlich viel Stress dort.“

Schweigen.

Nach dem Telefonat mit Janna lehnte Aurelia sich in ihrem Sessel zurück. Sie ließ die Hand mit dem Hörer hinabsinken.

Naja, wenigstens würde Janna am Wochenende zu Besuch kommen.

Aurelia war trotzdem traurig. Sie sahen sich so selten, dabei wusste Janna wohl gar nicht, wie sehr sie sie liebte und wie lang ihr die Zeit immer wurde, wenn sie sich nicht sahen.

Ihr Blick fiel auf das Album, das noch auf dem Wohnzimmertisch lag. Sie griff danach und schlug es wieder auf. Langsam sah sie die Bilder durch, die sie während Jannas Kindheit aufgenommen hatten. Janna war ein unglaublich hübsches Kind gewesen. Da war auch Jonathan. Von ihm gab es nicht so viele Bilder. Die meisten hatte Emil aufgenommen, wenn er mal zuhause war.

Ob sie Jonathan mal wieder anrufen sollte? Seitdem er ihr das Telefon eingerichtet hatte, hatte sie ihn nicht mehr gesprochen. Das war ja auch schon wieder eine Weile her.

Ach was. Schluss jetzt mit der Grübelei. Sie würde das Album wieder zurücklegen und dann wollte sie ein Stück von dem Kuchen essen. Bis Sonntag wäre der ohnehin verdorben.

Aurelia stand mühsam auf und schob den Stuhl an den großen Wandschrank.

Wieder gelang es ihr, auf den Stuhl hochzukrakseln.

Oben merkte sie, dass ihr ein wenig schwindelig war. Sie hielt sich vorsorglich an einem der Regalböden fest und streckte sich, um das Buch dort hinzustellen, wo sie es entnommen hatte.

In dem Moment wurde ihr schwindelig. Sie kippelte und dann verlor sie das Gleichgewicht. Ehe sie es sich versah, schlug sie auf dem Boden auf. Ein irrsinniger Schmerz durchfuhr ihr Bein, begleitet von einem Krachen.

Die Schmerzen ließen sie aufjammern. Sie biss die Zähne fest zusammen. Mit zitternden Händen versuchte sie nach irgendetwas zu greifen, woran sie sich hochziehen konnte, aber jede Bewegung ihres rechten Beines verursachte stechende Schmerzen.

„Das Telefon!“, schoss es ihr durch den Kopf. Das Telefon lag noch auf dem Tisch. Aber wie sollte sie dort ankommen? In dem Moment sah sie, dass Blut am Boden war. Sie tastete nach ihrem Kopf. Ja, tatsächlich, da war eine Wunde...

Was sollte sie nur tun? Sie konnte nicht ans Telefon kommen und sie konnte auch sonst keine Hilfe holen und bis Janna sie besuchte, würde noch eine Woche vergehen...

Jetzt, allmählich spürte sie auch, dass ihr Kopf weh tat und auch den Arm musste sie sich verletzt haben, aber nicht so schwer wie das Bein.

Da entdeckte sie das Fotoalbum. Wenn sie damit hoch langte, konnte es gelingen, das Telefon herunterzuangeln... Sie versuchte es, aber es gelang nicht. Die Schmerzen im Bein waren zu stark.

Als sie gerade spürte, dass die Verzweiflung über sie hereinbrach, klopfte es an der Wohnungstür. „Frau Bartels?“

Das war die Nachbarin von unten. Sie musste das Poltern gehört haben!

„Frau König? Ich brauche Hilfe, ich bin gestürzt!“, rief Aurelia, so laut sie konnte.

Der Krankenwagen kam schnell und die Feuerwehr brach die Tür auf.

Im Krankenhaus stellten sie fest, dass das rechte Bein gebrochen war. Der Arm war nur geprellt und die Wunde am Kopf blutete zwar stark, war aber ansonsten harmlos.

Nachdem Aurelia alle Untersuchungen über sich ergehen lassen hatte und in eines der Zimmer geschoben worden war, schloss sie die Augen. Was sollte sie jetzt tun? Wie sollte sie so zuhause zurecht kommen? Nein, darüber würde sie sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Sie würde die Visite morgen abwarten und dann weitersehen.

Leider hatte sie nichts mit, um sich die Zeit zu vertreiben. Das war nicht ihre Art. Sie konnte sich immer gut beschäftigen. Jetzt lag sie hier nur im Bett und konnte sich kaum bewegen.

Sollte sie Janna verständigen? Ach was, erst einmal abwarten, was die Ärzte morgen sagen würden. Andererseits, wenn Janna versuchte sie anzurufen, würde sie sich vielleicht Sorgen machen.

Aurelia klingelte und bat die Schwester, Janna zu verständigen.

Jonathan verließ die Redaktion wie immer spät. Draußen war es längst dunkel. Er zündete sich eine Zigarette an und zog eilig daran. Das tat gut. Jetzt hatte er aber auch noch ziemlich Hunger. Sollte er noch einkaufen? Zu essen hatte er nichts mehr im Haus, das wusste er. Er zog den Mantel fest um sich, es war ziemlich kalt. Naja, eigentlich war es nicht besonders kalt, aber er hatte ja die ganze Zeit am Schreibtisch gesessen. Deswegen fror er jetzt.

Er ging zu den Fahrradständern, während er die Zigarette zu Ende rauchte und schloss sein Fahrradschloss auf.

Als er losfuhr, kam ihm in den Sinn, dass er dann auch noch kochen müsste. Um Gotteswillen! Nee, lieber wieder beim Italiener anhalten und eine Pizza mitnehmen...

Da war es schon. „Luigis“.

Jonathan bremste ab und stellte das Rad an die Seite. Dann betrat er das Restaurant.

Luigi winkte ihm zu. „Uno Momento!“

Jonathan nickte.

