Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Band II der in Amerika besonders populären Diamond Heart Series liegt nun auch in deutscher Sprache vor. In dieser Reihe sind Vorträge von A.H. Almaas zu wesentlichen Fragen menschlichen Lebens und der inneren Suche zusammengestellt. Auch geht er ausführlich auf typische Fragen zu den verschiedensten Themen ein, die auf dem Weg zu innerer Verwirklichung von Bedeutung sind.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 353
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
A.H. Almaas
Essentielle Befreiung
Band 2 der Reihe
Der diamantene Weg des Herzens
Übersetzung aus dem Amerikanischen
Peter Brandenburg
Arbor Verlag
Freiburg
Originaltitel: Diamond Heart Book Two –
The Freedom To Be
Copyright © 1987 A-Hameed Ali
Copyright © der deutschen Ausgabe: 1999 Arbor Verlag
Published by Arrangement with
Diamond Books, Berkeley California, USA
Titelfoto: Klaus Ender
Bearbeitung: Dirk Henn
Alle Rechte vorbehalten
www.arbor-verlag.de
ISBN E-Book: 978-3-86781-152-1
eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de
Inhalt
Vorwort
Gelassen sein
Geist und Essenz
Implizites Verstehen
Gebunden-Sein und Raum
Die Lehre der Hoffnungslosigkeit
Annehmen
Veränderung und Wahrheit
Wille
Selbst und Selbstlosigkeit
Liebe
Freund und Geliebter
Man selbst sein
In meinen früheren Tagen bitterer Armut
zählte ich jede Nacht den Reichtum anderer Leute
heute dachte und dachte ich – dann durchdachte ich es
jeder muß wirklich sein Eigenes schaffen
ich grub und fand einen verborgenen Schatz
eine kristallene Perle vollkommen rein
auch wenn dieser blauäugige Ausländer von großer Fähigkeit
sie heimlich kaufen und mitnehmen wollte
würde ich ihm sofort sagen
diese Perle ist unbezahlbar
Han-Shan
(nach der Übersetzung von Arthur Tobias)
Vorwort
Wir leben in einer Welt voller Geheimnis, Wunder und Schönheit. Aber die meisten von uns nehmen an dieser wirklichen Welt selten teil und sind sich eher einer anderen Welt bewußt, die vor allem aus Streit, Leiden und Sinnlosigkeit besteht. Diese Situation rührt vor allem daher, daß wir unser volles menschliches Potential nicht verwirklichen und leben. Dieses Potential kann durch die Verwirklichung und Entwicklung der menschlichen Essenz aktualisiert werden. Die menschliche Essenz ist der Teil von uns, der angeboren und wirklich ist und der an der wirklichen Welt teilhaben kann.
Diese Reihe, „Der Diamantene Weg des Herzens“, ist eine Niederschrift von Vorträgen, die ich vor Gruppen, die sich der inneren Arbeit widmen, in Kalifornien und Colorado im Verlauf mehrerer Jahre als Teil der Arbeit mit diesen Gruppen gehalten habe. Der Zweck dieser Vorträge ist es, Menschen, die sich der schwierigen Arbeit essentieller Verwirklichung mit aller Intensität widmen, Anleitung und Orientierung zu geben.
Die Vorträge sind so aufgebaut, daß sie die verschiedenen Zustände und Stufen der Verwirklichung in der Reihenfolge zeigen, wie sie der typische Schüler erlebt, wenigstens bei unserer Lehrmethode: dem Diamantenen Weg. Sie beginnen mit den Zuständen, dem Wissen und den Fragen, die am meisten gebraucht werden, um mit der Arbeit an sich selbst anzufangen, schreiten dann zu Stufen zunehmender Tiefe und Differenziertheit fort und gipfeln in detailliertem Verständnis der reifsten Zustände und Voraussetzungen von Verwirklichung.
Jeder Vortrag erhellt einen bestimmten Zustand von Essenz oder Sein. Die relevanten psychologischen Themen und Barrieren werden genau und eingehend diskutiert. Dabei wird modernes psychologisches Verständnis in Beziehung zum Seinszustand und in Beziehung zu Denken und Bewußtsein, Leben und dem Prozeß innerer Entfaltung verwendet.
Daher ist diese Reihe nicht nur eine detaillierte und spezifische Hinführung für den Schüler, sondern auch ein Ausdruck und eine Manifestation der Entfaltung der menschlichen Essenz, wie sie das Geheimnis, das Wunder, die Feinheit und den Reichtum der wirklichen Welt, unser wahres Erbe, enthüllt. Jeder Vortrag ist eigentlich der Ausdruck eines bestimmten Aspektes oder einer Dimension von Sein, wie sie sich als Antwort auf die gegenwärtigen Bedürfnisse der Schüler im Bewußtsein des Lehrers einstellen. Der Lehrer handelt als eine Verkörperung einer solchen Realität und als ein Kanal für das lebendige Wissen, das Teil dieser Verkörperung ist.
Es ist mein Wunsch, daß mehr meiner Mitmenschen an unserer wirklichen Welt teilhaben und die unglaubliche Schönheit und Integrität schmecken, ein Mensch und eine volle Manifestation der Liebe zur Wahrheit zu sein.
