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Jakob Ejersbo

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Beschreibung

Der Abschluss der großen Afrika-Trilogie

Intensive Geschichten aus Afrika: Wir begegnen ihr erneut, der selbstzerstörerischen Samantha, aber auch der temperamentvollen Sofie, halb Dänin, halb Inuit, die sich auf dem afrikanischen Kontinent zum ersten Mal zu Hause fühlt. Wir steigen tief hinab in die afrikanischen Diamantminen, wo sich Kinder wie Erwachsene täglich unter erbärmlichen Bedingungen abrackern und auf bessere Zeiten hoffen.

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Seitenzahl: 541

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Jakob Ejersbo

Revolution

Erzählungen

Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg

Die dänische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Revolution« bei Gyldendal, Kopenhagen.

Die Übersetzung ins Deutsche wurde vom Danish Arts Council Committee for Literature gefördert.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2009 by Jakob Ejersbo und Gyldendal Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.Published by agreement with the Gyldendal Group Agency.Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-07974-1

www.btb-verlag.de

Punk Afrique

Grönland

Die Sterne sagen, dass ich dänische Hippies hassen, mich in einen französischen Fakir verknallen, Agent 007 in Marokko sein, in meiner Möse Gold schmuggeln, von Idi Amin beraubt werden und sechs verschiedene Arten von Würmern in meinen Eingeweiden herumtragen werde, von denen der siebte etwas ganz Besonderes ist.

Ich heiße Sofie Naasunnguaq Petersen und wurde 1955 in Upernavik, Nordgrönland, geboren. Meine Mutter ist Grönländerin, mein Vater Däne. Wir leben wie Dänen und reden auch Dänisch zu Hause. Wir wohnen in einem schönen Haus mit Zentralheizung, Strom und mehreren Zimmern. Die Grönländer wohnen in kleinen Holzhäusern, die für sie gebaut wurden. Sie leben in einem Zimmer und schlafen alle im selben Bett, außerdem haben sie unglaublich viele Kinder. Vielen Leuten geht es richtig schlecht. Der Alkoholkonsum ist gigantisch. Überall Not und Elend. Aber wir gehören zur Oberklasse. Mein Vater leitet sämtliche Werke der Stadt: das Elektrizitäts- und Wasserwerk, die Schiffswerft und den Steinbruch. Er hat viele Leute unter sich, aber sie kommen zur Arbeit, wie der Wind weht. Und dann gibt es noch die anderen Dänen, die dafür sorgen, dass die Gesellschaft funktioniert: der Arzt, die Lehrer, der Post- und Telegrafenmeister. Grönländer sind im Grunde Jäger – ein gestrandetes Nomadenvolk. Sie bauen ihre Kajaks und fangen Seehunde.

Meine Mutter hat viele grönländische Freundinnen, die uns besuchen kommen. Immer sitzen sie in der Küche, im Wohnzimmer sind sie nicht gern. Es ist kein besonders vornehmes Wohnzimmer, wir haben nur ein gewöhnliches Wohnzimmer, in dem wir es uns gemütlich machen und Radio hören. Aber wenn Grönländer zu Besuch sind, sitzen sie immer in der Küche und essen grönländische Gerichte. Mein Vater will nicht, dass grönländisches Essen ins Wohnzimmer kommt. Er findet, es stinkt – es riecht nach Tran. Wir Kinder bekommen von Mutter auch grönländische Speisen. Vater ist ein begeisterter Jäger und geht in seiner Freizeit fischen. Er ist ein richtiger Pfadfinder, er fängt wilde Vögel. Einmal hat er sogar einen Seehund gefangen, Mutter hat ihn auf dem Küchenboden ausgenommen. Allerdings isst Vater keinen Speck.

Ich spreche kein Grönländisch. Anfangs habe ich ein bisschen gelernt, aber ich habe aufgehört, noch bevor ich in die Schule kam. Die grönländischen Kinder verstehen genug Dänisch, um mit ihnen spielen zu können. Wenn die Erwachsenen schnell Grönländisch sprechen, verstehe ich nichts. Manchmal glaube ich, ein bisschen zu verstehen, aber wenn ich eine Frage beantworte, lachen sie, weil ich einfach so ins Blaue hinein antworte. Also versuche ich es gar nicht mehr, sondern halte mich eher an meinen Vater.

Privat haben die dänischen Vollblutfamilien keinerlei Kontakt zu den Grönländern. Dänen und Grönländer besuchen sich nie zu Hause. Aber viele dänische Familien haben eine kifak – ein junges Hausmädchen –, die den Boden schrubbt, die große Wäsche erledigt und andere grobe Arbeiten verrichtet.

1962 beginne ich in der ersten Klasse. In der Schule gibt es ein paar grönländische Lehrer, aber Unterrichtssprache ist ausschließlich Dänisch. Alle übrigen Lehrer sind Dänen. Ich gehe mit den dänischen Kindern aller Klassenstufen gemeinsam in eine dänische Klasse. Die grönländischen Kinder werden separat unterrichtet, aber sie kommen unglaublich langsam voran, weil sie kein Dänisch verstehen. Erst in der vierten Klasse haben wir gemeinsamen Unterricht. Ich bin nicht gut in der Schule. Ich träume. Ich gucke aus dem Fenster. Ich erledige nie meine Hausaufgaben, weil es zu Hause niemanden interessiert. Mein Vater ist der Ansicht, dass der Teufel die Schullehrer erschaffen hat. Und meine Mutter ist nur vier Jahre zur Schule gegangen. Was sollen ihre Töchter mit einer Ausbildung? Sie kommt doch ausgezeichnet zurecht. Wir sollen bloß froh sein, wenn uns irgendjemand heiraten will.

Ich habe eine Freundin, sie heißt Uvalu und kommt nachmittags zum Spielen zu mir. Eines Nachmittags hat mein Vater zu Hause etwas zu erledigen. Normalerweise kommt er immer ziemlich spät, erst kurz vor dem Abendessen. Er öffnet die Tür des Kinderzimmers und bemerkt Uvalu.

»Äh … hey«, sagt er. Ich sehe, wie er zusammenzuckt, und werde nervös, was geschieht jetzt?

»Guten Tag, Herr Petersen«, grüßt Uvalu.

»Hey, Papa«, sage ich.

»Spielt ruhig weiter«, erwidert er lächelnd und schließt die Tür. Ist etwas nicht in Ordnung? Später gehen wir zum Spielen nach draußen, und ich vergesse den Vorfall, bis wir gegessen haben und Vater sich aufs Sofa setzt.

»Sofie, komm mal her.« Ich setze mich neben ihn, er legt mir einen Arm um die Schulter. »Sofie, du sollst die grönländischen Kinder nicht mit nach Hause bringen.«

Aber ich bin doch Grönländerin, weil Mutter eine Grönländerin ist.

»Warum nicht?«

»Sie müssen nicht sehen, wie schön wir wohnen«, sagt er. »Sie werden sonst bloß traurig.«

»Wieso sollten sie traurig werden?«

»Weil wir so schön wohnen, und sie müssen in den kleinen, schlechten Häusern leben.«

Ich erwidere nichts, finde es aber sehr eigenartig. Vielleicht sind sie ihm nicht vornehm genug?

Meine Eltern haben sich 1950 auf einem Schiff kennengelernt, als Vater unterwegs nach Grönland war. Es gab ein Klavier an Bord, und Vater hatte seine Gitarre dabei. Meine Mutter spielte Klavier. Hübsche Musik. Sie hatte in Dänemark eine Buchbinderlehre beendet und wollte nun ihre Familie besuchen. Sie hat in einer Firma gelernt, in der sie winzig kleine Bücher von Hans Christian Andersen gebunden haben, mit einem einzigen Märchen in jedem Buch. Sie konnte nie in ihrem Beruf arbeiten. Auf Grönland werden keine Bücher gebunden. Sie heiratete und bekam meine beiden großen Schwestern, dann mich.

Meine Mutter ist hundertprozentige Grönländerin, beide Eltern sprechen nur Grönländisch. Aber in der Familie meines Großvaters gab es einen Norweger und in der Familie meiner Großmutter einen Deutschen. Und ein Zweig der Familie meiner Mutter kann sich ab 1775 auf dänisches Blut berufen. Mein Großvater ist tatsächlich blauäugig, und meine Großmutter hat Locken – so etwas gibt es bei Grönländern nicht, es muss also ziemlich viel weißes Blut dabei sein.

Als meine Mutter ein Kind war, arbeitete ihr Vater als Katechet, also als Hilfsprediger, und danach als Schullehrer. Er bekam seinen Lohn in Geld ausbezahlt. Damals hatten die meisten nur das, was sie fingen, und vielleicht ein bisschen Geld von dem Teil des Fangs, den sie verkaufen konnten, aber das war sehr wenig. Man kann also schon sagen, dass Mutter aus einer wohlhabenden Familie stammt, obwohl sie sechzehn Kinder waren – Großvater brachte vier Kinder aus erster Ehe mit und bekam zwölf mit Großmutter. Jetzt sind sie sehr alt. Sie wohnen noch immer in dem kleinen, grauen Haus, das hinter der alten Kirche von Nuuk steht. Ein Wohnzimmer, eine Küche und ein erster Stock mit zwei Zimmern.