Im Restaurant war es warm. Fast alle Tische waren besetzt.

Jonathan wartete.

Etwa zwanzig Minuten später hatte er eine dampfende Pizza im Karton. Er klemmte den Karton auf den Gepäckträger und radelte nach Hause.

Hierzu musste er ein Stück an der Außenalster entlang fahren und dann links in die Alsterchaussee einbiegen. Kurz vor der Haltestelle Hallerstraße erreichte er das Haus, in dem er wohnte. Es war ein Altbau. Er schloss die Tür auf und nahm das Rad unter dem Arm mit hinein.

Seine Wohnung lag im ersten Stock.

Drinnen roch es abgestanden. Er war ja auch den ganzen Tag fort gewesen.

Jonathan öffnete das Fenster im Schlafzimmer und schaltete den PC an.

Er wollte es sich gerade mit seiner Pizza bequem machen, als er sah, dass der Anrufbeantworter blinkte.

Während er zum Telefon ging, zog er seine Schuhe aus.

Er startete die Nachricht.

„Hallo Onkel Jona, hier ist Helena. Mama wird es dir ja vermutlich nicht mitgeteilt haben: Oma ist im Krankenhaus. Beinbruch. Sie ist wohl irgendwie auf einen Stuhl gestiegen. Ich hab es auch nur erfahren, weil ich Mama zufällig angerufen habe. Ich dachte, es interessiert dich vielleicht. Ach ja, wir können uns ja mal wieder treffen. Was macht die Arbeit so? Mir geht’s nicht so toll. Carmen hat mich verlassen und ohne sie ist es echt schei... Mist.“

Jonathan blickte irritiert auf das Telefon. Klar. Helena war mal wieder die Einzige, die ihn informierte. Er nahm den Hörer und setzte sich damit aufs Sofa. Während er Helenas Nummer tippte, biss er von der Pizza ab. „Helena? Ich bin es. Hab gerade deine Nachricht gehört.“ Während er sprach, sah er, dass der Rechner hochgefahren war. Er schnappte sich den Pizzakarton und setzte sich an den Schreibtisch.

„Und, hat Mama dir Bescheid gesagt?“ Helenas Stimme klang monoton.

Jonathan öffnete seinen Emailaccount. „Was denkst du denn? Was ist bei dir los? Carmen hat dich verlassen?“

„Ja, ich weiß echt nicht weiter... Ich will auch gar nicht darüber reden. Erzähl lieber, was die Arbeit macht.“

„Na was schon? Das Übliche. Und bei dir?“

„Du musst mal schreiben, was du willst!“

„Ach Helena, darüber haben wir doch schon so oft gesprochen. Das ist nicht so einfach.“

„Warum? Deswegen bist du doch Journalist geworden?“

„Ja, mag sein, aber so ist die Realität eben nicht. Man muss ja auch von irgendwas leben und beim „Planet T Magazin“ hab ich doch einen guten Job.“ Jonathan hörte sich sprechen und dachte dabei, was für einen Mist er redete. Aber er wollte das jetzt nicht vertiefen. Helena hatte schon oft versucht, ihm ins Gewissen zu reden. Schon seit sie klein war. Mit Helena hatte er sich immer schon ganz gut verstanden. Da war sie allerdings die Einzige in der Familie.

„Ich weiß nicht. Ich glaube, du kannst viel mehr. Wenn du so erzählst, dann versteh ich immer nicht, warum du das nicht auch schreibst.“

Jonathan überflog die Artikel der anderen renommierten Zeitungen und verdrehte die Augen. „Fallzahlen“ war wohl jetzt das häufigst verwendete Wort schlechthin. „Hast du mal was von deinen Geschwistern gehört?“

„Ja ja, immer ablenken.“

Nach dem Telefonat sah Jonathan noch eine Weile die Schlagzeilen durch, aber es ärgerte ihn. Helena hatte es wieder geschafft, den Stachel zu setzen. Klar, es war zum Kotzen, er hatte sich das auch anders vorgestellt, aber wovon sollte er denn leben? Und wenn man erst mal so einen Posten hatte, bei einem Magazin wie Planet T, dann setzte man das eben auch nicht einfach so aufs Spiel.

Bevor er für Planet T geschrieben hatte, war es manchmal nicht leicht gewesen, über die Runden zu kommen. Das war jetzt schon viele Jahre her. Dann hatte er Felix kennengelernt und der hatte ihm damals den Job bei Planet T vermittelt. Aber an Felix wollte er auch lieber nicht denken. Da sollte noch eine Menge Gras drüber wachsen.

Mit Felix war sein Ansporn gestorben, richtig guten Journalismus zu betreiben und jetzt war Felix auch Geschichte.

Und mit 65 Jahren musste man wohl nicht mehr darüber nachdenken, sein Leben von Grund auf zu ändern. Das war ja lächerlich. Die letzten paar Jahre noch und dann war eh Schicht im Schacht.

8. Juli 1913

„Hast du es auch in der Zeitung gelesen? Eine der Suffragetten hat sich beim Epsom Derby vor das Rennpferd von König George geworfen!“ Frederike Lehmann sah ihre Schwester Elsa mit großen Augen an.

Josephine Lehmann bedachte ihre Jüngste mit einem strengem Blick. „Ja, und das hat sie mit dem Leben bezahlt7. Und wofür? Wir sollten uns glücklich schätzen über das was wir haben. Diese Forderungen bringen alles in Gefahr. Nur wenn alles seine Ordnung hat herrscht Friede. Unterschätzt niemals den Wert des Friedens. Der Krieg dagegen bringt das größte Unheil. Ich habe erlebt, was Krieg bedeutet. Als der deutsche Bund und die süddeutschen Staaten gegen Frankreich zogen, war ich noch ein Kind von vier Jahren, aber mein Vater, euer Großvater ist aus der Schlacht von Sedan nicht heimgekehrt und das war ein schwerer Schlag für unsere Mutter und die ganze Familie, wenngleich es ohne jeden Zweifel ein glorreicher Sieg für die Deutschen war, gegen die Franzosen, die unseren Kaiser derart hochmütig herausgefordert haben, und wenn es auch, Gott sei Dank, dazu geführt hat, dass wir endlich einen Kaiser bekamen. Dieses bedeutende Ereignis habt ihr, ...“

„Otto von Bismarck und dem Kaiser persönlich zu verdanken8“, vervollständigte Elsa den Satz ihrer Mutter.