Richmond 1986
Gelassen sein
Man kann den Prozeß der Selbstbefreiung aus zwei Blickwinkeln betrachten, die sich ergänzen und zusammenhängen. Der erste sieht diesen Prozeß als Selbstverwirklichung, die man auch „Selbstaktualisierung“ oder „essentielle Entwicklung“ nennen kann. Die andere Perspektive sieht diesen Prozeß als Befreiung oder Freiheit. Welche Perspektive ihr betont, hängt davon ab, wessen ihr euch in euch selbst bewußt seid. Es gibt zwei Bewerber um eure Aufmerksamkeit: Essenz und Persönlichkeit, eure wahre Natur und eure erworbene Identität. Aus der Perspektive von Essenz bedeutet „Selbstverwirklichung“: die eigene Essenz verwirklichen und entwickeln. Aus der Perspektive der Befreiung ist dies ein Prozeß, in dem man von der Persönlichkeit frei wird. In unserer Arbeit vollziehen sich diese beiden Entwicklungen gleichzeitig; in Wirklichkeit sind sie ein einziger Prozeß. In der Vergangenheit haben verschiedene Systeme die eine oder die andere Perspektive in dem Maße betont, daß sie sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Manchmal entstehen Konflikte wegen der Terminologie. Die, die auf dem Weg zur Selbstverwirklichung sind, sagen: „Verwirkliche dich einfach, entwickle dein inneres Potential. Was soll diese Geschichte mit Erleuchtung? So etwas gibt es nicht!“ Diejenigen, die Befreiung oder Erleuchtung suchen, sagen: „Was ist Selbstverwirklichung? Es gibt kein Selbst, das man verwirklichen kann. Die Vorstellung von einem Selbst muß man ja gerade loswerden.“
Bisher haben wir diese beiden Perspektiven in unserer Arbeit nicht unterschieden. Wir sind jedoch an den Prozeß der Befreiung unserer selbst vor allem aus der Perspektive essentieller Entwicklung herangegangen, um immer mehr unsere Essenz zu werden. Wir werden jetzt also die Perspektive von Befreiung und Freiheit weiter untersuchen.
Dieses Thema taucht oft für Menschen auf, die einen Vorgeschmack von Essenz, eine gewisse Erfahrung ihrer wahren Natur haben, weil dieser Vorgeschmack einen Appetit auf vollständige Befreiung mit sich bringt. Bei „Befreiung“ oder „Freiheit“ geht es nicht eigentlich um einen bestimmten essentiellen Aspekt oder Zustand oder eine bestimmte essentielle Qualität. Es spielt keine Rolle, welcher essentielle Zustand in der Erfahrung von Befreiung existiert. Wenn ihr frei von Persönlichkeit seid, dann seid ihr frei, egal in welchem Zustand ihr seid. Im Zustand der Befreiung wird der Inhalt von Erfahrung unwichtig. Der Inhalt (Zustand) ist ganz alltäglich. Nichts Besonderes geschieht, keine großartige Verwirklichung oder erschütternde Erfahrung. Das ist der natürlichste Zustand. Er ist so gewöhnlich und so natürlich, daß wir, wenn wir in ihm sind, nicht wissen, daß wir in ihm sind. Er ist so ereignislos, daß fast jeder häufig in ihn geht und ihn wieder verläßt. Es gibt keine aufleuchtenden Lichter oder strahlenden Sonnen. Da ist kein Drama. Befreiung ist jenseits der Trennung von Essenz und Persönlichkeit, und weil dieser Zustand so ereignislos ist, entgeht er gewöhnlich unserer Aufmerksamkeit. Seine Subtilität verhindert, daß wir ihn erkennen oder uns auch nur bewußt werden, daß wir in ihm sind. Es ist nicht leicht, über ihn zu sprechen, weil er so alltäglich ist; es gibt nichts Besonderes, das präsent oder nicht präsent wäre. Es ist ein Zustand, den ihr jeden Tag erfahrt, wenn ihr nicht mit euch selbst oder mit irgend etwas Besonderem beschäftigt seid.
Wenn euer Kopf frei ist, wenn ihr nicht um etwas besorgt oder unter Druck seid oder auf etwas Bestimmtes fokussiert seid und euer Herz nicht nach irgend etwas greift oder an etwas Bestimmtem hängt, dann seid ihr frei. Die charakteristischste Qualität ist die, daß es keine Fixierung auf irgend etwas gibt; man ist nicht auf irgendein Thema oder irgendeine Erfahrung fokussiert. Was immer da ist, ist da. Man ist also frei von Aktivität des Kopfes. Der Kopf sagt nicht: „Ich möchte dies“ oder „Ich möchte jenes anschauen“ oder „Es soll so sein und nicht anders“. Der Kopf hat losgelassen. Der Ausdruck „loslassen“ sagt, was es bedeutet, befreit zu sein.