Großvater sagt, Mutter hätte schon immer »soziale Ambitionen« gehabt. Jedenfalls wollte sie keine arme Grönländerin mit einem Trinker als Mann werden. Und tatsächlich hat sie zu Hause das Heft in der Hand. Wir müssen ordentlich sitzen, anständig sprechen, die Knie aneinanderlegen und gute Hausfrauen werden – jedenfalls meine großen Schwestern. Ich hab’s leichter, weil ich die jüngste und Vaters Augenstern bin. Meine großen Schwestern haben ihre festen Pflichten im Haushalt, auch bei den großen, schweren Sachen. Sie müssen bei der großen Wäsche an den Holzzubern helfen, wo alles mit der Hand ausgewrungen wird. Aber dann bekommt Mutter als Erste in der Stadt eine Wringmaschine und eine Waschmaschine, denn Vater ist schließlich gelernter Maschinenarbeiter und Leiter des Elektrizitätswerks der Stadt und kennt sich in technischen Dingen aus.

1964 ziehen wir nach Holsteinsborg an die Westküste Grönlands. Meine Eltern haben ein kleines Tanzorchester, und jeden Freitag und Samstag ist Tanz im Versammlungshaus, in dem ein Klavier steht. Ich bin nicht alt genug, um mitzukommen, aber meine großen Schwestern nehmen mich mit, und ich darf durchs Fenster gucken. Der Raum ist voller Menschen. Vater und Mutter spielen Polka auf dem Klavier und der Gitarre, ein Däne spielt Schlagzeug, und alle tanzen und lachen. Als wir nach Hause gehen, hören wir einen Mann, der sich übergibt. Meine Schwestern gehen einfach weiter.

»Wir müssen ihm helfen, er ist doch krank«, sage ich. Sie lachen, als einige streunende Hunde in seine Richtung laufen.

»Er ist bloß besoffen«, sagt meine älteste Schwester. »Jetzt rennen die Hunde hin und fressen seine Kotze.«

Zu Hause im Wohnzimmer steht auch ein Klavier, dort übt das Orchester – meine Eltern und ein paar von den dänischen Männern, die Schlagzeug und Bass spielen können. Meine älteste Schwester darf The Girl from Ipanema singen.

Jeden Sommer steigt die Einwohnerzahl der Stadt auf mehr als das Doppelte an, weil aus Dänemark Handwerkerkolonnen kommen und in kürzester Zeit fünf Häuserzeilen hochziehen. Kleine Reihenhäuser aus Holz, in denen die Grönländer wohnen sollen. Kein Grönländer ist am Bau beteiligt. Die Dänen arbeiten vierundzwanzig Stunden im Schichtbetrieb, schließlich ist es die ganze Zeit über hell – angefangen wird, sobald der Boden frostfrei ist. Die meisten Männer sind Junggesellen. Am Wochenende laufen sie Amok. Die Handwerker saufen wie die Schweine und benehmen sich wie die Affen. Und die grönländischen Mädchen laufen ihnen hinterher, weil die Handwerker Geld haben und sie sich gratis besaufen können. Für einen dänischen Schwanz bekommen die Mädchen ein warmes Bett zum Schlafen und vielleicht auch eine Mahlzeit. Barackenmädchen und Hafenmädchen. Die jungen Männer aus der Stadt sind verbittert, bei den Tanzveranstaltungen am Wochenende kommt es zu Schlägereien. Einige der Dänen heiraten ein Mädchen und bleiben viele Jahre in der Stadt, oder sie nehmen ihre Frau mit nach Dänemark. Das sind die anständigen Männer. Die meisten aber schwängern die Mädchen nur und verschwinden wieder.

Ich sehne mich danach, in die Zivilisation zu kommen. Jedes Jahr werden einige große Jungs auf die Technische Hochschule nach Dänemark geschickt; zwei Jahre später kommen sie zurück. Sie sind unglaublich interessant – schick, moderne Kleidung, neue Frisuren. Sie bewegen sich anders, reden anders und haben etwas an sich, das auch ganz anders riecht. Man erkennt es nicht sofort. Aus der Entfernung beobachte ich sie mit meiner Klassenkameradin Malo.

»Ich glaube, das ist Anton«, sagt Malo.

»Anton? Nee, ist er’s wirklich?«

»Ich bin nicht sicher«, sagt Malo.

»Er sieht gut aus.«

»Ja.« Wir wagen es nicht einmal, den Burschen anzusprechen, so hot ist er.

In den dänischen Frauenillustrierten meiner Mutter sehe ich eine Menge Bilder – Fotos von Hippies, Burschen mit langen Haaren, Blumenkindern. Irgendetwas Neues entsteht da. Und ich möchte dabei sein. Anton verblasst ziemlich schnell. Das schicke neue Zeug wird alt, Familienmitglieder stehlen ein bisschen, und bald sieht er wieder so schäbig und heruntergekommen aus wie früher.

Dänemark

Ich habe die siebte Klasse in Holsteinsborg beendet. Ich bin zwölf Jahre alt, und bevor Vater seine nächste Stelle antritt, fahren wir ein halbes Jahr nach Dänemark in Urlaub. Wir wohnen bei der Schwester meines Vaters und in einem gemieteten Ferienhaus. Ich werde dreizehn, und ein paar Tage, bevor sie nach Hause fliegen, bringen sie mich zur Sejrgårdschule in Tølløse.

»Auf Wiedersehen!«, verabschiede ich mich und winke hastig. Jetzt ist es so weit. Ich stürze mich in die neue Welt. Aber die Dänen versetzen mir einen Schock.

»Na, bei euch im Dorf gab’s offenbar genug Seehundspeck«, sagt ein älterer Schüler zu mir, kneift mich in die Wange und grinst. Ich schäme mich und habe Angst. Ich gehe auf die Toilette, weine und betrachte mich im Spiegel. Ich bin eine halbe Grönländerin, mit dicken Wangen und glattem schwarzen Haar. Aber ich spreche Dänisch und habe als Dänin in Grönland gelebt. Aber hier klingt Dänisch so merkwürdig und anders. Die Dänen reden sehr hart miteinander. Großmutter hat mir erzählt, dass die ersten Grönländer, die im 18. Jahrhundert nach Dänemark kamen, am Schock starben. Auf der Schule gibt es noch andere Halbdänen aus Grönland – wir alle sind Außenseiter. Ich versuche, mit einem dänischen Mädchen in Kontakt zu kommen.

»Du stinkst nach Pisse«, sagt sie.

»Was meinst du?«

»Ihr Grönländerweiber wascht eure Haare doch mit Pisse, ihr seid einfach eklig.« Sie dreht mir den Rücken zu und geht. Noch nie hat jemand so etwas zu mir gesagt.

Das einzig Vertraute an der Schule ist das Klavier in der Aula. Im ersten Jahr spiele ich, so oft ich kann. Um mich zu verstecken.

Nach einiger Zeit entkomme ich meiner Isolation. Ich habe eine Form der Verteidigung gefunden, extreme Arroganz: Ich benehme mich würdevoll – kalt, aufrechter Gang, die Nase nach oben. Freundlich und sachlich, aber unnahbar. Man soll mir nicht zu nahe kommen. Man soll es nicht einmal versuchen.

Glücklicherweise gibt es an der Schule sehr viele Auslandsdänen; ihre Eltern sind Botschafter in Indien oder Malaysia, oder es sind Kinder von Entwicklungshelfern, die in Afrika arbeiten. Wir haben etwas gemeinsam, wir alle sind nicht in Dänemark aufgewachsen, obwohl wir Dänen sind. Allerdings stammen die meisten Schüler aus Kopenhagen und Frederiksberg, vor allem aber aus den vornehmen Orten an der Øresund-Küste. Ihre Eltern sind Direktoren, die keine Zeit für ihre Kinder haben: Vater muss sich um seine Karriere kümmern, und Mutter sitzt bei einer Gesichtsmaske und lässt sich maniküren, wenn sie nicht gerade shoppen ist. Wir reden nicht über unsere Eltern, aber wenn diese Schüler nach dem Wochenende zurückkehren, bringen sie eine Menge neuer Klamotten mit. Ihre Eltern fahren große Autos und sind sehr hübsche Menschen.

Im Sommer fliege ich in den Ferien nach Hause; jetzt bin ich fremd und interessant. Ich stopfe mich mit dem Essen aus Mutters Fleischtöpfen voll und betrinke mich mit meinen alten Freunden, in den hellen Nächten zünden wir ein Feuer am Strand an. Anton entjungfert mich auf einer Wiese mit Sommerblumen.

Nach vier Jahren auf dem Internat von Tølløse habe ich meinen Realschulabschluss und ziehe nach Kopenhagen; mein Vater hat mir einen Ausbildungsplatz als Bürokraft im Grönlandministerium besorgt. Im Januar 1973 beginne ich bei Grønlands Tekniske Organisation, einer Unterabteilung des Ministeriums, das seine Büros am Hauser Plads hinter dem Kultorvet hat.

Das Durchschnittsalter im Grönlandministerium liegt bei sechzig Jahren, und ich bin die einzige Auszubildende. Ich schließe keine Freundschaften, aber alle sind unglaublich nett, einige sogar fantastisch. Okay, es gibt die eine oder andere weibliche Bürokraft, die fürchterlich prüde ist – einheimische Dänen, die nie in Grönland waren. Aber die meisten sind alte Grönlandfahrer, die jahrelang dort gearbeitet haben. Sie sind total tolerant und reißen untereinander jede Menge Witze, es herrscht eine gute Stimmung. Allerdings arbeiten hier keine Grönländer – ich bin diejenige, die noch am ehesten so aussieht.