„Ganz Recht, meine Liebe, ganz Recht.“

„Ja, Mutter, welch ein Segen, dass der Krieg auf dem Balkan weit weit fort ist9...“ stellte Frederike fest.

Elsa verdrehte die Augen. Es sollte doch der schönste Tag in ihrem Leben werden! Sie wollte weder etwas von den Suffragetten in London noch etwas über den Balkankrieg hören. Nur diesen einen Tag lang sollten all diese besorgniserregenden Ereignisse nicht alles beherrschen! „Mutter, Frederike, lasst uns heute einmal nicht über all das sprechen. Das hat Zeit bis morgen!“ Sie drehte sich vor dem Spiegel. Der weiße Schleier war wunderschön gearbeitet. Das Kleid war ein Traum.

„Aber natürlich.“ Elsas Mutter lächelte ihre Tochter bemüht zuversichtlich an. „Heute soll es nur um deine Hochzeit gehen!“

„Ach, ich wünschte, ich wäre auch so schön wie du!“ Frederike strich über den weichen, weißen Stoff.

„Sprich doch nicht so einen Unsinn. Du wirst bei deiner Hochzeit ebenfalls bildschön sein!“ Josephine lächelte ihre Jüngste tadelnd an. „Jetzt bist du noch ein Backfisch. Aber das wird sich in wenigen Jahren geändert haben. Du wirst so schön sein wie Königin Luise von Preußen.“

„Zuletzt, kurz bevor sie starb!“, rief Elsa, um ihre Schwester zu ärgern.

„Aber nein.“ Josephine war das Entsetzen anzuhören. Sie verstand die Scherzereien ihrer Töchter nie. Dafür war sie wohl zu alt. Elsa und Frederike waren ihre jüngsten Kinder von Fünfen. Ihre erste Tochter, Emilia Luise, war 1886 geboren. Ihre Jüngste, Frederike, 1900.

„Du jedenfalls gleichst Kaiserin Elisabeth von Österreich bei ihrer Hochzeit!“ Frederike war nie nachtragend.

„Nun sollten wir uns beeilen. Wenn wir nicht bald abfahren, werden wir zu spät zur Trauung kommen.“ Josephine zog die Vorhänge etwas zur Seite und sah aus dem Fenster. „Die Kutsche steht schon bereit. Nun ist es also soweit. Meine Tochter verlässt zum letzten Mal ihre Kinderstube. Ach, wie werde ich weinen, wenn ihr euch das Jawort gebt! Hoffen wir das Eduard als Ehemann klüger ist als er es in politischen Fragen ist! Mein Schatz, meine Kleine!“ Josephine nahm ihre Tochter in den Arm und Elsa spürte, dass ihre Mutter schon jetzt mit den Tränen kämpfte.

„Mutter, nun zerdrück´ doch der armen Elsa nicht das schöne Kleid und die Frisur. Komm lieber an meine Seite. Du musst doch nicht schon wieder weinen!“, schalt Frederike die Mutter und nahm sie bei der Hand.

„Mein lieber Eduard, das ist ein besonderer Tag für mich, musst du wissen. Ich bin sehr glücklich über deine Heirat mit Elsa.“ Alexander Hoffmanns Augen blitzten vergnügt. „Sieh dich nur an. Du siehst großartig aus in dem Anzug. Und für dich wird sich mit diesem Tage alles verändern. Du wirst der Arzt sein und nicht mehr ich.“

„Und du willst gar nicht mehr praktizieren?“

„Na, wenn du mal dringend Hilfe benötigst, dann stehe ich bereit, aber ansonsten werde ich dir freie Hand lassen. Du hast genug gelernt, du wirst das schaffen. Wann wird eigentlich dein Bruder eintreffen?“ Alexander klappte die Uhr auf, die er an einer Kette im Jackett trug. „Wir müssen bald abfahren.“

„Ernst hat telegraphiert, dass er direkt vom Zug aus zur Kapelle fährt.“

„Was macht er nun eigentlich? Wann wird er dieses Studium endlich abschließen? Hat er dir geschrieben?“

„Zuletzt hat er mir diesbezüglich nichts mehr mitgeteilt. Ich wollte ihn in Ruhe sprechen, wenn er hier ist, nach der Hochzeit.“

„Ach, dein Bruder hat keine einfache Zeit. Aber er lässt sich eben zu leicht ablenken. Das war schon während der Schulzeit so. Kaum dass irgendein Unsinn lockt, lässt er alles stehen und liegen und setzt aufs Spiel, was er eben errungen hat.“

Eduard seufzte. „Er braucht eben etwas mehr Zeit, aber dafür kann man mit ihm die besten Gespräche führen.“

„Mein Lieber!“, Alexander schüttelte mit besorgter Miene den Kopf. „Das sagst du stets, sobald es um deinen Bruder geht. Aber was nützt ihm das? Wo will er denn hin? Früher hätte man einen wie ihn ins Militär gesteckt, da hätten sie ihm den Kopf gewaschen.“

„Früher?“ Eduard schnaubte verächtlich. „So machen es viele auch heute noch! Und du hättest es ja auch so machen können.“

„Selbstverständlich nicht. Was hätten sie dem Jungen da angetan. Dafür hat er eine zu zarte Seele.“

„Na siehst du, so sehe ich das auch.“

„Aber nun weiß ich auch nicht, ob es richtig war, ihn in Berlin studieren zu lassen. Es geht ja nicht voran.“

„Wir müssen abwarten. Es wird sich schon ergeben.“

„Du hast hoffentlich Recht. Und jetzt geht es schließlich um deine Hochzeit und nicht um deinen Bruder. Jetzt wollen wir zur Kapelle fahren. Na, komm, mein Sohn. Lassen wir die liebe Elsa nicht warten.“

Der Zug ratterte eintönig dahin. Zwischenzeitlich unterbrochen wurde das Dröhnen vom Zischen der Concordia.

