Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Die Welt soll durch Zärtlichkeit gerettet werden." Fjodor Michailowitsch Dostojewskij Diese Worte stehen am Beginn des Buches von Gerhard Engelsberger, mit dem der bekannte Autor sich erneut als tiefgründiger Denker und sensibler Prediger offenbart. Sie sind Ausgangspunkt seines überzeugenden Plädoyers für eine neue, auf Zärtlichkeit gründende Gesellschaft. Nach seiner festen Überzeugung ist dies die einzige Strategie für das Überleben der Erde als blauer Heimatplanet. Denn "je brutaler wir die Erde, die Natur, die Menschen ausbeuten, umso deutlicher wird, dass der bisherige Weg an ein Ende gekommen ist", so Gerhard Engelsberger. "Was bleibt, ist Horchen, Schauen, Warten, Geduld, Liebe, Zärtlichkeit, Achtsamkeit und Sanftheit." Hierfür liefert Gerhard Engelsberger zahlreiche Denkanstöße und Beispiele, die dazu anregen, einen eigenen Weg zu mehr Zärtlichkeit im Umgang mit sich, seinen Mitmenschen und der Welt zu gehen. Damit glückt ihm die Entwicklung einer Überlebensstrategie, die Hoffnung schafft und Freude macht.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 232
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
„Die Welt soll durchZärtlichkeit gerettet werden.“
Fjodor Michailowitsch Dostojewskij
Diese Worte stehen am Beginn des Buches von Gerhard Engelsberger, mit dem der bekannte Autor sich erneut als tiefgründiger Denker und sensibler Prediger offenbart. Sie sind Ausgangspunkt seines überzeugenden Plädoyers für eine neue, auf Zärtlichkeit gründende Gesellschaft. Nach seiner festen Überzeugung ist dies die einzige Strategie für das Überleben der Erde als blauer Heimatplanet.
Denn „je brutaler wir die Erde, die Natur, die Menschen ausbeuten, umso deutlicher wird, dass der bisherige Weg an ein Ende gekommen ist“, so Gerhard Engelsberger. „Was bleibt, ist Horchen, Schauen, Warten, Geduld, Liebe, Zärtlichkeit, Achtsamkeit und Sanftheit.“
Hierfür liefert Gerhard Engelsberger zahlreiche Denkanstöße und Beispiele, die dazu anregen, einen eigenen Weg zu mehr Zärtlichkeit im Umgang mit sich, seinen Mitmenschen und der Welt zu gehen.
Damit glückt ihm die Entwicklung einer Überlebensstrategie, die Hoffnung schafft und Freude macht.
Gerhard Engelsberger
Experiment Zärtlichkeit
Ein neuer Wegzu mehr Herzlichkeit
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2014, Verlag und Buchhandlung der Evangelischen Gesellschaft GmbH, Stuttgart Augustenstraße 124, 70197 Stuttgart, Telefon 07 11/60 10 00, Fax 6 01 00 76, www.verlag-eva.de
Alle Rechte vorbehalten.
Gestaltung und Satz: Cornelia Fritsch, Gerlingen
Lektorat: Isolde Bacher, text_dienst, Stuttgart
Druck: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell
Titelfoto: Brian A Jackson/shutterstock.com
ISBN 978-3-920207-93-3
Die Welt soll durch Zärtlichkeit gerettet werden.
(Fjodor Michailowitsch Dostojewskij)
In der Nacht der Geburt meines dritten Enkels Jona habe ich geschrieben:
„Sei und werde –
und lass dir nicht vorschreiben,
was sein und werden soll.
Sei und werde Mensch unter Menschen.
Ach, du darfst wachsen,
was für ein Geschenk,
das uns Älteren nur noch in Maßen geschenkt ist,
dir in aller Fülle.
Du wirst sehen,
wirst stotternd staunen.
Dir werden die Lösungen ausgehen.
Dir werden die Worte fehlen.
Was allein zählt:
Dass dein Herz lacht
und du dich nicht beugst vor den Falschen.
Mensch.
Du.“
Er hatte keine schlechten Erfahrungen mit mir, als ich ihn auf den Knien hielt oder stundenlang zum Schlafen auf meine gut sechs Jahrzehnte Leben legte. Was ist das für ein uns Großvätern und Großmüttern zärtliches und wesentliches Geschenk, das uns die Enkel mit ihrem herzlichen, unkomplizierten Vertrauen schenken!
Was ist das für ein Buch? Ich will nicht recht haben. Ich will nicht besser wissen. Ich will nachdenken. Nachdenklich sein mit Ihnen. Und staunen über die Einfältigkeit dessen, was uns wirklich zu Herzen geht.
