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Dieser Extraband der Werkausgaben von Erik Simon und den Steinmüllers versammelt kurze Prosatexte, die am Rande der SF liegen – genauer gesagt, an ihren ganz verschiedenen Rändern – und gelegentlich auch darüber hinausreichen. Doch selbst wenn sich die Autoren mitunter in unerwartete Gefilde begeben, merkt man ihren Eskapaden an, woher sie gekommen sind. Hier finden sich futurologisch-belletristische Skizzen, Hommagen an Autoren und Bücher, fiktive Rezensionen und Interviews sowie kurze SF-Etüden, und damit ist die Vielfalt der Formen und Themen noch nicht erschöpft.
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Seitenzahl: 344
Simon & Steinmüller
Eskapaden
Visionen Von Leuten und Büchern Fiktionen Phantasmen
Simon & Steinmüller
Simon’s Fiction.
A. und K. Steinmüller: Werke in Einzelausgaben.
Extraband 1
Herausgegeben von
Impressum
Erik Simon, Angela Steinmüller und Karlheinz Steinmüller: Eskapaden
(Erik Simon: Simon’s Fiction, Extraband 1)
Herausgegeben von Hannes Riffel
(A. und K. Steinmüller: Werke in Einzelausgaben, Extraband 1)
Herausgegeben von Erik Simon
Der vorliegende Band ist Bestandteil beider Werkausgaben.
Vignetten von Dimitrij Makarow
© 1981–2024 Erik Simon sowie Angela und Karlheinz Steinmüller (für die Artikel, Skizzen und Kurzprosatexte) außer:
© 2024 Gundula Sell und Erik Simon (für »Das Loch: 3. Die Rückkehr«)
Die Zuordnung der Texte zu den einzelnen Autoren und die Daten der Erstpublikationen sind am Ende des Bandes in der »Publikationsgeschichte« verzeichnet.
© 2024 Erik Simon und Karlheinz Steinmüller (für die Kommentare)
© 2024 Dimitrij Makarow (für das Titelbild und die Vignetten)
© 2024 Erik Simon und Memoranda Verlag (für die Zusammenstellung dieser Ausgabe)
© dieser Ausgabe 2024 by Memoranda Verlag, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Redaktion: Erik Simon
Korrektur: Hannes Riffel
Gestaltung: Hardy Kettlitz & s.BENeš [www.benswerk.com]
Memoranda Verlag
Hardy Kettlitz
Ilsenhof 12
12053 Berlin
www.memoranda.eu
www.facebook.com/MemorandaVerlag
ISBN: 978-3-948616-94-6 (Buchausgabe)
ISBN: 978-3-948616-95-3 (E-Book)
Inhalt
Inhalt
Impressum
Inhalt
Der F-Automat
Visionen
Teledirektdemokratie
Sind wir nicht alle ein bißchen Doolittle?
Sexplosion
Gebrauchsanweisung für ein Haustier
Designer-Religionen
Homo X
Von Häusern und Menschen
Wir machen Sie mobil!
Einfach in die Luft gehen
Big Brother Award 2040
Von Leuten und Büchern
»Diese Meteoriten sind verdammte Burschen, Teufel noch mal!«
Irrläufer
Laudatio auf Carl Amery
Der Höhlenmensch als Entdecker
Erinnerungen an Boris Natanowitsch Strugazki
Begegnungen mit einem Zeitreisenden
Hernachsage
Wo ist Inomerski?
Meine Begegnung mit der sowjetischen Science Fiction
Für SF nach Babylon
Lest schlanke Bücher!
Metalyse
Fiktionen
Lemulation
Nomen est nomen est nomen
Die Stimme des Sokrates
Transzendenz in 69 Exemplaren
»Und möge Allah dafür sorgen, daß Euch dieses Mahl bekommt«
Mike Noris empfiehlt zehn Standardwerke der SF
Robert Krafts elfte Phantasie
Aus den »Begebenheiten der westlichen Barbaren« des Xī Meng (950 – ca. 1030)
Phantasmen
Der Molch. Eine Vision
Der Mann aus dem Atomzeitalter
Das Loch
Unsere Außerirdischen
Aus dem Tagebuch eines Kaltgestellten
Die letzte Barbie
Mikis Eron spricht über »Szenen der Erlösung«
Von den Außerirdischen lernen!
Sind sie Sklaven?
Die Archäologen
ANHANG
Anmerkungen
Publikationsgeschichte
Stimmen zu Eskapaden
Bücher bei MEMORANDA
Der F-Automat
Statt eines Vorworts
Von Karlheinz Steinmüller
Der F-Automat, das Gespenst aus der Zukunft, der totale elektronische Grammatisator, der dem menschlichen Hirn verwandte Halbleiter, der Ideen zu Satzverbänden fügt – ich stelle mir vor, das Zeitalter der Informationsverarbeitung habe ihn mir mit Silberleisten und batteriebestückt serviert. Arbeitsbereit auf meinem Tisch.
Zaghaft nähere ich mich ihm, zögere, die Knöpfe zu drücken. Großvater Verne, du hattest es noch einfach, frischer Dampf und allesvermögend-moderne Elektrizität genügten, deine Helden um einen jungfräulichen Erdball zu jagen. Heute belauern verstaubte Planeten voller altehrwürdiger Klischees jede kosmische Reise. Am Bleistift kauend, frage ich mich, womit man einen Fantastik-Automaten speist.
Den eigenen Erfahrungen folgend, gebe ich ihm Bruchstücke des abgegriffenen 17bändigen Meyers (plus Supplement) von 1889 ein, bestes Treibmittel für technische Kinderphantasie. Als notwendiges Gegenstück letzte Meldungen von Wissenschaft und Technik, erbeutet auf sporadischen Partisanenstreifzügen durch fest in der Hand von Fachspezialisten befindliche Territorien. Unters Lesegerät schiebe ich weiterhin die fettfleckigen, eselsohrigen Seiten des von der Kritik als unter aller Kritik eingestuften utopisch-phantastischen Genres sowie das geduldige Papier der Schreckens-, Fehl- und sonstigen Prognosen, die das Gespür schärfen für Wege in die Zukunft, Modelle des Möglichen oder auch Unwirklichen.
Aufatmend lehne ich mich zurück und betrachte gelassen das Spiel der Symbole auf dem Displayschirm. Nichts als stumpfsinnige Logik, leidenschaftslose elektronische Gedanken. Der F-Automat verspürt weder meinen Ärger, als andere vor mir den Mond betraten, noch begeistert er sich beim Anblick von erdfrühzeitlichem Ungetier.
Bereitschaft summt es im Innern des matten Plastgehäuses, noch fehlen zwei, drei Hinweise auf die Handlung, die Personen, dann wird der Zufallsgenerator Worte zu Texten stricken, dann werden Entwicklungslinien extrapoliert, Konsequenzen aus Konflikten gezogen; ironische oder bittere, verrückte auf jeden Fall, denn nichts wird so bleiben, wie man es gewohnt ist.
Die Zukunft droht mit erhobenem Fragefinger. Ihr verdanke ich auch den F-Automaten auf meinem Tisch; blanke Technik, die einen Beruf ablöst, mich zum Bediener degradiert.