Ernst blickte aus dem Fenster. Bald mussten sie den Hamburger Hauptbahnhof erreichen.

Draußen zogen Wohnviertel und Industrieanlagen vorüber, der Zug wurde langsamer.

Gleich würde er nur noch ein Stück mit der Mietdroschke fahren müssen, dann würde er nach langer Zeit Vater und Eduard wiedersehen. Und Elsa. Auch sie hatte er lange – noch viel länger sogar – nicht mehr gesehen.

Ernst freute sich einerseits, andererseits graute ihm vor den Fragen nach dem Studium und nach seinen Absichten für die Zukunft.

Absichten für die Zukunft, wenn er das schon hörte! Wenn er daran dachte, wie die letzten Wochen und Monate verlaufen waren, dann war es wohl besser, rein gar nichts zu berichten. Oh Gott, er durfte lieber selber nicht daran denken.

Wie war das nur passiert?

Er hatte wirklich und wahrhaftig ernsthaft studieren wollen. Gut, an manchen Tagen hatte er sich so gar nicht auf die Studien konzentrieren können, aber wie es zu dieser verhängnisvollen Entwicklung hatte kommen können, konnte er sich selber nicht erklären. Warum nur hatte er sich mit diesem verdammten Karl Friedrich und seinem Kumpan Heinrich eingelassen? Es war schmerzlich, daran zu denken, wie sehr er in Folge all dessen die Kontrolle über sein Studium und sein Leben insgesamt verloren hatte. Ja, es war eine unstete Zeit gewesen, aber warum nur war er so weit gegangen? Wie sollte er Eduard und Vater unter die Augen treten? Wenn sie das alles erfuhren!

Karl Friedrichs Schwester war daran ganz gewiss nicht unschuldig. Wenn sie nicht gewesen wäre, dann hätte er sich sicherlich nicht mit den anderen angefreundet. Wenn er ehrlich war, hatte er sich schwer in sie verliebt und das hatten Karl und Heinrich zum Anlass genommen, ihn unter ihre Fittiche zu nehmen ... Ernst brummte der Schädel, wenn er an all das dachte und tatsächlich war es schwer zu ertragen, trotz der Wirkung des Opiums, das er vor wenigen Stunden zuletzt geraucht hatte...

Wieder kamen die grauenhaften Bilder auf. Warum nur war er mit Linzmann mitgegangen. Warum nur?

Am liebsten hätte er die Erinnerung einfach abgeschüttelt, den Kopf gegen die Scheibe geschlagen, damit sein Schädel aufhörte, ihm diese Bilder immer wieder vorzuspielen.

… Die Tür öffnete sich und er und Linzmann betraten den diesigen, verqualmten Raum.

Diener trugen Tabletts mit Gläsern und Häppchen umher.

Auf bequemen Sesseln und Bänken saßen in legerer Haltung vornehme Herrschaften. Offiziere, Adlige, wichtige Personen des Berliner öffentlichen Lebens.

Es waren nur Herren anwesend. Sie tranken, unterhielten sich, lachten gedämpft.

Schließlich mischten sich die Mädchen unter die Herren. Sie waren fein herausgeputzt. Ernst wusste um ihre erbärmliche Herkunft, doch anzusehen war sie ihnen nicht mehr. Jedoch war ihnen ihr Alter durchaus noch anzusehen. Sie waren alle zwischen acht und vierzehn Jahren, man sah es und er wusste es zudem von Linzmann.

Die Mädchen wirkten unbeholfen. Ihre Augen verrieten Angst.

„Was drückt ihr euch hier herum?“, fauchte ihn mit einem Mal einer der Herren an. Es war ein Oberstleutnant, das war an seinem goldenen Stern zu erkennen. „Macht, dass ihr verschwindet. Wartet draußen, bis wir fertig sind.“

Bis wir fertig sind... diese Worte gingen Ernst nicht mehr aus dem Kopf.

Sie hatten lange draußen gestanden, dann gesessen.

Er hatte mit Linzmann gestritten und sich schließlich etwas entfernt in einen Strauch gelegt. Schließlich war er eingenickt.

Als er aufgewacht war, hatte es bereits gedämmert.

Linzmann war nicht mehr da gewesen.

Ein Spaziergänger hatte ihn mit seinem Stock angestoßen. „He, Junge, wach auf, ab nach Hause!“

Völlig übermüdet hatte er sich davon gemacht.

Nur wenig später hatte er erfahren, dass die Polizei in Berlin mehrere tote Mädchen im Alter von ungefähr acht bis vierzehn Jahren gefunden hatte.

Seit diesem Tag war auch Linzmann verschwunden.

Zunächst wurden Einzelheiten nicht bekannt gegeben, aber schließlich war durchgesickert, dass die Mädchen aus dem Scheunenviertel kamen, dass sie unbekleidet in Weinfässern gesteckt hätten, die in der Gosse gelegen hätten. Woran sie gestorben waren, wurde nicht bekannt.

Dann konnte Ernst aus der Zeitung erfahren, dass die Polizei die Ermittlungen eingestellt hatte, man gehe davon aus, dass es sich um die bedauernswerten Opfer häuslicher Gewalt handele, wie sie in den Armenvierteln, wie das Scheunenviertel eines war, leider zuhauf auftrete.