Dielheim, Frühjahr 2014
Gerhard Engelsberger
Ick würd dich suchen, würd dich finden,
wäre bei dir, wäre außer mir,
ick wäre echt für jeden Scheiß bereit –
für det bisschen Zärtlichkeit.
(Klaus Hoffmann, Mit Freunden)1
Eine ganze Generation scheint – meist nachdenklich – in eine neue Ära zu starten.
Sie kuscheln eher, als dass sie „Sex“ machen.
Junge Väter entsorgen nicht nur den Müll, kaufen auf dem Markt ein oder verstehen sich nicht als „Verdiener“. Sie beanspruchen das Elterngeld, füllen Formulare aus und übergeben Frauen das Steuer. Mehr und mehr von ihnen tauchen auf bei Kindergarten- oder Kita-Elternabenden. Sie joggen mit Baby, säubern, wickeln und schmusen, arbeiten in Teilzeit und sagen: „Das ist auch gut so.“
Junge Mütter haben bestbezahlte Jobs, planen den Zeugungstermin der Kinder, geben das Baby an den Vater ab zum Füttern, schicken den Mann an die Espressomaschine, klären die Termine mit den Handwerkern und schneiden Büsche und Bäume. Wow!
Eine ganze Generation wirbelt alte Rollen gesund durcheinander.
Zu „meiner Zeit“ war das alles anders.
Mein Vater, zurück aus dem Krieg, saß auf dem Schneidertisch des eigenen Ein-Mann-Handwerksbetriebs. Meine Mutter kochte pünktlich das Essen, machte die Wäsche, verdiente ein paar Mark als „Handarbeiterin“ dazu (nächtlicher Billiglohn zu Hause), versuchte mich „aufzuklären“, hätte sich aber strikt geweigert, mit mir gemeinsam in einem Zuber oder einer Wanne zu baden.
Ich weine der alten Zeit nicht nach.
Nur versuche ich einfühlsam zu verstehen, was da innerhalb von 50 Jahren geschehen ist.
Zärtlichkeit war kein Thema meiner Eltern.
Jedenfalls nicht dem Kind gegenüber.
Über das andere weiß ich nichts, weil es im Schlafzimmer immer dunkel war und ich meine Eltern eh nie nackt sah. Ich habe nie einen zärtlichen Kuss meiner Eltern erlebt, sie nicht einmal eine kurze Wegstrecke beim sonntäglichen Spaziergang oder einen Bruchteil eines Abends „Händchen haltend“ gesehen. Nie habe ich meinen Vater dabei ertappt, wie er meiner Mutter sanft über die Backe strich. Das galt eher mir, dem Kind. Und meine Mutter wurde schon rot, wenn sie meinem Vater im Überschwang in die Rippen stieß. Und wenn dann doch so etwas wie körperliche Nähe „passierte“, dann war diese begleitet von fast peinlichem Lachen.
Sie waren einfache Leute. Kinder einfacher Eltern. Sie haben an meinem Bett gewacht, gesungen, gebetet. Sie haben mich häufig fiebernden und oft kranken Jungen gepflegt, umsorgt – aber nie Zärtlichkeiten mit mir ausgetauscht. Der Gute-Nacht-Kuss war maximal auf die Eltern beschränkt. Schmusen war – wenn überhaupt – absolut intern. Die körperliche Züchtigung dagegen war gang und gäbe.
Dieses Buch ist keine Abrechnung mit der Elterngeneration. Auch keine Anbiederung an die Jungen. Ich möchte nur anfangs bewusst machen, was über die Generationen gekommen ist wie ein Wirbelwind.
Der Wirbel kommt nicht von ungefähr. Denn schon meine Generation der 68er – ich habe 1967 in Heidelberg zu studieren begonnen – hatte die Vorzeichen umgedreht, liebte „von ungefähr“ und „weit gestreut“, besaß erstmals die Pille, plante oder versuchte eine anti-autoritäre Erziehung mit allen freien, befreiten und keiner Nachfrage unterworfenen Zärtlichkeiten.
Ich erinnere mich an einen immer wieder zitierten und ins Lächerliche gezogenen Satz einer Mitstudentin im Studentenwohnheim: „Liebe muss dabei sein.“ Mir tut mein eigener Spott heute noch weh.
Doch auch das ist Geschichte. Die Welle ist auch über diese kurze Geschichte hinweggefegt, hat ihr nicht einmal widersprochen, hat sie als „altes Eisen“ weggelegt.
