Exil - Jakob Ejersbo - E-Book

Exil E-Book

Jakob Ejersbo

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Beschreibung

Ein Roman unter Strom: wüst, wild, hungrig nach Leben

Die junge Samatha ist gebürtige Engländerin und lebt seit ihrem dritten Lebensjahr in Tansania. Auf ihren Vater – ein ehemaliger britischer Elitesoldat, der sich als Söldner verdingt und Waffen schmuggelt – ist kein Verlass, die alkoholabhängige Mutter verlässt die Familie schon bald in Richtung Europa. Kein Wunder, dass Samantha sich im Internationalen Internat in Moshi am Kilimandscharo einsam und verloren fühlt. Ein wenig Halt findet sie allenfalls in ihrem dänischen Mitschüler Christian, aber auch dieser kann sie nicht abhalten von ihrem selbstzerstörerischen Furor, in den sie sich bald bedingungslos stürzt.

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Seitenzahl: 459

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Jakob Ejersbo

Exil

Roman

Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die dänische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Eksil« bei Gyldendal, Kopenhagen.

Die Übersetzung ins Deutsche wurde vom Danish Arts Council Committee for Literature gefördert.

Copyright © der Originalausgabe 2009 by Jakob Ejersbo und Gyldendal

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München.

Published by agreement with the Gyldendal Group Agency.

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-07497-5V002

www.btb-verlag.de

1983

Blaues Silber

Wenn ich mich mit den Schwimmflossen über den Sandboden bewege, sieht die Wasseroberfläche anderthalb Meter über mir aus wie lebendiges blaues Silber. Ich drehe mich auf den Rücken und betrachte durch meine Taucherbrille die glänzende Unterseite der kleinen Wellen. Sobald ich näher komme, fliehen die winzigen Fische leise in die Korallen auf dem Meeresboden. Es ist vorbei. Die Sommerferien sind zu Ende. Wir müssen meine große Schwester Alison zum Kilimandscharo Flughafen bringen – sie fliegt nach England. In wenigen Tagen muss ich wieder ins Internat, ohne Alison. Ich schwimme zur Oberfläche und atme tief ein. Die Welt ist laut. Ich ziehe die Taucherbrille ab und blinzele ins Wasser. Salzwasser – man sieht nicht, dass ich geweint habe.

Ich gehe die Böschung hinauf. Im Baobab Hotel ist kein Laut zu hören – weder im Hauptgebäude mit der Rezeption und dem Restaurant, noch in den Bungalows, die zwischen den Baobab-Bäumen stehen. Viele Gäste haben wir nicht. Alison packt. Sie soll bei der Schwester meines Vaters wohnen, ein halbes Jahr auf eine Hotelfachschule in Birmingham gehen und dann ein Praktikum in einem Hotel antreten. Ich lehne mich an den Türrahmen ihres Zimmers.

»Willst du mich wirklich mit den Alten allein lassen?«

»Ja«, antwortet sie.

»Sie bringen mich um«, sage ich.

»Ich muss etwas lernen«, entgegnet Alison. Vater läuft über den Flur. Ich blicke ihm nach.

»Seit drei Jahren habe ich England nicht mehr gesehen. Und wir wohnen hier jetzt schon zwölf Jahre – ich werde als Tanzanierin enden«, rufe ich ihm hinterher. Er reagiert nicht.

»Du kommst schon noch nach England«, sagt er schließlich, ohne sich umzudrehen.

»Scheiße, ich will aber jetzt«, sage ich. Vater bleibt stehen, sieht mich an.

»Jetzt beruhigst du dich erst einmal«, sagt er. »Außerdem habe ich gesagt, du sollst zu Hause nicht fluchen. Du kannst Alison nächstes Jahr besuchen.«

Aufbruch

Mutter serviert zum Abendessen Hummer, hinterher macht Alison Crêpe Suzette, die sie mit Cointreau am Tisch flambiert.

»Jetzt verlässt die Erste das Nest, Missis Richards«, sagt Vater.

»Ja, das ist traurig«, antwortet Mutter und lächelt – ein leichter Schauder scheint ihr über den Rücken zu laufen.

Alison legt mir den Arm um die Schulter.

»Ich hoffe, sie benehmen sich, wenn ich fort bin«, sagt sie.

»Wer?«, will Vater wissen.

»Ihr«, antwortet Alison.

»Glücklicherweise bin ich ja die meiste Zeit in der Schule«, sage ich.

»So schlimm sind wir nun auch wieder nicht«, meint Vater. Ich zupfe ihm die Zigarette aus der Hand und nehme einen Zug.

»Samantha!«, sagt Mutter scharf.

»Ach, lass sie doch«, entgegnet Vater.

»Sie ist erst fünfzehn.«

»Und es hat keinen Sinn, dass sie so wird wie du«, sagt Alison zu Vater.

»Samantha ist ein harter Brocken, wie ihr Vater«, erwidert er und schaut Mutter an. »Die Kinder sind bald flügge. Die Aufgabe ist erfüllt. Von nun an kann jeder von uns seine eigenen Wege gehen.«

»Vater«, mahnt ihn Alison.

»Wieso musst du immer so gemein sein?«, sagt Mutter.

»Tsk«, zische ich.

Mutter beginnt zu schluchzen.

Afrika

Ich wache früh auf, mit Blut auf dem Laken, Kopfschmerzen und einem Ziehen in den Gliedern. In der Küche höre ich das Mädchen. Wir wollen im Laufe des Vormittags fahren. Ich ziehe das Bettzeug ab und werfe es in den Wäschekorb. Gehe ins Wohnzimmer. Alison steht in einem weiten T-Shirt schlaftrunken im Zimmer.

»Wo ist Vater?«, fragt sie.

»Weiß ich nicht«, antworte ich und schaue vor die Tür – sein Land Rover ist fort. Die einzige Spur: Zahnbürste, Zahnpasta und die Waffe fehlen. Ohne etwas zu sagen oder einen Zettel zu hinterlassen. Einfach weg. Wie lange? Wer weiß? Mutter sitzt auf der Veranda und trinkt Kaffee.

»Er kommt nicht damit zurecht, Alison auf Wiedersehen sagen zu müssen.«

Ich springe die Böschung hinunter zum Badehaus und rudere hinaus, um zu fischen, nur mit Maske, Schnorchel und Harpune. Ich tauche drei Meter tief, es beginnt zu regnen, obwohl es bis zur kurzen Regenzeit eigentlich noch drei Monate dauert – es erschrickt mich. Die Wasseroberfläche wird aufgepeitscht. Ich beeile mich, wieder an Land zu kommen. Grau in grau.

Mutter sitzt noch immer auf der Veranda. Es hat aufgehört zu regnen.

»Musst du nicht irgendetwas tun?«, frage ich.

»Wieso?«, fragt sie zurück.

»Weil …«

»Ihr seid so gut wie aus dem Haus, und Douglas ist die ganze Zeit unterwegs. Jahrelang habe ich die Angestellten täglich gescheucht und ihnen immer und immer wieder dasselbe erzählt. Aber sie gehorchen einfach nicht – nur wenn ich daneben stehe und ihnen zusehe. Ich bin es leid. Ich bin die Feuchtigkeit leid, die Mücken, das Hotel …«

»Und Douglas und uns«, sage ich. Mutter schaut mich erschrocken an.

»Euch nicht«, sagt sie. Alison steht in der Tür zum Wohnzimmer: »Du kannst dich selbst nicht mehr leiden.«

»Ja«, sagt Mutter. »Und Afrika. Afrika bringt mich um.« Sie schaut mich an: »Wenn ich jetzt nach England führe, würdest du mitkommen, Samantha?«

»Willst du in den Urlaub fahren?«

»Nein, um zu bleiben.«

»In England?«

»Ja.«

»Nein«, antworte ich. England. Was soll ich dort?

»Wir fahren bald«, sagt Alison.

Denguefieber

Die Straße nach Westen bis zur Road Junction ist erbärmlich, und wir benötigen sechs Stunden, um die dreihundertfünfzig Kilometer bis Moshi zu fahren. Am Fuß des Kilimandscharo liegt das Internat. Aber glücklicherweise sind die Ferien erst in einigen Tagen vorbei, also fahren wir noch eine weitere Stunde westwärts, beinahe bis Arusha. Es ist schön, nach der feuchten Wärme in Tanga ins Landesinnere zu kommen.

Ein paar Kilometer vor Arusha verlassen wir die asphaltierte Straße und biegen auf einen Feldweg, der zur Mountain Lodge am Mount Merus führt. Wir wollen Mick besuchen, der zwei Klassen über mir ist. Vor vier Monaten, kurz vor der Mittleren Reife, wurde er krank und musste ins Krankenhaus. Ich bin auf das Wiedersehen gespannt.

Mountain Lodge ist eine alte deutsche Kaffeefarm aus dem Jahr 1911, die in ein Luxushotel umgebaut wurde. Micks Mutter betreibt zusammen mit Micks großem Bruder und seiner Frau die Lodge und eine Organisation, die Safaris veranstaltet. Seinem Stiefvater gehört ein Reisebüro in Arusha.