Ich bin ein kleiner Hippie und laufe in geblümten Hemden, John-Lennon-Brille und Clogs herum, aber das ist in Ordnung, das darf man im Ministerium. Nebenher besuche ich die Handelsschule, während ich mich durch die verschiedenen Abteilungen des Ministeriums arbeite: die Textstelle, den Kopierraum, die Post, das Archiv und das Rechnungswesen, das mir allerdings nicht so gut gefällt. Ich lerne stenografieren, ich bin gut bei der Ablage und hervorragend im Päckchenpacken. Eine Weile arbeite ich auch am Telex und schreibe direkt nach Grönland.

Ich bin achtzehn Jahre alt und kenne in Kopenhagen nicht einen Menschen. Viele Mitschüler im Internat waren Auslandsdänen und sind dorthin gezogen, wo ihre Eltern arbeiten, ein paar sind auch auf das berühmte Gymnasium von Herlufsholm gegangen. Aber ich will nicht aufs Gymnasium, eine akademische Ausbildung interessiert mich überhaupt nicht, ich verabscheue sie.

Meine Eltern haben mich weder vorbereitet noch irgendetwas getan, um mir zu helfen. Mein Vater hat mir die Ausbildungsstelle besorgt, den Rest muss ich selbst herausfinden. Glücklicherweise hat einer der älteren Schüler des Internats mir erklärt, dass man die Kleinanzeigen in der Zeitung lesen muss, wenn man in der Stadt ein Zimmer haben möchte; ich selbst weiß nicht, wie man es anstellt. Und ich habe keine Lust, meine großen Schwestern zu fragen. Die älteste ist mit einem Maurer aus Brønshøj verheiratet und will nur Kinder und gebratene Frikadellen. Und die andere hat nie Zeit, um sich mal mit mir zu treffen. Ich habe sie abgeschrieben – sie ist versnobt und findet es »verwerflich«, dass ich Hippie bin.

Das erste Zimmer, das ich mir ansehe, liegt in einer großen Wohnung in Frederiksberg. Die Tür wird von einem mürrischen alten Weib geöffnet. Argwöhnisch beäugt sie mich.

»Na, wo kommst du denn her?«

»Nun ja, ich bin eine Dänin aus Tølløse«, antworte ich. Das ist zumindest fast korrekt, obwohl meine Mutter Grönländerin ist. Allerdings bekomme ich während des ersten Monats einige Briefe aus Grönland, und die Alte wird misstrauisch.

»Bist du Grönländerin?«, will sie wissen.

»Nein, aber meine Eltern arbeiten dort«, sage ich. Ein paar Tage später klopft es an meiner Tür. Ich öffne.

»Ich möchte, dass du am nächsten Ersten ausziehst«, erklärt die Alte.

»Aber warum?«

»Du räumst in der Küche nicht ordentlich hinter dir auf.«

»Ich verspreche, mich zu bessern.«

»Außerdem lügst du. So seid ihr.«

»Wie meinen Sie das?«

»Du hast mir erzählt, du bist Dänin. Aber du siehst merkwürdig aus. Du bist keine richtige Dänin.«

»Und was sonst?«

»Jedenfalls will ich dich hier nicht haben. Am nächsten Ersten bist du verschwunden«, erklärt sie und geht. Inzwischen habe ich herausgefunden, wie es funktioniert. Ich gehe ins Use it im Jungendzentrum Huset in der Magstræde. Dort gibt es einen Zimmernachweis, mit deren Hilfe finde ich ein anderes Zimmer in Frederiksberg; ganz oben unterm Dach des ältesten Hauses im Stadtteil. Es hat Zentralheizung, im Zimmer steht ein Riesenheizkörper. Allerdings besteht der Raum in Wahrheit nur aus Bretterwänden, und der Wind pfeift durchs Dach und die Wände. Ich erkälte mich. Und ich mag mir auch nichts kochen. Zu Hause habe ich es nicht gelernt, und jetzt kann ich endlich selbst bestimmen, wann ich essen will – allerdings habe ich nie besonders gern gegessen. So ist es nun mal. Und dann vergesse ich es oder lasse es, und irgendwann bei der Arbeit falle ich einfach um, weil ich zu lange nichts mehr gegessen habe; außerdem befinde ich mich fast in einem Schockzustand, weil ich total einsam bin. Das erste halbe Jahr in Kopenhagen ist das reine Elend. Wenn ich nicht arbeite, schlafe ich.

Eines Tages schneit es, und ich denke an meine älteste Schwester in Brønshøj. Eigentlich würde ich sie gern einmal wiedersehen. Ich nehme den Bus, und als Erstes erklärt sie mir, dass ich am Seepavillon oder im Damhuskro einen Freund finden könnte.

»So habe ich das gemacht, da kommen immer sehr viele Handwerker«, sagt sie.

»Wer sagt, dass ich einen Handwerker zum Freund haben will?«

»Ich versuche nur zu helfen.« Ich trinke meinen Kaffee aus, verabschiede mich und ziehe den Mantel an. Als ich gehe, kommt ihr Maurer nach Hause.

»Hast du einen Freund gefunden?«, lautet seine erste Frage. Das ist offenbar die gemeinsame Ebene.

»Nein.«

»Ich kenne da einen Elektriker, der in Grönland gearbeitet hat«, sagt der Maurer. »Ihm gefallen grönländische Mädchen.«

»Ah ja?«

»Kochst du genauso gut wie deine Schwester?«

»Ich kann überhaupt nicht kochen.«

»Hm«, sagt er.

»Adieu!«, grüße ich und stapfe durch den Schnee davon.

Hippies

Das Frühjahr kommt, und die Stadt öffnet sich für mich. Den ganzen Winter bin ich wie ein Zombie durchs Ministerium gelaufen und habe enorm viel geschlafen. Nun gehe ich auf die Fußgängerzone Strøget. Straßenhändler, Zauberkünstler und Musikanten – Straßenleben. Ich bleibe stehen und starre auf die Gitarre eines Mannes.

»You like my guitar?« Ich sage ja und frage, ob ich sie ausprobieren darf; ich überrasche ihn mit einer dänischen Volksweise, die mein Vater mir beigebracht hat.

»Dulcimer Chuck aus San Francisco«, stellt er sich vor und gibt mir die Hand.

»Sofie aus Grönland.« Er spielt auch auf einem vierseitigen Instrument aus den Appalachen, das Dulcimer heißt. Wir gehen ins Huset und hinterher in Sofies Keller, trinken Bier und reden; am nächsten Tag treffen wir uns wieder, und schon bald liegt er in meinem Bett.

Chuck erzählt, dass er in West-Tennessee aufgewachsen ist, er hat georgische Vorfahren und ein Achtel indianisches Blut in sich, denn sein Urgroßvater, ein Pferdedieb, hat eine Cherokee-Squaw geheiratet.

Ich erzähle ihm, ich sei Grönländerin, vermischt mit Seeleuten, Walfängern, Entdeckungsreisenden, Händlern und Missionaren. Und ich nehme ihn nicht einmal auf den Arm, als ich das erzähle.

»Das Blut reist in der Welt herum, um neues Blut zu finden und sich zu vermischen«, erklärt Chuck und greift nach mir. Dann vögeln wir noch einmal. Es ist schön.

Durch Chuck lerne ich all die anderen Straßenmusiker kennen. Meist Ausländer: Amerikaner, Franzosen, Deutsche, Italiener und alle möglichen anderen Nationalitäten. Ich bin glücklich. Ich habe wieder Freunde. Es ist lustig, eine richtig gemütliche Hippiestimmung. Ich kaufe mir eine gebrauchte Gitarre und fange an, mich an die Lieder zu erinnern, die mein Vater mir als Kind beigebracht hat. Die Beziehung zu Chuck hält nicht sonderlich lange, aber wir bleiben weiterhin gute Freunde, doch jetzt bin ich dabei, und es gibt jede Menge anderer Hippies, darunter natürlich auch sehr viele Dänen. Das ist unerfreulich. Die dänischen Hippies sorgen für die größte Enttäuschung meines Lebens. Ich habe davon geträumt, sie kennenzulernen, seit ich die ersten Fotos der Blumenkinder in den Illustrierten meiner Mutter in Grönland sah. Auf der Schule sagte ich mir, nur kleinbürgerliche Rotznasen sind dumm und voller Vorurteile. Aber die Hippies sind genauso. Ich sitze am Tresen in Sofies Keller und unterhalte mich mit einem dänischen Hippie in einer afghanischen Pelzjacke, einem Isländer-Pulli, viel Schmuck und langen Haaren. Mehrere Stunden reden wir total locker zusammen. Die Intimität wächst, wir glauben beide an Utopia, keine Grenzen, alle Menschen sollen sich vereinen, wir sind einfach eine große glückliche Familie, die eine große glückliche Welt aufbaut, in der alle gleich und glücklich sind. Der Typ hat eine Hand auf meinen Schenkel gelegt und beugt sich vor.

»Woher kommst du, Sofie«, flüstert er.

»Upernavik«, flüstere ich zurück. »In Grönland.« Und schon ist Schluss. Der Liebhaber des Friedens dreht mir den Rücken zu und redet mit jemand anderem.

»Hallo?«, sage ich. Keine Reaktion. »Was ist los? Wir haben uns doch gerade so gut unterhalten?« Er steht auf und geht. Es tut verdammt weh. Grönländer stehen in dem Ruf, Säufer zu sein, ihre Frauen sind dreckige Huren mit Läusen. Ich spüre, dass mir die Tränen kommen, ich laufe hinaus und gehe mit geballten Fäusten nach Hause. Alle Hippies gehen auf die Universität und sind krank im Kopf. Sie sind verrückt nach Indien und Spiritualität, Afrikas Unabhängigkeit und internationale Solidarität; ja, es ist ja auch nicht schön, wie die Neger in der Kolonialzeit behandelt wurden, und all dieser Scheiß. Das alles vereinnahmen die Hippies kritiklos, aber über Grönländer haben sie eine knallharte Meinung in ihrem Kopf. Sie sehen nicht, dass in mir ein Mensch steckt, auch wenn ich aus Grönland komme.