Trancehaft und fast wider meinen Willen tasten die geübten Hände die letzten Instruktionen ein: autobiographische Züge. Bin ich nicht selbst ein F-Automat, billiger zudem, weil aus weich-wässriger Substanz? So drücke ich endlich neugierig auf den in dieser Literaturgattung üblichen roten Knopf. Prompt wirft er die Endlosschleife frisch gedrechselter Sätze aus: »Der F-Automat, das Gespenst aus der Zukunft …«
Visionen
Futurologisch-belletristische Skizzen
Teledirektdemokratie
Von Angela & Karlheinz Steinmüller
Geh ’ran – klick an. Handreichung für die politische Bildung. Primärstufe II, Version 3.1b
Herausgegeben von der Unionszentrale für Sport, Fun und Politik, Abteilung erlebnisorientierte gesellschaftliche Partizipation
1. Jeder darf mitspielen. Jeder Tag ist Wahltag. Wenn du willst, kannst du mitmachen, aber wenn du keine Lust hast, ist das auch nicht weiter tragisch, denn die Computer rechnen die Ergebnisse hoch. Also keine Angst, du wirst immer berücksichtigt.
2. Das zwanzigste Jahrhundert – vergiß es! War das früher ein Gejammer: Einmal in vier oder fünf Jahren durfte der verehrte Wahlbürger, die verehrte Wahlbürgerin seine oder ihre Stimme abgeben – und dann hatte er oder sie die Stimme buchstäblich weg- und abgegeben, konnte sie nicht mehr zurückfordern, und egal, was die Regierung veranstaltete, die Oberindianer waren fein raus bis zur nächsten Wahl. Kein Wunder, damals im 20. Jahrhundert trödelte das Leben, auch das politische, noch gemächlich vor sich hin, in vier, fünf Jahren passierte nicht allzuviel, es sei denn, es brach ein Krieg oder eine Krise aus, Fußball war interessanter (vgl. Handreichung, Abschnitt 322 f.: Sport). Aber selbst Kriege und Krisen brauchten meist mehrere Jahre, um richtig fett zu werden, und manches Reförmchen köchelte ein gutes Jahrzehnt vor sich hin, bis die Suppe endgültig eingetrocknet war und sie niemand mehr auszulöffeln brauchte.
3. Das Netz zum Glück … Erst das Netz hat die Demokratie auf den Marktplatz (antik: Forum) zurückgebracht: Jede Meinung kann auf dem Cyber-Forum zirkulieren, und egal, worum es geht, das einfache Handmehr genügt: angeklickt und die Stimme abgeschickt.
4. Wie funktioniert das? Jeden Tag legen PolGrups (politische Gruppierungen, die Nachfolgeorganisationen der Parteien), Denkfabriken und Politiker neue Gesetz- und Verordnungsentwürfe im Netz aus. Keiner kann sagen, er oder sie hätte von nichts gewußt. Wer es sehr ernst nimmt, sollte schon ein Stündchen pro Tag fürs Lesen opfern. Oder sich einen Intelligenten Agenten maßschneidern lassen, der herausfiltert, was für einen wirklich wichtig ist. Bleibt meist nicht viel übrig. Fünf Tage lang wird Pro und Kontra verhackstückt, es wird angebaggert und gestänkert, dann heißt es, Ring frei für die erste Runde. Du gibst deine Stimme ab, aber erst einmal probeweise, nur um zu sehen, was die anderen anklicken. Einige regen sich dann immer über das Ergebnis auf, aber das gehört zur richtigen Demokratie. Wenn wir alle einer Meinung wären, müßten wir ja gar nicht abstimmen, nicht wahr?
5. Jetzt wird’s offiziell! Nach den nächsten fünf Tagen schlägt der Gong für die zweite Runde. Diesmal geht’s ums Ganze. Und jetzt heißt es: angeklickt ist angeklickt. Wer danach noch unzufrieden ist, kann höchstens ein Gegengesetz austüfteln, das die Entscheidung rückgängig macht, und es ins Netz stellen. Aber besser, du wartest ein paar Wochen damit, denn so schnell ist das Hickhack um das alte Gesetz nicht vergessen.
6. Mal im Ernst: Teledirektdemokratie ist eine feine Sache, und unsere Vorvorderen haben sich schon etwas dabei gedacht, als sie sie ausheckten. Bereits in der drögen alten Zeit konnte man die Politklüngel kaum mehr unterscheiden, die sogenannten Parteien, auch wenn sie eine Menge von Corporate Design begriffen hatten und sich jede in einer anderen Regenbogenfarbe anpinselte und sie alle so taten, als könnten sie nicht miteinander in derselben Kantine essen. Schon damals richtete sich die Regierung nicht nach irgendwelchen Langfristprogrammen oder Wahlversprechen, sondern nach der Stimmung im Lande. Die aber ließen sie sich ganz unprofessionell und ohne Netz zusammentragen: von Leuten, die anderen Leuten auf den Wecker gingen, indem sie ihnen ziemliche dämliche und viel zu allgemeine Fragen stellten: Mögen Sie lieber den Dicken oder den Autonarren?
7. Verfassung ändern? Laß stecken! Kann ja sein, daß man ab und zu etwas grundlegend ummodeln muß, wird ja auch langweilig sonst. Aber zu flippig sollte man solche Fragen nicht angehn. Vier Wochen Diskussion ist das mindeste für eine Verfassungsänderung, und mindestens 2 von 3 Wahlberechtigten müssen sich wirklich anklickenderweise beteiligen, und von ihnen müssen wiederum mindestens 2 von 3 für die Änderung stimmen. Das ist eine Menge. Und inzwischen kann uns ein Virus alle platt machen oder der Solarsatellit auf den Kopf fallen. Aber wenn du zuviel Frust hast, dann klick doch nicht gleich die Verfassung weg, sondern probier erst mal, ob es reicht, den Regierungschef in die Wüste zu schicken. Soll sehr lehrreich sein, so ein Aufenthalt zwischen Wanderdünen.
8. Die Gelehrten machen sich’s wieder mal schwer … Nachdenken, wissen wir, kann manchmal sogar nützlich sein. Dafür haben wir ein Institut für Gesetzesfolgenabschätzung. Das wird immer gefragt und hat oft gleich eine fertige Antwort in der Schublade. Meistens lautet sie: besser nicht. Aber in einer Demokratie muß man nicht auf die Gelehrten hören, denn die sind auch nur Menschen wie du und ich, und außerdem streiten sie gern untereinander. Lassen wir ihnen also den Spaß.
9. Noch schnell die schönsten Zitate: »Von allen schlechten Regierungsformen, die ich kenne, ist die Teledirektdemokratie immer noch die beste.« – »Tachygene Basisdemokratisierung impliziert Depolitisierung.« – »Heute so, morgen so, wer nicht abstimmt, wird nicht froh.«
Sind wir nicht alle ein bißchen Doolittle?
Von Angela & Karlheinz Steinmüller
Mit einer Telepräsenzquote von über 100 Millionen Visits schlägt Kopf gegen Kopf sämtliche anderen Talk-Shows im Netz. Aber so viele Zuschauer wie heute haben sich sonst noch nie in der ersten Reihe gedrängt. Dr. Sevilla ist ein Shooting Star am Netzhimmel, ein frisch lancierter, unverbrauchter Globo-Promi, der die Sprache der Delphine versteht. Zumindest behauptet er das, und darum soll es heute gehen. Sein Freund, der Tümmler William Darwin Tursiops III., ist virtuell mitpräsent und prustet fröhlich zur Begrüßung. Auf der Gegenseite der Arena steht kampfeslustig Frau Professor Sprüngli von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, eine ausgewiesene Biophilosophin. Als ob Gebirgsmenschen etwas von Delphinen verstünden, denkt sich so mancher Zuschauer.