Nicht, dass die Alten nun wieder recht bekämen, die Prügelstrafe wieder eingeführt würde und Sexualität wieder im Dunkeln verschwände. Stünde mein Großvater – „Großvater“ sagte man damals noch, und ich habe ihn geliebt, sehe und verehre ihn bis heute – heute vor mir, er würde die Welt nicht mehr verstehen, so viel hat sich in vergleichsweise kurzer Zeit verändert.
Natürlich kann man sagen: Das war immer so.
Es war aber nicht immer so.
Es änderten sich die politischen, auch die wirtschaftlichen Verhältnisse.
Es gab Unwucht und kleine oder große Karos.
Doch der Mainstream floss ruhiger.
Die Veränderungen geschahen eher in Zeitlupe.
Das Fahrwasser versprach Stetigkeit und die Unfälle blieben die Ausnahme.
Wir sind heute die Generation der „Wissenden“.
In Sekundenschnelle sind wir im Besitz von Informationen, kennen die Widersprüche, hören unterschiedliche Antworten, lesen Bücher und Meinungen, sehen die neuesten Bilder, können bei Rückfragen im Internet surfen. Die Bandbreite der Antworten anderer „Wissender“ steht uns weltweit offen.
Manchmal meine ich, die Jungen von heute müssten taumeln ob der Fülle und zweifeln angesichts des Mega-Angebots an Information.
Doch sie taumeln nicht.
Ob sie nur so tun? Oder ist das eine neue Mutation: „Mensch – Westen – 2000 plus“?
Zärtlichkeit.
Die Rufe werden lauter nach einer sanften Medizin, nach Schonung der Mitgeschöpfe. Wir wissen Bescheid über CO2-Ausstoß und Pestizide, manche misstrauen der Apparatemedizin, suchen die sanfte Geburt, auch den sanften Tod. Zwischen der sanften Geburt und dem sanften Tod suchen Menschen, deren Haut in langen Jahren des „Beherrschens“ dünn geworden ist, an der Welt der Gefühle möglichst unangreifbar teilzuhaben.
Candle-Light-Dinner. Hochzeitskutsche. Big Brother. „Passen Sie gut auf sich auf.“ „Kuschelrock.“ „Magenschonender Kaffee.“ „Wellness-Wochenende.“ Menschen suchen eigentlich längst den „sanften Weg zum Glück“.
Dieser sanfte Weg in die Innenräume, unter die Haut, könnte der Heilungsprozess einer ganzen Kultur werden – wenn er denn nicht als Schnäppchen gehandelt würde. Ein wenig Gespür dafür entwickeln schon die Händler, die immer mal wieder eine Werbung einstreuen, vollkommen ohne Ton. Und während vorher die Geräuschkulisse an dir vorüberrauschte, merkst du plötzlich auf und schaust hin, weil alles schweigt. Sie blenden dann ein: „Wir haben verstanden, Opel, Audi, Ford.“
Das geht am Umgang mit den sensiblen Dingen des Glaubens, mit Gebet, Predigt, Seelsorge nicht spurlos vorüber.
Niemand mehr erwartet eine wortmächtige Kanzelrede. Gesucht ist das sehr persönliche Gespräch, die in diesem öffentlichen Geschehen verborgene persönliche Seelsorge. Verkündigung wird in der Erwartung der mediengeprägten Menschen, der mehr und mehr sich als Individuen fühlenden Menschen eine sehr intime Geschichte zwischen dem, der spricht, und dem, der hört.
Indem
die Zärtlichkeit
der Kindheit uns verließ,
tritt schon die Jugend ein.
(Andreas Gryphius)
Was ist der Mensch?
Ebenbild – repräsentatives Standbild in einer gelungenen Schöpfung – Gottes? (1. Mose 1,26: „ein Bild, das uns gleich sei“);
Herrscher über die restliche Mitwelt? (1. Mose 28: „die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel im Himmel …“)
Ist der Mensch ein Brudermörder? (1. Mose 4: Kain und Abel)
Einer, der sich von Gott emanzipiert? (1. Mose 11: Lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an die Himmel reiche.“)
Ein dem Guten gar nicht gewachsener Getriebener? (Römer 7,18b.19: „Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“)
Für den Vater, der – bevor er stirbt – für den Zweck einer posthumen Reproduktion sein Sperma hinterlassen hat, findet T. Murphy den Titel „Sperminator“. So zu lesen in biogenetischen Titeln, Fachzeitschriften etc.2
Ist der Mensch heute vielleicht ein biologisches Ersatzteillager, ein „Sperminator“, ein Klon, ein Vorläufer des Computermenschen, ein 1,75 m großes Tamagotchi?