Befreit sein bedeutet, da ist kein Hängen an irgend etwas; es gibt keine Sorge, kein Problem, keine Schwere mehr. Der Kopf ist nicht auf irgendeinen bestimmten Inhalt fixiert, fokussiert oder an einen bestimmten Inhalt gebunden; ihr seid bewußt, was immer euch ins Bewußtsein kommt, ohne Anstrengung, ohne auch nur zu versuchen, euch bewußt zu sein. Es ist euch gleich, ob ihr eure Essenz spürt oder ob eure Essenz überhaupt da ist. Ob ihr glücklich seid oder traurig, ob ein Mensch bei euch ist oder nicht, nichts dergleichen erscheint euch wichtig. Für den Moment seid ihr vollkommen frei von allen Sorgen eures Lebens. Dieser Zustand kann niemals dadurch erreicht werden, daß man danach strebt. Er wird sich eines Tages einfach einstellen, und wenn ihr ihn wahrnehmt, werdet ihr nicht denken, daß das so eine große Sache ist. Ihr werdet weiter euer Abendessen essen oder tun, was ihr sonst gerade tut. In dem Moment, in dem es eine große Sache wird, ist es vorbei. In dem Moment, in dem ihr die Haltung habt: „O wunderbar, ich möchte wissen, was geschieht – ich möchte das festhalten“ ist es vorbei. Festhalten ist genau das, was in diesem Zustand nicht da ist, und wegen der Neigung, diesen subtilen Zustand festzuhalten, kann er sehr flüchtig sein. Er ist sehr einfach; das einfachste, was es gibt. Kleine Kinder sind die meiste Zeit in diesem Zustand, einem Zustand ohne Sorge um irgend etwas Bestimmtes, in Tagtraum oder Spiel. Aber aufgrund unserer frühen Erfahrungen wird unser Bewußtsein in eine bestimmte Richtung gebracht, so daß wir uns auf einen bestimmten Teil der Wirklichkeit fixieren und den Rest ablehnen. Indem wir auf diese Art auswählen und uns einschränken, verlieren wir diesen Zustand. Dazu kommt es sehr früh im Leben, aber die Fixierung nimmt gewöhnlich bis zum Alter von fünf oder sieben Jahren nicht überhand. Bis dahin kommt und geht die Erfahrung dieses Zustandes, aber mit der Zeit erfährt man ihn immer seltener. Während des ganzen Lebens kommt und geht sie, bei manchen Menschen häufiger als bei anderen. Diese Erfahrung ist ein Zustand der Entspannung, aber ohne bewußtes Fühlen von Entspannung; man ist ganz und gar gelassen. Dieser Zustand von Freiheit ist nicht wie eine Befreiung von einem bestimmten Druck; er ist der Rohzustand von Befreiung an sich, so befreiend, daß es keine Rolle spielt, was im Moment eure Erfahrung ist. Es ist euch gleichgültig, was ihr erfahrt. Euer Herz ist offen und euer Kopf ist nicht auf vorgefaßte Vorstellungen oder Sorgen über gedachte Möglichkeiten fixiert. Ihr nehmt vollkommen an, ohne zu denken oder zu fühlen, daß ihr annehmt. Essenz wird auf eine freie Weise dasein, wie immer euer Sein sie im Moment braucht, und doch ist die Präsenz von Essenz nicht euer Fokus; sie ist einfach das, was und wer ihr seid, was in eurer Erfahrung jetzt präsent ist.
Wir können über diesen Zustand sprechen, aber wir können nicht genau sagen, was er ist. Vielleicht entdeckt ihr, daß dies ein sehr vertrauter Zustand ist, in dem ihr schon viele Male gewesen seid. Es ist ein sehr gewöhnlicher Zustand; jeder muß ihn erfahren, um leben und das Leben genießen zu können.
Was können wir tun, um uns auf diese Erfahrung und besonders auf die Wahrnehmung des befreiten Zustandes vorzubereiten? Alles, was wir hier tun, trägt natürlich dazu bei. Laßt uns aber nun auf die Grundbestandteile eingehen, die gebraucht werden und die ich die „Faktoren der Erleuchtung“ nenne. Welche sind die Grundfaktoren, die euch auf diese Wahrnehmung vorbereiten – diese subtile, flüchtige Wahrnehmung? Letztlich werden alle essentiellen Aspekte und das Wissen und die Weisheit, die von ihnen ausgehen, gebraucht. Hier werden wir jetzt die sieben Grundfaktoren untersuchen.
Zuerst braucht ihr Energie – Energie, um an euch selbst zu arbeiten und die Persönlichkeit und ihre Muster durchzuarbeiten. Energie ist das Gefühl, daß ihr die Fähigkeit, die Stärke, den Mut habt, etwas zu verändern – an euch selbst, an eurem Leben. Ihr habt die Energie, die euch das Gefühl gibt: „Ja, ich kann etwas tun. Ich habe Stärke, ich habe einen mutigen Geist, ich habe Potenz.“ Diese Energie wird euch den Brennstoff geben, der es euch möglich macht, euch selbst anzuschauen und eure Lage zu verstehen. Vieles muß verstanden und erfahren werden; gewaltige Mengen Energie werden gebraucht, sehr viel Mut, um in der Lage zu sein, all die Prozesse und all die Illusionen durchzuarbeiten, die die Wahrnehmung verdunkeln. Energie und Stärke müssen also befreit und entwickelt werden.