»Wissen Sie«, Dr. Sevilla setzt ein bübisches Lachen auf und hält einen Universal-Translator hoch, »diese kleinen Dinger hier können eine Menge, übersetzen praktisch jede Sprache, sogar auf gejodelte Nachrichten läßt sich mein Modell einstellen. Also frage ich mich: Wenn es jodelnde Schwyzer versteht, dann müßte es auch mit Delphinpfeifen zurechtkommen.« – Die Wissenschaftlerin bleibt unbeirrt: »Aber das Jodeln ist uns nicht angeboren, oder?«
»Verehrte Kollegin, auch mich hat geärgert, daß die Cetologie – die Delphinforschung – in den letzten Jahrzehnten offensichtlich wenig vorangekommen ist, zum Teil, weil sie noch in Handarbeit wie im 20. Jahrhundert erfolgt, zum Teil, weil einige Arten sehr rar geworden sind. Dabei haben wir die nötige Technik, können Schulen von Delphinen oder auch Walfamilien rund um die Uhr durch Miniatur-U-Boote beobachten, alle Signale aufzeichnen und diese durch hochentwickelte, lernfähige Software-Agenten, also durch künstliche Intelligenz, auswerten lassen.«
»Hör’ ich richtig?« Frau Sprüngli spielt ihren Trumpf aus: »Sie haben sich da einfach im Sessel zurückgelehnt und die Automaten forschen lassen? Dann sollten doch auch Ihre Software-Agenten heute die Ergebnisse vortragen, oder? Wie überprüfen Sie überhaupt, daß deren Resultate stimmen? Hat es dafür andere Software-Agenten?«
Dr. Sevilla wechselt lieber das Thema. Er weiß, was gut ankommt: »Nun, ich wollte schon immer mit Tieren, speziell mit so klugen Köpfen wie Delphinen reden. Und als mir William zum ersten Mal auf meine Bemerkung ›Schöner Tag heute, was?‹ mit ›Wasser schön naß heute, was?‹ antwortete, wußte ich, daß die Kommunikation geglückt ist.«
»Wasser heute auch schön naß«, prustet es aus dem zugeschalteten Bassin. – »Bitte, da hören Sie es: William begreift, worüber wir reden.«
»Verehrter Herr Dr. Sevilla: Selbst wenn der Translator etwas Sinnvolles formuliert, gestattet dies noch lange nicht den Schluß, daß der Delphin als solcher spricht beziehungsweise sich vernünftig äußert. Und schon gar nicht können Sie daraus den weitergehenden Schluß ziehen, daß der Delphin über Verstand verfügt. Bestenfalls können Sie etwas über das Gesamtsystem Delphin plus Translator aussagen – und in letzterem steckt ja eine nicht unbeträchtliche Menge menschlicher Intelligenz, so daß die einigermaßen adäquaten Antworten Sie nicht weiter verblüffen sollten, oder?« – Dem smarten Cetologen vergeht kurzfristig das telegene Strahlen: »Beleidigen Sie meinen Freund nicht.«
»William Darwin Tursiops III. will Fisch haben.« – »Wahrscheinlich würde Ihr aufgemotzter Translator sogar aus Meeresrauschen ein Gedicht ›übersetzen‹, oder?«
»Ozean ist sehr groß-klug, sagt William Darwin Tursiops III. Wo bleibt der Fisch?«
Dr. Sevilla hat sich wieder gefangen. »Natürlich ist es nicht so einfach. Delphine unterscheiden sich durch ihre Sinnesorgane, durch ihr Sozialleben und so weiter in hohem Maße von den Menschen. Sie leben in einer völlig anderen, uns total fremden Welt. Insofern ist es schwer, ihre Begrifflichkeiten mit der unsrigen wenigstens teilweise zur Deckung zu bringen. Im Prinzip reden wir miteinander ständig in Metaphern. Aber bedenken Sie, verehrte Kollegin: Seit einem Jahrhundert suchen wir nach außerirdischen, also nichtmenschlichen Intelligenzen, und dabei existiert eine solche nichtmenschliche Intelligenz neben uns auf diesem Planeten. Nur weil Delphine keine Technologie benutzen, mißachten wir sie.« – »Aber ist das, was Sie mit Ihrem William Darwin veranstalten, so viel besser? Sie haben aus einem freilebenden Delphin-an-sich einen quasi domestizierten Delphin-für-uns gemacht, was aus tierrechtlicher Sicht äußerst fragwürdig ist, oder? Wenn wir Delphine als vernunftbegabte Wesen anerkennen, und dafür ist Sprache ein entscheidendes Kriterium, müssen wir sie auch als Personen behandeln und ihnen Persönlichkeitsrechte zuerkennen, oder?«
»Frau Prof. Sprüngli, jetzt überraschen Sie mich aber. Ich muß Ihnen zustimmen!« – »Sie verwandeln die Delphine in Menschen, ohne sie vorher gefragt zu haben, ob sie überhaupt Menschen sein wollen! Sie verhalten sich also anthropozentrisch. Jede Spezies sollte als Wesen eigener Art betrachtet werden, oder? Deshalb mein Vorschlag: Wir sollten die Signale der Tiere nicht als Sprache, sondern eher als künstlerische Ausdrucksformen betrachten. Und die Cetaceen bringen eine ganz erstaunlich ausdrucksreiche Musik hervor. Weg mit den Translatoren! Hinhören! Hinschauen!«
»Merkwürdig, irgendwie verstehe ich Sie nicht richtig.« Der Doktor wendet sich dem telepräsenten Publikum zu: »Vielleicht weil mein Translator eine kleine Macke hat. Oder? Aber Hand aufs Herz: Sind wir nicht alle ein bißchen Doolittle und wollen uns mit unseren geflügelten, haarigen oder schuppigen Freunden unterhalten? Die Technik versetzt uns endlich dazu in die Lage.« – »Sie wollen das vielleicht, Herr Sevilla. Ich bin eher froh, daß nicht auch noch die Tiere sprechen. Man hört ja, was dabei herauskommt, oder?«
»William, ignorier diese Beleidigung einfach. Was hältst du überhaupt von unserer Show?«
»Stinkender Tang – miserable Unterhaltung. Macht’s gut und vielen Dank für den Fisch.«
Sexplosion
Von Angela & Karlheinz Steinmüller
Gibt es ein Feld, auf dem die menschliche Phantasie kreativer arbeitet? – Dionysos Estatico vom Cyber-Journal CreaSex strahlt über das ganze Gesicht. – Wir berichten in unserer neusten Ausgabe über Virtuelle Lustsklavinnen, Perversionsberatung, Liebesroboter, Telesex, Potenz-Potenzierer, eine Sado-Maso-Hotline – falls sich die Ketten verhaken –, Neuronalsex und wieder einmal über die guten altmodischen Toys und Fetische: Lack, Leder, Gummi …
Ob es schon Zusatzorgane gibt? Austauschgenitalien stellen heute kein Problem mehr dar, wir kennen Biotech-Firmen, die diese wie andere Ersatzorgane aus Gewebeproben nachwachsen lassen, und Geschlechtsumwandlungen sind, wie Sie ja wissen, an der Tagesordnung, aber wenn Sie von animalischen Genitalien sprechen, nun, als ein Cyber-Journal an der vordersten Entwicklungsfront verfolgen wir dieses Thema sehr genau, aber soweit ist die Technik noch nicht. Zuchtbullenspaß gibt es vorerst nur virtuell, außerdem bieten einige Firmen Spezialadapter, mit denen Sie sich in rammelnde Kaninchen versetzen können, da sollten Sie allerdings vorher ihre Potenz systematisch aufbauen.