Bevor wir uns in träumerische Wolkenkuckucksheime verziehen, sollten wir einen Blick werfen in die Labors unserer Konzerne. Sie sind aufs „Beherrschen“ programmiert. Wer in einem der Labore seine „Beherrschung verliert“, schadet dem Konzern, erhält keine Fördergelder und wird arbeitslos. Uns tut sich eine brutale Welt auf, die in ihrer Konsequenz vom überzähligen Embryo bis zum dementen Alten gewissenlos tötet. Eine neue Shoah? Eine ununterbrochene Shoah.
Soll ich eher fragen, was sie lassen sollten?
Oder soll ich fragen, was sie vermögen?
Und was hat das Ganze mit „Zärtlichkeit“ zu tun?
Ich bin weder ein Technikfeind, noch ein Kreationist. Ich bin dankbar für ein künstliches Hüftgelenk und staunte nach einem Absturz in Nepal über die Zuverlässigkeit eines veralteten CT-Gerätes in einem Provinzkrankenhaus. Ich flog voll Vertrauen mit einem Hubschrauber nach Katmandu, fuhr angstfrei auf dem Mekong, traute den Nachrichten in Jerusalem. Ich staune, wie mein Internist auf dem Bildschirm Blut- und Sauerstoffströme darstellen und wie ich meine Enkel beim Ultraschall im Mutterleib „hüpfen“ sehen kann.
Und doch bin ich einer, der gerne seine Grenzen kennt, bevor er sie auslotet. Nie war ich ein Moralapostel – und doch war ich immer froh über Kritik, Rat und Weisung.
Ich habe bei mehreren Fällen, bei denen ich als Seelsorger von den Verwandten oder von den Ärzten hinzugezogen wurde, um Verständnis geworben für das Abschalten der Geräte, auch für die Zustimmung zur Organentnahme für eine oder mehrere Transplantationen.
Biogenetiker sagen mir, der Mensch sei ein Kleingruppenwesen. Das hatten wir alle ja geahnt, denn unsere Fähigkeit zu Liebe, Mitleid, Anteilnahme, gar zur Zärtlichkeit vermindert sich mit der Entfernung zur engsten Familie (s. u. das „anthropologische Dilemma“).
Ich habe mich entschieden.
Ich würde gerne die Fähigkeit des Menschen zu Zärtlichkeit, zu Herzlichkeit, oder nennen wir es mit der Summe all des Erwünschten: zu „Menschlichkeit“, viel weiter stecken, als es Biologen und Genetiker tun.
Ich meine – mit anderen –: Der Mensch ist geschaffen als kreatives Wesen. Seine positivsten Anlagen sind die Fähigkeit, sich anzupassen, wo nötig, sich zu entwickeln, wo möglich, sich zu weiten bei allen Grenzen – anders gesagt:
zu lieben über den eigenen Horizont hinaus,
zu geben, auch wenn es ihm nichts nützt,
zu bleiben, wo er/sie gebraucht wird,
zu opponieren, wo Böses geschieht,
zu helfen, wo Mangel herrscht,
zu teilen, wo Überfluss ist,
in der Summe:
verschwenderisch zu lieben.
Das ist für mich eine erste, christliche, auch unserer Generation gerechte und jedem – wie auch immer Betroffenen – mögliche Weise der Zärtlichkeit.
Klar ist dabei, dass „der Andere“ ebenso dazugehört:
der Mensch hinter dem Horizont,
der Bedürftige, der nichts zurückerstatten kann,
der Sterbende und die Gefangene,
die Notleidende, die anderen Lehren folgt.
Will der Mensch als „zärtlicher Mensch“ überleben, muss er seiner genetischen Festlegung als Kleingruppenwesen etwas entgegensetzen, das lernbar ist. Für mich ist es die Kultur.
Näher: die „Kultur der Zärtlichkeit“.
© Text Klaus Hoffmann, BerlinJacques Hassoun nach Jean-Claude Guillebaud, Das Prinzip Mensch. Ende einer abendländischen Utopie?, München 2004, S. 13Wahr ist es, deutsche Zärtlichkeiten
sind welschen nicht an Milde gleich:
Doch Lieb’ und Kuss, die sie begleiten,
sind ja bei uns so süß und weich.
(Johann Arnold Ebert)
Ja, ich erwarte, dass Sie lesen, was ich geschrieben habe.