Ein anderer Faktor ist Entschlossenheit. Ohne Entschlossenheit ist die Energie bedeutungslos. Ihr braucht dauerhafte Entschlossenheit und einen unbeugsamen Willen, um weiterzugehen, angesichts von Entmutigung und Enttäuschung weiterzumachen. Entschlossenheit ist das, was euch vorantreibt, was euch dabeibleiben läßt. Es ist wichtig, die Themen der Persönlichkeit, die mit Willen und Entschlossenheit zu tun haben, anzuschauen: Welche sind die Themen und Probleme, die euch das Gefühl geben, kastriert zu sein, die eure Entschlossenheit schwach werden lassen, euren Willen blokkieren und euch davon abhalten zu fühlen: „Ja, ich werde es tun“? Ihr müßt aufdecken, was euch davon abhält zu sagen: „Ich werde es tun. Was auch geschieht – Enttäuschung, Schmerz, Angst –, ich werde weitermachen. Ich sterbe vielleicht, bevor ich es vollbracht habe, aber ich werde nicht aufhören. Ich werde weitermachen, selbst wenn ich gestorben bin.“ Mit dieser Fertigkeit wißt ihr, daß ihr im Einklang mit der Bedeutung dessen handeln könnt, was ihr tut.
Ein anderer Faktor ist ein Gefühl von Leichtigkeit in bezug auf die ganze Sache, ein Gefühl von freudiger Erregung. Es ist eine bestimmte Art freudiger Erregung, eine bestimmte Art Leichtigkeit, eine bestimmte Art Freude. Die Freude und diese freudige Erregung sind selbst die eigentliche Arbeit. Es ist eine Freude an der Wahrheit, Freude am Sehen und Erfahren der Wahrheit. Es ist ein wenig wie Neugier – eine freudige Neugier auf etwas. Wenn ihr nur Energie und Entschlossenheit habt, dann kann alles ein wenig schwer, gewichtig und sehr sehr ernst werden. Der Faktor der freudigen Erregung ist die Leichtigkeit, die Freude, die die Dinge öffnet. Ihr habt Freude daran, daß ihr tut, was immer ihr tut. Diese Leichtigkeit geht mit einer Neugier einher, so wie ein Kind neugierig ist. Wenn ein Kind neugierig ist, hat es kein Ziel im Sinn. Es denkt nicht daran, das Abitur zu machen oder zu promovieren. Es ist in dem Moment einfach neugierig. Es kümmert sich nicht darum, was vielleicht als nächstes geschehen könnte.
Der nächste Faktor, den ihr braucht, um auf die Wahrnehmung der Erfahrung von Befreiung vorbereitet zu sein, ist mitfühlende Freundlichkeit. Das ist eine sehr wichtige und notwendige Qualität. Ihr braucht Freundlichkeit euch selbst gegenüber, weil der Prozeß schwierig ist. Da ihr nicht befreit seid, ist es natürlich, daß ihr leidet: Warum euch also drängen, so daß ihr noch mehr leidet? Warum euch selbst tadeln, wenn ihr einen Fehler macht? Freundlichkeit bringt eine Qualität von Vertrauen in euch selbst mit sich, Vertrauen in den Prozeß. Eine Art Vertrauen in euren Verstand, euren Kopf, in eure Essenz. Freundlichkeit führt außerdem zu einer selbstlosen Haltung. Wenn ihr Freundlichkeit habt, dann habt ihr Freundlichkeit für jeden, für alles. Ihr habt Freundlichkeit für alles, was leidet. Ihr macht die Arbeit aus Freundlichkeit, weil ihr leidet. Ihr seht, daß ihr leidet, und aus Freundlichkeit euch selbst gegenüber möchtet ihr etwas tun; und diese Freundlichkeit richtet sich mit der Zeit auch auf andere. Das Leiden anderer Menschen tut euch weh. Ihr möchtet euch befreien, und ihr möchtet auch, daß andere Menschen frei von ihrem Schmerz und ihrem Leiden werden. Dieser natürliche Lauf der Dinge führt zu einer sehr wichtigen Haltung, die ein Faktor dabei ist, wenn ihr diesen Zustand von Befreiung zulassen wollt. Diese Befreiung kennt keine Fixierung, und wenn ihr nur auf euch selbst konzentriert seid, dann ist das schon eine Fixierung, die größte Fixierung. „Was habe ich davon, was verletzt mich, was verletzt mich nicht, was ist gut für mich?“ Aktivität ist um das Ich konzentriert, das Gefühl der Ich-Identität. Mitgefühl ist ein Mittel, das diese Fixierung oder Begrenzung auflöst und euch von Selbstbezogenheit befreit. Freundlichkeit macht den Schmerz, den ihr spürt, wenn ihr schwierige Arbeit tut, erträglich und führt zu mehr Vertrauen in euren Kopf, eure Essenz und euer Herz. Es bringt mehr Sanftheit in eure Arbeit, führt zu mehr Mitgefühl mit anderen und trägt zur Auflösung der selbstbezogenen Fixierung bei, die eine der Hauptbarrieren auf dem Weg zur Selbstbefreiung ist. Es ist ein sehr notwendiger Faktor, der entwikkelt werden muß, wenn wir die Muster und Themen, die die Persönlichkeit betreffen durcharbeiten.
