Falsche Versprechen - Friederike Schmöe - E-Book

Falsche Versprechen E-Book

Friederike Schmöe

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Beschreibung

Als in einem Flüchtlingsheim im oberbayerischen Ohlkirchen ein Kleinkind spurlos verschwindet, ist Ghostwriterin Kea Laverde – wie alle Einwohner der kleinen Ortschaft im Fünfseenland – fassungslos. Gemeinsam mit Patty O’Brian, Vorsitzende einer Kinderschutzorganisation, stößt sie schon bald auf noch mehr verschwundene minderjährige Flüchtlinge. Ist die im Hintergrund agierende Agentur BOLA nur vorgeblich eine humanitäre Organisation? Handelt sie in Wirklichkeit aus Eigennützigkeit? Es liegt an Kea und Patty, die Öffentlichkeit von der Wahrheit zu überzeugen.

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Friederike Schmöe

Falsche Versprechen

Ein neuer Fall für Kea Laverde

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Dohlenhatz (2017), Die viel zu lange Lüge, E-Book only (2016),

Von Zimtsternen und Zimtzicken (Hrsg.) (2016),

Die Bernsteinburg, E-Book only (2016),

Stille Nacht, grausige Nacht (2015), Kirchweihleichen (2015),

Zuträger (2015), Oberfranken (3. überarb. Auflage 2015),

Ein Toter, der nicht sterben darf (2014),

Wer mordet schon in Franken (2014), Schaurige Weihnacht überall (2013),

Du bist fort und ich lebe (2013), Still und starr ruht der Tod (2012),

Rosenfolter (2012), Wasdunkelbleibt (2011), Wernievergibt (2011),

Süßer der Punsch nie tötet (2010), Wieweitdugehst (2010),

Bisduvergisst (2010), Fliehganzleis (2009), Schweigfeinstill (2009),

Spinnefeind (2008), Pfeilgift (2008), Januskopf (2007),

Schockstarre (2007), Käfersterben (2006), Fratzenmond (2006),

Kirchweihmord (2005), Maskenspiel (2005)

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Manfred Steinbach / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-5546-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

20. November Kapitel 1

Wenn du zwölf bist, sind alle Augen Messer. Alle Hände Prügel. Wenn du zwölf bist, erstickst du am grauen Himmel, der sich wie eine Decke auf dich legt, schwer und klebrig. Wenn du zwölf bist, wiegt der Körper deiner kleinen Schwester mehr als das Leben, das in ihr ist. Sie ist zu klein für ihr Alter, schon weit über ein Jahr ist sie; wenn ich sie trage, fühlt sie sich an wie ein Spatzenskelett.

Sie muss essen, und deshalb stehe ich zwischen den Männern, stehe ein zweites Mal an, Gadi an mich gedrückt, das funktioniert. Die können uns Kinder nicht voneinander unterscheiden, da fällt es gar nicht auf, wenn man zweimal Essen nimmt, und Gadi mag den Quark, der schmeckt süß. Das Einzige, was sie isst. Ich stehe also zwischen den Männern, und manchmal bemerken sie mich gar nicht oder sie tun zumindest so. Ich starre auf ihre Hintern und halte Gadi fest. Von zu Hause kenne ich es anders: Wenn da ein kleines Kind ist, machen alle Scherze und lachen und reißen Grimassen, bis das Kind auch lacht. Hier nicht.

Gadi strampelt und quengelt, aber ich kann sie nicht runterlassen, dann flitzt sie irgendwo hin, und ich bin meinen Platz in der Schlange los.

Gadi kreischt. Der Mann vor mir dreht sich um.

Augen. Dunkel. Hart. Voller Zorn und zugleich voller Feigheit. Voller Scham, es geschafft zu haben.

Als sie mich fragten, warum ich allein bin, nur mit Gadi und Abdul, habe ich gesagt, es gibt niemanden mehr. Meinen Vater haben sie erschossen. Der Opa ist zu alt, um wegzugehen, der schafft es nicht mal mehr allein aufs Klo. Mama hat ihn gewickelt wie Gadi, aber dann gab es bald nichts mehr, keine Windeln, kein Wasser, kein Waschpulver; draußen rauschten die Bomben wie Regen, und wir hockten in der Wohnung, weil es keinen Platz zum Verstecken für uns mit dem Opa gab, nirgends.