Mahmoud kommt heraus und teilt uns mit, nur Mick sei zu Hause. Die anderen sind mit Japanern auf einer Safari in der Serengeti. Ich hatte mich gefreut, Micks Schwägerin wiederzusehen, Sofie ist lustig. »Aber kommt doch herein und trinkt einen Tee«, bittet Mahmoud und geht in seinem arabischen Aufzug mit Turban und Krummsäbel im Gürtel voran – alles für die Touristen. Mahmoud ist ein würdevoller Mann, der die einheimischen Angestellten der Lodge mit harter Hand führt. Wir folgen ihm auf die Veranda, die sich um das weißgekalkte Hauptgebäude zieht. Ein abgemagerter, hagerer Mann starrt uns aus dem Liegestuhl an.

»Mick?«, fragt Alison. Er lächelt, dass die Haut auf dem Schädel Falten schlägt, während er sich langsam erhebt.

»Bist du es wirklich?«, sagt Mutter.

»Ich bin es, Miss Richards«, erwidert Mick. Er gleicht einer Leiche. Vorsichtig umarmen wir ihn nacheinander. »Keine Sorge«, sagt er und drückt mich an sich. »Ich bin nicht aus Zucker.«

»Wie viel Kilo hast du abgenommen?«, will Alison wissen.

»Sechzehn«, antwortet Mick. »Erst lag es am Denguefieber: zwei Wochen lang vierzig Grad Fieber, roter Ausschlag am ganzen Körper, heftige Muskelschmerzen und innere Blutungen. Im Krankenhaus von Arusha mussten sie das Fieber mit Eis senken und einen Flüssigkeitstropf setzen, weil ich vollkommen dehydriert war.«

Mick zündet sich eine Zigarette an und raucht langsam, sogar seine Finger sind dünn. Gut, dass er ziemlich füllig gewesen ist, sonst läge er jetzt sechs Fuß unter der Erde.

»Aber durch den Tropf habe ich mir Typhus eingefangen. Ich schwitzte, kotzte und habe mich beinahe zu Tode geschissen. Das Krankenhaus hätte mich fast umgebracht. Meine Mutter hat mich dann nach Hause geholt und eine Krankenschwester angeheuert, um mich zu pflegen.«

»Hier krank zu werden, ist gefährlich«, sagt meine Mutter und schüttelt den Kopf. Wohl wahr. Die europäischen Berater werden nach Hause geflogen, wenn sie krank sind. Von unseren Eltern kann sich keiner eine Krankenversicherung leisten, allerdings wissen wir, wie man die Ärzte besticht.

»Und wie geht’s jetzt weiter?«, erkundigt sich Alison.

»Ich muss zu einer Nachprüfung in die Schule, dann kehre ich nach Europa zurück«, sagt Mick. »Ich weiß nur nicht so genau, wohin.« Durch seine Mutter, die eigentlich Österreicherin ist, aber mit einem Deutschen verheiratet war, besitzt Mick einen deutschen Pass. Mick spricht kein Deutsch, und sein Stiefvater ist Franzose. Sein richtiger Vater kam aus England, ist aber bereits vor vielen Jahren an schwarzer Malaria gestorben.

»Komm mich besuchen, wenn du in Europa bist«, sagt Alison.

»Gern.« Mahmoud bringt Tee und Kekse. »Leider haben wir keinen Platz für euch«, fügt Mick hinzu. »Heute Abend kommt eine ganze Gruppe Japaner.«

»Nein, nein, das ist auch nicht nötig«, sagt Mutter. »Wir haben verabredet, im Arusha Game Sanctuary zu übernachten.«

Alle hier im Land wohnenden Weißen sind alte Freunde, die sich gegenseitig Übernachtungsmöglichkeiten anbieten, wenn sie umherreisen. Das Arusha Game Sanctuary gehört Angelas Familie, die aus Italien kommt. Angela ist ebenfalls zwei Klassen über mir, ich kenne sie schon seit meiner Kindheit – sie ging mit Mick in eine Klasse der griechischen Schule von Arusha, bevor sie beide ins Internat von Moshi kamen. Ich hätte allerdings lieber in der Lodge übernachtet.

»Und du, Samantha?«, fragt Mick.

»Na ja, ich werde wohl im Arusha Game Sanctuary bleiben, bis die Schule beginnt. Es hat keinen Sinn, mit Mutter zurück nach Tanga zu fahren.«

»Besuch mich«, sagt Mick. »Für dich haben wir immer Platz.«

Abschied

Nach dem Tee fahren wir ins Arusha Game Sanctuary, das von Angelas Mutter betrieben wird. Wie im Baobab Hotel gibt es ein Restaurant und Bungalows für die Gäste. Zusätzlich unterhalten sie noch einen kleinen Zoo mit allen möglichen Tieren, von Vögeln bis zu Löwen.

Angela ist bei Freunden in Arusha, aber ihre Mutter ist zu Hause und zeigt uns unsere Zimmer. Natürlich kann ich bleiben, bis die Schule wieder beginnt, sagt sie. Ich gehe mit Alison zum Schwimmen ins nahegelegene Hotel Tanzanite, aber es ist unangenehm – viel zu viel Chlor im Wasser.

Wir trinken Cola, rauchen Zigaretten, reden nicht viel.

»Du musst nicht traurig sein«, sagt Alison.

»Bist du doch auch«, antworte ich.

Sie nickt.

Am nächsten Morgen bringen wir Alison zum Flughafen, der auf halbem Weg zwischen Arusha und Moshi liegt. Ich sehe Mutter an, dass sie gestern Abend zu viel getrunken hat.

»Ich rede mit eurem Vater«, sagt sie. »Mal sehen, ob Samantha und ich dich Weihnachten besuchen können.«

»Ja«, sagt Alison und schweigt. Es sieht nicht so aus, als gäbe es genug Geld für die Flugtickets. Durch die Abflughalle fliegen Schwalben. Wir verabschieden uns von Alison am Check-in. Mutter weint. Alison beißt die Zähne zusammen, ich räuspere mich und schlucke meine Spucke hinunter.

»Und du machst keine Dummheiten, wenn ich weg bin«, flüstert Alison mir ins Ohr. Sie lässt mich los und geht, dreht sich aber noch einmal um. »Ihr geht doch nach oben und winkt?«, fragt sie mit dünner Stimme. Ich schlucke erneut, Mutter nickt, und Alison verschwindet durch die Türen. Wir gehen über die Treppen auf die große Aussichtsplattform auf dem Dach.

»Ich werde sie vermissen«, sagt Mutter.

»Ja«, sage ich und zünde mir eine Zigarette an.

»Du sollst nicht rauchen, Samantha.«

»Gerade jetzt schon«, entgegne ich.

»Okay.« Wir warten schweigend und blicken auf die Passagiere, die sich zum Flugzeug begeben, bis Alison aus dem Gebäude unter uns kommt.

»Wiedersehen, Alison, pass auf dich auf!«, ruft Mutter.

»Mach keine Gefangenen, bring sie alle um!«, schreie ich.

Alison sagt nichts; sie wirft uns eine Kusshand zu, winkt und bleibt an der Kabinenöffnung des Flugzeugs stehen. Hinter ihr bildet sich eine Schlange, während sie ein letztes Mal zu uns herüberblickt. Dann ist sie fort. Wir bleiben schweigend stehen und versuchen, sie durch die kleinen Fenster des Flugzeugs zu entdecken, aber vergeblich. Trotzdem stehen wir noch da und winken, als das Flugzeug sich in Bewegung setzt. Wir warten, während es zur einzigen Start- und Landebahn rollt, wendet und beschleunigt. Wir winken, als es abhebt. Wir sind häufig von hier abgeflogen. Wir wissen, dass man die Menschen auf der Aussichtsplattform sehen kann, wenn die Maschine startet. Wir wissen, dass Alison darin sitzt, nach uns Ausschau hält und daran denkt, wann sie wieder zurückkommen wird.

»Mutter, du kannst mich einfach an der Hauptstraße absetzen«, sage ich auf der Rückfahrt vom Flughafen. Mutter will nach Osten in Richtung Tanga, während ich zum Arusha Game Sanctuary muss, um dort die zwei Tage bis Schulbeginn zu verbringen.

»Nein, ich fahre dich zurück.«

»Ich kann doch einen Bus nehmen. Dann kommst du zu vernünftigen Zeiten nach Hause.«

»Okay«, willigt sie schließlich ein und gibt mir etwas Geld. »Aber denk dran anzurufen, Samantha.« Ich umarme sie und steige aus; sehe ihr nach, als sie davonfährt. An einem Holzschuppen esse ich gegrillte Kassava mit Senfdressing, trinke Tee. Springe in einen Bus nach Arusha, sitze eingeklemmt mit einem Massai-Mädchen auf dem Schoß und einem Zicklein zwischen den Füßen, bis ich am Arusha Game Sanctuary aussteige.