Sex ist Fun, und das Leben könnte ein einziger Orgasmus sein, wenn die notwendige Leistungsfähigkeit immer da wäre. Sex ist die stärkste Stimulanz, die wir haben. Um Sex dreht sich buchstäblich alles. Früher haben sich neue Technologien im Krieg durchgesetzt, heute geschieht dies über Sex. Was glauben Sie, wieviel Prozent des Bruttosozialprodukts über die Sex-Schiene erwirtschaftet werden? Mehr als über Verkehr im Sinne von Raumbewältigung. Sex ist das zentrale Lebensstilelement: Werbung, Freizeitgestaltung, Arbeitswelt. Vor einigen Jahren sind Kopulationsecken in Einkaufsparadiesen aufgekommen, jetzt zeichnet sich der Trend ab, daß Firmen bei der Einstellung großen Wert darauf legen, daß der Bewerber von seinen Sexualgewohnheiten her zum Team paßt, »in ein Unternehmen einheiraten« heißt das neuerdings.
Menschen sind Energiebündel. Früher konnten Sie sich die überschüssige Power abarbeiten, jetzt bleiben nur Sex und andere Sportarten, falls Sie die Energien nicht religiös oder künstlerisch sublimieren wollen.
Richtig begonnen hat diese Entwicklung zur Sexualisierung aller Lebensbereiche tief im 20. Jahrhundert. Damals sprach man von den Trends der Onanisierung, der Homosexualisierung, der Verkopplung von Sex und Gewalt. AIDS hat der Technisierung des Geschlechtslebens ohne Zweifel Vorschub geleistet: Gibt es einen sichereren Sex als den virtuellen? Sex ohne mühsame Pflichtkonversation davor, ohne Ansteckungsgefahr, ohne nachfolgende emotionale Verwicklungen … Dennoch steht auch auf dem Gebiet des Sexes weiterhin Virtuell gegen Real. Erregende dreidimensionale Wesen, die betörende Töne ausstoßen, gegen den Duft der Liebe und schweißnasse Haut. Trotz allen Sex-Robotern und virtuellen Lustsklaven und -sklavinnen überlebt das älteste Gewerbe, ja, es verzeichnet sogar beglückende Wachstumsraten.
Doch das Rad der Lüste dreht sich weiter. Aktuell verzeichnen wir drei Entwicklungen: Erstens Neuronalsex, eine direkte elektronische Stimulierung der Lustzentren, der Effekt ist stärker als bei den schärfsten Drogen. Wir raten wegen der Suchtwirkung allerdings davon ab. Zweitens permanente Erregungszustände. Was glauben Sie, wieviele von den Leuten, denen Sie auf der Straße begegnen, eine künstlich induzierte Dauererektion haben? Es befinden sich bereits Geräte in der Art von Miniaturkameras auf dem Markt, die es gestatten, den Erregungszustand zu identifizieren; sie wurden ursprünglich entwickelt, um vorgetäuschte Orgasmen zu entlarven. Drittens beobachten wir die neue Mode der »Dämonifizierung«: Durch Haarimplantate, Hornimplantate, Anabolika, implantierte Duftstoffdrüsen soll der Körper sexuelle Potenz vorspiegeln. Hier wird in Kürze die Gentechnik wahre Wunder vollbringen.
Richtig, die Klagen über eine zurückgehende Fruchtbarkeit des Spermas häufen sich, mangelnde Bewegungsfähigkeit der einzelnen Samenzellen, geringere Spermienanzahl usw. Man glaubte ja lange Zeit, diesen Effekt auf Umweltchemikalien schieben zu können. Ich betrachte ihn als eine evolutionär sinnvolle Veränderung. Denn wozu sollte Sperma heute noch fruchtbar sein? Sex hat zwar immer noch mit den Reproduktionsorganen zu tun, aber nichts mehr mit der Reproduktion.
Gebrauchsanweisung für ein Haustier
Von Angela & Karlheinz Steinmüller
Unseren Glückwunsch, daß Sie sich für »Heimpanda« entschieden haben! »Heimpanda« ist das neueste Produkt von »Haus-und-Garten-Gentech«. »Heimpanda« ist ein liebevoller, intelligenter und pflegeleichter Kamerad für die Kinder, ein drolliger Gesellschafter für einsame Stunden und ein umsichtiger Gartenbewohner.
Aktivierung: Um »Heimpanda« zu aktivieren, entnehmen Sie ihn bitte dem Transportbehälter. »Heimpanda« hält in diesem eine Art Winterschlaf, der abgebrochen wird, sobald Licht eintritt. Bitte beachten Sie, daß sich »Heimpanda« in den folgenden neunzig Minuten im Prägemodus befindet. Machen Sie ihn also in dieser Zeit mit allen Personen bekannt, die er als seine Familie betrachten soll. Im Regelfall hat der »Heimpanda« nach Verlassen des Transportbehälters Durst.
Leistungsmerkmale: »Heimpanda« ist ein gentechnisch optimierter Nachfahr des ausgestorbenen Großen Panda oder Bambusbären Ailuropoda melanoleuca. »Heimpanda« verfügt über einen geringfügig vereinfachten, asexuellen Organismus und kann sich daher nicht fortpflanzen. »Heimpanda« wurde mit intelligenzverstärkenden Genkombinationen ausgestattet, die es ihm ermöglichen, einfache Sätze und Sinneszusammenhänge zu verstehen, auf simple Anfragen zu antworten und in unkomplizierten Situationen zweckentsprechend zu handeln. »Heimpanda« ist physisch robust, krankheitsresistent und ausdauernd. Er orientiert sich vorwiegend nach Gehör und Gesicht und in etwas geringerem Maße nach Geruch.
Emotionales Spektrum: »Heimpanda« ist emotional ausgeglichen. Schon bei seinen wildlebenden Vorfahren waren bärentypische Ausbrüche von Wut, Zorn und Raserei praktisch nicht zu beobachten. »Heimpanda« teilt vor allem positive Gefühle: Freude, Zuneigung, Wohlbefinden; er ist aber auch zu Trauer, Ärger und zum Schmollen befähigt. »Heimpanda« ist verträglich gegenüber allen Arten biologischer oder technischer Heim-Lebensformen. Gelegentliche Klagen, daß sich »Heimpanda« feige verhielte (etwa gegenüber kläffenden Hunden), entbehren jeglicher Grundlage.
Einsatzmöglichkeiten: Seine mentalen und emotionalen Fähigkeiten machen »Heimpanda« zum idealen Spielkameraden für Kinder bis zu zehn Jahren. »Heimpanda« geht auf ihre Wünsche ein, kommt ihrem Kuschelbedürfnis entgegen und lauscht geduldig ihren Erzählungen. Zugleich kann »Heimpanda« trainiert werden, auf die Kleinen aufzupassen, mögliche Unfallgefahren zu erkennen und zu vermeiden. Optional ist »Heimpanda« mit einem integrierten Notrufsender ausgerüstet, der es ihm gestattet, im Falle eines Falles Alarm zu geben. Ebenfalls optional erhältlich ist ein Überwachungsmodul, das eine Online-Beobachtung und eine zeitversetzte Berichterstattung ermöglicht.
Eingesetzt als Gartenzierde bewohnt »Heimpanda« die ihm zugewiesenen Bäume und Gebüsche und zeigt sich auf Zuruf. In begrenztem Maße kann »Heimpanda« zur Gartenpflege (Beknabbern bestimmter Pflanzen, Feststellung von Schädlingsbefall, Bedienung von einfachen Bewässerungsgeräten) angehalten werden. »Heimpanda« sucht auch Golfbälle. »Heimpanda« kann darüber hinaus zu einfachen Kartenspielen trainiert werden. Wir empfehlen hier das Zusatzmodul AS 200.