Ernst war unbegreiflich, wie bei dieser Sachlage davon ausgegangen werden konnte, es handele sich um Fälle von häuslicher Gewalt. Warum sollten die Leute aus dem Scheunenviertel Mädchen, die durch häusliche Gewalt ums Leben gekommen waren, in Weinfässer stecken? Und dann auch gleich mehrere?

Es waren die Mädchen, die er in der Nacht gesehen hatte. Da war er sich sicher. Er wollte sich lieber nicht ausmalen, was Linzmann zugestoßen sein mochte.

Immer wieder kam ihm in den Sinn, dass er selber womöglich auch verschwunden wäre, wenn er sich nicht mit Linzmann überworfen und abseits in den Strauch gelegt hätte.

Ein dringender Impuls wollte ihn dazu veranlassen, Eduard alles zu erzählen und nie mehr nach Berlin zurückzukehren. Seinem großen Bruder Eduard!

Ach, er hatte Eduard so vermisst! Nein, er vermisste ihn jetzt.

Wie einfach es früher gewesen war. Er hatte nur zu Eduard laufen und ihm alles erzählen müssen, was ihn bedrückte, und schon war alles wieder gut gewesen.

Eduard hatte ihn aus den Streitigkeiten mit den großen Jungens in der Schule rausgehauen, er hatte ihm bei den Schulaufgaben geholfen, damit Vater nicht zürnte, er hatte ihm geholfen, seine Kammer aufzuräumen, damit Vater nicht sorgenvoll die Mundwinkel verzog und seufzte...

Aber nun? Wie sollte er diese furchtbaren Dinge Eduard erzählen? Nein, er musste sie einfach vergessen. Irgendwie vergessen und nach Eduards und Elsas Hochzeit weitersehen.

Jetzt galt es nur, schleunigst zur Kapelle zu fahren, damit er nicht zu spät kam. Das war Eduards großer Tag und Ernst freute sich wirklich und wahrhaftig für seinen Bruder.

Der Zug war zum Stehen gekommen und Ernst atmete tief durch, schnappte sich seine Tasche und seinen Mantel und lief zügig zum Ausgang. Draußen sah er sich um und winkte einem der Droschkenfahrer zu.

Major Ferdinand Lehmann hob das Glas mit strahlenden Augen und seine Söhne, Gustav und Albrecht, beides Leutnants sowie sein Schwiegersohn Ludwig Fichtner, der Rittmeister war, und sein Bruder Oberstleutnant Friedrich Lehmann taten es ihm gleich.

„Auf dass das Brautpaar lange und glücklich lebe!“, rief Friedrich Lehmann pathetisch.

„Und auf den Kaiser!“, fügte Ludwig Fichtner ebenso feierlich hinzu.

„Ach, ist das nicht ein herrlicher Anlass, zusammenzukommen? Zwar wäre mir ein Offizier als Schwiegersohn gewiss lieber gewesen, aber wenn es nunmal Eduard ist, der meine Elsa glücklich macht, dann soll er willkommen sein in unserer Familie!“

„Na gewiss doch! Immerhin: Wenn es noch einen nützlichen Berufsstand neben dem unseren gibt, dann sicherlich den des Arztes!“ Gustav Lehmann trank seinen Cognac in einem Zug leer.

„Nun wollen wir aber abfahren. Die Damen sind sicherlich schon draußen bei der Droschke eingetroffen.“

Ernst gab dem Droschkenfahrer das Geld und stieg aus.

Vor der Kapelle waren bereits einige Hochzeitsgäste versammelt. Er sah sich um, um festzustellen, wen er kannte und vor allem, wo Vater und Eduard waren.

Da entdeckte er Eduards Schwiegervater in spe, Major Lehmann. Er stand mit einigen weiteren Herren zusammen. Ernst erkannte Elsas Brüder Gustav und Albrecht und einen Herrn in deren Alter, den er nicht kannte und dann stand da noch ein älterer hochdekorierter Herr sehr dicht bei Major Lehmann mit dem Rücken zu Ernst gewandt. In diesem Augenblick drehte sich der Herr um und Ernst fuhr zusammen. „Bis wir fertig sind...“, schoss es ihm in den Kopf. Er fühlte sich, als wanke der Boden. Er hatte diesen Herrn vor nicht allzu langer Zeit gesehen. Das war er. Unverkennbar.

Intuitiv machte Ernst einige Schritte zurück, dann drehte er sich schleunigst um und suchte so schnell er konnte das Weite.

Nur wenige Monate nachdem Winston Churchill am 13. Februar 1913 geäußert hatte, er rechne mit dem Ausbruch eines Krieges mit Deutschland im September 191410, und wenige Monate bevor Carl Duisberg seine Rede zum vierten Jubilarfest der Farbenfabriken vormals Friedrich Bayer & Co halten sollte, mit den Worten: „Der Wurm der Unzufriedenheit und Zwietracht, der überall, zumal in der Industrie, im Dunkeln und Geheimen seine Maulwurfarbeit verrichtet, soll und darf nicht an der Wurzel unseres Unternehmens nagen, wir müssen und werden ihm nachstellen, wo wir ihn treffen, wir werden ihn bekämpfen, wo wir ihn finden, denn es gilt unsere Zukunft, unser Glück“11, und zur gleichen Zeit als Griechenland und Serbien Bulgarien den Krieg erklärten, schlossen Elsa und Eduard voller Zuversicht und Vertrauen in ein glückliches, langes Leben den Bund der Ehe.

Elsa war überglücklich. Sie kannte Eduard bereits ihr ganzes Leben. Nun hatte er seine Approbation erfolgreich abgeschlossen und konnte als niedergelassener Mediziner in die Fußstapfen seines Vaters treten. Eduard und sie würden die obere Etage im Hause von Eduards Vater beziehen. Eduards Vater hatte dafür die kleine Wohnung in der unteren Etage gegenüber der Arztpraxis bezogen.