Ein anderer Faktor, der bei dieser Arbeit notwendig ist, ist innerer Frieden: die Fähigkeit zu schweigen, still zu sein, nicht dauernd aktiv und laut sein zu müssen. Stille des Geistes. Um wahre Befreiung zu erkennen, müßt ihr diese Fähigkeit zur Stille und zu innerem Frieden besitzen, weil Befreiung so flüchtig ist. Wenn ihr denkt und grübelt und plant und euren normalen kurzlebigen Aktivitäten nachgeht, schließt ihr diese Erfahrung aus eurem Leben aus. Wenn ihr die Stille entwickelt und wertschätzt, die zur Abwesenheit von Aufgeregtheit führt, dann laßt ihr einen Zustand von Ruhe zu, der zu Intuition, zu Einsicht und zu den subtilen Wahrnehmungen führt.
Der nächste Faktor, der gebraucht wird, ist die Fähigkeit, sich von etwas ganz absorbieren zu lassen, total von dem absorbiert zu sein, was ihr tut, was immer es ist, was auch immer für ein Zustand gerade da ist. Ihr werdet in eurer Erfahrung so fokussiert, daß ihr euch vollkommen auf sie einlaßt und so sehr einlaßt, daß ihr in ihr aufgeht. Dies ist eine bestimmte Art von Beziehung zu Erfahrung, eine bestimmte Fähigkeit, eine bestimmte Freiheit von der Persönlichkeit. Die Persönlichkeit hält gewöhnlich eine Trennung von der Erfahrung aufrecht. Sie hat Angst davor, sich völlig aufzulösen, eins mit Erfahrung zu werden. Wenn ihr Essenz ganz erfahrt, dann ist das nicht eine explizite, umgrenzte Erfahrung; ihr seid so von ihr eingenommen, daß nichts da ist außer Essenz. Wenn ihr daran arbeitet, einen Tisch zu machen, dann seid ihr so darin versunken, daß ihr, das Werkzeug und der Tisch eins seid. Kein Kopf macht eine Unterscheidung oder Trennung in der Erfahrung. Ihr könnt von einer Handlung, einer Emotion, einem Gedanken, einer Sinneswahrnehmung oder einem essentiellen Aspekt eingenommen sein. Die Hindus nennen diesen Zustand ‚Samadhi‘, vollkommene Versenkung. In diesem Zustand erlaubt sich die Persönlichkeit selbst, zu sterben, sich aufzulösen, ganz eingetaucht in das und ganz verschmolzen mit dem zu sein, was immer gerade die Erfahrung ist.
Der siebte und letzte Faktor von Befreiung ist Aufwachen – die Fähigkeit, wach in eurer Erfahrung zu sein. Wir sprachen über die Fähigkeit, von eurer Erfahrung eingenommen zu sein; es gibt auch die Fähigkeit, wirklich wach zu sein, bewußt, gewahr zu sein. Ihr seid so bewußt, daß ihr das Gefühl habt, ihr wäret gerade aufgewacht. Da ist ein Gefühl, daß ihr ganz in Licht eingehüllt seid. Die Qualität von Wachheit ist ein Gegenmittel gegen Schläfrigkeit und gegen Dumpfheit der Wahrnehmung, wenn ihr die Arbeit tut. Sie ist nötig, um die Themen, die eure Persönlichkeit betreffen, zu verstehen, und sie hilft dabei, mit Verhaftetsein umzugehen. Ihr seid wach für das, was geschieht; ihr schlaft nicht, ihr seid bewußt. Ihr seid mit Klarheit und Licht wach; die Dinge werden klar und scharf umrissen. Ihr seht die Dinge, wie sie sind, was genau da ist, nicht was euer Unbewußtes sieht. Es ist klar und hell, wie ein offener, klarer Himmel, die Abwesenheit von Nebel oder Dunst. Es ist nicht so, als wäre der Himmel klar und ihr schaut ihn an – ihr seid die Klarheit. Der Geist (mind) funktioniert mit vollkommener Offenheit und Klarheit.