Großwildjäger

Angela ist zurück. Sie sonnt sich im Garten hinter dem Haus. Ich weiß nicht viel über sie, nur dass sie ziemlich zäh ist und sich auf der Schule von niemandem etwas gefallen lässt. Als sie auf die Schule in Arusha ging, war sie Heimschläferin, im Internat in Moshi wohnt sie in einem anderen Haus als ich. Angela ist dünn, aufgeschossen, schmalbrüstig und hat eine Hakennase. Alison hat immer gemeint, Angela »sei nicht ganz richtig im Kopf«. Ich gehe zu ihr.

»Hey, Angela«, begrüße ich sie. Sie schiebt die Sonnenbrille hoch und betrachtet mich. Ihre Augen sind rot, als hätte sie geweint.

»Ich habe mich mit meiner Mutter gezankt«, erklärt sie.

»Worüber?«

»Sie behauptet, ich würde mit ihrem Freund flirten.«

»Tust du es denn?«

»Ein bisschen.« Sie setzt die Sonnenbrille wieder auf. »Er ist Großwildjäger, aus Arusha. Italiener.«

»Und der Freund deiner Mutter«, sage ich.

»Im Moment. Aber das hält nicht lange.« Was soll ich dazu sagen?

»Gehst du mit schwimmen?«, frage ich sie. Sie will nicht, also gehe ich allein. Als ich zurückkomme, ist Angela verschwunden, und ihre Mutter weiß auch nicht, wo sie ist – offensichtlich ist es ihr aber auch egal. Ich esse etwas, gehe zu Bett und weine. Ich vermisse Alison. Wäre ich doch mit Mutter zurück nach Tanga gefahren. Ich will nicht in die Schule.

Das Perlentor

Am nächsten Morgen ist Angela nicht da; ich gebe ihrer Mutter Bescheid, dass ich zur Mountain Lodge fahre, Mick besuche und morgen den Bus zur Schule nehme.

Die Mountain Lodge liegt nur zwei Kilometer von der Hauptstraße entfernt, aber es geht ziemlich weit den Mount Merus hinauf. Ich kann diese Strecke durchaus laufen, denn es ist Vormittag, und das Arusha-Gebiet liegt relativ hoch; hier ist es noch immer kühl. Ich nähere mich der Lodge. Zwischen den Bäumen sehe ich die Garage, in der Micks Bultaco-Motorräder und ein Beach-Buggy mit platten Reifen stehen. Vor der Lodge läuft ein Bach den Berg herab, und direkt an der Brücke gibt es zwei Becken, Forellenteiche. Mick steht dort neben einem Arbeiter, der mit einem Netz an einer langen Bambusstange Regenbogenforellen herausfischt. Er hat mich noch nicht gesehen. Sein Oberkörper ist nackt, mager.

»Mick!«, rufe ich. Er blickt auf und lächelt. Kommt zu mir auf die Brücke, ringt nach Atem und legt mir den Arm um die Schulter.

»Hilfst du einem kranken Mann nach Hause?«, fragt er.

»Klar.«

»Alison – ist sie abgereist?«

»Ja. Angela war zu Hause, aber … ich kenne sie doch gar nicht richtig.«

»Wildes Mädchen«, sagt er.

»Bist wohl scharf auf sie?«

»Nein, ich kann sie nicht ausstehen«, erwidert Mick. »Ein zu dreckiges Mundwerk.«

Wir sind am Haus. Mahmoud serviert Mittagessen und Tee auf der Veranda. Wir rauchen.

»Ich muss mich ein bisschen hinlegen«, entschuldigt sich Mick. »Ich bin noch immer nicht ganz wiederhergestellt. Aber du kannst gern mitkommen.« Er blinzelt mir zu.

»Das könnte dir so passen», antworte ich und bleibe sitzen.

»Aber du bleibst doch bis morgen, oder?« Ich nicke. Er geht ins Haus. Ich sehe mir den Garten an. Ich bin fünfzehn Jahre alt. Mick ist siebzehn. Ich bin noch immer Jungfrau. Ich gehe ins Haupthaus. Im Parterre gibt es ein Kaminzimmer und einen Speisesaal für die Touristen, voller Jagdtrophäen und Felle. Die Familie wohnt im ersten Stock. Ich gehe die Treppe hinauf. Die Tür zu Micks Zimmer steht einen Spalt offen. Ich gehe darauf zu.

»Komm rein«, fordert er mich auf, und ich gehe hinein. Es geschieht sehr behutsam, sehr schön. Ich bekomme eine Gänsehaut, als er mich auszieht. Wir sind vorsichtig, bis Mick die Hände und die Zunge an dieser besonderen Stelle einsetzt – das ist mehr als schön. Er hebt den Kopf und sieht mich an.

»Das Perlentor«, sagt er.

Rauchen am Morgen

Erster Schultag. Um sieben Uhr dreißig renne ich von meinem Haus, Kiongozi, zum Speisesaal. Die Internatsschüler sind nach Alter und Geschlecht auf die Häuser verteilt. Einige Häuser stehen ein Stück von der Schule entfernt, aber Kiongozi liegt direkt am Spielplatz der jüngeren Schüler. Immer komme ich erst im letzten Moment mit strubbeligen Haaren und den Büchern unter dem Arm los, mir bleibt dann lediglich eine Viertelstunde zum Frühstücken.

»Wie geht’s dir, Samantha?«, erkundigt sich Shakila, die den Speisesaal bereits verlässt. Sie ist die Tochter eines Professors, der eine Privatklinik in Dar betreibt. Shakila ist zwei Klassen über mir; sie war meine Vertrauensschülerin, als ich nach der vierten Klasse aufs Internat geschickt wurde. Den neuen Schülern wird ein älterer Schüler zugeteilt; er soll sie einweisen und ihnen zeigen, wie man sein Bett macht, aufräumt und die Hausaufgaben erledigt. Obwohl es vier Jahre her ist, dass Shakila meine Vertrauensschülerin war, erkundigt sie sich noch immer hin und wieder, wie es mir geht.

»Gut. Und dir?«

»Auch gut«, erwidert sie. Wieso fragt sie? Weil Alison abgereist ist. Ich bin jetzt allein auf der Schule. Zum ersten Mal habe ich weder meine Eltern noch Alison in meiner Nähe. Der Speisesaal ist halb leer; die größeren Jungen im Kijoto und die Mädchen in Kilele und Kipepeo haben ihre eigenen Küchen fürs Frühstück, und die ältesten Jungen aus dem Kijani-Haus und die aus Kishari essen in der Schule.

Ich entdecke Panos, der zusammen mit Tazim, Truddi und meiner Zimmerkameradin Gretchen an einem Tisch sitzt. Wir alle fangen heute in der achten Klasse an. Panos schlingt Brot hinunter und gießt ein Glas Saft hinterher – ein Mulatte, dessen griechischer Vater eine Tabakfarm bei Iringa betreibt. Aus den Augenwinkeln sehe ich Jarno, einen Finnen, der mich hinter den bleichen Dreadlocks, die er sich wachsen lässt, mit pissgelben Augen anstarrt.

»Bist du okay, Samantha?«, will Tazim wissen.

»Natürlich ist sie okay«, sagt Panos. »Du siehst doch, sie isst.«

Panos kenne ich seit sieben Jahren, seit ich 1976 auf der Schule in Arusha angefangen habe. Panos ist bärenstark, rund wie eine Tonne und hasst Bücher. Um sieben Uhr fünfundvierzig müssen wir den Speisesaal verlassen haben, die erste Stunde beginnt um acht.

»Zigarette?«, fragt Panos, ohne mich anzusehen, während er aufsteht und prüfend den Raum überblickt.

»Klar«, murmele ich mit vollem Mund.

»Bei Owen«, sagt er und geht. Owen ist der Rektor, dessen Wohnhaus schräg hinter dem Speisesaal liegt. Es war Panos’ Idee, direkt hinter seinem Haus zu rauchen, dort vermutet niemand eine Regelverletzung. Owen ist bereits im Büro und seine Frau im Lehrerzimmer. Ich laufe Panos zwischen den Bäumen nach und blicke dabei auf den Kilimandscharo. Die Schneekappe auf dem Gipfel Kibos ist noch immer deutlich zu sehen; erst am Vormittag, wenn die Sonne in den Regenwäldern unterhalb des Gipfels das Wasser verdampfen lässt, wird der Berg von Wolken verhüllt sein. Ich bin nie dort oben gewesen, obwohl man ihn mit der Schule besteigen kann – mich interessiert es nicht. Aber Panos ist oben gewesen, obwohl er sich bis Gilman’s Point ein paar Mal übergeben musste und die Umrundung des Kraterrands bis zum höchsten Punkt, Uhuru Peak, nicht geschafft hat. Bevor der erste Weiße den Berg bestieg, glaubten die Afrikaner, die weiße Krone bestünde aus Silber.

Panos ist an den dichten Büschen hinter Owens Haus stehengeblieben.