Kein Buch ist für den Papierkorb geschrieben. Und mit diesem Buch habe ich mich lange schwer getan.
Glauben Sie mir: Ein Mensch, der Umwege gegangen ist, tut sich schwer.
Ein Mensch, der gelassen hat, lässt nicht so leicht.
Ein Mensch, gescheitert oder erfolgreich, ist es leid, sich um sich selbst zu drehen.
Ein Mensch, der Neues sieht, fragt nicht viel nach dem Vergangenen.
Erst nach dem Neuanfang beginnen die Fragen.
Ich habe mit Ihnen vor, einen Schritt ins Neuland zu gehen.
Bevor ich Sie enttäusche, will ich den Horizont beschreiben.
Ein japanischer Gemeindepfarrer, so lese ich bei Kaku Utsumi, beschreibt seinen Lebenslauf als Prediger. Da steht etwa: Eine Predigt zu halten ist genauso, als wenn ein Mensch an der Küste einen Stein auf die Horizontlinie werfen will. Das ist eigentlich wahnsinnig. Deshalb ist es anscheinend eine dumme Tat. Diese Tat hat eine Unmöglichkeit zum Ziel, wie die Predigt, die das Gotteswort den Menschen näherbringen muss. Diese dumme Tat, so schreibt der japanische Pfarrer, habe ich über vierzig Jahre lang dauernd getan. Man sieht zu. An der Küste sammeln sich Neugierige um mich herum, um meine ungewöhnliche Tat anzuschauen. Aber wenn die Leute das dumme Ziel meiner Tat, einen Stein auf die Horizontlinie zu werfen, erkannt haben, verlieren sie all ihr Interesse dafür und fühlen die Sinnlosigkeit. Sie treten einer nach dem anderen weg. Sie sagen: Was für ein Idiot. Aber wenn jemand bei mir stehen bleibt und wie ich auf die Horizontlinie schaut und versucht, selbst einen Stein dorthin zu werfen, sieht er genau das, was ich immer sehe, Gottes Wort. Ich habe dies mit der Horizontlinie beschrieben. Damit wollte ich die Möglichkeit der Unmöglichkeit der Predigt ausdrücken.
So weit die Lebenserfahrung eines japanischen Gemeindepfarrers. Ich möchte dieses schöne Bild noch etwas ergänzen. Es ist mir noch zu vorsichtig, fast auch zu pessimistisch. Beim Versuch, an der Küste stehend die Horizontlinie mit einem Stein zu erreichen, werde ich scheitern. Mein Stein trifft vorher ins Wasser, wie sehr ich mich auch bemühe. Aber es ist doch nicht so, dass ich dadurch nichts bewege, dass dies nur eine scheinbar dumme Tat ist. Der Stein zieht Kreise. Und wenn ich viel, viel Geduld habe, dann kommt etwas von diesen Kreisen als sanfte, kleine Welle wieder zurück zu mir. Und wenn von vielen Stellen an der Küste Menschen ihren Stein an die Horizontlinie zu werfen versuchen, dann kreuzen sich die Kreise. Der Horizont rückt näher. Ich spüre Begegnung, ich sehe Antwort. Und die kann ich auch zeigen.
Leider ist es bei uns Christen wie in vielen anderen Bereichen des Lebens so: Wir haben keine Geduld. Und dann sieht das Steinewerfen natürlich dumm aus. Deshalb suchen sich viele anstelle von großen Seen oder gar Meeren lieber kleine Teiche, werfen im überschaubaren Bereich ihren Stein und freuen sich am gleich sichtbaren Erfolg. Möglicherweise verwechseln sie dann irgendwann diese Teiche mit dem Meer. Aber das ist etwas ganz anderes, als die Horizontlinie treffen zu wollen. Die liegt weit, weit weg.
Vielleicht kann ich auch so sagen: Wer sich nicht mit aller Kraft anstrengt, das Unmögliche zu erreichen, bleibt hinter dem zurück, was ihm möglich wäre. Christen müssen übers Ziel hinausschießen. Christen strecken sich nach Gott aus und erreichen dabei vielleicht „nur“ Menschen.
Ich werde immer wieder gefragt: Warum brauchen Sie eigentlich Gott? Warum reicht Ihnen nicht einfach das Menschliche?
Sehr persönlich gesagt: Weil ich mich gut genug kenne.