Wenn Opas Gesicht vor mir steht, dann sehe ich seinen Schnurrbart und den zahnlosen Mund, ich sehe das, was tot ist in einem Menschen, bevor er stirbt.

Es ist warm im Speisesaal, es riecht nach Verkochtem, mein Magen knurrt, ich habe immer Hunger wie Gadi, doch Gadi isst nicht, sie scheißt nur, gelbes, wässriges Zeug, und sie geben mir Windeln und fragen: »Warum bist du denn allein?«, und ich wiederhole, dass sie meinen Vater erschossen haben.

»Und deine Mutter?«, fragen sie, aber dann sind meine Lippen steif und lahm, und ich kann nichts mehr sagen.

Mit Abdul war sowieso nie zu rechnen.

»Kleine, hör auf zu drängeln!« Der Mann vor mir ist genervt, Gadi zappelt, die stupst ihn immerzu mit ihren kleinen Füßen in den Hintern. Dabei kann ihm das nicht wehtun, er ist ein Mann mit einem kräftigen Rücken und einem breiten Arsch. Ich senke den Blick und murmle eine Entschuldigung.

Die Schlange rückt vor.

»Das Kind stinkt«, sagt der Mann.

Ich hebe Gadi hoch und rieche an ihrem Po. Gadi isst schlecht, nur Quark, nur Zucker, nur Süßes, sie hat viel Bauchweh, deswegen schreit sie nachts. Ich kann nicht schlafen, drücke sie an mich, doch sie schreit, sie schreit. Die anderen im Schlafsaal sind stinksauer. Manchmal kommt eine Frau, sie hat drei Kinder dabei und keinen Mann, und sie nimmt mir Gadi ab und trägt sie herum, dann fallen mir die Augen zu, und ich träume.

Der Traum ist wie eine Ohnmacht. Bis der Lärm kommt, das Dröhnen, die Explosionen. Ich reiße den Kopf hoch und schreie. Am Anfang zumindest habe ich geschrien. Laut. Da haben die anderen mich geweckt, und manchmal habe ich eine Hand auf meiner Stirn gespürt oder einen Arm um meine Schultern und nach Mama gerufen. Jetzt nicht mehr. Ich wache auf, da halte ich schon beide Hände vor meinen Mund.

Ich kann nicht träumen, ich habe versprochen, für Gadi zu sorgen.

Manchmal sitzt die Frau, die drei Kinder hat, auf meiner Liege und hält Gadi und legt eine Hand an meine Wange. Gestern hat sie erzählt, sie kommt bald weg, in eine andere Gegend, in ein anderes Haus, wo weniger Leute zusammenleben, nur Familien und keine Männer und keine Afghanen.

»Das Kind stinkt!«, wiederholt der Mann, seine Stimme lodert.

»Ich wickle sie gleich«, murmle ich.

»Hau ab aus der Schlange!«, knurrt er.

Ich starre auf den Boden. Grauer Boden. Wenn du zwölf bist.

Die Schlange rückt vor; der Mann geht nicht mit. Er durchbohrt mich mit seinem Blick. Er stinkt selbst. Wir stinken alle.

Ich luge an ihm vorbei zur Essensausgabe. Die Frau mit den kurzen roten Haaren steht dahinter, schiebt Schälchen auf Tabletts. Sie ist nett. Sie gibt mir manchmal was. Extra. Ich bleibe in der Schlange.

Der Mann stößt mich an die Schultern. »Hau ab!«

Ich drücke Gadi fester. Sie merkt, es wird ernst. Sie zappelt nicht mehr.

»Meine Schwester ist jetzt ganz brav«, sage ich.

Er schlägt mir mit den Händen an die Brust. Ich zucke zusammen vor Schmerz.

»He«, sagt einer hinter mir. »Lass die Mädchen in Frieden!«

Aus den Augenwinkeln sehe ich die Frau an der Essensausgabe. Nur noch drei Leute zwischen ihr und mir.

»Sei ganz still, Gadi«, flüstere ich meiner Schwester ins Ohr. Sie hat kaum Haare. Die wachsen nicht. Ganz zarter Flaum, wie bei einem Vogeljungen, kitzelt meine Nase, als ich ihr dumme Wörter zuwispere. Nur noch drei Leute zwischen uns und dem Quark, Gadi, nur noch drei Leute bis zu dem Essen, das du willst und das du verträgst. Sei jetzt still, sei ganz still, zapple nicht, wimmere nicht, schrei nicht. Das gehört dazu, weißt du, wenn man in der Schlange bleiben will.