Trainingsphase: »Heimpanda« ist während der ersten Monate in hohem Maße lernfähig. Er ahmt gezeigte Bewegungsabläufe nach und prägt sich diese ein. Besonderer Wert sollte auf den Aufbau der sprachlichen Fertigkeiten gelegt werden. »Heimpanda« wiederholt vorgesprochene einfache Sätze, merkt sich Ausrufe und Bezeichnungen von Dingen. Einer etwaigen Neigung zu philosophischen Diskussionen ist wegen der damit verbundenen Leistungsminderung entgegenzuwirken.
Nahrung: Im Prinzip ist »Heimpanda« anspruchslos. Dennoch ist eine ungefähr regelmäßige Futtergabe, dreimal täglich, zu empfehlen. »Heimpanda« gibt selbst zu erkennen, welche Nahrungsmittel für ihn geeignet sind. Ein reichhaltiges Sortiment von Spezialprodukten auch für »Heimpanda« bietet die Firma »Bärenfutter«. Bei Nahrungsmangel fällt »Heimpanda« in den Winterschlafmodus.
Pflege: »Heimpanda« säubert sich selbst mit handelsüblichem Toilettenpapier. Eine Inspektion etwa aller sechs Monate ist besonders für stärker beanspruchte »Heimpandas« empfehlenswert.
Obwohl »Heimpanda« wasserscheu ist, sollte auf ein wöchentliches Durchschrubben vor allem bei gartenbewohnenden Exemplaren nicht verzichtet werden. Achten Sie dabei nicht auf sein Gejammer.
Sondermodelle: »Heimpanda« ist in verschiedenen Sonderausführungen und Sonderausstattungen erhältlich. »Heimpanda polar« ist unser Produkt für kalte Regionen, es übersteht dank einem verstärkten Fell bis zu minus 40 Grad Celsius. Dagegen ist »Heimpanda tropical« an heiße Regionen angepaßt. »Heimpanda minor« ist mit ganzen zwanzig Zentimetern Höhe das ideale Kuscheltier für die jüngsten. »Heimpanda intelligens« ist speziell geeignet, Hausaufgaben abzuhören. »Heimpanda fem.« und »masc.« sind weibliche und männliche Versionen (nicht für Zuchtzwecke geeignet).
Entschieden zu warnen ist vor dem von einigen Händlern in den Verkehr gebrachten sogenannten »Heimpanda rabiatus«. Dieser zwei Meter große Kampfpanda ist kein Produkt von »Haus-und-Garten-Gentech«; es handelt sich vielmehr um eine böswillige Genfälschung durch Markenpiraten, gegen die »Haus-und-Garten-Gentech« gerichtliche Schritte eingeleitet hat.
Garantieleistungen: »Heimpanda« verläßt unser Haus ohne genetische Defekte und Fehlfunktionen. Etwaige Fellverfärbungen bei im Freien lebenden »Heimpandas« sind auf Umwelteinflüsse zurückzuführen und begründen keinen Garantieanspruch. Generell leistet »Haus-und-Garten-Gentech« bei sachgerechter Haltung eine vierjährige Lebensgarantie auf seine Produkte. Der Gencode des »Heimpandas« ist Eigentum von »Haus-und-Garten-Gentech«.
Ergänzungen: Täglich aktuelle Ergänzungen zu dieser Gebrauchsanweisung erfragen Sie bitte von Ihrem »Heimpanda« gleich nach dem Auspacken.
Designer-Religionen
Von Angela & Karlheinz Steinmüller
»Mitunter wird uns Zynismus vorgeworfen«, sagt Benson Felsenstein, »aber das genaue Gegenteil ist der Fall. Alle meine Teammitglieder sind – jeder auf seine Weise – zutiefst religiöse Menschen. Und ich bin sogar davon überzeugt, daß ein Mensch, der nicht die Tiefen und vielleicht auch die Abgründe religiösen Empfindens kennt, ein Mensch, der nicht im kulturellen Kontext zumindest einer Glaubenslehre aufgewachsen ist, für diese Tätigkeit ungeeignet ist. Wir haben unsere Arbeit – im Gegensatz zu einigen unserer Wettbewerber – engen ethischen Prinzipien unterworfen. Wir gehen davon aus, daß Religionen durch ihre Vielfalt einen sollten. Daher heißt eine unserer Leitlinien Toleranz, wir sprechen hier vom Nathan-Prinzip …«
»Der Entwurf gebrauchsfähiger Religionen ist zwar ein neuer Wirtschaftszweig, doch gab es bereits seit Mitte des 20. Jahrhundert Bestrebungen, die in Richtung einer konstruktiven oder synthetischen Religionswissenschaft deuteten. Ich meine beispielsweise die ökumenische Bewegung, die wenigstens die christlichen Kirchen an einen Tisch brachte und einander – vor dem Idealbild des einen Glaubenskernes – annähern wollte. Ich meine beispielsweise auch das Projekt Weltethos, diesen pathetischen Versuch, das Beste aus allen Religionen herauszudestillieren und quasi ein ethisches Gegenstück zu den Menschenrechten zu schaffen. Dergleichen Universalitätsbestrebungen mußten unweigerlich in den Konflikten des beginnenden 21. Jahrhunderts scheitern, als die Gräben zwischen den Kulturen aufrissen und die Globalisierungsverlierer Rückhalt in der Ausgrenzung suchten. Wir gehen heute davon aus, daß allenfalls auf der Metaebene der Spielregeln, des Umganges der Glaubensrichtungen miteinander, ein lebbarer Konsens erreicht werden kann.«
Ein turbantragender Mitarbeiter serviert grünen Tee, während Felsenstein sich von seinem Redeschwall forttragen läßt. »Konstruktive Religionswissenschaft muß der extremen Individualisierung Rechnung tragen. Sie wissen ja, Glauben wird nur noch sehr bedingt innerhalb einer Familie oder Lebensgemeinschaft, innerhalb eines sozialen Umfeldes weitergegeben. Zu dispers sind die Gemeinschaften, zu verschieden die Lebensstile, zu bruchreich die Biografien, zu vielfältig die Angebote. Dennoch scheint gerade in unserer schnellebigen Zeit eine menschliche Grundsehnsucht nach religiöser Bindung – re-ligio – zu existieren, die oft in eine mehr oder weniger lebenslange Suche ausartet. Wo früher die tradierten religiösen Institutionen den Markt beherrschten – mit ihren zufällig entstandenen, zusammengewürfelten Weltbildern, mit ihrer schwer zu vermittelnden Sprache –, da können heute wir helfen, effizient und vor allem klientenorientiert. Der Anspruch auf alleinseligmachende Universallehren ist out; wir entwickeln auf wissenschaftlicher und ethischer Grundlage ganz individuelle Angebote. Jeder Mensch hat ein Anrecht auf seinen, ihm ganz persönlich entsprechenden Glauben. Viel Leid in der Welt rührt allein daher, daß Menschen in einer Religionsgemeinschaft aufwuchsen, die nicht ihre individuelle metaphysische Sehnsucht befriedigen konnte!«
Nicht ohne eine gewisse Selbstzufriedenheit bringt Felsenstein sich vor der Bücherwand in Positur, die in seinem HighTech-Büro museal anmutet. »Religionen zu entwerfen ist eine überaus anspruchsvolle Aufgabe, die man auch im Jahre 2063 nicht Künstlichen Intelligenzen überlassen kann – und schon gar nicht stümpernden Sektenführern. Es bringt wenig, einfach Elemente verschiedener Glaubensrichtungen synkretistisch miteinander zu kombinieren, es bringt noch weniger, Schlüssigkeit und Widerspruchslosigkeit anzustreben – menschliche Grundbedürfnisse nach Geborgenheit und Strafe, nach Gemeinschaft und Erwählung, nach tiefer Erschütterung und höchster Erhebung, nach Bindung und Lösung wollen befriedigt sein.«