Im Anschluss an die Trauung fanden sich die Hochzeitsgäste im Hause der Familie der Braut zum Festmahl ein.

Elsa konnte kaum den Blick von Eduard lösen und brachte es nicht über sich, auch nur kurz seinen Arm herzugeben. Es war ihr unbegreiflich, dass man so glücklich sein konnte, wie sie es war.

In dem Moment fing sie einen Blick von Eduard auf, der ihr einen Stich ins Herz versetzte. Sie wusste, was in Eduard vorging. Sie wusste, wie nahe Eduard und sein Bruder sich seit jeher standen und Ernst war einfach und ohne Erklärung nicht zur Hochzeit erschienen.

Elsa kannte Ernst ebenfalls schon lange und sie konnte sich nicht erklären, was hinter seinem Fernbleiben stecken konnte.

„Liebe Elsa“, riss eine Stimme sie aus ihren Gedanken. Es war Eduards Vater, seit heute ihr Schwiegervater,

Elsa drehte sich zu ihm um.

Er nahm ihre Hand in seine und sah sie mit fröhlichen Augen an. „Willkommen in unserer Familie.“

Elsa spürte, wie glücklich sie sich schätzen konnte, diesen Schwiegervater bekommen zu haben. „Danke Alexander.“ Sie kannte ihn schon so lange sie denken konnte. Er war immer freundlich zu ihr gewesen und in jeder Hinsicht der beste Schwiegervater, den sie sich wünschen konnte. Sie wusste aber auch, dass er froh war, die Praxis endlich an Eduard abtreten zu können, da er nicht mehr so viel Kraft hatte, wie er zuletzt immer wieder zum Ausdruck gebracht hatte. Er war erst in hohem Alter Vater geworden und ging bereits auf die Sechzig zu.

„Nun ist Eduard in guten Händen. Mit dir an seiner Seite, wird er ein ausgezeichneter Doktor. Du musst wissen, ich habe diese Praxis immer allein geführt. Ich habe meine Söhne allein großgezogen. Das war nicht immer leicht. Eduard soll es besser haben und das hat er, wenn er dich hat. So kann ich endlich den Arztkittel an den Nagel hängen.“

„Was wirst du dann aber den ganzen langen Tag tun?“

„Nun, mir wird schon etwas einfallen. Weißt du, viele Dinge sind zu kurz gekommen, weil ich Zeit meines Lebens von früh bis spät gearbeitet habe und nun ist Schluss damit. Sieh nur, wie alt ich dabei geworden bin. Das Leben hat noch mehr zu bieten. Nun werde ich alles tun, wozu ich nie gekommen bin. Als erstes möchte ich Europa bereisen. Die großen Städte Prag, Wien, Rom und natürlich Warschau...“

Elsa sah das Funkeln in Alexanders Augen. „Aber bist du dort schon gewesen? Kennst du dort Menschen?“

„Ach, Menschen habe ich als Arzt genug gesehen. Ich will Architektur sehen und ins Theater gehen.“

„Und wann reist du ab?“

„Morgen werde ich abfahren. Ich habe nur eure Hochzeit abgewartet. Dann habt ihr das Haus auch erst einmal für euch und könnt euch einleben ohne den alten Zausel.“

Elsa lachte auf. „Du, ein Zausel?“

„Warts ab. Ich werde noch einer. Ihr werdet noch eure Freude mit mir haben!“

Während des Essens wanderten die Gespräche doch wieder zu den Ereignissen auf dem Balkan. Wenn Elsas Vater, Ferdinand Lehmann, die Themen bestimmte, dann ging es immer um Politik. Davon verstand Elsa viel weniger als ihr Vater, da hielt sie sich lieber bedeckt.

„...Nun waren die Bemühungen der Großmächte wohl doch vergebens. Es bleibt zu hoffen, dass die Auseinandersetzungen diesmal nicht so lange währen. Vielleicht kann der Krieg bis zum Sedantag beendet werden12.“ Ferdinand Lehmann trank einen Schluck Rotwein.

Da wurde Elsa von Frederike abgelenkt, die ihr ins Ohr flüsterte: „Am Sedantag werden wir womöglich schon wissen, ob ich bald Tante werde!“

Es hatte geklopft, oder nicht? Ernst schüttelte verwirrt den Kopf. Hatte es geklopft?

Mühsam rappelte er sich auf, schob die Whiskeyflasche zur Seite und rieb sich die Augen. In seinem Kopf drehte sich alles, aber das war noch nicht einmal unangenehm. Er war müde... da, tatsächlich. Es hatte wieder geklopft.

Er stand auf und ging die wenigen Schritte zur Tür. Es fühlte sich an, als schwebe er. Wie spät es sein mochte? „Wer da?“

„Ich bin es, Ernst, öffne mir.“

Ernst horchte überrascht auf. Er öffnete die Tür, da stand Anna Luise, Karl Friedrichs Schwester.

„Wo hast du gesteckt? Ich habe mich gesorgt!“ Sie drängte sich in den Raum und schob ihn dabei mit sich. Sie schloss die Tür und schlang die Arme um seinen Hals. „Karl hat mir gesagt, dass Linzmann verschwunden ist und dann warst du auch verschwunden!“

Ernst fühlte sich mit einem Mal wieder hellwach.

„Ich fürchtete schon, dir sei etwas zugestoßen!“

„Es geht mir gut. Ich war nur verreist.“

„Ach, bin ich erleichtert.“

Ehe Ernst es sich versah, küsste sie ihn innig auf den Mund.

Ernsts Herz machte einen Sprung.

Irgendwo in weiter Ferne hörte er die Stimme, die ihm noch vor wenigen Augenblicken befohlen hatte, diese unseligen Verbindungen umgehend aufzulösen und sich an die Polizei zu wenden, aber die Stimme war sehr leise. Sie wurde angesichts der Gefühle, die nun von ihm Besitz ergriffen, geradezu unhörbar.