Ich möchte vermeiden, dass ich mich eines Tages wiederfinde, wie ich kleine Steine in den Teich hinter unserem Haus werfe und träume, das sei das Meer. Der Glaube an Gott nimmt mir die Illusion über mich und gibt mir dafür eine Utopie, die jetzt schon Kreise zieht und hier und dort etwas bewegt. Und es ist sehr ermutigend, dort und hier auf Menschen zu treffen, die sich auch nicht mit Gartenteichen zufriedengeben, sondern die die Horizontlinie im Auge haben.
Heute
Heute ist keine besondere Zeit.
Es gab schlimmere Zeiten.
Es gab bessere Zeiten.
Man gab Entdeckungen,
gab Erfindungen,
gab Staunen.
Man gab Kriege, gab Pest,
gab Lächerlichkeiten für bare Münze
und gab Seelenheil für Geld.
Heute ist das anders.
Und das ist gut so.
Wer heute Menschen gewinnen will, hat es ungleich schwerer als zu den Angstzeiten. In guten Zeiten lässt sich leicht lächeln über die Alten. In Kriegszeiten lässt sich leicht lästern über die Friedensengel.
Doch exakt das mute ich Ihnen heute zu: Den Stein auf die Horizontlinie werfen.
Die Klarheit durch getrübte Gläser sehen.
Gott zum Engel machen.
Und den Engel zu Gott.
Nichts lassen, wie es ist.
Nichts tun, was neidet.
Nichts lassen, was sein könnte.
Alles ermöglichen.
Auch gegen den Strich.
Auch gegen die guten Sitten.
Auch gegen den unbescholtenen Ruf.
Auch gegen die herrschende Meinung.
Heute will ich nicht den Stein in den Gartenteich werfen.
Heute will ich versuchen – weit ausholend – mit Ihnen nicht nur die Horizontline zu treffen. Ich will mit Ihnen hinter die Horizontlinie werfen; dorthin, wo keine Welle bestätigend zurückkommt.
Dorthin, wo alles schweigt.
Morgen
Auch morgen ist keine besondere Zeit.
Mag sein, dass morgen die Zeit ist, zu ruhen.
Mag sein, dass morgen die Zeit ist, zu tun.
Ich weiß es nicht.
Ich spüre allerdings die Zeit in mir.
Diesen Sekundentakt der ablaufenden Uhr.
Nicht, dass mich die Uhr diktieren würde.
Sie hält mich eher auf.
Ich habe – mit dem Blick auf die Uhr –
heute weiß Gott nicht alles erledigt,
dann überholt mich schon das Unerledigte von morgen.
Elisabeth Kübler-Ross, die wohl weltweit bekannteste Sterbeforscherin unserer Zeit, wird nicht müde, immer wieder auf einen Tatbestand hinzuweisen: Bei allem, was unsere ganze Energie, Liebe und Konzentration erfordert, stehen uns unsere eigenen „unerledigten Geschäfte“ im Weg. Ich entdecke täglich neu meine unerledigten Geschäfte.
Sie binden mich.
Sie haften an mir.
Sie sind zäh.
Ich kann beten und meditieren, lesen und sinnen –
ich bleibe ein unruhiger Geist.
Mir geht es wie dem Kirchenvater Augustinus:
Er meint am Anfang seiner „Bekenntnisse: „Zu dir hin hast du uns geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.“3
Wem Kinder und Enkel geschenkt sind, der sieht die Zeit wachsen.
Je älter ich werde, desto schneller wächst die Zeit.
Mich erinnert das an Bert Brechts Psalm 1, in dem er die rasende Geschwindigkeit unserer Zeit der „großen Ruhe“ gegenüberstellt, die der blaue Planet nicht nur aus der Distanz eines Apollo-Astronauten, sondern für jeden Menschen ausstrahlt, wenn er sich erst einmal zurücklehnt und die Haltung des Machers aufgibt.
Wenn ich mich danach sehne, meinen Stein auf oder hinter die Horizontlinie zu werfen, dann sehe ich mich am Ufer eines schier endlosen Meeres stehen. Weit draußen scheinen die Wellen schwächer zu werden. Ein leichter Dunst liegt über der Horizontlinie. So, als ob hinter dem Horizont alles zur Ruhe käme. – Morgen vielleicht finde ich zur Ruhe, nach der ich mich sehne. Eine Ruhe „in Abrahams Schoß“ – ein zärtliches Bild.
Ich beherrsche diese Ruhe nicht.
Diese Ruhe lädt herzlich ein.
Alle Beherrschung ist verloren.
Hände sind zart und weich,
laden ein zum Bleiben
und öffnen
viele Fenster und Türen.
Morgen.