Er wechselt in eine sitzende Position und einen vertraulichen Tonfall. »Der Schutz unserer Klienten verbietet es mir, Ihnen die von unserem Institut entwickelten Religionen im einzelnen darzustellen. Aber einige Beispiele kann ich anführen. Recht stolz bin ich auf den Pananthropismus, den Ein-Mensch-Glauben. Ihm gemäß gibt es nur eine einzige menschliche Seele, die sich – sozusagen immer wieder durch die Zeit zurückreisend – in ausnahmslos allen Menschen reinkarniert. Wir beide sind eines, ein und derselbe Mensch, unterscheiden uns lediglich dadurch, daß wir unterschiedliche Zeitstücke der einen Seele in uns tragen. Der Pananthropismus ist vielleicht die einzige Lehre, die absolute Gerechtigkeit von vornherein gewährleistet: Mörder und Ermordeter sind ein und derselbe Mensch; was ich einem anderen Menschen zufüge, tue ich mir selber an. Ich kann Ihnen versichern, daß der Pananthropismus – unter anderem Namen selbstverständlich – inzwischen einige Zehntausend Anhänger hat, auch wenn es sich ja strenggenommen dabei nur um einen einzigen Menschen handelt.«
»Darf ich Ihnen eine meiner jungen Kreativen vorstellen?« Felsenstein berührt die Wand, ein holografisches Abbild formt sich. »Olivia Brand hat über nanotechnologische Bibelinterpretationen promoviert. Ihr verdankt eine kleine Pazifikinsel einen wunderbaren Kult, der die Zukunft – nicht wie bei den australischen Ureinwohnern die Vergangenheit – als Traumzeit beschreibt. In dieser beraubt nicht mehr abstrakte Geographie die Orte ihres eigentümlichen Charakters: Songlinien erschließen die Welt, und jeder Gläubige baut mit an dieser Traumzeit, indem er oder sie Songlinien erfindet, bis einmal das ganze Universum durch sie verbunden sein wird. Sie können sich vorstellen, daß die Insel seither einen Tourismus-Boom erlebt und sich inzwischen Songlinien über alle Kontinente ziehen.« Das Hologramm hat sich zu einer hageren Mitfünfzigerin in weißem Kittel verdichtet. Frei im Raum schwebend doziert sie über ihr momentanes Projekt: »Gezielt für einen einzigen Klienten, der im Spannungsfeld zwischen dem engen Protestantismus der väterlichen Familie und den zusammengebastelten New-Age-Überzeugungen der Mutter, dem modischen Techno-Satanismus seiner Jugendfreunde und den astrologischen Entscheidungspraktiken seiner globalen Geschäftspartner schier zerrissen wurde, haben wir, um einerseits Struktur zu schaffen, andererseits sein Wertgefühl zu steigern, eine private Religion entwickelt, in der er selbst einer von fünf Göttern ist.« Felsenstein gibt sich eher jovial. »Jetzt fragen Sie uns aber bitte nicht, weshalb es gerade fünf sein müssen.«
Er wartet, bis sich die ernste Sakro-Therapeutin wieder aufgelöst hat. »Wir sind uns auch nicht zu schade, Religionen für Fantasy-Welten im Cyberspace zu entwickeln. Zugestanden, diese Art von Konfektionsware ist auf den ersten Blick vergleichsweise simpel; aber bedenken Sie die Wirkungsbreite. Für viele Menschen sind virtuelle Welten so real wie Gottes, Newtons oder Einsteins Universum, und zunehmend erleben wir Fälle, in denen eine virtuelle Glaubenslehre in die angeblich einzig reale Realität überspringt, sich im Cyberspace Glaubensgemeinschaften bilden, die mit einem Mal ganz reale Tempel bauen und ihren virtuellen Göttern urplötzlich real blutende Ziegen opfern. Wir halten es deshalb für unabdingbar, daß an der Entwicklung von Cyberspiel-Religionen seriöse Institute wie das unsere beteiligt werden. Auch in diesen Fällen dringen wir darauf, daß denselben ethischen Prinzipien gefolgt wird wie bei Religionen, die von vornherein für Menschengruppen hier draußen in der stofflichen Realität gedacht sind.« Felsenstein hat sich in Rage geredet; wieder geschäftsmäßig fährt er fort: »Gleichfalls sind wir uns nicht zu schade, existierende Heilige Schriften zu überholen, von altmodischem Ballast zu befreien, poetisch aufzuwerten und auf die Zielgruppe zuzuschneiden. Aber das nur am Rande bemerkt.«
Am Schluß fehlt noch etwas human touch. »Woran ich selbst glaube? Meine liebe junge Frau, es wäre höchst unprofessionell von mir, eine der Religionen durch ein persönliches Bekenntnis hervorzuheben. Vor welchem Schrein ich daheim bete, muß verborgen bleiben.« Felsenstein führt seine Gesprächspartnerin zur Tür. »Oder drücken wir es anders aus: Die Firma, die mir meinen Glauben schneidern kann, muß erst noch gegründet werden.«
Homo X
Von Angela & Karlheinz Steinmüller
Quinn M. ist »Belter«, Bewohner des Asteroidengürtels. Er hat sich an das Leben in Beinahe-Schwerelosigkeit anpassen lassen, kann über Tage in einem trancehaften Zustand mit verlangsamtem Stoffwechsel verweilen und außerdem eine ziemliche Dosis kosmischer Strahlung vertragen. Auf der Erde wäre er höchstens in einem stützenden Exoskelett und mit einem Zusatzherzen überlebensfähig. – Im Vergleich zu Carlos F. kann Quinn M. jedoch als ein Mensch von traditionellem, »adamitischem« Typus durchgehen. Carlos F. hat sich im Alter von 120 Jahren, als praktisch alle 14 Tage einer »Reparatur« anstand, für eine radikale Lösung entschieden: Weg mit den maroden Organen! Mit grob gerechnet 90 % Technik-Anteil ist Carlos F. inzwischen ein munterer Cyborg, der sich gern in Solarflugzeuge einmontiert, um stundenlang in der Thermik über den Anden zu kreisen. Insgeheim träumt er davon, einmal in ein Interstellarraumschiff integriert zu werden und völlig mit dessen Technik zu verschmelzen. Das Schiff wäre dann sein neuer Körper, und Jahrzehntausende könnte er dann durch den Kosmos treiben und dem Gesang der Sterne lauschen. Aber leider, leider ist die Technik noch nicht so weit.
Kassandra V. hält sich selbst für eine virtuelle Person. Sie befindet sich auf einer ewigen Suchfahrt durch Cyberspace-Welten voller Abenteuer, Erkenntnisse und Erleuchtungen. Sie würde abstreiten, so etwas Lästiges, Wabberndes-Sabberndes wie einen Körper zu besitzen. Jedenfalls erinnert sie sich nicht an »das Fleisch«. Und sie wird einen Teufel tun, sich in den physischen Ortungsdateien umzuschauen.