»Bist du okay?«, fragt er.

»Ich habe keine Lust mehr, hier zu sein.«

»Was du nicht sagst.« Wir zünden die Zigarette an, rauchen so hastig, dass uns schwindlig wird, teilen uns ein Big G-Kaugummi, um den Geruch zu vertreiben, und schlendern zu den Klassenräumen; fünf vor acht. Alles ist überschwemmt von irgendwelchen Gören – Tagesschülern. ISM heißt die Schule: International School of Moshi. Zwölf Klassen kann man hier besuchen, dann ist man reif für die Universität.

Die Tagesschüler wissen nichts vom Leben. Jeden Nachmittag kehren sie nach Hause zurück, um sich von Mami und Papi den Hintern abwischen zu lassen. Die meisten Internatsschüler sind Weiße – Kinder von Diplomaten, Leuten, die in der Entwicklungshilfe arbeiten, oder Familien, die Landwirtschaft oder etwas Touristisches in Tansania betreiben. Es gibt aber auch schwarze Internatsschüler, Söhne und Töchter von korrupten Geschäftsleuten oder Politikern. Und unter den Tagesschülern finden sich jede Menge Inder. Die Schule hat irgendwann als christliche Schule angefangen, als einige weiße Christen das große Krankenhaus KCMC bauten, das Kilimanjaro Christian Medical Center; angeblich das beste Krankenhaus des Landes. Es unterrichten noch immer sehr viele gläubige Lehrer, aber die Schule besuchen auch eine Menge Hindus, Sikhs und Muslime. Zumindest müssen wir keine Uniformen tragen wie auf der Schule in Arusha.

Die erste Stunde beginnt. Ein weiterer vergeudeter Tag in meinem Leben.

International Mick

Am ersten Tag herrscht in den Pausen ein großes Durcheinander, alle begrüßen sich. Ich suche Panos’ Freund Christian, aber er ist nicht zur Schule gekommen. Christian wohnt auf der Zuckerplantage TPC südlich von Moshi. Vor knapp einem Jahr starb seine kleine Schwester bei einem Autounfall, vielleicht ist die Familie nach Europa zurückgekehrt? Hinterher ging er mit Shakila, aber das hat nicht funktioniert, außerdem wurde er für eine Woche suspendiert, weil er ständig und überall Zigaretten geraucht hat.

Savio kommt in der großen Pause auf mich zu und erkundigt sich nach Mick. Mir wird ganz heiß, als ich Micks Namen höre. Savio ist kräftig gebaut, Goa und Katholik aus Arusha.

»Er kommt bald, er muss zur Nachprüfung.«

»Bist du das, Mick?« Savio schaut mir über die Schulter, ich drehe mich um. Tatsächlich kommt Mick den Gang entlang.

»Savio, Mann!«, ruft er. »Samantha!«

»Meine Fresse, bist du dünn geworden«, erwidert Savio und klatscht ihn mit fünf Fingern ab. Er stellt sich neben Mick und zieht sein T-Shirt hoch. Mick ebenfalls. Savio hat einen Bauch, Mick ist abgemagert. Wir grinsen. Shakila kommt und umarmt Mick. Bevor er krank wurde, sind die beiden letztes Jahr zusammen gegangen.

»Du bist zurück«, lächelt Shakila. Ein Stück entfernt steht Tazim mit einem betrübten Gesichtsausdruck – sie hat Mick mal geküsst, aber es wurde nichts daraus.

»Ich bin nicht zurück«, sagt Mick. Ich schlucke.

»Was ist denn los?«, will Savio wissen.

»Die wollen für mich keine Nachprüfung im November organisieren. Stattdessen soll ich die zehnte Klasse wiederholen«, erklärt Mick.

»Arschlöcher«, sagt Savio.

»Und was willst du machen?«, frage ich ihn.

»Ich bin derjenige, der geht.«

»Wohin?« Die Frage kommt von Savio.

»Deutschland.«

»Was willst du denn da?«

»Ich kenne einen Deutschen, der sich auf der Technischen Hochschule in Köln einschreibt, und dann werde ich mit den Examenspapieren meines Kumpels dort auftauchen.«

»Cool«, meint Savio.

»Und wovon willst du leben?«

»Ich hab von meiner österreichischen Großmutter ein bisschen was geerbt, außerdem kann ich Gebrauchtwagen aufkaufen, reparieren und mit Profit wieder verscheuern.« Mick hat Motorräder zerlegt und repariert, bevor er auf ihnen fahren konnte. Und zwar auf die afrikanische Art – nur mit vorhandenem Material.

»Sprichst du denn deutsch?«

»Es reicht ein deutscher Pass«, grinst Mick. »Außerdem kann ich zwei Bier bestellen.« Aziz kommt dazu, ein schleimiger Inder aus Micks und Savios Klasse. »Hast du Arusha-bhangi dabei?«, flüstert Aziz Mick zu. Aziz raucht viel zu viel von dem Kraut.

»Nein«, sagt Mick.

»Sei ein Kumpel, Mick. Ich weiß, dass du was hast«, quengelt Aziz, der ständig mit irgendetwas zu handeln versucht.

»Verpiss dich«, erwidert Mick. Ich wünschte, er würde mich küssen.

Scheißding

Stunde um Stunde vergeht. Dann schleppe ich endlich meine Tasche am Riemen hinter mir her; den Betonflur entlang, der unter einem Vordach vor den Klassenräumen verläuft, damit wir während der Regenzeit nicht im Schlamm waten.

»Samantha«, sagt Mr. Harrison hinter mir. Ich bleibe stehen. Stehe still, ohne mich umzudrehen. Antworte nicht. »Geh ordentlich mit deiner Tasche.« Langsam drehe ich mich um.

»Wie geht man denn ordentlich?«

»Heb sie hoch«, sagt Mr. Harrison.

»Das bestimme immer noch ich. Das ist meine Tasche.«

»Aber es sind die Bücher der Schule.«

»Sind Sie sicher?«

»Willst du gern mit ins Büro?« Ich zucke die Achseln. Was soll ich machen? Das Gesicht verlieren? Ich bleibe stehen und drehe mich wieder um. Ein Haufen Schüler beobachtet uns. Dann zeigt sich ein Lächeln auf Harrisons Lippen. Er geht auf mich zu, nimmt mir den Riemen aus der Hand und legt ihn mir über den Kopf, greift nach meinem Arm und hebt ihn an, bis er auf der Tasche liegt, die nun an dem Schulterriemen zwischen meinen Titten hängt.

»So«, sagt Harrison und klopft mir auf die Schulter, bevor er ins Lehrerzimmer geht, ohne sich umzudrehen. Ich bleibe einen Moment stehen. Dann ziehe ich mir den Riemen über den Kopf und stelle die Tasche wieder auf den Betonboden.

»Samantha«, sagt Gretchen und schüttelt den Kopf.

»Willst du das Scheißding etwa tragen?«, frage ich sie und schleife die Tasche weiter hinter mir her. Plötzlich spüre ich einen Ruck – Svein hat der Tasche einen so heftigen Tritt versetzt, dass sie gegen die Wand fliegt. Den Riemen halte ich noch in der Hand.

»Idiot!«, rufe ich und wirbele die Tasche herum. Svein springt zur Seite, ich verfehle ihn, doch dann schwinge ich die Tasche noch einmal über dem Kopf und knalle sie Svein in den Nacken.

»Samantha!«, ertönt Mr. Thompsons Stimme – der stellvertretende Schulleiter. Alle bleiben stehen. Ich drehe mich um und sehe ihn an. »Ins Büro!«, befiehlt Thompson mit einer Kopfbewegung. »Du auch, Svein!« Svein protestiert. Ich zucke die Achseln, gehe zum Büro. Die Tasche schleppe ich über den Betonboden hinter mir her.

Silberkreuz

Beim Lauftraining der Fußballmannschaft habe ich mich in Stefano verliebt. Mit ein paar Mädchen wartete ich auf die Rückkehr der Läufer vom Zehnkilometerlauf. Ich und meine Zimmerkameradinnen: Tazim, eine lebhafte und nette Goa, und die Norwegerin Truddi, die mit ihrer Freundin Diana gekommen ist. Diana ist die Tochter eines korrupten Parlamentsmitglieds, dem die Leute den Spitznamen Mr. Zehn Prozent gegeben haben.

Der Italiener Stefano taucht als Erster auf der gegenüberliegenden Seite der vierhundert Meter langen Aschenbahn auf, die um den Fußballplatz verläuft. Jetzt muss er nur noch ins Ziel. Wir feuern ihn an. Baltazar läuft direkt hinter ihm. Baltazar ist groß und kohlrabenschwarz, der Sohn des angolanischen Handelsattachés. Stefano ist klein und kräftig, er läuft mit freiem Oberkörper … nein, er hat sein T-Shirt hochgeschoben und hinter den Kopf gezogen; es bedeckt seinen Nacken, damit er sich keinen Sonnenbrand holt. Ich sehe, wie seine Brust- und Bauchmuskulatur bebt, kein Gramm Fett an ihm. Der Oberkörper glänzt vor Schweiß. Er schaut sich um und lässt Baltazar näher kommen, hält aber ein paar Meter Abstand. Stefano läuft als Erster durchs Ziel, mit erhobenen Armen. Ich sehe deutlich das dunkle Haar in seinen Achselhöhlen. Das Kreuz an der Silberkette um seinen Hals ist auf der Brust festgetapt, damit es beim Laufen nicht herumhüpft.