Die Kombination all dieser Faktoren führt zu Objektivität. Die sieben Faktoren – die Energie, die Entschlossenheit, die freudige Erregung, die Freundlichkeit, die Versenkung, die Ruhe und die Wachheit – kommen im richtigen Verhältnis zusammen und existieren als ein einziges Phänomen, dessen Qualität Objektivität ist. Objektivität ist genau das, was nötig ist, um mit der Persönlichkeit, ihren Grundmustern und ihren Neigungen, haben zu wollen und festzuhalten, umzugehen. Mit Objektivität seid ihr nicht von eurem Über-Ich oder eurem Unbewußten beeinflußt; was ihr seht, ist das, was da ist. Ihr seid nicht von eurer vergangenen Erfahrung, von Konzepten oder von Meinungen festgelegt. Eure Stärke ist objektiv; euer Wille ist objektiv: eure Freude ist objektiv; eure Freundlichkeit ist objektiv; eure Ruhe ist objektiv; eure Fähigkeit, euch einnehmen und auflösen zu lassen, ist objektiv. Objektivität bringt die sieben Faktoren in eine andere Dimension, auf eine andere Ebene. Die sieben Faktoren werden die lataif genannt, die sieben Elemente des subtilen Bewußtseins. Die Energie ist die rote latifa; die Entschlossenheit ist die weiße latifa; die Freude ist die gelbe latifa; die Freundlichkeit oder das Mitgefühl ist die grüne latifa; Frieden oder Ruhe ist die schwarze latifa; die Versenkung ist die blaue latifa; die Wachheit, die uns von Begierden befreien kann, ist das, was wir die durchsichtige, klare latifa nennen. Die lataif sind eine sehr subtile Art von Präsenz; manche sagen, sie seien wie Luft, eine subtile, feinstoffliche Luft, die diese Qualitäten in euch hervorbringt.
Das Bewußtsein nun ist objektiv, weil es die sieben Faktoren in ein ausgewogenes Verhältnis bringt, und es ist genau das, was nötig ist, um von dem Anhaften und Haben-Wollen frei zu sein, die die grundlegenden Charakteristika der Persönlichkeit sind. Das objektive Bewußtsein, das wir das „diamantene Bewußtsein“ nennen, erlaubt Freiheit von diesen Aspekten der Persönlichkeit. Das diamantene Bewußtsein ist ein panoramisches Bewußtsein im Gegensatz zu den fixierten Formen der Persönlichkeit.
Wenn ihr eure Schwierigkeiten und Konflikte objektiv betrachten könntet, würdet ihr sehen, daß sie nichts als Widerstand gegen diese Objektivität sind; Widerstand dagegen, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Ihr seid mit dem verhaftet, woran ihr festhaltet, und ihr wollt die Dinge nicht so sehen, wie sie sind.
Mehr als mit irgend etwas anderem seid ihr eurer Persönlichkeit selbst verhaftet, der Art, wie eure Persönlichkeit funktioniert, euren Vorlieben, Abneigungen und Mustern. Ihr lebt seit langer Zeit mit eurer Persönlichkeit, und sie ist euch vertraut. Auch wenn ihr Teile von ihr nicht mögt, ist sie trotzdem vertraut und zuverlässig. Warum sie also aufgeben? Ihr wollt nicht frei von ihr sein.
„Objektiv sein“ heißt, daß ihr sehen müßt, welche Rolle eure Persönlichkeit spielt. Es ist dieses objektive Bewußtsein, das den Zustand von Befreiung wahrnehmen kann, weil es keine Haltung des Festhaltens oder Trübungen hat, die die Wahrnehmung blockieren. Diese Faktoren werden nicht nur deshalb „Faktoren der Erleuchtung“ genannt, weil sie euch zu Objektivität und Befreiung führen werden, sondern auch weil sie im Zustand der Befreiung selbst präsent sind. Ihr seid voll Freude, ihr seid freundlich, ihr habt Energie, ihr seid entschlossen, ihr seid klar, ihr seid wach, ihr geht vollkommen in eurer Erfahrung auf, ihr seid ruhig. All diese Qualitäten sind auf der objektiven Ebene, wie dem diamantenen Bewußtsein oder dem objektiven Bewußtsein gemeinsam präsent. Wenn dieses diamantene Bewußtsein schließlich den Zustand der Befreiung wahrnimmt, schmilzt es einfach, wird weicher, zart, flüssig, entspannt und fließend. Da ist keine Struktur, keine Fixierung, kein Es-so-oder-anders-haben-Wollen, keine Vorliebe für das eine oder andere. Es ist nicht so, als wäret ihr objektiv oder nicht objektiv oder als wäret ihr freundlich oder nicht freundlich – nichts davon. Alles ist auf eine schmelzende, frei fließende, lockere Art da. Alles ist so locker, so frei, daß ihr nicht einmal denkt, daß ihr freundlich oder daß ihr glücklich seid. In dem Moment, in dem ihr sagt: „Oh, ich bin jetzt glücklich!“ ist es vorbei. Ihr seid es, und das ist alles. Ihr kümmert euch nicht darum, ihr tut, was ihr zu tun habt, frühstückt, lest die Zeitung, geht zur Arbeit, streitet euch. Es spielt keine Rolle, was ihr tut. Da ist vollkommene Freiheit. Ihr habt gelernt, gelassen zu sein. Ihr seid befreit, und ihr seid wach. Die Qualität des klaren Lichtes ist wichtig, weil ihr wach seid und wißt, daß ihr wißt. Das ist der Augenblick des Erkennens. Ein Kind kann in einem befreiten Zustand sein, aber es erkennt ihn nicht, verliert ihn und weiß nicht einmal, daß es ihn verloren hat. Wenn ihr aber erwachsen seid, erkennt ihr ihn, ihr seid wach. Deshalb betonen die Buddhisten das klare Licht, das Erwachen, weil es etwas Zusätzliches ist, das nötig ist. Ihr braucht das klare Licht, um in diesem Zustand wach zu sein und ihn zu erkennen. Ihr seid von ihm eingenommen. Ihr versucht nicht fieberhaft, ihn festzuhalten.