Sascha I., eigentlich Alexander B. Ichtyander, ist ein homo aquaticus, ein Amphibienmensch oder »Gill Man«, gentechnisch an ein Leben halb auf, halb unter dem Wasser angepaßt. Besonders stolz ist Sascha I. darauf, daß er sein »Kiemen-Gen« dominant vererbt: Alle seine Kinder werden, so sie überhaupt lebensfähig sind, neben der Lunge auch über ein hübsches Paar Hals-Kiemen verfügen. Er und seine zwei Dutzend Brüder und Schwestern werden zu Stammeltern einer neuen, amphibischen Menschheit! Kein Wunder, daß sich Sascha I. vehement für den Ozeanschutz engagiert. Bis zum Terrorismus, wenn es sein muß! – Ronna H. dagegen gehört zu den Kryptoniden, einer straff organisierten religiösen Sekte, die sich als Ziel die Selbstvervollkommung des Menschen gesteckt hat. Selbstvervollkommung heißt für sie »amplification«, Verstärkung: mehr Intelligenz, mehr Muskelkraft, mehr Ausdauer, mehr »Psycho-Energie«, mehr Geld, mehr Kinder. Nach harten internen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf sich drei weitere Sekten abspalteten, einigte sich die verbliebene Kerngruppe auf ein Leitbild – den Wirklichen Kryptoniden, den Mensch-Plus: »Sein Haupt ziert rotblondes Haar. Er überragt die Masse um mindestens ein Fuß Höhe. Seine Intelligenz schlägt Genies. Seine Psycho-Energie macht ihn zum geborenen Führer.« Nun schauen sie alle aus wie demselben Gentechnik-Bottich entkrochen. Und Außenstehende fragen sich, wie eine Gemeinschaft aus lauter geborenen Führern funktionieren soll.
Was sich Cyberpunks, Extropier und einige wenige Genetiker im späten 20. Jahrhundert ausgemalt haben, ist knapp einhundert Jahre später Wirklichkeit geworden: Die Menschheit zerfällt in mehrere posthumane Spezies – falls der taxonomische Artbegriff überhaupt noch anwendbar ist. Ausgestorben ist der alte Homo sapiens sapiens freilich nicht. In den Großstädten wie in ländlichen Reservaten leben immer noch einige Milliarden Exemplare. Aus Sicht der neuen Menschentypen aber handelt es sich um altmodische Auslaufmodelle. Zur Avantgarde gehören die, die sich freiwillig mit dem zufriedengeben, was die Evolution ihnen vorsetzt, jedenfalls nicht. Die Bedauerlichen haben die Zeichen der Zeit schlicht nicht erkannt.
Die Neuen Menschen setzen die Evolution außer Kraft. Gentechnik, Intellektronik und Cerebromatik (Gehirntechnologie) haben das langsame Spiel von Mutation und Selektion abgelöst. Innerhalb von ein, zwei Generationen ist erreicht, wofür die Evolution Jahrmillionen brauchte: die Entstehung neuer Arten. Zugegeben, von Arten im alten Sinn kann vielleicht noch nicht die Rede sein; noch ist alles im Fluß, noch stellen Designer monatlich ihre neuesten Kreationen vor, noch sind nicht alle prinzipiell möglichen Lebensräume im Sonnensystem besetzt. Vielleicht werden die Mechanismen der Evolution auch nie wieder greifen, vielleicht ist die Menschheit in ein langes Zeitalter fast beliebiger Wandelbarkeit eingetreten. – Eines jedenfalls haben die neuen Menschentypen vom Belter Quinn bis zur Kryptonidin Ronna gemein: Sie könnten ausnahmslos in einem jener antiken SF-Filme aus dem 20. Jahrhundert auftreten – als Aliens.
Von Häusern und Menschen
Wohnen im Morgen-Land
Von Angela & Karlheinz Steinmüller
»Weißt du«, empfing mich Robert am Eingangstor der Messe »Nachhaltiges Wohnen« auf einer ehemaligen Chemie-Gewerbefläche am Rande von Ruhr City, »ich hätte ja nie geglaubt, daß du dich mal für so etwas Veraltetes wie das Wohnen interessierst.« Im Tonfall eines gelangweilten Reiseleiters fuhr er fort: »Dieses ganze Sustainability-Konzept war doch schon immer eine Kopfgeburt. Schau dich um: Die Leute, die hier herströmen, wollen gar nicht nachhaltig wohnen. Sie wollen genug Platz und den preiswert, sie wollen gesund wohnen und nach ihrem eigenen Geschmack. Daß man mit Heizenergie sparen soll, hat nach der jüngsten Ölpreisexplosion auch der Letzte begriffen. Und natürlich hat niemand etwas gegen Licht und Sonne. Das ganze Trara geht heute in die Leere. Gut, vor dreißig Jahren, am Anfang des Jahrhunderts, mußte man dafür noch die Trommel rühren, aber doch nicht heute.«
Ich hakte mich bei ihm unter, schon um von der Menge nicht mitgestrudelt zu werden. Daß die Menschen im Zeitalter perfekter virtueller Realitäten immer noch das Gedränge suchen – Körperkontakt, Schweiß, blau getretene Zehen – und daß sie noch immer alles begrapschen wollen!
Die Messe war in weiträumige Parzellen eingeteilt – in ihnen spiegeln sich die alten Spaltungen wider: Naturnah gegen HighTech. Seßhaftigkeit gegen Mobilität. Rechter Winkel gegen Hundertwasser. Denn den einen Königsweg des nachhaltigen Wohnens, den gibt es nicht. Die Menschen sind unterschiedlich, und sie haben sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Wohnen. Und solange die Ökobilanz stimmt, solange soziale Faktoren berücksichtigt werden, solange sich der ökonomische Aufwand in Grenzen hält, geht es als »nachhaltig« durch.
»Sie möchten natürlich natürlich wohnen!« tönte eine elektronisch aufgemotzte Vogelscheuche am Eingang der ersten Parzelle. »Wir bieten alles, was Mutter Natur uns gibt: heimische Hölzer, Dämmen mit Hanf, Lehmbau. Unsere Schilfdächer halten sogar Wirbelstürmen stand. Bei ausreichend Platz auf dem Grundstück liefern wir auch Öko-Kläranlagen.«
Die Menschen, die sich hier drängten, wollten in der Regel selbst mit anpacken. Meist nicht einmal aus Kostengründen, sondern weil man zu einem selbst gebauten Haus eine andere Beziehung entwickelt, dauerhafter, bodenständiger – und im Falle eines Falles selbst etwas verändern, reparieren oder ausbessern kann. Selbstverständlich gehörte zu diesen Häusern ein Garten, in dem die Wäsche trocknet und die Kinder spielen. Gesundes Landleben – eine Sehnsucht in der verstädterten Welt. Ohne Car Sharing und Rufbusse würde es allerdings nicht funktionieren.
Nebenan führte ein Roboter die Leute herum: »Nachhaltigkeit heißt HighTech. Null Heizenergieverbrauch und Klimatisierungssysteme, gesteuert durch eine Künstliche Intelligenz, die ihre Bewegungsmuster erkennt und die Komforttemperatur entsprechend anpaßt. Lichteinfallregelung und Lichtleitsysteme zur natürlichen Beleuchtung der Innenräume. Sicherheitstechnik vom Feinsten. Elektrosmogbarrieren für die Schlafräume. Absolute Recyclingfähigkeit aller Materialien.«
Vor allem jüngere Leute drängten sich in den HighTech-Musterhäusern und bestürmten die Künstlichen Intelligenzen, die angeblich alles so perfekt steuern, mit Fragen und Befehlen: »Und jetzt die Jalousien wieder hoch! Welchen Wirkungsgrad hat die Photovoltaik? Wie schützt du dich gegen Smart-Home-Viren?«
Manche Menschen mögen es ja, beim Aufwachen von ihrem intelligenten Haussystem begrüßt zu werden. Aber VideoMails vor dem Frühstück, das ist nichts für mich. Genausowenig wie die »virtuell adaptive Innenarchitektur«, die mir hier vorgespielt wurde: Die Wände waren Holografien, beliebig »rekonfigurierbar« – also zu verschieben oder wegzulassen. Das sparte angeblich viel Material, führte auch dazu, daß sich das Haus an die Bedürfnisse seiner »Nutzer« flexibel anpassen konnte. Aber ich kam mir vor wie auf dem Holodeck der Enterprise.