»Mann, er ist einfach zum Anbeißen«, sagt Truddi neben mir. Stefano läuft auf uns zu.

»Hallo, Samantha!«

»Hallo.« Er greift nach meiner Hand, führt sie an seine Brust.

»Kannst du mir das Tape abreißen?«, fragt er.

»Klar«, sage ich und fasse vorsichtig an eine Ecke, spüre seine erhitzte Haut, reiße.

»Danke«, sagt Stefano.

»Wieso nimmst du die Kette nicht einfach ab, wenn du läufst?«

»Meine Mutter hat sie mir bei meiner Geburt umgehängt«, antwortet er. Und ich finde es einfach toll.

Am Abend geben wir uns hinter den Pferdeställen einen Zungenkuss.

Sistah, sistah

»Bist du wieder gesund?«, frage ich Christian, als ich ihn Freitag treffe. Er sieht ein bisschen blass aus.

»Wieso gesund? Ich war doch gar nicht krank.«

»Und was war diese Woche?«

»Ach, alles Mögliche … Chaos. Wir sind nach Moshi gezogen. Ich habe jetzt ein Motorrad.«

»Okay, dann kannst du mich ja mal mitnehmen. Und ich komm auch gern am Wochenende vorbei, wenn du was Ordentliches zu essen hast.«

»Natürlich«, sagt er und erklärt mir, wo er jetzt wohnt. Direkt an der Straße von der Schule in die Stadt.

Am Samstag gehe ich mit Tazim ins Stadtzentrum. Sie will zum Moshi Book Shop, um Briefpapier zu kaufen. Hinterher laufen wir durch die Kibo Arcade zu Zukar’s und kaufen samosas und mandazi: eine Art Doughnut, ein Stück Teig, der in Öl gesotten und in Zucker gewendet wird. Und tansanischen Tee mit Milch und Zucker. Die anderen weißen Mädchen kommen nicht hierher: »Wir kriegen bloß Magenschmerzen, weil alles so dreckig ist«, behaupten sie.

Wir vergessen die Zeit und verpassen den Pick-up zurück zur Schule. Da wir kein Geld fürs Taxi haben, müssen wir laufen.

»Wir könnten Christian besuchen und ihn bitten, uns nach Hause zu fahren«, schlage ich vor.

»Ja, okay.« Tazim seufzt. Wir gehen zum Arusha-Kreisel. In der Nähe stehen ein paar ziemlich große Burschen, Anfang zwanzig und schwarz, insgesamt fünf. Sie haben uns längst gesehen.

»Können wir keinen anderen Weg gehen?«, fragt Tazim.

»Wir müssen hier lang.«

»Aber …«

»Die tun dir nichts.«

»Bist du sicher?« Tazims Vater ist Geschäftsmann in Mwanza, transportiert Güter über den Victoriasee nach Uganda. Sie ist in Tansania geboren, aber es gibt kaum Kontakte zwischen Indern und Schwarzen.

Wir nähern uns den Burschen. Sie fangen sofort an.

»Sistah, sistah.« Als wir an ihnen vorbei sind, folgen sie uns. Tazim ist vollkommen panisch, sie schnappt nach Luft und bewegt sich ganz steif. Andere Leute sind nicht in der Nähe. Einer der Burschen greift nach meinen Haaren, berührt sie. Tazim sieht aus wie eine zum Tode Verurteilte. Jetzt wird sie vergewaltigt, verstümmelt und ermordet, und dann das Ganze noch einmal von vorn, bis sie schließlich roh gefressen wird. Ich drehe mich um.

»Ich bin nicht deine Schwester. Und hör auf, mich anzufassen«, sage ich auf Swahili. Es ist unglaublich lästig, aber so ist es nun mal – sie versuchen es einfach, wollen uns verunsichern. Die Burschen grinsen, bleiben stehen. Wir gehen weiter, um eine Ecke. Tazim fängt an zu schluchzen.

»Was ist denn?«, frage ich und nehme sie in den Arm.

»Ich hatte solche Angst.«

»Das sind doch nur ein paar Idioten.«

»Ja, aber ich dachte, jetzt …«

»Du hast doch nicht etwa geglaubt, die würden uns wirklich etwas tun?«

»Doch. Das … so was kann passieren.«

Kolonialistin

Wir kommen zu dem Haus, in dem Christian jetzt wohnt. Micks Bultaco 350cc steht draußen. Mick ist hier! Nein … er ist doch nach Deutschland geflogen. Mick hat seine beste Maschine verkauft, um in Deutschland ein bisschen Geld in der Tasche zu haben.

Christian ist allein zu Hause. Er fährt Tazim sofort zur Schule. Kommt zurück und wendet mit dem Motorrad auf dem Hof. Ich sitze auf einem Stuhl vor der Tür. »Soll ich dich auch hinfahren?«

»Ja, aber ich hab’s nicht eilig«, sage ich, ohne mich zu rühren.

»Okay.« Er schaltet die Zündung aus, steigt ab, klappt den Ständer herunter. »Kann ich dir etwas anbieten?«

»Zigaretten und Whisky«, sage ich. Er lacht.

»Der Alte schließt den Barschrank ab, aber Zigaretten kann ich besorgen. Cola?«

»Ja.« Er geht ins Haus. Ich folge ihm. Stehe hinter ihm, als er den Kühlschrank öffnet und eine Cola herausnimmt. »Ich will dein Zimmer sehen«, sage ich.

»Okay.« Er gibt mir die Cola, geht im Flur voraus. Der Koch steht im Wohnzimmer und bügelt. Ich stecke den Kopf hinein, grüße. Er fragt, ob wir etwas essen möchten. »Hast du Hunger?«, will Christian wissen.

»Klar.« Der Kühlschrank ist gut gefüllt.

»Ja, wir möchten etwas essen, danke«, sagt Christian in ziemlich gutem Swahili. Wir gehen in sein Zimmer. Er hat eine eigene Stereoanlage, groß. Einen ordentlichen Stapel LPs und eine Menge Kassetten. Er schaltet die Anlage ein. Eddy Grant.

»Zigaretten«, sagt er und zeigt dabei auf eine große, mit Kuhfell bezogene Trommel, die am Bett den Nachttisch ersetzt. »Bitte.«

Es sind Marlboro. Ich zünde mir eine an. Sie sind besser als die tansanischen Zigaretten, die im Hals kratzen, zu lose gedreht und zu trocken sind.

»Hmmm«, stöhne ich und lehne mich zurück, bis ich auf dem Bett liege, atme tief ein. Meine Brüste heben sich. Ich spüre, dass er hinguckt, obwohl mein Blick nur den Rauchringen folgt, die mein Mund ausstößt. »Die sind gut. Marlboro.« Er antwortet nicht. »Wo sind eigentlich deine Eltern?«

Vor ein paar Monaten gab es an der Schule ein Gerücht, Christians Mutter würde es in der Stadt mit einem anderen Mann treiben. Christian sagt noch immer nichts. Ich schaue zu ihm hinüber. Er steht am Fenster und starrt mich mit leeren Augen an, wobei er so fest an seiner Zigarette zieht, dass der Rauch seinen Kopf einhüllt.

»Meine Mutter spielt Kolonialistin bei einem holländischen Farmer am West-Kilimandscharo, und mein Vater säuft.«

»Deine Mutter ist … ausgezogen?« Ich habe sie ein paar Mal gesehen, wenn sie in der Schule war – eine hochgewachsene, hübsche Frau mit großen Brüsten, irgendwie aristokratisch. Christian saugt den letzten Rest Nikotin aus der Zigarette und tritt an den Tisch.

»Ja. Sie ist abgehauen«, sagt er, während er die Kippe im Aschenbecher ausdrückt. »Sie glaubt, er … Ach, Scheiße, was weiß ich. Sie glaubt wohl, dieser Farmer ist irgendwie mehr als mein Vater. Mehr … Mensch. Oder Mann.«

»Und, ist er das?«

»Woher soll ich das wissen?«, entgegnet Christian. »Ich bin schließlich erst siebzehn.«

»Fährt dein Vater jetzt schwarz?«

»Schwarzfahren?«

»Hat er angefangen, schwarzen Frauen nachzusteigen?«

»Ich weiß nicht«, erwidert er.

Motorrad

Ich höre einen Land Rover in der Einfahrt, jemand tritt hart auf die Bremse. Der Motor wird abgestellt, die Tür zugeworfen. Christian sieht mich an und beginnt zu zählen: »Eins, zwei, drei, vier, fünf …« Die Eingangstür klappt, und jemand fängt an, auf Dänisch zu brüllen.