Ich rede mit Chuck.

»Wenn ich sage, ich stamme aus Grönland, starren die Dänen mich an, sobald ich auch nur eine Bierflasche an den Mund setze. Als würde ich ihrer Meinung nach Flüche, Syphilis und Erbrochenes verspritzen.« Chuck schüttelt den Kopf.

»Die Hippies glauben, sie hätten sämtliche kleinbürgerlichen Werte über Bord geworfen. Aber unter der Oberfläche sind sie noch immer total von der Erziehung ihrer Eltern geprägt: scheißpuritanisch und borniert. Alle Hippies reden über neue Ideen und haben Vorstellungen, was alles zu verändern ist. Aber sie können es nicht leben. Sie wissen nicht, wie sie anfangen sollen. Das Kleinbürgertum steckt ihnen zu sehr in den Knochen«, meint Chuck.

»Aber warum hassen die Hippies mich, nur weil ich aus Grönland komme?«

»Genauso ist es mit den Indianern in den USA«, erwidert er. »Die Hippies laufen in Indianerklamotten herum, obwohl sie die Indianer im Grunde genommen hassen.«

»Versteh ich nicht.«

Chuck lacht. »Die Hippies spüren, dass die Indianer richtig geboren wurden – in Harmonie mit Mutter Erde –, während die Hippies nur versuchen, richtig zu werden. Und tief in ihrem Inneren wissen sie genau, dass sie keine Chance haben, weil sie durch ihre kleinbürgerliche Herkunft unwiderruflich korrumpiert sind.«

Ich bin Chuck aus alter Freundschaft verbunden, aber er hat ein anderes Mädchen, deshalb gehe ich auch weiterhin in Sofies Keller. Doch es wiederholt sich. Scheißdänen. Ich komme aus der Kolonie, und der Kolonialherr muss mich offensichtlich als Untermenschen sehen, aus Selbstschutz, um sich selbst nicht als Ausbeuter zu empfinden.

Die Heuchelei der dänischen Hippies stößt mich dermaßen ab, dass ich in ganz normale Kneipen gehe, wenn ich ein Bier trinken will. Aber die Handwerker sind keinen Deut besser. Ein besoffener Zimmermann namens Kurt fängt an, mit mir zu flirten, doch als ich ihm erzähle, wo ich herkomme, ist das Resultat dasselbe.

»Bist du Grönländerin?«

»Ja. Ist etwas falsch daran?«

»Ihr seid ein Haufen Schwanzneger!«

»Warum sagst du denn so was?«, fragt ihn sein Kumpel, der mich ebenfalls angestarrt hat.

»Ich hab dort gearbeitet«, sagt Kurt. »Das ist alles Mist.«

»Aber du hattest doch ein grönländisches Mädchen, oder?«, fragt der Kumpel nach.

»Ja, die Mädels können vögeln. Wirklich. Und sie sind willig. Gib ihnen ein paar Bier aus, und sie wollen mit dir bumsen. Und sie bumsen alle Fremden, die kommen, um frisches Blut für den Stamm zu bekommen, damit es keine Inzucht gibt. Aber du musst aufpassen, dass du dir nicht die Gonorrhö holst.«

»So kann man doch nicht über ein Volk reden«, widerspricht der Kumpel und wirft mir einen verlegenen Blick zu.

»Das ist kein Gerede. So sind sie. Ein Haufen Dreck. Kriegen nichts auf die Reihe. Sie saufen, halten sich an keine Abmachungen und kapieren nichts. In Grönland werden alle wichtigen Dinge von Dänen erledigt, die in Dänemark ausgebildet wurden. Anderenfalls würde Grönland untergehen. Sie schmarotzen. Bezahlt wird das alles mit unseren Steuergeldern. Und davon kommt nichts zurück. Man kann die Grönländer nicht integrieren. Sie wollen nicht. Sie wollen nur Grönländer sein.«

»Aber du fährst doch nächsten Sommer wieder hin?«

»Ja«, antwortet Kurt. »Ja. Ich muss wieder hin. Man verdient verdammt viel Geld dort. Ja.«

Sie begreifen es einfach nicht. Grönland ist eine Jäger-Gesellschaft. Das Klima ist knochenhart. Es ist schwer, sich im Land zu bewegen, und es ist unglaublich schwierig, dort zu leben. Ja, es ist primitiv – natürlich. All diese rotznäsigen, dummen Dänen stehen am Ende einer tausendfünfhundertjährigen Entwicklung, die Grönland nicht hatte. Gäbe es bei uns eine ähnliche Entwicklung, hätten wir die Kolonialisten bestimmt nicht ins Land gelassen.

Allmählich fange ich selbst an, zwischen denen zu unterscheiden, die mich als Grönländerin aushalten, und denen, die es nicht können – den Dänen. Ausländer haben diese verquasten Ansichten über Grönland nicht, für sie bin ich lediglich eine andere Fremde.

Auf der Strøget lerne ich einen Burschen kennen, der Gene heißt – er spielt in einer Countryband –, und freunde mich mit seiner Freundin Dorthe an; meine erste dänische Freundin in Kopenhagen. Dorthe ist neunundzwanzig und Näherin – sie ist zehn Jahre älter als ich, und ich finde sie sehr alt. Für sie bin ich nur so ein kleines unschuldiges Ding – eigentlich bin ich gar nicht so unschuldig –, die sie ein bisschen zu oft in der Fredericiagade besucht. Aber sie ist sehr nett zu mir und bringt mir Stricken, Nähen und Häkeln bei. Ich bin mit einem Straßenmusiker liiert, nur wenn er unterwegs ist, schlafe ich mit einem anderen.

Alle bringen sich gegenseitig Songs bei. Immer gibt es ein paar Gitarren, wenn die Leute sich treffen. Schon bald stehe ich auf der Strøget und sammle Geld in einem Hut, und kurz darauf spiele ich auch selbst.

Das Straßenbild ist ziemlich eintönig. Es gibt ein paar türkische Gastarbeiter, die in der Stadt aber kaum zu sehen sind. Neger findet man in Kopenhagen gar nicht, es sei denn, man geht in ein Jazzkonzert.

»Das ist schlimm«, sagt Dorthe. Sie liest Bücher über den dänischen Sklavenhandel zwischen den dänischen Besitztümern in Guinea und Dänisch Westindien in den Jahren 1673 bis 1803 – Tausende Neger wurden damals als Sklavenarbeiter auf die Zuckerrohrplantagen gebracht. 1917 hat Dänemark diese Inseln an die USA verkauft.

»Die Inseln sind voller Schwarzer«, sagt Dorthe. »Überleg mal, wenn wir sie behalten hätten. Dann gäbe es dort eine Menge schwarzer Dänen. Das wäre schön!« Sie möchte wahnsinnig gern mal mit einem Neger schlafen.

Wir hören unglaublich viel Musik. Wir spielen auf der Strøget, und ich stehe auf der Bühne, wenn Genes Countryband auftritt. Die ganze Woche ist ein einziges Fest. Aber ich muss auch noch ins Ministerium – oft genug direkt aus der Kneipe. Ich habe kein Badezimmer und komme auch nicht so oft in eine Badeanstalt; meist bleibt es also bei einer Katzenwäsche über einem Eimer in meinem zugigen Zimmer. Tja, puuhhh, es ist sicher ganz besonders schön, beim Sortieren der Post im Grönlandministerium neben mir zu stehen.

Fakir

Bei Gene und Dorthe trifft sich eine ganze Clique. Zum Teil sind es Mitglieder seiner Countryband und deren Freundinnen, aber auch andere Musiker und Freunde. Wir sind ungefähr zehn, fünfzehn Leute, die sich so gut wie jedes Wochenende, aber auch unter der Woche treffen. Eines Abends sind wir wie üblich eine große Runde, die zusammen isst – hinterher rauchen und trinken wir und lassen es uns gutgehen. Wir reden Englisch miteinander, das verstehen alle. Häufig kommen auch Leute, die kein fester Bestandteil der Clique sind, Gäste oder Besucher von außerhalb. Und an diesem Abend sitzt dort ein Bursche, der vollkommen anders aussieht. Wir sind ja alle Hippies, die Männer mit langen Haaren und ziemlich flippig. Nur ein bisschen hat sich geändert, es gibt nicht mehr so viel Flowerpower, die Leute laufen jetzt eher in Jeans und Denim-Jacken herum. Aber dieser Kerl trägt eine Gabardinehose und ein tailliertes Hemd mit großem Kragen, außerdem lange Koteletten und einen Schnauzer, igitt. Eine richtige Pornotype, Goldkettchen mit einer Löwenklaue um den Hals und Goldringe an den Fingern. Eine ganz andere Sorte Mann. Was zum Teufel macht er hier? Allerdings ist er ziemlich stattlich, ein großer muskulöser Bursche mit Haaren auf der Brust. Die Hemden und Pullover der anderen Flipper sind immer zu groß, weil nichts darunter ist. Und der Pornotyp fängt an zu reden, über Sprache und Nationalcharakter, Krieg, Tauchen, Philosophie und Evolution … offenbar hat er zu allem eine Meinung. Ich höre ihm eigentlich gar nicht richtig zu, sondern habe nur registriert, dass er da ist und etwas eigenartig wirkt.