Die sieben Faktoren bilden schließlich den achten Faktor, der aus allen sieben zusammen besteht, und damit ein Achteck. Ich habe über diese Qualitäten gesprochen, weil sie die Hauptaspekte von Essenz sind und die lataifbilden; wenn ihr weiter fortschreitet, werdet ihr sehen, daß jede der lataifzu tieferen Ebenen führt. Jede für sich ist wie ein ganzes Universum. Dies sind die sieben primären Faktoren, die für die Befreiung nötig sind, und sie sind Faktoren des befreiten Zustandes. Sie werden euch letztlich dabei helfen loszulassen. Ich denke also, unser Vortrag heute erklärt die Beziehung zwischen Persönlichkeit und Essenz und wie Essenz dazu beträgt, daß man von der Persönlichkeit frei wird, dies ihrerseits wäre die Befreiung, Essenz zu genießen. Gibt es Fragen?
Schüler: Wo paßt Wachsamkeit in dieses Bild?
A.H. Almaas: Wachsamkeit ist eine Art und Weise, Aufwachen zu entwickeln. Wenn ihr wach seid, dann seid ihr wachsam, ohne wachsam zu sein. Wenn ihr eine Glühbirne seid, braucht ihr nicht zu schauen. Aufwachen wird also als die Vervollkommnung von Nicht-Wachen bezeichnet. Ihr wacht und ihr wacht und ihr wacht, bis ihr zu Wachsamkeit werdet. Dann strengt ihr euch nicht mehr an, um zu wachen, ihr seid einfach wach. Ihr müßt nicht mehr schauen, um zu sehen, einfach dadurch, daß ihr da seid, seht ihr. Dann wacht ihr nicht mehr. Aber zuerst müßt ihr eine lange Zeit lang wachen. Ihr müßt das Wachen entwickeln, bis ihr das Wachen werdet.
Schüler: Könntest du über die Bedeutung des Wortes Ridhwan sprechen und darüber, was es mit Befreiung zu tun hat?
A.H. Almaas: Ridhwan ist eine Art Zufriedenheit, die sich einstellt, wenn ihr befreit seid. Eure Persönlichkeit wird zufrieden, wenn ihr frei seid. Eure Persönlichkeit selbst ist frei von Leiden und Konflikt. Jesus sagte, daß ihr wie Kinder werden müßt, um in das Himmelreich zu gelangen. Ridhwan, Zufriedenheit, ist der Eingang in das Himmelreich. Es ist ein Aspekt von Essenz.
Befreiung ist wirklich nichts anderes, als daß die Persönlichkeit im Moment frei wird; die Persönlichkeit löst ihren Griff, läßt sich selbst einfach entspannen. Wenn eure Persönlichkeit losläßt, werdet ihr wie ein Kind und ihr kommt in das Paradies. Auf Arabisch ist Ridhwan der Name des Engels, der das Paradies bewacht. Aber das Wort meint auch den Zustand, den aktuellen essentiellen Aspekt von Zufriedenheit, Befriedigung und Erfüllung. Viele Systeme diskutieren das nicht, aus einem guten Grund: zu jemandem, der diese Befreiung nicht erfahren hat, darüber zu sprechen verstärkt das Festhalten und die Haltung des Haben-Wollens. Die Beschreibung davon, wie wunderbar der Zustand der Befreiung ist, die Beschreibung des Himmels, kann das Elend und das Feststecken noch verstärken. Deshalb sprechen viele Systeme einfach darüber, wie man lernen kann loszulassen. Ihr seid vielleicht im Paradies, aber wenn ihr nicht wißt, wie man loslassen kann, werdet ihr euch nicht daran freuen.
Geist und Essenz
Untersuchen wir das Wort „Geist“ (mind). Es ist natürlich ein gewöhnliches Wort, und wir benutzen es oft in unserer Arbeit. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist „Geist“ ein ungenauer Ausdruck; nicht jeder gebraucht ihn auf dieselbe Weise. Es gibt kulturelle Unterschiede: Wenn wir es in diesem Land benutzen, bedeutet es nicht dasselbe wie das, was zum Beispiel die Tibeter meinen, wenn sie „Geist“ sagen. Was wir im Westen „Herz“ nennen, nennen Menschen im fernen Osten „Geist“. Wir stoßen darauf, daß die Worte „Geist“ und „Herz“ eine Beziehung haben, die nicht immer klar ist. Es gibt Menschen, die das Wort „Geist“ gebrauchen, aber „Herz“ meinen und umgekehrt. Wenn ihr Bücher lest oder Vorträge über „Geist“ hört, dann geht ihr immer von einer bestimmten Bedeutung aus, die vielleicht die ist, die der Sprecher oder Autor meint, oder auch nicht; es ist also ganz natürlich, daß ihr verwirrt seid. Untersuchen wir die Bedeutung von „Geist“ und beginnen wir mit der verbreitetsten und oberflächlichsten Bedeutung. Dann kommen wir zu den tieferen Aspekten der Bedeutung von Geist (mind).