»Übersetz«, fordere ich Christian auf.

»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dein Scheißmotorrad nicht mitten auf den Hof stellen sollst! Verflucht, das endet noch mal damit, dass ich es anfahre!«, wiederholt Christian, während sich Schritte nähern. Die Tür geht auf, es ist sein Vater, sauer. Bis er mich entdeckt. Er ist überrascht.

»Guten Tag«, sagt er, tritt zwei Schritte ins Zimmer und streckt die Hand aus. »Niels«, stellt er sich vor. Ich richte mich auf und schüttele seine Hand. Christian sagt irgendetwas auf Dänisch. Ich drücke meine Zigarette aus. Niels ist Mitglied des Verwaltungsrats der Schule. Sie bestimmen bei Vergehen, ob man eine Woche oder vierzehn Tage zu Hause zu bleiben hat oder ganz von der Schule geschmissen wird. Habe ich eine Raucherlaubnis? Nein. Aber das weiß er nicht, jedenfalls sagt er nichts, er sieht uns bloß an; seine fahle Haut, dieser gebrochene Ausdruck in den Augen: Suff, Kater, Müdigkeit.

»Karibuni chakala«, sagt der Koch auf dem Flur – das Essen ist fertig.

»Möchtest du mitessen?«, fragt Christians Vater.

»Natürlich möchte sie«, sagt Christian.

Wir gehen in die Küche, setzen uns an den Tisch, essen. Die Unterhaltung ist angestrengt. Irgendetwas mit der Schule, das Hotel in Tanga, Golf. Aber das Essen ist gut.

Hinterher fahren wir Motorrad. Ich fahre besser als Christian, aber das sage ich nicht. Wir kommen zur Lema Road. Ich habe keine Lust, zur Schule gebracht zu werden.

»Wollen wir in den Moshi Club fahren?«, rufe ich. Christian bremst und hält an der T-Kreuzung, an der die Lema Road rechts abgeht.

»Nein, keine Lust. Mein Vater wird bald hinfahren, um sich dort volllaufen zu lassen.«

»Dann lass uns einfach so herumfahren.«

»Okay.« Christian gibt Gas. Er fährt geradeaus, an der Abfahrt zum Moshi Club vorbei und die Serpentinen hinunter zur alten Eisenbrücke über den Karanga River. Die Fahrbahn besteht aus mehreren Schichten unterschiedlicher Planken, die nicht ordentlich befestigt sind; an mehreren Stellen kann man das zehn Meter unter uns fließende Wasser sehen. Christian fährt langsam, bis wir auf der anderen Seite wieder Asphalt erreichen, dann dreht er auf. Mein Körper wird nach hinten gezogen, ich verschränke meine Finger vor seinem Bauch, um mich festzuhalten. Durch den dünnen Stoff des T-Shirts fühle ich seine Bauchmuskulatur.

Sein Vater, meine Mutter. Der alltägliche Suff.

Wir fahren schnell – die Maschine und der Fahrtwind –, es hat keinen Sinn zu reden. Wir fahren an der Rückseite des Karanga Prison vorbei, und weiter in westliche Richtung. Wir begegnen einer Gruppe Strafgefangener in verwaschenen weißen Anzügen und ein paar Aufsehern. Sie tragen dunkelgrüne Uniformen und Gewehre. Die Gefangenen bessern den Straßenrand aus, unter den sich in der Regenzeit die Wasserströme graben. Wenn dann schwere Fahrzeuge darüber fahren, platzt der Asphalt auf. Weiße Gefangenenkleidung, darauf ist mitten in all dem Grün leichter zu zielen. Wenn wir weit genug fahren, treffen wir auf die Straße in Richtung Norden, zum West-Kilimandscharo, wo Christians Mutter jetzt wohnt.

Weiße Könige

Nach ein paar Kilometern führt die Straße durch ein Dorf. Christian hält vor einem Kiosk.

»Hast du Geld?«, frage ich ihn, denn ich habe keins.

»Ja.«

»Du hast immer Geld.«

»Ich klau’s meinem Alten.«

»Hast du keine Angst, dass er’s entdeckt?«

»Nein, dazu hat er zu oft einen Kater. Ich klaue ein paar Dollar oder ein paar Pfund, die herumliegen, und wechsle sie bei Phantom. Das ist der Schwarze mit dem kleinen Kiosk am Eingang vom Markt.«

»Der Rasta-Typ?«

»Genau.«

Wir trinken Limonade, rauchen Zigaretten.

»Die sind überhaupt nicht hier«, sagt Christian.

»Wer?«

»Meine Eltern. Die … Weißen. Das hat überhaupt nichts mit Afrika zu tun. Die bewegen sich zwischen ihrem Haus, dem Job, dem Club und den Häusern der anderen Weißen. Das Gefährlichste, was sie unternehmen, ist ein Marktbesuch mit dem Koch oder dem Gärtner an der Leine, damit er die Waren zurück zum Auto schleppen kann.«

»Was ist daran falsch?«

»Na ja … sie sind in Afrika – und sie haben nicht das Geringste mit den Afrikanern zu tun!«

»Glaubst du, sie verpassen was?«

»Tja, also …«

»Also was?«

»Dann hätten sie ebenso gut zu Hause bleiben können!«

»Nein, weil sie hier leben können wie die Könige«, widerspreche ich.

»Aber das hat nichts damit zu tun, Afrika zu helfen.«

»Hast du … deine Mutter mal gesehen?«

»Ich war mal oben – Marcus hat mich hochgefahren.«

»Und?«

»Sie ist jetzt eine weiße Farmersfrau. Superkolonialistin. Sie lebt es verdammt noch mal aus.« Er steckt sich eine weitere Zigarette an – ich glaube, um mich nicht ansehen zu müssen. Er raucht, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Soll ich von meinen Eltern erzählen? Nein, sein Päckchen ist ohnehin schon groß genug. Er sitzt vornübergebeugt auf der Bank, die Ellenbogen auf den Schenkeln. Mit einem Mal fängt er wieder an, als würde er mit sich selbst reden: »Und ganz plötzlich zeigt es sich, dass die eigenen Eltern Idioten sind. Also, sie sind … Kinder. Dumme Kinder, lächerlich.«

»Ja«, sage ich. »Ich will jedenfalls nicht so werden, wenn ich erwachsen bin – lieber werde ich überhaupt nicht erwachsen.«

»Du sagst es«, erwidert er tonlos.

»Sie haben mich als Baby hierher geschleppt, und jetzt, nach so vielen Jahren, reden sie darüber, mich nach England zu schicken. Würdest du gern wieder zurück nach Dänemark?«

»Weiß ich nicht so genau.«

»Schwer zu sagen, wie es da ist, oder?«

»Kalt«, sagt er.

»Ja.« Er dreht den Kopf, schaut mich von unten an und lächelt: »Willst du mal fahren?«

»Na klar.« Jetzt liegen seine Finger auf meinem Bauch. Ich lenke das Motorrad auf die Lema Road; wenn man schnell genug fährt, knallen die Reifen nicht in die Schlaglöcher – man fliegt geradezu darüber hinweg.

Der Fluss

Samstagnachmittag sitze ich mit Panos an der Flussböschung und rauche.

»Benimmt Stefano sich anständig?«, erkundigt sich Panos.

»Anständig?«

»Setzt er dich unter Druck?«

»Nein.«

»Okay«, sagt Panos.

»Wieso fragst du, ob er mich unter Druck setzt?«

»Ich kenne Stefano schon mein ganzes Leben. Wenn er sich nicht wie ein totales Arschloch aufführt, ist das immer so eine Art Gotteswunder«, erwidert Panos und geht.

Als ich zurück zum Kiongozi-Haus gehe, treffe ich Stefano am Fußballplatz, auf dem ein paar Typen kicken. Er streichelt meine Hüfte, küsst mich.

»Wir sehen uns heute Abend, Schatz«, sagt er.

»Ja.« Aus den Augenwinkeln bemerke ich, dass Truddi uns anstarrt.

»Und dann werden wir’s uns gemütlich machen«, fügt er hinzu. Ich antworte nicht. »Ich will nicht, dass du dich ständig mit Panos und Christian herumtreibst.«

»Panos ist mein Freund.« Die Tabakfarm von Panos’ Eltern grenzt an die Farm von Stefanos Eltern.

»Ja, aber jetzt bist du mit mir zusammen«, erklärt er.

»Ja, ja, natürlich.«

Während des Abendessens im Speisesaal stellt sich Owen neben mich, legt seine Hände auf den Tisch und beugt sich vor, bis er mir ins Gesicht sehen kann. Um uns herum verstummen alle, um zuhören zu können.

»Samantha«, sagt er. »Ich habe dich heute auf diesem Motorrad gesehen. Du bekommst eine Verwarnung. Und beim nächsten Mal Hausarrest.« Er sieht mich an, ich sehe ihn an.