Anna löste die Knöpfe ihrer Bluse und schob ihn in Richtung seines Bettes.

„Geh nie wieder fort, ohne mich zu informieren!“, flüsterte sie in sein Ohr.

Wie oft hatte er im Stillen an Anna gedacht, wie oft hatte er sich vorgestellt, wie es sein musste, sie zu küssen. Es war berauschend. Unbeschreiblich...

Er spürte ihren warmen Atem an seinem Hals, ihre weichen Hände, die sein Gesicht umfassten und schließlich seine Hemdsknöpfe öffneten. Als ihre Bluse zu Boden glitt und sie so vor ihm stand, war jede Vernunft dahin. Dem konnte er sich nicht widersetzen. Er strich über die makellose Haut ihres Nackens und begann ihr Mieder zu lösen.

Ernst konnte sich nicht entsinnen, jemals etwas so Fantastisches erlebt zu haben, wie den Augenblick, als sie sich liebten.

Danach lagen sie eng umschlungen und jeden Gedanken an das, was er vor ihrem Besuch an Entschlüssen gefasst hatte, schob er unwillig beiseite. Daran konnte er jetzt nicht denken.

So schlief er ein.

Plötzlich schreckte er hoch. Etwas stimmte nicht. Er sah sich um, versuchte, im Dunkeln zu sehen... Er zuckte zusammen. Anna war fort. Das Bett war noch warm. Sie musste eben aufgestanden sein. Er richtete sich auf, horchte. Wo mochte sie sein?

Da hörte er Flüstern vor der Tür. Er erstarrte. Das waren mehrere Stimmen. Sein Herz begann zu rasen. Es fühlte sich an, als müsse es jeden Augenblick zerspringen.

Er versuchte, seinen Atem zu drosseln, sah sich um und sprang, so leise er konnte aus dem Bett. Er lief zum Fenster, öffnete es und spürte den kühlen Windhauch.

Da begann sich die Tür leise zu öffnen.

Mit einem Satz sprang er aus dem Fenster. Er klammerte sich an einen der Äste, die dicht am Fenster hingen und hangelte sich, so schnell er konnte hinab.

Den letzten Absatz sprang er hinunter und duckte sich unter den Baum. Er sah nach oben. In seinem Zimmer wurde Licht gemacht, dann hörte er aufgeregte Stimmen. „Wo ist er?“

„Ich weiß nicht, er war eben noch... das Fenster!“ Das war Annas Stimme. Ernsts Herz krampfte sich zusammen. Sie hatte ihn verraten...

Aber er hatte keine Zeit, nachzudenken. Er musste fort von hier, so schnell er konnte. Er blickte sich um. Wohin? In dem Moment spürte er einen festen Griff im Nacken und eine Männerstimme zischte: „Kein Mucks!“

Ernst griff nach der Hand vor seinem Mund und spürte das kalte Metall eines Ringes. Der Kerl griff nach seinem Handgelenk und riss es herunter. Dann wurde es dunkel und er bekam unter einer stinkenden Decke nur noch schwer Luft. Arme umfassten ihn und trugen ihn fort...

Am Sedantag wussten sie, dass Frederike bald Tante würde.

Sie verbrachte nun viel Zeit bei ihrer Schwester im Arzthause Hoffmann. Darüber war sie auch sehr froh, weil ihr Vater, vor allem im Nachgang des Falles Zabern sehr aufgebracht war und sich wochenlang kaum beruhigen konnte.

Frederike verstand nicht wirklich, was da vorgefallen war. Sie konnte ihrer Schwester nur berichten, dass es sich wohl um einen Vorfall in einer Garnison handelte, aufgrund dessen die Elsässer sich in ihrer Ehre gekränkt sahen. Jedenfalls hatte es daraufhin in dem Zeitraum vom 9. bis zum 28. November Proteste und Beschimpfungen und wohl sogar Angriffe der Elsässer Bevölkerung von Zabern gegenüber dem Militär gegeben. Leutnant von Forstner sollte sogar mit Steinen beworfen worden sein. Dann war offenbar der Schlossplatz geräumt worden und zahlreiche Personen festgenommen und im Keller der Kaserne festgehalten worden. Im ganzen Reich und sogar bis nach Frankreich beschäftigten diese Vorfälle die Öffentlichkeit.

Der Reichskanzler hatte sodann am 3. Dezember vor dem Reichstag dargelegt, dass zwar nicht festgestellt werden könne, welche Seite im Recht sei, dass doch aber zu beachten sei, dass die Armee das Recht und die Pflicht habe, sich gegen direkte Angriffe zu schützen und dass der Rock des Königs unter allen Umständen respektiert werden müsse13.

Elsa beunruhigten diese Geschehnisse ebenfalls, aber sie erwähnte dies lieber nicht im Beisein ihrer kleinen Schwester. Im Grunde wollte sie diese Dinge am liebsten gar nicht wissen. Sie kannte die Haltung ihrer Eltern, dass es in jedem Fall besser war, treu zum Kaiser zu stehen und zwar unbedingt und unter allen Umständen und dass es galt, den Frieden in Europa zu erhalten und zu sichern. Sie vertraute ihren Eltern, kannte jedoch auch Eduards Haltung, der durchaus die Ideen der Sozialdemokraten guthieß, dies aber im Beisein von Elsas Familie lieber nicht erwähnte.

Zumindest waren sich ihre Eltern und Eduard in einem Punkt einig. Es galt unbedingt, den Frieden zu wahren. Deshalb wollte sie nicht darüber nachdenken, was diese Dinge zu bedeuten hatten. Schon gar nicht in dieser Zeit. Sie freute sich auf die Geburt ihres ersten Kindes. Sie hatte ihr Glück mit Eduard gefunden und wollte es festhalten.