Plötzlich sagt Gene zu ihm: »Hey, Jacques, mach mal die Nummer mit den Nadeln. Zeig sie uns.«

»Nein, heute nicht«, erwidert Jacques. Aber Gene bedrängt ihn, und alle sehen Jacques an und fragen sich, worüber die beiden reden. Dann sagt Jacques zu Dorthe: »Okay, bring mir mal deine Stopf- und Sicherheitsnadeln.«

Und er bittet Gene, ihm eine dünne Gitarrensaite zu geben. Dorthe bringt ihm die Sachen, und alle reden durcheinander und überlegen, was wohl passieren wird, bis er sich eine große Stopfnadel durch die Zunge und zwei große Stopfnadeln durch die Wangen steckt. Er steckt sich fünf große Sicherheitsnadeln durch die Lippen, sieben weitere Sicherheitsnadeln sticht er durch die Haut am Hals, direkt unter dem Adamspafel. Er ist ein Fakir – es kommt kein einziger Tropfen Blut. Und dann nimmt er die dünne Gitarrensaite und näht sie sich zwischen die Knochen der Handfläche, die Nadel verschwindet und kommt wieder heraus, hin und her. Er setzt sich und raucht und trinkt Bier mit all dem Zeug an sich. Woouuuww! – dort sitzt mein Mann. Ihn muss ich einfach haben. Er ist fantastisch. Kurz darauf zieht er alles wieder heraus und verschwindet mit einem polnischen Juden – es geht um irgendwelche Geschäfte. An den nächsten Abenden taucht er nicht mehr auf, aber ich muss sehr oft an ihn denken.

In der folgenden Woche habe ich Glück. Ich wohne ein gutes Stück außerhalb des Zentrums, ziemlich weit draußen am Nordre Fasanvej, und damals bin ich noch nicht Fahrrad gefahren, das habe ich in Grönland nicht gelernt; ich nehme immer den Zweier, der den Godthåbsvej entlangfährt. Und er sitzt im Bus. Und ich reagiere wie eine Miezekatze. Hin und: »Heeej.« Mit riesengroßen Augen.

»Nein, was haben wir denn da für ein kleines Mädchen?«, sagt er auf Dänisch mit französischem Akzent. Ich klimpere mit den Wimpern, und er sieht mich an, als sei ich ein Opferlamm. Es vergehen zehn Sekunden, bis ich auf seinem Schoß sitze und schnurre, und er streichelt meine Schenkel und erzählt mir, dass ich hübsche Augen habe. Ein richtiger französischer Charmeur. Ich bin auf dem Weg zu Gene und Dorthe, und er will in sein Zimmer auf Amager, das er sich mit dem polnischen Juden teilt. Wir enden in einer Kneipe in der Stadt, reden und trinken. Ich frage ihn, wie er die Nummer mit den Nadeln macht.

»Ich erzähl’s dir, wenn wir uns besser kennen«, sagt er, und unter dem Tisch sind seine Hände schon wieder an mir.

»Na ja, aber du hast überhaupt nicht geblutet.«

»Ich kann mir in die Haut schneiden. Ich hab’s damals als Soldat herausgefunden.«

»Soldat?«

»In Algerien. Ich hielt vor einem Dorf Wache, als die anderen loszogen, um Aufständische zu suchen. Ich langweilte mich und dachte an Frauen. Ich hatte gehört, die Juden könnten länger, weil sie beschnitten sind. So wollte ich es auch haben, also begann ich, mein Messer an einem Stein zu schärfen, bis es so scharf wie ein Rasierblatt war. Dann fing ich an zu onanieren.« Jacques gestikuliert.

»Wieso?«

»Damit er steif wurde und ich es besser kontrollieren konnte. Ich habe mir die Vorhaut abgeschnitten und ein Taschentuch drumgebunden. Als die anderen zurückkamen, mussten wir ausrücken und ziemlich viele Kilometer marschieren.«

»Und was war mit den Schmerzen?«

»Es gehören zwei dazu, die das bestimmen. Der Körper sagt nein, lass das. Aber der Körper ist bloß Fleisch. Mir ist es egal, wenn das Fleisch schreit.«

»Hat’s geholfen?«, erkundige ich mich.

»Ja, ich konnte stundenlang marschieren.«

»Nein … kannst du jetzt länger … so wie die Juden?«

»Sicher«, erwidert Jacques, und dann fahren wir zu mir, er verspeist eine Lamm-Muschi und hat wirklich ein großes Werkzeug, mit dem er seine Arbeit verrichten kann.

Actionman

Jacques ist fünfunddreißig und unterrichtet Französisch an der Berlitz School, er sieht aus wie Sean Connery und hat schon alles Mögliche in seinem Leben erlebt. Sein Zimmer teilt er sich mit einem polnischen Juden, denn er spart für eine Weltreise. Er kann tauchen, er hat es in der Armee gelernt, und jetzt will er in die Tropen, um einen Ort zu finden, an dem er sich niederlassen kann. Sobald er Zeit hat, treffen wir uns in der Stadt oder bei mir. Das ist nicht immer leicht, denn er unterrichtet abends, wenn ich frei habe; und tagsüber bin ich ja im Ministerium. Aber ich fange an zu träumen. Ich bin neunzehn Jahre alt, und eigentlich langweile ich mich in dem Büro zu Tode. All meine Freunde sind in der Welt herumgereist, haben Musik gemacht und die unterschiedlichsten Dinge erlebt. Es klingt einfach spannend, ich will das auch. Allerdings habe ich überhaupt keine Idee, wie ich das Geld verdienen könnte, um fortzukommen. Jacques hingegen ist ein großer James Bond-actionman. Ein erwachsener Mann, der die Dinge im Griff hat, der Pläne schmieden kann und der einen großen Schwanz hat. Er hat weder einen Isländer-Pulli noch eine Hippie-Frisur, sondern eine Vergangenheit. Als Soldat.

Jacques kam zur Armee, als er achtzehn Jahre alt war, und er ist groß für einen Franzosen: 1,84 Meter. Die Durchschnittsgröße der Franzosen beträgt hundertsiebzig Zentimeter. Außerdem ist er wirklich kräftig gebaut, daher kam er sofort zum Elitetraining. Sie trainierten außerhalb von Nizza, in einem Fort, in dem sie fast gefoltert wurden, wenn sie nicht blind gehorchten. Eine der Strafmethoden bestand in einer einmal ein Meter großen Zelle mit einem tropfenden Wassertank als Dach. Darin mussten sie bis zu vierzehn Tage stehen, liegen oder zusammengekauert hocken. Heraus kamen sie als Wrack. Er hat es ausprobiert – völlig irre. Und Eilmärsche mit vollem Gepäck, nur hatten sie statt gewöhnlicher Rucksackgurte lediglich Schnüre, die richtig in die Haut schnitten. Natürlich um ihre Schmerzgrenze zu erhöhen. Jacques wurde mit voller Ausrüstung aus einem Hubschrauber geworfen – es ging darum, richtig auf dem Boden aufzukommen und sich nicht die Knöchel zu brechen.

Er wurde nach Algerien in den Krieg geschickt, als das Land Ende der fünfziger Jahre versuchte, die französische Herrschaft abzuschütteln. Die Vortruppen, die ins Land gebracht wurden, sollten Aufständische lokalisieren und foltern, um ihnen Informationen abzupressen. Sie verpassten ihnen elektrische Stöße mit Generatoren, verprügelten sie und wendeten auch sonst alle möglichen widerlichen Methoden an. Jacques sagt, es sei einfach ein enorm starkes Gefühl gewesen. Er fühlte sich lebendig, es war das Leben. Als er aus dem Krieg zurückkam, konnte er überhaupt nichts spüren – alles war tot und flach. Es vergingen viele Jahre, bevor er anfing, einfach wieder ein wenig Mensch zu sein. Zunächst begann er mit Todesrennen. Er fuhr mit dem Auto auf der falschen Straßenseite auf Entgegenkommende zu – bis zum letzten Moment. Vollkommen lächerlich und kindisch. Aber schließlich war er ja auch nichts anderes als ein großer dreiundzwanzigjähriger Junge, als er aus dem Militärdienst entlassen worden war.

Danach ging er nach Paris, studierte Literatur an der Sorbonne und schrieb Schundromane. »Das kann doch jeder Idiot«, behauptete er und lebte eine Zeit lang davon. Aber Frankreich funktionierte nicht. Er stammt aus Salzburg und hat einen tiefen Hass auf seine Familie entwickelt. Der Vater ist ein Trinker, und seine Mutter gilt als die Hexe der Gegend. Und sein Bruder und seine Schwester, die wesentlich älter sind als er, sind richtige bourgeois – Bürgerliche –, die er zutiefst verachtet. Noch nie zuvor habe ich einen Menschen erlebt, der seine Familie dermaßen schlechtmacht. Dann fand Jacques heraus, dass er in Italien als Reiseführer Geld verdienen konnte.

»Kannst du denn Italienisch?«

»Italienisch, Französisch, Dänisch, Deutsch, Englisch und Spanisch«, antwortet er. »Ich war mit einer Spanierin verheiratet. Und ein bisschen Arabisch.«

»Du warst verheiratet?«

»Ja. Damals, als ich in Nizza lebte, bin ich einer Spanierin begegnet. Wir haben geheiratet und ein Kind, eine Tochter. Dort habe ich mir auch meine Nase richten lassen.«

»Deine Nase?« Ich schaue sie mir an. Es ist eine gerade Nase mit so einem kleinen Bogen. Und Jacques zieht seine Brieftasche heraus und zeigt mir ein Bild von sich. Auf dem Foto hat er eine wirklich gewaltige Adlernase. »Och, nee, wieso hast du das denn gemacht?« Ich bin verrückt nach Hakennasen, aber seine ist weg.