»Okay«, antworte ich und blicke wieder auf meinen Teller, spieße ein Stück Bratkartoffel mit der Gabel auf, stecke es in den Mund, kaue. Owen steht noch immer neben mir. Ich würdige ihn keines Blickes. Ich werde ihm nicht seine kleinen machtgeilen Eier schaukeln.

»Beim nächsten Mal Hausarrest.«

»Okay.« Er verschwindet.

Eine Verwarnung, weil ich Motorrad gefahren bin. Wie banal.

Hormone

»Komm schon, Samantha. Nur ein bisschen anfassen«, quengelt Stefano. Wir liegen im Dunkeln auf dem Fußballplatz, die Lichter der Schule sind nur zu ahnen.

»Warum?«

»Ich liebe dich, wenn du es tust.«

»Nur, wenn ich es mache?«

»Nein, aber … komm schon.«

»Soll ich … mit der Hand?«

»Ja, fass ihn an.«

»Ich will ihn aber nicht anfassen.«

»Warum nicht. Er ist sauber.«

»Fass ihn doch selbst an.« Ich will lieber eine Zigarette.

Ich setze mich mit dem Rücken zu ihm. Wieso kann Stefano mich nicht einfach umarmen? Mir einen Kuss geben? Er denkt nur daran, wie er mich flachlegen kann, wie er an meine Titten kommt, wie er mich dazu bringt, seinen Schwanz anzufassen. Das hat nichts mit Gefühlen zu tun, das weiß ich genau. Er hat es nicht unter Kontrolle.

»Eine Zigarette«, sagt er, kuschelt sich in dem ausgedörrten Gras des Fußballplatzes an mich und holt eine Zigarette aus der Tasche. »Okay, hier«, er fasst um mein Handgelenk.

»Wo ist sie?«

»Mann, ich will sie dir doch gerade geben.« Er führt meine Hand.

»Iiih!« Sein steifer Schwanz an meinen Fingern; er hat sich die Hose heruntergezogen, das Geräusch hatte ich gehört. Ich stehe auf. Stefano lacht.

»Herrgott, Samantha, komm schon. Du hast es versprochen.«

»Davon habe ich nichts gesagt.« Ich bleibe mit verschränkten Armen stehen. Natürlich habe ich das nicht versprochen – Wunschdenken. »Zünd mir die Zigarette an.« Wieso kann er nicht einfach ein bisschen nett zu mir sein? Das brauche ich. Ich habe niemanden, mit dem ich reden kann. Vater ist ständig auf seinen sogenannten Geschäftsreisen, und Mutter geht in Tanga allmählich vor die Hunde – und wenn sie zusammen sind, streiten sie sich. Alison ist in England, Mick in Deutschland. Er wusste, wie man es macht. Er hat mich gestreichelt, mir nette Dinge gesagt, mich erregt. Stefano ist ein Trottel.

Das Zischen des Streichholzes ist weit zu hören. Ich schaue auf Stefano, der im Schein des brennenden Schwefels hockt. Er hat sich die Hose wieder hochgezogen. Jetzt hält er die Glut an die Zigarette und schüttelt das Streichholz aus, die Dunkelheit kehrt zurück. Konnte man den Lichtschein sehen? Wenn jetzt ein Lehrer erscheint, bekomme ich Hausarrest; ich habe bereits eine Verwarnung. Was dann? Aber vermutlich sieht die Glut eher aus wie ein Leuchtkäfer.

»Hier.« Er reicht mir die Zigarette und schirmt die Glut mit der hohlen Hand ab. Stefano, denke ich, Stroh im Arsch und Stroh im Kopf, aber er sieht wirklich gut aus: kompakt, stark, kohlschwarze Haare. Er geht in die Klasse über mir. Die Dunkelheit bewegt sich. Schritte. Ich lasse mich zu Boden fallen, behalte den Rauch im Mund. Stefano ist leise, legt sofort eine Hand auf die Innenseite meines Oberschenkels; jetzt kann ich nicht protestieren und mich nicht bewegen, sonst würden wir gehört. Vorsichtig stoße ich den Rauch aus. Die Dunkelheit ist undurchdringlich. Ich sehe nur die Gestalten, die sich in der Ferne im Licht bewegen. Die Schritte nähern sich.

»Er fragt ständig, ob wir zusammen gehen wollen«, sagt eine Stimme. Truddi. Wir wohnen im selben Zimmer, sie geht in die Parallelklasse, aber wir mögen uns nicht besonders.

»Aber du findest ihn doch gut, oder?«, sagt eine andere Mädchenstimme. Diana aus der Parallelklasse.

»Ja, schon, aber er kann mich doch nicht fragen, ob wir zusammen gehen wollen, er ist doch schon mit Samantha zusammen«, antwortet Truddi. Stefano zieht seine Hand von meinem Oberschenkel.

»Samantha ist so eine Nutte«, sagt Diana.

»Warte mal«, unterbricht sie Truddi. »Hier riecht’s nach Rauch.«

»Verschwindet«, presse ich heraus.

»Oh, Entschuldigung.« Diana und Truddi kichern, als sie sich entfernen. Ich glaube nicht, dass sie meine Stimme erkannt haben. Ich stehe auf und ziehe noch einmal an der Zigarette. Dann hole ich aus und gebe Stefano irgendwo einen Tritt.

»Au, verflucht, Samantha!«, stöhnt er. »Blöde Psychopathin.«

»Schwein!«, erwidere ich, werfe die Zigarette auf ihn und gehe. Ich spucke über die Schulter. Die Tränen fließen. Muss einen Umweg hinter das Kijani-Haus machen, damit ich nicht vom Fußballplatz auf Kiongozi zugehe. Truddi und Diana könnten dort sein, sie würden ahnen, dass sie meine Stimme auf dem Platz gehört haben. Wir müssen bald auf den Zimmern sein.

»Hallo, Samantha«, begrüßt mich Truddi zuckersüß. »Wo kommst du denn her?«

»Das geht dich gar nichts an.« Ich schiebe mich an ihr vorbei und gehe in unser Zimmer.

Gretchen liegt auf ihrem Bett und liest, sie liest immer. Gretchen kommt aus Deutschland, sie trägt eine dicke Brille und ist klug, blass und bescheiden bis zur Selbstaufgabe.

»Hallo«, grüße ich und greife nach meiner Zahnbürste.

»Hast du dich mit Truddi gestritten?«

»Ein bisschen.«

»Wieso könnt ihr euch nicht vertragen?«

»Ach, sie ist einfach so … unglaublich perfekt.«

»Das kann man aber so nicht sagen, Samantha.«

»Ich weiß, aber … ich könnte einfach nur kotzen, wenn ich sie sehe.«

Am Sonntag bleibe ich in unserem Zimmer und warte darauf, dass Stefano jemanden bittet, mich zu holen, damit er sich entschuldigen kann. Denn die Jungen dürfen nicht in die Mädchenhäuser. Aber es kommt niemand.

Ebenezer

Von sieben bis acht Uhr abends müssen wir in unseren Zimmern Hausaufgaben erledigen. Ich erkläre unserem Hausboss Minna, dass ich in die Bibliothek muss, um für eine schriftliche Aufgabe in Gemeinschaftskunde etwas nachzusehen. Wenn ich nicht auf dem Zimmer arbeite, notiert es Minna zunächst in einer Liste, dann wird in der Bibliothek festgehalten, dass ich tatsächlich dort gewesen bin. Aber wie ich herausgefunden habe, vergleichen sie die Listen nie – ich bin jedenfalls noch nie erwischt worden.

Auf den Gängen zur Bibliothek ist niemand. Ich nehme den Breezeway, den Quergang zwischen den drei Trakten mit den Klassenzimmern, bleibe hinter der Ecke des letzten Trakts stehen und zünde mir eine Zigarette an. Verberge die Glut in der hohlen Hand, als ich Schritte auf den trockenen Blättern höre.

»Nani?«, fragt eine Stimme – wer? Es ist Ebenezer, einer der Wachleute.

»Ich bin’s, Samantha«, antworte ich. »Komm, rauch ’ne Zigarette mit.« Er stellt sich neben mich in die Dunkelheit, ein scharfer Geruch nach altem Schweiß und Feuerholz.

»Du bist sehr schlimm«, sagt er und grinst, seine Zähne leuchten in der Dunkelheit auf.

»Ja«, sage ich und gebe ihm eine Zigarette, die er an meiner Glut anzündet. Wir unterhalten uns gedämpft über seine Familie und seine Felder. Ebenezer ist Soldat gewesen, 1979, während der Invasion Tansanias in Uganda. Als Nachtwache trägt er eine Massai-Keule im Gürtel, an der Schulter hängt ein Bogen, auf dem Rücken ein Köcher mit Pfeilen.