Der Schmerz in meiner Brust flaut ab. Ich hieve Gadis Körper noch ein bisschen höher. Der Mann vor mir funkelt mich an. Er wird es nicht wagen, ein Kleinkind zu schlagen.

»Beruhige dich, Mann!«, sagt der hinter mir. »Das sind Kinder.«

Die Schlange rückt vor.

Der Mann vor mir dreht sich wütend murmelnd um.

Als ich dran bin, lächelt mich die kurzhaarige Frau an. Sie hat in jedem Ohr drei Stecker. Lachend zeigt sie auf Gadi und sagt etwas. Ich gebe das Lächeln zurück, das geht ganz von selbst, wenn du zwölf bist und der böse Mann vor dir weg ist.

Sie gibt mir zwei Schälchen, sagt wieder etwas, bedeutet mir, zu warten, kommt zurück und schneidet von einem großen gelben Laib etwas ab. Ich greife nach dem Käse, sie gibt mir ein Stück Brot dazu, legt das Messer auf der Theke ab, streichelt Gadi über den Kopf und sagt Wörter, von denen ich hoffe, dass sie das bedeuten, was sie immer bedeuten: Ein hübsches Kind, möge Gott es schützen und ihm Glück und Gesundheit schenken.

Der Mann hinter mir sagt: »Jetzt geht mal weiter, ja?«, aber es klingt geduldig.

Kapitel 2

Du sitzt im Hörsaal, und um dich wogt das Meer des Vergessens.

Ungewohnt schnell hatte mich im Unigebäude in der Münchner Leopoldstraße das alte Studentenlangeweilegefühl eingeholt. Die Tatsache, dass Nero vortrug, mein Lebenspartner, Gefährte, vermochte doch nicht die bleierne Müdigkeit wegzuwischen, die mich langsam, aber zuverlässig einlullte. Ich kritzelte Kästchen auf meinen Block. Irgendwo hatte ich gelesen, dass Zeichnen die Aufmerksamkeit erhöhte. In einem Test merkten sich Versuchspersonen, die während eines Vortrags kritzelten, mehr von den Inhalten als die Personen in der Vergleichsgruppe, die dem Vortrag beiwohnten, ohne zu kritzeln. Das war Wasser auf meine Mühlen. Nero sperrte sich gern gegen solche Einsichten, aber im dunklen Hörsaal, der nur vom Licht des Beamers erhellt wurde, konnte er mich ohnehin nicht erkennen. Schlimm genug, dass ich kurz vor Weihnachten selbst ein Seminar hier halten würde. Meine alte Fakultät hatte mich angeworben. Man versuche, den Studierenden mögliche Berufsbilder nahezubringen. Ghostwriterin, meine derzeitige Beschäftigung, gelte als gleichermaßen exotisch und geeignet für zukünftige Philologen. Ich hatte zugesagt, im Hinterkopf die Finanzlage; zudem würde mein nächster Kunde, der derzeit in Mosambik lebte, erst nach Silvester bei mir zum ersten Interview aufschlagen. Nun war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich mich wieder – wenn auch nur auf Zeit – in den akademischen Alltag stürzen wollte. Obwohl ich mein Studium genossen hatte, war mir diese Welt stets eng und verkorkst erschienen.

Der Raum war gesteckt voll. Nero vertrat Europol auf einem Symposium, zu dem ein Think Tank eingeladen hatte. Kluge Köpfe steuerten ihre Ideen zu Fragen der Integration von Migranten bei. Nero referierte als Außenseiter, sprach darüber, wie klug strukturierte Datenbanken ihren Beitrag leisten konnten, als Flüchtlinge getarnte Bösewichte zu finden. Ich kannte den Vortrag auswendig. Er hatte ihn x-mal geprobt. Nero war ein Pedant. Es kam nicht infrage, dass er 32 Minuten sprach, wenn er laut Programm 30 zur Verfügung hatte. Wie üblich bei solchen Veranstaltungen, war die Zeit schon vorausgeflogen. Weil sich eben kein anderer Redner an die Vorgaben hielt.