Die Vorstellung, die am verbreitetsten ist, ist die, daß „Geist“ aus euren Gedanken und dem Denkapparat besteht und mit eurem Gehirn zu tun hat. Allgemein gesprochen, beziehen sich Menschen, wenn sie das Wort „Geist“ gebrauchen, in unserer Kultur auf Gedanken und Bilder – Dinge, die ihnen durch den Kopf, durch ihre Denkprozesse gehen. Gewöhnlich geht man davon aus, daß der Denkapparat gemeint ist oder der Prozeß des Denkens oder die Gedanken selbst.
Aber sogar in dieser Kultur ist diese Bedeutung nicht allgemein anerkannt. In der psychologischen Literatur ist dies nicht die Bedeutung des Wortes „Geist“. Freud zum Beispiel meinte nicht nur eure Gedanken, wenn er das Wort „Geist“ verwendete. Freud benutzte „Geist“ nicht nur für Gedanken, sondern schloß Eindrücke, Gefühle, Emotionen, Sinneswahrnehmungen mit ein. Von all diesen Eindrücken wird angenommen, daß sie den Inhalt des „Geistes“ ausmachen. Außerdem postulierte Freud natürlich eine Ebene von „Geist“, die er das „Unbewußte“ nannte.
Der eher technische Gebrauch des Wortes „Geist“ in dieser Kultur ist der, daß es sich auf den Inhalt von Erfahrung als ganzen bezieht. Alle Eindrücke werden „Geist“ genannt. Eine weitere Unterscheidung kann man zwischen diesem Inhalt und dem „Gefäß“ oder Apparat machen, der mit diesen Dingen zu tun hat. Entweder der Inhalt selbst oder das Gefäß oder die Instanz, die den Inhalt wahrnimmt, wird demnach unter „Geist“ verstanden. Diese Unterscheidung wird in der psychologischen Literatur nicht allgemein gemacht. Wenn da unterschieden wird, dann zwischen dem physischen Nervensystem und den Gedanken selbst. Wenn ihr davon ausgeht, daß „Geist“ sich nur auf die mentalen Prozesse bezieht, dann ist der Apparat das physische Nervensystem, das Gehirn. Wenn man der Auffassung ist, daß „Geist“ sich auf alle Eindrücke und Erfahrungen bezieht, dann gehört zum Apparat der ganze Körper mit der Betonung auf dem ganzen Nervensystem, das Rückenmark, die Ganglien und das Gehirn sind eingeschlossen. Wir haben also jetzt zwei Begriffe, für die das Wort „Geist“ steht. Natürlich sprechen einige Philosophen über den Geist jenseits des Gehirns oder Nervensystems. Sie postulieren die Existenz eines „Geistes“, der durch das Gehirn wirkt, wenn sie von dem „kleinen Geist“ sprechen oder einem „Geist“, der durch das ganze Nervensystem, den ganzen menschlichen Körper oder das „Soma“ wirkt, den sie den „großen Geist“ nennen. „Geist“ wird dann nicht als etwas Bestimmtes, Abgegrenztes gesehen, sondern eher als eine Art Kraft oder Wirkkraft. In diesen Formulierungen ist nicht sehr klar, was diese Kraft ist.
Das führt zu Fragen, die die Natur des „Geistes“ betreffen. Was ist der „Geist“, der unabhängig vom Gehirn und vom Nervensystem ist? Gibt es eine Wirkkraft der Prozesse? Gibt es da eine Kraft?
Innerhalb dieser Kultur und im Westen im allgemeinen gibt es außerhalb akademischer Kreise und der Hirnforschung wenig Interesse an der Erforschung dieser Frage. Eine Ausnahme ist die religiöse oder philosophische Idee des Logos, die wir hier nicht diskutieren werden; der Logos ist ein metaphysischer Begriff und hier wollen wir nahe an der Erfahrung bleiben. Im östlichen Denken bedeutet „Geist“ mehr als das Mentale, mehr als die Gedanken; „Geist“ bezieht sich auf den ganzen Apparat, den ganzen Prozeß, die Gesamtheit der Eindrücke. Der ganze Inhalt von Erfahrung wird „Geist“ genannt. Ferner versucht man, die Natur des Geistes zu verstehen: Existieren diese Eindrücke an sich und aus sich selbst oder geschehen sie an etwas oder in etwas? Sind diese Eindrücke Teil eines physiologischen oder elektrochemischen Prozesses, der im Nervensystem stattfindet? Woher kommen diese Gedanken, Gefühle und Sinneswahrnehmungen? Besonders im buddhistischen Denken finden wir einen ernsten Versuch, die Natur des Geistes, seine wirkliche innere Natur zu verstehen.
Im Westen haben Psychologen Modelle von dem formuliert, was sie die „mentale Struktur“ oder den „psychischen Apparat“ nennen, um die Struktur des Geistes zu beschreiben. Nach einer dieser Formulierungen gibt es eine Struktur, die sich von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter entwickelt und die „Struktur des Geistes“ wird. Im allgemeinen wird nicht diskutiert, ob es getrennt oder jenseits davon, daneben oder über dem noch etwas gibt.