»Sie war nicht schön«, antwortet er und erzählt, er hätte eine plastische Chirurgin kennengelernt.

»Die Spanierin?«

»Nein, eine andere Frau, ich hab sie einfach getroffen.« Jacques sagt, diese Ärztin hätte ihm für die Nase ein Angebot gemacht. Ich vermute, er hat sie mit seinem großen Schwanz gevögelt, damit sie mit dem Preis herunterging.

»Sie hat gesagt, das Teuerste ist eigentlich die Narkose. Daraufhin habe ich gesagt: ›Okay, dann machen wir es ohne Betäubung.‹ Dann konnte ich’s mir leisten.«

Die plastische Chirurgin hat ihm einen Apparat in sein Nasenloch gesteckt und eine Schraube hineingedreht, bis sein Nasenloch riesengroß war. Und dann hat sie einen Schnitt an der Nasenwand angesetzt und das Fleisch von dem Knochen gelöst. Mit Hammer und Meißel hat sie sich bis zur Wurzel vorgearbeitet und eine Kerbe geschlagen. Danach hat sie den Knochen innen abgebrochen, zwischen den Augen. Jacques beschreibt, dass er alle Geräusche unglaublich laut in seinem Schädel hören konnte. Wie es Dung Dung Dung gemacht hat, als sie hämmerte. Und wie es knirschte, als sie den Knochen abbrach. Dann hat die Ärztin so ein kleines Schleifding genommen, hineingesteckt und die Stelle geglättet, an der sie den Knochen abgebrochen hat. Und danach das Ganze wieder zusammengenäht und ihm einen Verband angelegt, mit ein paar großen Tampons in den Nasenlöchern, damit die Nase ihre Form behielt. Jetzt ist nichts mehr zu sehen. Völlig irre.

»Bist du denn noch immer verheiratet? Mit dieser Spanierin?«

»Nein, nein, das ist viele Jahre her.«

Treue

In den nächsten drei Monaten sehen wir uns ein paar Mal in der Woche. Wir sind sehr glücklich in meinem Dachzimmer, durch das der Wind pfeift. Wir wollen auf Reisen gehen. Jacques hat die Idee, einen Platz zu finden, an dem er Tauchunterricht geben kann. Wir könnten eine kleine Strandbar eröffnen – eine Hütte aus Palmblättern, in der ich Piña Colada verkaufe. Das ist unser Traum, der auch gar nicht teuer sein muss. Jacques weiß doch, wie billig es auf der Welt ist, wenn man sich erst einmal auf den Weg gemacht hat – Hauptsache, man lebt wie die Einheimischen. Allerdings braucht man Startkapital. Noch ist nichts entschieden, aber wir reden darüber. Träumen.

Eines Abends, als wir uns lieben, fragt Jacques nach meinen sexuellen Fantasien – was ich mir so vorstellen könnte? Ich erzähle ihm, dass ich oft von Fesselungen träume und sadomasochistische Fantasien habe.

»Wirklich?«

»Ja, aber es sind bloß Fantasien.«

»Soll ich dich mal fesseln?«

»Wir können’s ja mal ausprobieren.«

Er raucht im Bett. »Warst du vor mir schon mit vielen zusammen?«

»Was sind viele?«, frage ich zurück.

»Wann hast du angefangen?«

»Mit Anton auf Grönland, da war ich vierzehn.«

»Vierzehn?«, sagt Jacques. »Und wer kam dann?«

Er lässt sie mich auflisten. Die Liste wird ziemlich lang, und Jacques zunehmend wütender. Chuck, Mike, Mads, Roberto, Gene, Carl, Heinz und …

»So viele?«, fragt er.

»Ja.«

»Aber du bist doch erst neunzehn …«

Ich singe eine Zeile für ihn: »Have you ever been experienced?« Weil er ständig Electric Ladyland von Jimi Hendrix hört.

»Na ja …«

»Du bist verheiratet gewesen.«

»Du hast aber nicht mit Dorthes Gene geschlafen, oder?«

»Doch.«

»Bevor er Dorthe kennenlernte?«

»Nein.«

»Während er mit Dorthe zusammen war?«

»Ja.« Jacques springt aus dem Bett und steht nackt auf dem Boden.

»Das kannst du doch nicht machen!«

»Warum nicht?«

»Sie ist deine beste Freundin, und du vögelst mit ihrem Freund?«

»Jacques«, sage ich. »Sie hat mich darum gebeten – als eine Art Freundschaftsdienst.«

»Sie hat dich darum gebeten?«

»Ja, sie ist währenddessen spazieren gegangen.«

»Aber … wieso?«

»Weil Gene mich toll fand.«

»Aber ihr seid ja … pervers«, sagt Jacques.

»Wir sind für die freie Liebe, Jacques – das ist nicht nur Gerede.«

»Das wirst du jedenfalls nicht mehr tun, solange du mit mir zusammen bist«, sagt er.

»Du dann aber auch nicht!«

Irgendwann ist er eine Woche verreist, um sich mit seiner spanischen Tochter zu treffen und seine Mutter zu besuchen, doch bald darauf liegt er wieder in meinem Bett.

Eines Abends haben wir uns auf der Fete einer großen Wohngemeinschaft in der Oehlenschlægergade verabredet. Gene, Dorthe und die anderen Musiker sind auch dort, nur Jacques verspätet sich. Ich finde es ganz gemütlich, bis Gene anfängt, mir Fragen zu stellen: »Was ist mit Jacques’ Frau, wie kommst du damit zurecht?«

»Die Spanierin? Wieso, sie sind doch seit langem geschieden.«

»Nein, nicht die Spanierin«, sagt Gene. »Seine Frau in Tårnby, die Stewardess.«

»Was für eine Frau?« Ich gucke verständnislos. Gene wird ganz blass.

»Ups, jetzt habe ich mich wohl verplappert.« Ich sehe Dorthe an, die nur mit einem unergründlichen Blick zurückschaut. Es ist grässlich.

»Aber …«, bringe ich noch heraus, dann versagt mir die Stimme.

»Er ist mit einer dänischen Stewardess verheiratet, die in Tårnby wohnt«, sagt sie.

»Aber er wohnt doch mit dem Polen zusammen.«

»Nein«, sagt Dorthe. »Er wohnt bei seiner Frau.« Das ist so … wenn er … es ist einfach so ausbeuterisch. Eine Stewardess – sie kann ihm billige Reisen besorgen, zum Beispiel damals, als er behauptet hat, seine spanische Tochter besuchen zu wollen. Und mir hat er erzählt, er würde das Zimmer mit dem Polen teilen, daher könnten wir nicht zu ihm … deshalb habe ich nichts von der Frau mitgekriegt. Und er würde am Abend unterrichten und hätte außerdem noch Privatschüler, es sei also nicht so einfach, sich zu sehen. Bei meinem nackten Arsch. Seiner Frau und mir gegenüber eine total verlogene Fassade.

Ich ziehe eine ziemlich eisige Miene, als er zur Tür hereinkommt. Er erbleicht, als er mich sieht. Ich verlasse das Zimmer und gehe direkt an ihm vorbei: »Lügner.«

Ich bin schon im Treppenhaus, als er mir nachkommt, erklärt und redet und beteuert, dass in Wahrheit Schluss sei mit Mette, so heißt die Stewardess.

»Und wieso wohnst du dann noch mit ihr zusammen?«, schreie ich und fange an zu flennen wie ein kleines Mädchen.

»Ich kann bei Mette nicht ausziehen, solange wir nicht zwei Wohnungen haben«, verteidigt er sich. Nun ja, schließlich habe ich mich Hals über Kopf in ihn verliebt, und ihn fallenlassen will ich auch nicht.

»Aber …«

»Es stimmt«, sagt er. »Meine Frau und ich sind nicht mehr zusammen. Ich schlafe auf dem Sofa, und sie ist die meiste Zeit im Flugzeug unterwegs.«

Ich stehe im Treppenhaus, und er fängt an, mich zu berühren; und ich denke, ich bin eine kleine Göre mit festen Titten und bestimmt knackiger und jünger als seine Stewardess. Ich kann ihn für mich haben, obwohl ich nicht eine Sekunde daran glaube, dass er auf einem Sofa schläft, wenn es ein Bett gibt.

»Mette hat’s mehr mit der Geborgenheit, aber ich lasse mich gerade von ihr scheiden, dann kann ich mit dir zusammenleben, dann können wir auf Reisen gehen.«

Natürlich dauert es nicht lange, bis es an meiner Dachkammer klopft und eine Stewardess in SAS-Uniform vor der Tür steht. Sie sagt, sie heiße Mette.

»Ich vögele mit ihm«, sage ich. »Ich vögele schon ziemlich lange mit ihm, während du unterwegs bist.«

»Ich bin nicht unterwegs gewesen«, erwidert sie. »Die letzten vier Monate habe ich am Flughafen gearbeitet.«

»Ach?«

»Und ihn gevögelt«, sagt Mette.

»Na schön, aber du bist nur so ein in die Jahre gekommener neurotischer Geborgenheitsfreak«, sage ich und werfe die Tür zu.

Meine Eltern kommen im Urlaub nach Dänemark und kaufen ein Ferienhaus bei Silkeborg. Von nun an wollen sie jeden Sommer kommen – das ist etwas völlig Neues. Als ich klein war, lebten wir jeweils zweieinhalb Jahre in Grönland und danach ein halbes Jahr in Dänemark. Diese Regelung wurde geändert, stattdessen bekommt man jetzt jedes Jahr einen kürzeren Urlaub, außerdem ist es erheblich billiger geworden zu fliegen. Jacques bleibt in Kopenhagen, während ich meine Eltern besuche. Es ist richtig gemütlich. Meine älteste Schwester hat mit ihrem Maurer aus Brønshøj ein Kind bekommen, also feiern wir eine Kindstaufe; und gleichzeitig heiratet meine jüngere große Schwester einen Anwalt aus Hellerup.