»Triffst du eigentlich jemand mit den Pfeilen, wenn es dunkel ist?«

»Vielleicht treffe ich. Vielleicht auch nicht. Aber der Dieb bekommt Angst, weil die Spitzen der Pfeile in Gift getaucht sind.«

»Wirklich?«

»Wirklich«, erwidert Ebenezer. »Wenn ich einen Dieb nur in den Arm treffe, kann er noch weglaufen, aber das Gift wird den Arm verfaulen lassen, und der Arzt muss ihn abschneiden.«

»Ist es tödlich?«

»Vielleicht, wenn ich ins Herz treffe«, meint Ebenezer.

»Ich habe keine Lust mehr auf Schule«, sage ich.

»Es ist wichtig, in die Schule zu gehen.«

»Ich will hier weg.«

»Das ist schade. Wenn du nicht mehr da bist, können wir keine Zigaretten mehr zusammen rauchen.«

»Okay«, lenke ich ein. »Dann bleibe ich noch ein bisschen.« Es ist wichtig, mit den Wachleuten gut auszukommen, damit sie nicht petzen, wenn man nachts unterwegs ist. Aber ich will nirgendwohin. Nach der Hausaufgabenstunde bleibe ich im Kiongozi-Haus – im Moment ertrage ich Stefano nicht.

Respekt

Im Kunstunterricht sollen wir auf unsere Hand gucken und sie mit der anderen zeichnen, aber ohne aufs Papier zu schauen. Vollkommener Schwachsinn.

»Können wir nicht nur Skizzen zeichnen?«, frage ich Miss Schwartz.

»Zeichne deine Hand, Samantha, das ist eine sehr wichtige Übung für die Auge-Hand-Koordination.«

»Skizzen sind aber spannender.«

»Da wirst du noch ein paar Jahre warten müssen.«

»Skizzen, wovon?«, will Svein wissen, einer der norwegischen Leimschnüffler.

»Nacktmodelle«, sage ich, schiebe die Brust vor und ziehe den Ausschnitt herunter, so dass der Brustansatz zu sehen ist. Von den indischen Mädchen kommen missbilligende Geräusche, die Jungen glotzen alle. Ein paar Mädchen aus den höheren Klassen haben mit uns gemeinsam Kunstunterricht, auf höherem Niveau. Eine von ihnen heißt Parminder. Sie sagt irgendetwas auf Hindi, und die anderen indischen Mädchen nicken. Sie ist ihre Anführerin, denn sie ist die Hübscheste – total feminin, Zöpfe bis zum Arsch.

»Willst du mir irgendetwas sagen, Parminder?«, erkundige ich mich.

»Tsk«, schnalzt sie.

»Es ist mein Körper, und damit kann ich machen, was ich will«, erkläre ich.

»Ich weiß, was du brauchst«, sagt Gulzar leise – ein indischer Bursche, der eine Klasse wiederholen muss, weil er nicht ganz richtig im Kopf ist. Seine Zwillingsschwester Masuma geht in die Klasse über uns. Gulzar greift sich unter dem Pult in den Schritt.

»Du solltest von etwas Großem und Harten durchgepflügt werden, ich hab so etwas für dich.«

»Halt’s Maul, du schleimiger Idiot.«

»Wie viel willst du dafür haben? Für ’ne schnelle Nummer?« Gulzar hört nicht auf.

»Was sagst du da?«

»Was ist bei euch los?« Jetzt ist auch Miss Schwartz aufmerksam geworden.

»Er soll aufhören, dreckiges Zeug zu mir zu sagen.«

»Samantha, du bist selbst schuld«, sagt Miss Schwartz.

»Das heißt aber nicht, dass er mit mir reden kann, als wäre ich eine Hure.« Die anderen hören auf zu arbeiten.

»Redet anständig miteinander«, fordert Miss Schwartz uns auf. Sie hat Gulzar nicht gehört.

»Er hat mich gefragt, wie viel ich haben will, um mit ihm zu ficken.« Miss Schwartz seufzt. Ich bin noch nicht fertig: »Er glaubt, Frauen seien seine Sklaven. Seine Mutter und seine Schwestern sollen ihm von morgens bis abends den Arsch abwischen. Und er glaubt, ich wäre eine Hure, die er behandeln kann wie Dreck. Und Sie sagen, das ist in Ordnung?« Jetzt grinsen die anderen. Panos, Tazim und die norwegischen Leimschnüffler ganz offen. Gretchen versucht es zu verbergen, wahrscheinlich, weil sie meint, dass ich zu weit gehe. Die indischen Mädchen starren auf die Tische, aber ich vermute, sie genießen jede Sekunde.

»Samantha, ständig provozierst du. Du bist herausfordernd angezogen.«

»Na und?«, erwidere ich. »Irgendetwas Schönes muss es doch geben, das man sich hier angucken kann.«

»Findest du das hübsch?«, fragt Miss Schwartz.

»Fragen Sie doch Gulzar.«

»Samantha, raus!« Miss Schwartz zeigt auf die Tür.

»Was?«

»Ins Büro.«

»Wieso?«

»Hinaus.« Ich erhebe mich und verlasse den Klassenraum. Miss Schwartz geht an mir vorbei, ich folge ihr.

»Was habe ich denn getan?«

»Es ist genug jetzt«, sagt sie, ohne sich umzudrehen. Ich muss draußen warten, während sie mit Owen spricht; sie kommt heraus und schickt mich hinein.

»Wir lassen uns dein Benehmen nicht gefallen, Samantha«, erklärt er.

»Ach ja?«, erwidere ich. Er seufzt.

»Auf dieser Schule respektieren wir einander. Wir haben unterschiedliche Religionen und Kulturen, aber wir leben hier alle zusammen. Du hast die Gefühle der anderen nicht zu kränken. Ich weiß, du provozierst gern, aber du darfst es nicht übertreiben.«

»Aber ich respektiere sie doch. Ich verlange nicht, dass sie so sind wie ich, aber ich habe mir auch nicht gedacht, so zu werden wie die.«

»Du kränkst sie mit voller Absicht, Samantha. Das lasse ich nicht zu. Ist das klar?«

»Die kränken mich auch, wenn sie nicht mit mir sprechen, nur weil ich hin und wieder mal einen Jungen küsse.«

»Ja, aber du musst sie ja nicht gerade von Angesicht zu Angesicht beleidigen«, sagt Owen.

»Das mache ich auch nicht. Sie müssen nur aufhören zu glotzen. Glauben Sie, ich bin nicht beleidigt, wenn die glauben, dass sie so viel besser sind als ich, und dann nicht mehr mit mir reden? Was?«

»Sie haben eine andere Kultur. Das musst du respektieren. In dieser Schule dreht sich sehr viel darum, dass wir lernen, die Kultur des anderen zu respektieren.«

»Nein. Es geht darum, dass ich ihre Kultur zu respektieren habe, während sie meine verachten dürfen. Die indischen Mädchen halten mich für eine Hure, und die indischen Jungs behandeln mich auch so.« Darauf weiß er keine Antwort. »Aber das bin ich nicht, schließlich nehme ich kein Geld«, füge ich hinzu. Er tut so, als hätte er es nicht gehört.

»Du hast bereits eine Verwarnung, Samantha. Und bei dem kleinsten Vorkommnis bekommst du vierzehn Tage Hausarrest. Ist das klar?«

»Ja.« Er gibt mir ein Zeichen, dass ich gehen darf. Ich bin auf dem Weg nach draußen. »Und Samantha«, sagt Owen hinter mir. Ich drehe mich um. »Ja?«

»Es ist nicht sonderlich klug zu rauchen, wenn man keine Raucherlaubnis hat – und schon gar nicht hinter meinem Haus.«

»Jawohl«, sage ich und gehe hinaus. Eigenartig. Woher weiß er das? Vielleicht hat sein Gärtner geplaudert. Na ja, er hat mich gehen lassen, ziemlich cool. Bis zur Pausenglocke sind es nur noch ein paar Minuten, also gehe ich nicht mehr zurück in die Stunde. Setze mich auf eine Bank am Speisesaal. Angela kommt vorbei.

»Hey, Samantha«, sagt sie und setzt sich. »Du siehst ja so betrübt aus.« Sie legt ihren Kopf schief.

»Schwänzt du?«, will ich wissen.

»Ja«, antwortet sie lächelnd. »Du ja offenbar auch. Aber glücklich siehst du nicht gerade aus.«

»Stefano behandelt mich wie ein Stück Dreck.«

»Wenn man mit einem Köter zusammen ist, wird man eben wie eine Hündin behandelt.« Sie umarmt mich. »Aber er sieht gut aus, das muss ich zugeben«, sagt sie und steht auf.

Owen kommt um die Ecke.

»Samantha. Vierzehn Tage Hausarrest von heute ab.«

»Aber wieso?«

»Schluss jetzt. Du bist zu weit gegangen. Du weißt, dass du zurück in den Unterricht zu gehen hast. Ich werde das nicht dulden.«

»Okay«, sage ich achselzuckend.

»Zurück in den Unterricht.«

»Aber den Hausarrest habe ich doch schon bekommen«, protestiere ich. Owen holt tief Luft, in diesem Moment klingelt es.

»Vierzehn Tage«, sagt er und geht.

Idiot.

Hausarrest