Seit einem halben Jahr beriet Nero Europol in Sachen informationelle Netze. Zu Hause sprach er nur über wenige Aspekte seiner Arbeit, war zu Geheimhaltung verpflichtet. Diese Migrationssache musste er nicht diskret behandeln, im Gegenteil. Man wollte die Migranten, die vor dem Gesetz aufgefallen waren, im Auge behalten, und dazu leistete Nero einen Beitrag als Polizist und Programmierer. Er flog oft nach Brüssel zu seinem Team, aber einen Teil der Arbeit, die in reichlich Recherche und Programmierkram bestand, erledigte er am heimischen Schreibtisch.

Ich ließ den Stift sinken und warf einen Blick auf mein Handy. Warum auch immer. Wahrscheinlich suchte ich einen Kontakt zum wahren Leben da draußen. Was ja tief blicken lässt, wenn man die Nachrichten auf einem Handy für das wahre Leben hält.

Ein Fenster zum Rausgucken gab es nicht. Ich fragte mich, welcher vernebelte Architekt Studenten und Dozenten einen Bunker zum Lernen gebaut hatte. Neben mir wippte ein Mann mit dem Knie. Das Klapptischchen vor mir wackelte. Seufzend legte ich das Handy weg.

Ich sollte mich freuen. Nero war wieder topfit. Den Herzinfarkt hatte er auskuriert. Das schlimme Ereignis war verblasst, aber noch zu gegenwärtig, um es ganz außer Acht zu lassen. Ihm gefiel seine neue Tätigkeit, und er hatte sie nach langen, zermürbenden Jahren bei der Mordkommission und schließlich im LKA redlich verdient.

Und ich. Ich griff nach meinem Stift und kritzelte Muster auf den Block. Mich interessierte das alles nicht. Neros Chiffren, Verknüpfungen und Algorithmen gingen mir am Körperteil vorbei. Das Tamtam, mit dem Deutschland die Migration und die Flüchtlingspolitik Woche für Woche erneut aufkochte, berührte mich überhaupt nicht. Das Land würde nicht implodieren, und die meisten Lösungen für akute Probleme fanden sich ohnehin von selbst. Das Gewinsel über den Untergang des Abendlandes ging mir furchtbar auf die Nerven. Als hätte man nicht schon Schlimmeres überstanden als ein paar Leute mehr, die nicht an Sprachkursen teilnehmen wollten, und den einen oder anderen Schlawiner, der sich Sozialhilfe erschlich. Du meine Güte.

Wahrscheinlich, so sagte meine Freundin Juliane oft, lag es an meiner Versehrtheit, dass ich mich über Luxusprobleme echauffieren konnte. Versehrtheit. Was für ein grauenvolles Wort. Aber Juliane stand in den 80ern, sie durfte dumme Wörter verwenden. Ich hatte Übles hinter mir. Hatte einen Bombenanschlag überlebt und eine lange Rekonvaleszenz. Ich wusste, was das Leben wert war. Wirklich wert. Und Nachrichten über Machetenangriffe in Vorortzügen blendete ich lieber aus.

Sollte eine Frau, die bei einem Attentat beinahe ums Leben gekommen ist, gezwungen sein, in einem abgedunkelten Hörsaal zu sitzen und sich Dinge anzuhören, die sie erstens nicht interessierten und die sie zweitens schon kannte?

Ich lehnte mich zurück. Der Wipper neben mir stellte seine Attacken ein.

Ich griff wieder nach dem Handy.

*

Mama.

Wenn ich das nur sagen könnte. Dieses eine Wort. Nur zwei Silben.

Kann ich nicht. Da drehe ich durch. Wenn man nicht weiß, was eine Mutter ist …

Alle diese Lügen. Ich kann sie nicht mehr ertragen, sie sind wie Steine, die mich runterziehen, und dann ist es kein Wunder, wenn ich untergehe. Wenn mir das Atmen unmöglich wird. Ich halte ein bisschen die Luft an. Das geht ganz gut. Ungefähr zwei Minuten. Dann wird es hart. Dann sehe ich rote Punkte, und mein Herz fühlt sich an wie ein Blasebalg, der gleich platzt. Also atme ich wieder. Ich kann es ja später wieder versuchen.

Meine Mutter hat mich hergebracht. Sie hat mit den Ärzten geredet, dafür gesorgt, dass ich ein besseres Zimmer bekomme, nicht das über der Küche, wo der Abzug die ganze Zeit den Gestank von Lauch und Zwiebeln absondert.