Bürgerlich

In Kopenhagen wird mir eine Dreizimmerwohnung angeboten, weil Chuck und seine Freundin nach Kanada wollen. Achtzig Quadratmeter in der Baggesensgade direkt an den Seen der Innenstadt. Jacques ist begeistert. Er zieht sofort zu mir und leitet die Scheidung von Stewardess-Mette ein; die obligatorische einjährige Trennungszeit wird vereinbart, danach ist die Scheidung offiziell. Und ich weiß, dass er auf mich setzt, weil ich mit ihm verreisen und die Welt sehen will. Ich bin kein Geborgenheitsfreak, ich will die knallharte Realität zu Wasser, zu Lande, in der Luft und überhaupt. Er findet das super. Und er hat mich echt gern.

Ich bin ein totaler Freak, als wir zusammenziehen, weil ich mich an keinerlei Regeln halte, aber, nun ja … Jacques findet, dass ich nicht mehr so herumflippen, sondern bürgerlicher werden soll. Er fängt an, meine Vorderzähne abzufeilen; sie haben ein paar winzige Zacken auf der Bissfläche, weil ich als Kind die Englische Krankheit hatte – ein Mangel an Vitamin D, als die Zähne im Kiefer wuchsen. Ich habe nicht genügend Kalk bekommen, daher haben meine Vorderzähne solche Sägezacken. Sie sind gut einen halben Millimeter lang, und Jacques findet es hässlich. Er nimmt einen Schleifstein, mit dem man Messer schleift, und begradigt die Zähne. Ich schaue mich im Spiegel an. Meine Zähne sehen kürzer aus. Wie bei einer alten Eskimo-Frau, die jahrelang Leder gekaut hat, um es weich zu kneten, damit man Kleider daraus nähen kann. Ich vermisse meine Zacken. Jacques kauft mir auch neue Klamotten und Make-up und zeigt mir, wie man es benutzt – allein komme ich damit nicht zurecht. Ich habe so etwas noch nie benutzt. Nun ja, ein paar meiner Freundinnen ziehen sich so einen schwarzen Strich um die Augen, das ist okay, wenn es sich um echtes indisches Kajal handelte. Aber kein Eyeliner – das ist bürgerlich. Und Lippenstift ist vollkommen ausgeschlossen – ein Ausdruck der Frauenunterdrückung.

Eigentlich gefalle ich mir am besten, wenn ich so ein bisschen roh aussehe. Oft laufe ich in gestreiften Overalls, Maurerhemd und einem Afghanenpelz herum. Außerdem habe ich eine Schwäche für geblümte Kleider aus den vierziger Jahren – obwohl es mit der John-Lennon-Brille und den Clocks eigentlich ein verwirrender Stilmix ist. Außerdem soll es so aussehen, als hätte ich O-Beine, denn wenn man O-Beine hat, sieht man roh aus. Etwa wie ein Maurer. Das alles sage ich Jacques nicht, aber ich beschwere mich schon, als er mich in Gabardinehosen und Damenblusen stecken will, die er im Kaufhaus Magasin kauft.

»Ich dachte, wir wollen sparen«, sage ich.

»Na ja, Schätzchen, in einigen Orten, in die wir fahren wollen, kannst du nicht erscheinen wie ein Freak. Und wir wollen doch überallhin. Jedenfalls soll uns niemand aufhalten können.«

Wenn Jacques mich nicht anzieht, laufe ich weiterhin herum wie ein roher John-Lennon-Maurer.

Gleichzeitig lässt Jacques sich den Bart stehen und das Haar wachsen wie ein Hippie, obwohl er noch immer Goldschmuck und Slimline-Hemden trägt. Ich kapier es nicht, sage aber keinen Ton, denn er ist total eitel. Er sagt, wir müssen uns Pässe anfertigen lassen, damit wir reisebereit sind – obwohl wir überhaupt nicht genug Geld haben. Als die Pässe fertig sind, lässt er sich die Haare schneiden und rasiert sich, bis er wieder aussieht wie mein Pornotyp. Ich trage noch immer den langen Pferdeschwanz.

»Du musst lernen, dich zu schminken«, sagt Jacques daheim in der Wohnung.

»Aber ich will nicht so aussehen.« Ich stelle mich ans Wohnzimmerfenster und schaue in den Himmel.

»Es ist wichtig, verschiedenartig aussehen zu können.«

»Nicht für mich«, sage ich. Jacques geht in die Küche. Er kommt mit einer Schere in der Hand zurück, stellt sich hinter mich und zeigt mir die Schere.

»Ich schneide dir jetzt deinen Pferdeschwanz ab«, sagt er.

»Ja, ja, mach nur.« Riiittzzz … »Was machst du denn da!« Ich schreie und greife mir in die Haare – sie sind weg, sie sind kurz. »Neeeiiin, mein schönes langes Haar!«, heule ich.

»Du musst es mal ausprobieren«, sagt er und bringt mich zu einem Friseur; dort werden meine Haare gefärbt, und ich bekomme eine Standardfrisur, wie alle sie tragen. Unglaublich hässlich. Jacques bezahlt, und wir treten auf die Straße.

»Du lässt mich aussehen wie so ein ABBA-Mädchen, nur hübscher. Es ist nicht zu ertragen!«

»Du siehst gut aus, du bist jetzt sehr hübsch«, behauptet er.

»Ich bin ein Hippie. Und du lässt mich aussehen wie einen bourgeoisen Spießer. Du hast ganz einfach einen schlechten Geschmack!«

»Das ist nicht bourgeois«, widerspricht Jacques, ein bisschen wütend. Der Mann behauptet, er würde das Bürgerliche hassen, aber in Wahrheit ist er total kleinbürgerlich.

»Du bist ein bürgerlicher, bigotter Pfaffe!«, erkläre ich ihm auf dem Bürgersteig, und er steckt mir seinen Zeigefinger ins Gesicht und brüllt: »So nennst du mich nie wieder!«

Dann dreht er sich um und geht.

»Bigotter Pfaffe!«, schreie ich ihm nach. Aber er hat ja eine Menge anderer Begabungen – und im Bett ist er verdammt gut … Nach einem Ritt in den Laken hat er sich auch wieder beruhigt.

Wir planen, quer durch Europa nach Afrika zu reisen.

»Wir müssen unsere Pässe als verloren melden«, sagt Jacques.

»Wieso?«

»Es ist wichtig, mehrere Pässe zu haben, wenn man in Afrika unterwegs ist. Einige Länder werden uns nicht einreisen lassen, wenn sie in den Pässen Stempel aus dem Land ihrer Feinde sehen.«

Das sehe ich ein und lasse mir noch einen Pass anfertigen – wir wollen ja ungehindert reisen.

Jacques meint, ich soll die Lehre im Grönlandministerium schmeißen: »Du musst raus, anständiges Geld verdienen, damit wir schneller loskommen. Diese Ausbildung nützt dir sowieso nichts, wenn wir unterwegs sind.«

»Ja«, antworte ich. Ich bin ohnehin bereits zwei Mal durch die Stenografie-Prüfung gefallen und werde nie bestehen. Ein paar Monate vor dem Ende der Lehrzeit kündige ich meine Lehrstelle und melde mich bei der Zeitarbeitsfirma ManPower, die mich zu verschiedenen großen Firmen schickt: Hellesens, B&W, ØK – meist ins Schreibbüro oder die Telefonzentrale. Mein Vater ist enttäuscht, aber daran lässt sich nichts ändern.

Wir haben beide mehrere Jobs, leben von Luft und Liebe und sparen eine Menge Geld; tagsüber bin ich Sekretärin, abends putze ich. Anderthalb Jahre – wirklich nur schuften, schuften, schuften. Und das Billigste essen, außerdem wohnen wir enorm günstig, und neue Sachen gibt es nicht. Wir geben schlichtweg kein Geld aus und hören völlig auf damit, ins Kino oder Essen zu gehen, obwohl ich das eigentlich gewohnt bin.

Hasch-Schmuggler

Dennoch hatten wir nach anderthalb Jahren mit zwei Jobs erst fünfundzwanzigtausend Kronen gespart, und Jacques fand es einfach nicht ausreichend.

»Wir machen Ferien in Marokko und besorgen uns etwas Hasch«, sagt er. Er kennt einen dänischen Großhändler, dessen Verbindungen okay sind und der für uns eine Lieferung in zwei Tagen absetzen kann. Ich packe.

»Nimm das hier mit.« Jacques gibt mir die Gabardinehose, die figurbetonte Bluse und die Schuhe mit Absätzen – die Sachen, die er mir gekauft hat. Und die Schminke.

»Soll ich damit in Marokko herumlaufen?«

»Nein, du sollst es bloß mitnehmen«, sagt er, geht in der Wohnung auf und ab und denkt nach, bis ihm der Kopf raucht.