Allerdings war heutzutage »Flexibilität der Innenarchitektur« ein wichtiges Stichwort. Ein Haus sollte schon, sagen wir, achtzig oder hundert Jahre überdauern. In den Wohnungen aber änderte sich alle fünf Jahre etwas: Menschen zogen zusammen und trennten sich, Kinder wurden geboren, Pendler verwandelten sich in Teleworker und umgekehrt, alte Leute starben. Angeblich blieben – trotz der Alterung der Gesellschaft – die Menschen nur noch etwa fünf bis acht Jahre in einer Wohnung, dann stand ein Umzug an. Und jeder hatte andere Vorstellungen vom idealen Schnitt der Wohnung, wollte eine altmodische separate Küche oder eine Kochnische im Hauptraum, brauchte zwei kleine Kinderzimmer oder einen größeren Telearbeitsraum. »Virtuelle« Wände kamen dieser Anforderung entgegen, man konnte aber auch nur virtuelle Bilder an ihnen aufhängen, und wenn man sich an ihnen abstützen wollte, fiel man in den Nachbarraum. Trotzdem: Für Leute, die tagsüber einen anderen Schnitt der Wohnung brauchten als abends zur Party, waren sie ideal. Doch auch mit handgreiflichen Materialien ließen sich versetzbare Wände realisieren. Das hatte nur noch nicht jeder Architekt begriffen. Und andere redeten hochgestochen von »lernfähigen Gebäuden«, wenn sie meinten, daß Wände versetzt werden konnten.
Seit kurzem kam eine weitere Art von HighTech-Häusern auf den Markt: »bioorganische« Gebäude, »lebende Häuser«, bestehend aus tatsächlich irgendwie lebenden »Makrozellen«, Geweben und Organen – »langsam-lebend wie ungeschlagenes Holz«. So recht hatte ich es nicht begriffen. Mit dem Gedanken, in so einem Haus zu wohnen, konnte ich mich schlecht anfreunden. Installationsrohre waren mir im Zweifelsfall immer noch lieber als »Heizungs-Adern« und »Abwasser-Därme«. Wenn man nicht aufpaßte, wurde man noch verdaut! Freilich, Selbstreparatur war eine nützliche Sache, nie mehr neu tapezieren, nie mehr Schönheitsreparaturen. Mit seinen Wurzeln entnahm das Haus dem Boden so viel Wasser, wie es selbst und seine Bewohner brauchten, filterte es, das Dach war über große Flächen blattgrün …
Ein wenig fühlte ich mich an eines meiner Kinderbücher erinnert, wo gemütliche Zwerge in großen Pilzen wohnten, und falls einen Zwerg plötzlich der Hunger packte, biß er einfach in die Wand. Wenn sich die Pilze braun verfärbten, verließen sie ihre Siedlung, suchten einen Trempel junger Pilze und schnitten sich Fenster, Türen, Räume in die Gewächse. – War das die ultima ratio naturnahen nachhaltigen Wohnens? Die nun dank Gentechnik bald Realität wurde? Häuser, die man züchtete? Nichts für altmodische Damen wie mich.
Ich drückte Robert die Hand. »Mach’s gut, alter Junge, ich zieh weiter.« Streng genommen hatte ich den vielleicht nachhaltigsten Wohnstil. Ich beanspruchte fast keinen Platz, warf nicht alle drei Jahre ganze Zimmereinrichtungen auf den Sperrmüll, brauchte keine private Waschmaschine. Statt mich auf Fitness-Geräten abzustrampeln, betrieb ich jeden Morgen etwas Tai Chi. Mein »Cushicle« machte es möglich, so benannt nach einer Vision aus den 1960ern: eine Hülle, eingerollt kaum größer als ein Schlafsack, die sich auf Knopfdruck zu einer Art Zelt entfaltete – fünf Kubikmeter mit Kommunikationsgerät, Liege und Zahnbürste und den drei anderen Dingen, die der Mensch wirklich brauchte.
Früher, in meiner Skater-Jugend, hatte man mich als »Nicht-Seßhafte« abgestempelt. Jetzt zählte ich mich stolz zu den Neo-Nomaden, den Pionieren eines neuen mobilen Zeitalters.
Ich warf mein Haus über die Schulter und überlegte, wen ich als nächstes besuchen wollte.
Wir machen Sie mobil!
Von Angela & Karlheinz Steinmüller
Mobilitätsstil-Design ist eine Boombranche des Jahres 2032. »Sage mir, wie du verkehrst, und ich sage dir, wer du bist«, meint Velocita S., die Chefin der Beratungsfirma Semper Mobilis, die von München aus über einhundert Filialen in den europäischen Metropolen und selbstverständlich auch im Cyberspace betreibt. »Sind Sie HighSpeed-Junkie, Slomoh (slow moving human) oder Solarbewegter mit oder ohne Pedal? – Finden Sie es heraus! Wir helfen Ihnen dabei.« Ms. Velocita streicht über die Steuerbordüre ihres Kleides, und es verwandelt sich augenblicklich in ein seriöses dunkelblaues Kostüm, Pressekonferenzmodus.
»Mobil sein ist kult«, erklärt Frau Velocita, »und für viele hat Mobilität definitiv einen religiösen Touch. Rasanz als Ekstase. Überall und nirgends zugleich sein als Vorstufe zum Nirwana. – Mit jährlich etwa zweihundert Millionen Kunden haben wir bei Semper Mobilis eine immense gesellschaftliche Verantwortung übernommen. Ein Großteil der Unzufriedenheit in früheren Zeiten resultierte bekanntlich daraus, daß Mobilitätswünsche und täglich gelebte Mobilität immer weiter auseinanderklafften. Wir haben diese Kluft vermindert. – Indem wir unsere Kunden ermuntern, sich einige einfache Fragen zu stellen: Wie mobil wollen Sie sein? Wollen Sie immer und überall dabei sein und zwischendurch noch Zeit für den Job haben? Oder befiehlt Ihnen Ihr ökologisches Gewissen, energiesparend zu fahren? Wollen Sie auf Reisen Menschen treffen oder nur möglichst effizient von A nach B gelangen?«
Tatsächlich ist Mobilität für den Laien zu einem immensen Entscheidungsproblem geworden. Die großen überregionalen Verkehrsträger wetteifern mit Sondertarifpaketen, Bequemlichkeitsgarantien und Verspätungsrabatten um Kunden. Die Angebote sind schier unüberschaubar und wechseln fast täglich. Technische Helfer – wie die zahlreichen Apps auf dem Handy – gibt es genug, doch wenn man Airbus und Zeppelin, Konvoi-Taxi und Trambus, Transrapid und U-Bahn, Bike und Elektro-Skates wirklich optimal nutzen will, sollte man mit sich über seinen individuellen Mobilitätsstil ins Reine kommen.