Als wenn mich der Abzug sonderlich interessiert. Oder der Lauchgestank.

Mich interessiert gar nichts mehr.

Ich wollte sterben. Na und? Warum denn nicht? Sterben müssen wir alle.

Meine Mutter hat das nicht zugelassen. Angeblich weil sie mich liebt, aber was ist schon Liebe?

Ich soll nicht stigmatisiert werden. Soll an die Zukunft denken. »Das wird jetzt so gemacht!«

Sie zogen mich aus dem Fluss, zerrten an mir herum. Wenn sie wollen, dass ich lebe, kann ich dann nicht nach meinen Vorstellungen leben? Ganz bestimmt würde ich mir nicht so einen beknackten Ort aussuchen.

Wir sind zu zweit im Zimmer. Das andere Mädchen ist käseweiß, als wäre sie seit Jahren nicht aus dem Haus gekommen, und sie hat Nasenlöcher, die aussehen wie die Nüstern eines Drachen. Ich mag sie nicht. Sie macht den Mund nicht auf, erzählt nichts von sich, bloß dass sie das Fach im Schrank, das mir zusteht, nicht räumen will, da habe ich einfach ihren Krempel auf den Boden geschmissen und meine Sachen in das Fach gelegt. Was für eine blöde Tussi. Ich bin keine, die sich einschüchtern lässt. Mit Mädchen, die Drachennasenlöcher haben, rede ich gar nicht erst.

Die Wände sind gelb gestrichen und die Vorhänge gelb-grün gestreift. Die denken anscheinend, dass uns das heiter stimmt. Dabei ist der Himmel ständig grau, es regnet in Strömen, und dann sieht das Gelb aus wie ausgekotzt. Danke, nein.

Ich habe genug zu lesen dabei. Wenn ich mit den Büchern durch bin, fange ich wieder von vorne an. Ich werde das Nasenlochmädchen und die gelben Wände nicht anstarren. Lieber starre ich auf die Buchstaben in den Büchern, und wenn ich nur glotze.

Das Wasser war schrecklich kalt. Ich konnte nicht untergehen. Ich kann ja schwimmen. Das habe ich nicht bedacht. Diese Kälte. Dass der Körper sich bewegt, unwillkürlich, dass er nicht locker lässt, Arme und Beine wie von selbst zucken. Der Plan war, mich einfach treiben zu lassen. Hat nicht geklappt, und schließlich haben sie mich rausgezogen. Irgendwann hätte mich die Strömung vielleicht unter Wasser gedrückt. Dann hätte ich den Atem angehalten, bis mein Körper endlich den Reflex des Atmens ausgelöst hätte, und so hätte ich Wasser in meine Lungen gesaugt, wie eine Irre hätte ich gesaugt, und dann wäre ich ertrunken. Aber ich habe die Kälte unterschätzt. Hätte bis zum Sommer warten sollen.

Meine Mutter hat dem Mann, der mich rausgezogen hat, Geld gegeben. Der hat sich nämlich den Anzug und die Schuhe und alles versaut. Das war schlimm für sie. Dass einer sich dreckig gemacht hat! Meinetwegen! Dem noch größeren Stück Dreck zuliebe. Dem Miststück, das man anlügen kann. Lebenslang anlügen.

Daran sollte die Psychotante mal denken, die mit mir redet. Die Sitzungen sind ganz witzig, wir hocken in ihrem Büro, aus einer Schale kann ich mir Schokolade nehmen, so viel ich will. Sie fragt nichts über den Fluss und die Kälte und den Mann, nichts über meine Mutter. Sie nennt es: die Patientin reden lassen.

Ich bin keine Patientin. Ich bin nicht krank. Die anderen sind krank. Meine Mutter und alle, die lügen. Allerdings werde ich einen Teufel tun und auch nur einen Piep zum Thema Lügen sagen. Ich höre erst mal zu. Dann kriege ich raus, was ich sagen muss, damit ich hier schnell raus bin. Momentan ist es okay, hier zu sein. Wenigstens sehe ich meine Mutter nicht und muss ihren Putzwahn nicht ertragen.

Die passen hier gut auf mich auf.

Doch in dieser Bude schlitze ich mir bestimmt nicht die Pulsadern auf. Im Sommer versuche ich es wieder mit dem Fluss. Dann ist das Wasser wärmer, und ich kann treiben, ohne dass Arme und Beine von selbst anfangen zu strampeln. Blöd bin ich nicht.