Wir fliegen billig nach Tanger und verlassen die Reisegruppe, ohne ein Wort zu sagen. Mieten einen hellblauen Renault und fahren nach Süden, angezogen wie die Hippies – Jacques hat sich seinen Bart wieder stehen lassen und schwitzt in einem merkwürdigen Wollponcho. Die Slimline-Hemden und mein kleinbürgerliches Zeug liegen im Koffer. Jacques hält in den Städten und redet mit den Leuten. Auf dem Land findet er eine Hütte, die wir mieten können, in der Nähe der Stadt Ksar el Kebir in den Bergen. Es ist total einsam, und Jacques zieht jeden Morgen los, um den richtigen Kontakt zu finden. Ich rauche Zigaretten, bis Jacques mit wirklich gutem Haschisch zurückkommt. Er hat den richtigen Mann gefunden, wird aber immer nervöser. Der Handel rückt näher. Wir fahren in unserem hellblauen Renault in die Stadt und kaufen zwei große Koffer, die Jacques zu Hause auseinanderbaut. Und ständig ist er am Rechnen. Er wird gierig.

»Nein, das reicht noch nicht. Das reicht überhaupt nicht«, murmelt er und verlässt die Hütte.

»Wo willst du hin«, rufe ich ihm nach, aber er ist bereits gefahren. Am Abend schneidet und färbt er mir die Haare, bis ich dem Foto meines kleinbürgerlichen Passes ähnlich sehe.

»Du behältst deine Hippieklamotten an und bindest dir ein Tuch um die Haare, damit niemand deine neue Frisur sieht.«

In zwei Tagen wollen wir mit einem Flugzeug aus Casablanca abreisen. Am nächsten Morgen ist Jacques früh auf den Beinen.

»Was ist los?«

»Ich besorge uns ein anderes Auto«, antwortet er.

»Wieso?«

»Wenn wir heute Nachmittag aufbrechen … das ist der gefährlichste Moment.«

»Aber wieso brauchen wir ein anderes Auto?«

Jacques bleibt in der Tür stehen, dreht sich um und erklärt langsam und betont ruhig, als wäre ich ein schwerhöriges Kind: Es besteht das Risiko, dass der Verkäufer mit der Polizei zusammenarbeitet. Er bekommt sein Geld, und hinterher werden wir mit dem ganzen Hasch verhaftet; das Haschisch wird konfisziert und kann noch einmal verkauft werden. Und wir werden in ein marokkanisches Gefängnis gesteckt, was ungefähr der Todesstrafe gleichkommt. Deshalb hat Jacques den Motor des Wagens manipuliert, so dass er nicht mehr ordentlich fährt. Und die Autovermietung in der Stadt soll ihm einen exakt identischen Wagen besorgen – in der gleichen Farbe.

»Ich habe denen gesagt, meine kleine junge Frau will nur diese hellblaue Farbe, und die haben sie uns besorgt.«

»Aber wieso?«

»Weil der Wagen jetzt ein anderes Nummernschild hat. Wenn der Haschhändler mit der Ware kommt, wird er nicht bemerken, dass sich das Nummernschild geändert hat, schließlich ist es der gleiche Wagentyp und die gleiche Farbe. Doch die Polizei wird nach einem Auto mit zwei Hippies und einem ganz anderen Nummernschild suchen.«

Jacques dreht sich um und geht. Ein paar Stunden später kommt er mit dem neuen hellblauen Renault zurück, und kurz darauf erscheint der Verkäufer. Im Haus sind die Gardinen zugezogen, sie sitzen auf dem Boden und packen die Koffer. Es ist vollkommen irre, elf Kilo. Jacques hat einen guten Preis bekommen und ist gierig geworden. Der Stoff nimmt enorm viel Platz weg. So dick, wie der doppelte Boden ist, kann jeder Idiot sehen, dass nicht nur Klamotten darin sein können. Es ist früher Nachmittag. Der Verkäufer bekommt sein Geld und verschwindet. Jacques rennt ins Badezimmer und schreit, ich solle mir die bürgerlichen Klamotten anziehen, Make-up auflegen und mein Haar bürsten. Kurz darauf erscheint er, frisch rasiert und in einem Slimline-Hemd. Er trägt die Koffer zum Auto, und wir fahren über kleine Schotterpisten bis zur Hauptstraße – als anständiges, ordentliches Paar. Wir wollen nach Casablanca und von dort mit einer Linienmaschine nach Zürich.

»Benutzen wir im Flughafen den anderen Pass?«, erkundige ich mich.

»Nein, nein«, sagt er. »Denselben Pass, mit dem wir eingereist sind.«

Ich sage nichts mehr. Wir sind wie Spießer verkleidet, wollen aber unsere Hippie-Pässe benutzen – ich versteh’s nicht. Bin nur seltsam emotionslos. Jacques trommelt aufs Lenkrad und fragt mich ständig nach der Uhrzeit. Es ist einfach Mist mit den Koffern. Jacques fährt langsam, obwohl kaum Verkehr ist, und will weiterhin dauernd wissen, wie spät es ist. Die Maschine hebt bald ab.

»Warum fährst du nicht schneller?«

»Sei still«, erwidert er.

Ich habe Angst, dass wir das Flugzeug nicht rechtzeitig erreichen – das ist mein einziger Gedanke. Im allerletzten Augenblick kommen wir am Flughafen an. Jacques rennt vor mir her, beide Koffer in der Hand, ich trippele ihm auf den hohen Absätzen hinterher.

Jacques ruft: »Nein, bitte entschuldigen Sie. Na ja, es gab einen Riesenstau. Wir müssen noch mit. Ich habe eine wichtige Besprechung in Zürich und muss danach die Maschine nach Frankfurt erwischen.«

Durch die Glasscheiben des Flughafens sehe ich die letzten Passagiere die Gangway hinaufgehen – eine Zugmaschine steht bereit, um die Treppe wegzuziehen, während ein Mann die letzten Koffer auf das Transportband zum Laderaum der Maschine wirft. Aber Jacques gelingt es, unsere Koffer zum Flugzeug bringen zu lassen, ohne dass sie untersucht werden – einfach so, wuuusch –, und wir in ein Auto, das zum Flugzeug rast, wir springen die Gangway hoch. Sie haben kaum in unsere Pässe schauen können, in denen wir aussehen wie zwei Hippies auf Entzug. Ich habe das Gefühl, in einem James Bond-Film mitzuspielen: Sofie – Agent 007.

In Zürich müssen wir umsteigen, aber die Koffer müssen nicht noch einmal durch den Zoll – sie werden direkt von einem Flugzeug zum anderen transportiert. Wir haben vier Stunden Aufenthalt, und die Stewardess hat erzählt, dass der Flughafen einen Bus-Pendelverkehr in die Stadt unterhält, damit die Passagiere sich die Sehenswürdigkeiten ansehen können. Das machen wir. Als wir zum Flughafen zurückkommen und einchecken, zieht Jacques unsere noblen Pässe heraus.

»Wollen Sie die Pässe nicht stempeln?«, fragt er den Passbeamten, umarmt mich und lächelt mich an, bevor er hinzufügt: »Es ist das erste Mal, dass wir zusammen verreisen.«

Und ich lächele wie eine nette kleine Freundin. Wir bekommen einen Stempel aus Zürich in unsere bürgerlichen Pässe, in denen es keine Stempel aus Marokko gibt – die sind in den Hippie-Pässen. Wir fliegen nach Frankfurt und tragen unsere Koffer durch die deutsche Zollkontrolle, denn unsere Pässe zeigen ja, dass wir lediglich mit einer Linienmaschine aus Zürich kommen. Und das ist nicht sonderlich suspekt, tatsächlich werden wir nicht einmal kontrolliert. Dann nehmen wir den Zug nach Kopenhagen.

»Aber warum sind wir nicht einfach von Frankfurt nach Kastrup geflogen?«, will ich wissen. Jacques schüttelt den Kopf und flüstert mir ins Ohr: »Die dänischen Drogenspürhunde sind ziemlich tüchtig.« Im Zug schlafe ich ein, und als ich aufwache, sind wir in der Nähe von Fredericia. Jacques hat unsere bürgerlichen Pässe einem Zöllner gezeigt: Ein junges Paar ist in Zürich und Frankfurt gewesen – kein Problem.

Auch in Kopenhagen gibt es keine Probleme. Jacques’ Großhändler hinterlegt eine Anzahlung, verkauft alles im Laufe von achtundvierzig Stunden und liefert das Geld wie besprochen ab. Und Jacques besorgt die Ausrüstung für unsere Reise: Zelt, Schlafsäcke, Rucksäcke, Spirituskocher, Taschenlampen. Wir haben das Geld und wollen in wenigen Wochen aufbrechen.

Allerdings mache ich mir insgeheim Gedanken: Warum hat er mir die Sache mit den verschiedenen Pässen nicht einfach erklärt und stattdessen diesen Zirkus veranstaltet: Haareschneiden, Make-up und all den Scheiß? Manchmal ist er schon ein wenig sonderbar.

Machtbalance

»Lass uns heiraten«, sagt Jacques.

»Ist doch egal. Hauptsache, wir sind zusammen.«

»Für die Reise ist es wichtig, verheiratet zu sein«, sagt er. »In vielen Länder bekommen wir nicht einmal ein gemeinsames Hotelzimmer, wenn wir nicht verheiratet sind.«

Meine Eltern sind in ihrem Ferienhaus in Silkeborg, also leihen wir uns den Wagen des Polen, fahren hin und werden im Rathaus getraut. Tschüss, Sofie Petersen, guten Tag, Sofie Rouvre – das bedeutet Sommerregen auf Französisch. Es gibt ein großes Familienessen im Garten. Alle reden und trinken und fühlen sich wohl. Jacques erklärt meinem Vater seine Lebensphilosophie, und irgendwann merke ich, dass das Gesicht meines Vater immer verschlossener wird, bis es aus ihm herausbricht: »Aber, du bist ja vollkommen asozial, Mann!«