Ernst sah sich um. Er wusste nicht, welcher Tag oder wie spät es war. Die Fensterläden waren von außen verschlossen, sodass er kaum sehen konnte. Doch schließlich erkannte er ein Bett und einen Tisch mit Stuhl.

Er selber war in noch bedauernswerterem Zustand: Er hatte wenigstens eine Hose von ihnen bekommen, die leidlich passte, seine Nase lief und seine Augen tränten. Aber mehr Erscheinungen hatte er nicht. So lange konnte er also noch nicht hier sein...

In dem Moment klopfte es.

Die Tür ging auf und ein kleiner Mann mit Brille blickte herein. „Kannst jetzt kommen.“

Ernst sah den Zwerg misstrauisch an.

„Beeil dich ein bisschen. Der Boss wartet nicht gerne.“

Ernst hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, aber er ahnte nichts gutes. Leider blieb ihm nichts anders übrig als zu folgen. Alle Ideen, die er bezüglich eines Fluchtversuches durchgespielt hatte, waren kläglich an den bestehenden Möglichkeiten gescheitert.

So verließ er hinter dem Anderen den Raum und durchschritt einen Korridor.

Am Ende des Korridors wurde ihm eine große, schwere Tür geöffnet und er trat ein.

In einem Sessel erblickte er einen kleinen, dicken Mann mit einem grauen Hut. „Treten Sie näher.“ Die Stimme war dumpf.

Ernst näherte sich zögerlich.

Der Mann musterte ihn. „Sie benötigen Opium, nicht wahr?“

„Nein“, log Ernst.

Der Mann lachte auf. „Gut, wie Sie wünschen. Ich bewundere Männer, die sich von dem Zeug lossagen können. Leider muss ich Ihnen sagen, dass Sie gewiss noch einen langen Weg vor sich haben.“

Das war nichts, was Ernst gerne hörte, aber er ließ sich nichts anmerken, soweit ihm dies möglich war. Die juckenden Hände hielt er auf dem Rücken, so konnte der Mann nicht sehen, dass er sie kratzte.

„Wir kennen uns noch nicht. Mein Name ist Fritz Behling. Sie sind Ernst Hoffmann, richtig?“

Ernst sah den Fremden regungslos an.

„Ihnen bleibt nicht viel Zeit, bis es unerträglich wird. Ich sag es deshalb gleich. Ich will etwas von Ihnen. Wenn ich es bekomme, helfe ich Ihnen. Entweder mit einer Pfeife oder mit einem Arzt, wenn Sie kein Opium wollen.“

Ernst merkte zunehmend, dass es ihn überforderte, der Unterhaltung zu folgen. Aber er wollte sich nichts anmerken lassen. Auch die Beine begannen zu jucken und er spürte Angst in sich aufsteigen. Eine innere Stimme befahl ihm, sich sofort um eine Pfeife zu kümmern, aber noch konnte er sie zähmen.

„Was ist in der Nacht passiert, als die Mädchen starben? Wewar unter den Leuten? Wen haben Sie erkannt?“

„Gehören Sie zu Annas Leuten?“, bekam Ernst mühsam heraus.

„Pah!“, der Mann lachte auf. „Sicher nicht. Diese arrogante Bande. Ich werde Ihnen sagen, zu wem ich gehöre. Ich gehöre dem Adler an. Zu unserem Verein gehört auch der Bruder von Emma, einem der getöteten Mädchen. Wir wollen die Namen wissen von den Verantwortlichen und dann werden wir vergelten, was vergolten werden muss.“

„Ich... ich habe damit nichts zu tun. Ich woll... wollte zur Polizei gehen. Ich war nur … zu … zufällig dabei.“

Der Andere lachte auf. „Was wollten Sie denn bei der Polizei? Denken Sie etwa, die hätten Ihnen geholfen? Wenn das so wäre, würde es nicht so viele Vereine wie unseren geben. Sehen Sie diesen Ring?“ Der Mann hielt ihm die rechte Hand entgegen. „Dieser Ring ist unser Erkennungszeichen. Wer in unserem Verein ist, der bekommt Unterstützung. Wer jedoch einem unserer Brüder einen Schaden zufügt, der hat von uns zu befürchten, was er verdient.“

„Ich dachte, Annas Leute hätten mich entführt.“

„Die waren oben in Ihrer Wohnung. Wir haben unten gewartet. Wenn sie Sie geschnappt hätten, hätten wir Sie ihnen abgenommen, aber Sie sind uns ja freiwillig in die Arme gelaufen.“ Behling lachte.

Ernst spürte, dass er nicht mehr lange würde stehen können. „Ich fühle mich nicht so...“

„Keine Frage, das sehe ich. Aber Sie werden mir wenigstens einen Namen nennen, damit ich weiß, dass es keine Verschwendung ist, Ihnen zu helfen.“

Ernst versuchte nachzudenken, aber das war schwer in seinem Zustand. Seine Gedanken begannen wild um eine Pfeife zu drehen. Er wollte Elsas Onkel nicht verraten, wegen Elsa, aber andererseits wollte er ihn unbedingt verraten, wegen dem, was er getan hatte. Zudem brauchte er Hilfe und einen anderen Namen wusste er nicht. Schließlich stammelte er unbeholfen: „Ich ... weiß k... keinen Namen, aber einen von denen h... habe ich wiedererk... kannt, auf der Ho...hochzeit meines Bruders. Er stand mit dem V... Vater der Braut zusammen, mit ... mit ... Lehmann ... Ferdinand Lehmann ... in Hamburg ...“ Ernst musste sich zu Boden gleiten lassen und sich hinhocken.

„Gut, das genügt fürs erste. Mehlmann, bring ihn in sein Zimmer.“ An Ernst gewandt fügte er hinzu: „Arzt oder Pfeife?“