Der Mensch,
ein Geheimnis,
dem man wohl nur
mit herzlicher Zärtlichkeit
begegnen darf,
will man es nicht
zerstören.
Der Mensch
Wer eigentlich ist der Mensch?
Nicht wenige fragen danach. Auch ich bin unsicher.
Der Mensch kann alles. Er weiß alles.
Er erzählt alles. Er ist alles.
Vielleicht haben Sie hinter alle Sätze ein Fragezeichen gesetzt.
Und doch: Der Mensch ist die Antwort.
Die einzige Antwort, die der vom Menschen in allen großen Religionen geglaubte Gott anspricht und dessen Antwort er hört.
Heute scheint mir der alte deutsche Holzschnitt aus dem 16. Jahrhundert noch immer spannend. Noch immer wähnt sich der Mensch im Mittelpunkt des Seins; noch immer bricht er nach außen auf. Noch immer scheint er sich ansonsten zu Hause zu fühlen.
Was ist ein „Paradigma?
Ein „Paradigma“ ist eine grundsätzliche Denkweise, eine bestimmte Lehrmeinung oder Weltanschauung. Viele haben das „Paradigma“ der „Aufklärung“ noch nicht verstanden. Es ging alles zu schnell. Das Wissen fächert sich täglich und (gefühlt) fast unendlich auf. Die Kinder von morgen lächeln wissend über das Wissen von gestern.
Mit gutem Grund hat sich der Mensch in der Aufklärung von kirchlicher und anderer Bevormundung getrennt. Hat das Fragen gelernt. Hat Landkarten geschrieben, Körper seziert, die Bibel in ihre Einzelteile zerlegt, die Innenwege der Seele erforscht und die Planetenbahnen beschrieben. Das alles ist (meist) gelungen. Das Licht der Vernunft kam in das Dunkel der Religionen und Bevormundungen. Die französische Bezeichnung Siècle des Lumières („Jahrhundert der Lichter“) kommt erstmals 1732 auf. In unserem Land steht Immanuel Kant für die Emanzipation der Vernunft und für die Aufklärung.
Doch heute stockt diese Entwicklung, nach zwei Weltkriegen, mit Giftgas und Atombombe, mit Transplantationsmedizin und Mondlandungen, mit Klimakatastrophe und NSA-Aufklärung. Beharrt auf wissenschaftlicher „Gläubigkeit“ und hemmt rechthaberisch das mit der „Aufklärung“ Begonnene.
So stellt sich mir heute unser Land dar: Im besten Fall sezierend, beschreibend, ein Land in Planquadraten. Meist jedoch als ein Land der Schwätzer, die alles wissen. Langweilig, weil es „besitzt“. Nicht zärtlich, nicht sanft, ohne Demut, gelegentlich rechthaberisch.
Doch irgendwo wartet jeder auf eine Überraschung. Die „Zärtlichkeit“ wäre eine solche.
Religionen
Die Quellen der Religionen sind erforscht. Liegen meist schwarz auf weiß vor. Sind meist eben nur „Quelle“, nicht mehr. Sie haben ihren „Wert“ verloren. Millionen reklamieren „Werte“. Finden in den kleinen Karos der „Aufklärung“ nicht mehr nach Hause.
Ich meine: Wenn der Mensch – also du und ich und Milliarden anderer – nur annähernd Antwort oder ein Teil der Antwort sein sollte, dann findet sich in den Texten, die Menschen geschrieben haben – Bibel, Talmud, Upanischaden, Koran … – etwas, was übersetzbar wäre und den Heutigen von Nutzen sein müsste.
Ich habe alle Religionen an ihren Ursprungsorten besucht.
Ich habe tief beeindruckende spirituelle Orte und bewegende Begegnungen in allen Religionen erlebt und möchte diese Erfahrungen nicht missen.
Ich bleibe Christ.
Ich teile aber nicht die religiöse Rechthaberei mancher Christen, die nur aus der Angst geboren ist, zu kurz zu kommen. Mir ist nach vier Jahrzehnten Seelsorge, Predigt, Unterricht und all dem Lesen und Schreiben die „Weite“ wichtig. Nur die „Weite“ lässt frei atmen, aufrecht singen und offen widersprechen.
Ich wehre mich gegen eine „investigative Theologie“. Sie will Gott „aufspüren“, „dingfest“ machen. Am Ende wird sie ihn „einbuchten“ wollen und allenfalls als den eigenen, den richtigen Gott gelegentlich freilassen. Welche Hybris!
„Rede!“, sagt der Gott der Bibel. Er sagt nicht: „Versichere dich bei den Autoritäten!“ Gemeint ist: „Sprich frei!“ Von der Leber weg. Aus deinem Herzen.
Aufklärung
Die geistesgeschichtliche Epoche der Aufklärung hat die menschliche Vernunft zur neuen Gottheit erhoben.
Diese Epoche hat begonnen mit den Entdeckungen der Seefahrer (von Kolumbus bis Cook) und der Naturwissenschaftler (von Nikolaus Kopernikus und Charles Darwin über Wilhelm Röntgen und Marie Curie bis zu Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Albert Einstein, Otto Hahn oder Stephen Hawkins). Diese Epoche der Menschheit scheint nicht zu enden. Der Nobelpreis wird in jedem Jahr an diejenigen verliehen, die die Erde in noch kleinere Quadrate zerteilen, den Himmel noch tiefer durchforschen und den Menschen noch präziser analysieren.
Bei der Abfassung dieses Buches diskutiert man über weltweites Abhören von Telefongesprächen, Speichern von E-Mails und die totale Überwachung eines Menschen. Es soll – dafür steht der Begriff NSA (National Security Agency; die Nationale Sicherheitsbehörde der USA ist ein gigantischer Auslandsgeheimdienst) – kein Geheimnis mehr geben.
Die „Aufklärung“ ist mehr und mehr zur „Beherrschung“ verkommen. Beherrschung ist für den Umgang mit Instrumenten und Techniken wichtig. Beherrschung im Umgang mit Menschen zerstört Leben, verlacht jede Achtung und verdächtigt jede Beziehung. Ist in sich selbst verstrickt.
Das ist das wesentliche Gegensatzpaar des Buches: „Beherrschung oder Zärtlichkeit.“
Zärtlichkeit
Ich suche nach einer Demut, die nicht in die Knie geht vor irgendeiner Macht, auch nicht vor der Macht des Wissens. Ich schreibe als einer, der nicht besser weiß, nicht klarer hört und nicht mehr glaubt. Ich suche nach einem Weg, der uns löst aus der jetzigen Verstrickung.
Als einer, der lebt und liebt und scheitert und sucht, meine ich, die Zärtlichkeit sei der Weg aus Verkrustung und Enge. Ich weiß keinen anderen.
Ich war sehr berührt, als ich in einer Fernsehsendung im Herbst 2000 den 1925 geborenen französischen Professor Alfred Grosser hörte, der so viel von Deutschland und Europa und Kultur versteht. Der kein Christ ist. Dem aber die christlichen Werte wesentlich sind. Er beschrieb das Zentrum, die Mitte, das Wesentliche des Christentums. Das sei die Zärtlichkeit. Der Höhepunkt sei das „incarnatus est“ in Mozarts großer Messe. Oder das Wiegenlied im zweiten Teil des Weihnachtsoratoriums von Bach.
Zärtlichkeit, die Mitte des Christentums.
Schön, wenn man auf einem Weg ist und solche Unterstützung bekommt, auch wenn ich musikalisch andere Werke nennen würde, wohl aber die gleichen Komponisten (Bach, Mozart, Dvořáks zweiten Satz aus der „Neuen Welt“, Schumanns „Geistervariationen über den letzten Gedanken“, das zweite Klavierkonzert von Rachmaninow oder J. S. Bachs „Liebster Jesu, wir sind hier“, BWV 731).
„Zärtlich“ sind sie auf ihre Weise alle. Sie alle sind beseelt von einer liebevollen Ehrlichkeit, Klarheit und Dankbarkeit, vor deren Herzlichkeit ich mich verneige.
Und so behaupte ich, die „Zärtlichkeit“ werde die „Beherrschung“ ablösen, wenn denn die Erde als blauer Heimatplanet überleben soll.
Nicht müde werden
Je brutaler wir die Erde, die Natur, die Menschen ausbeuten, umso deutlicher wird, dass der bisherige Weg an ein Ende gekommen ist. Was bleibt, ist Horchen, Schauen, Warten, Geduld, Liebe, Zärtlichkeit, Achtsamkeit und Sanftheit. Sind erste einfache Sätze wie der von Hilde Domin:
„Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.“4
Ich habe in meinem Gebeteband „Von Achtsamkeit bis Zuversicht“ geschrieben:
„Sie haben
deinen Leib zerteilt
in Konfessionen;
dein Leben
gehortet in Reliquiaren;
haben das Los geworfen
um deine Liebe;
haben wie die Schlachter gehaust
in deinen Träumen;
haben dein Wort
gebrochen,
Jesus Christus.
Jede Zärtlichkeit