22. November Kapitel 3

Gadi hampelt herum. Gadi will auf die Rutsche. Gadi will auf die Wippe. Gadi weint endlich mal nicht. Sie hampelt nur.

Ich setze mich auf das eine Ende der Wippe, mit ihr auf dem Schoß. Sie stößt mich weg. Das schafft sie natürlich noch nicht, ich bin stärker. Ich lache und wühle meine Nase in ihren Kopfflaum. Ich sage ihr kosende Worte, wie Mama sie ihr gesagt hat.

Gadi zappelt. Gadi will allein hier sitzen. Gadi macht einen Aufstand.

Sie ist ein Zwerg voller Kraft.

Wir wippen nicht, denn niemand kommt und besetzt den zweiten Wippenplatz. Ich hüpfe auf und nieder mit Gadi, aber sie kriegt spitz, dass wir nicht richtig wippen.

Sie hört auf zu zappeln und weint.

Ich weine beinahe mit. Schlucke die Tränen. Ich will nicht an Mama denken, nicht an den Opa. Dann schaltet nämlich etwas in meinem Kopf aus, und ich treibe wie im Nebel. Der Nebel macht mir Angst. Mein Magen knurrt.

Die Männer waren nicht mehr fies zu Gadi und mir. Wenn mein Onkel noch hier wäre, würde sich keiner trauen, uns anzugreifen. Aber Abdul ist weg. Ich frage nicht nach ihm. Abdul wird Gründe haben. Das hat Mama immer gesagt, wenn der Opa schimpfte. Abdul wird seine Gründe haben, lass ihn.

Der Tag ist grau und still wie alles in mir drin. Regentröpfchen setzen sich auf Gadi und mich, sie sind ganz dünn. Leicht. Und kurz darauf sind unsere Kleider schon durchnässt. Ich halte meine Hand über Gadis Kopf. Sie braucht eine Mütze. Ich muss in der Kleiderkammer fragen, da geben sie einem was. Nur Babymützen hatten sie neulich nicht, bloß ganz kleine, die passten selbst Gadi nicht, obwohl sie wirklich winzig ist.

Ich hüpfe auf und ab, und Gadi quengelt. Kein anderes Kind ist in Sicht. Ich drücke ganz viele müde Küsse auf Gadis Köpfchen.

Eine Frau steht da.

Sie drückt ihre Hand auf das andere Ende der Wippe. Wir heben uns ein bisschen. Meine Füße stehen immer noch auf dem Boden.

Gadi lacht.

Die Frau drückt mit mehr Kraft und stemmt ihr Knie auf den Sitz. Eine Kraft hebt uns in die Höhe, die Gadi zum Juchzen bringt. Ich halte sie ganz fest.

»Das ist lustig, nicht?«, fragt die Frau. Sie spricht wie wir. Wie die Leute aus Raqqa. Ihr Gesicht ist vom Kopftuch eingerahmt, auch den Mund sehe ich nicht, gegen den Regen hat sie sich einen dicken Schal umgebunden. Vielleicht ist sie eine von den Flüchtlingen, die gestern mit dem Bus gebracht wurden.

»Sag doch, Gadi! Das macht Spaß, was?«, feuere ich meine Schwester an.

Gadi gurgelt vor Lachen, während wir auf und nieder hüpfen. Die Frau gibt Acht, dass wir nicht zu dolle wippen. So, dass ich mich selbst festhalten kann und Gadi dazu. Sie lässt uns manchmal, wenn wir oben sind, eine Weile schweben, dann sausen wir in die Tiefe, Gadi jubelt, ich halte sie und presse meine Lippen auf ihr Köpfchen.

»Was für ein hübsches Kind!«, sagt die Frau.

»Danke. Das sagen alle.«

»Möge Gott sie segnen. Sie ist doch ein Mädchen?«

»Ja. Sie heißt Gadi.«

»Das bedeutet: mein Glück.«

Weiß ich doch! Der Opa war so entzückt über Gadis Geburt. Er wählte ihren Namen aus. Unser Vater war schon tot.

Manchmal träume ich, eines Tages in Gadis Gesicht das meines Vaters zu sehen. Sie hat sein Kinn, so ein festes, rundes Kinn. Das hat der Opa immer gesagt und gelächelt.

»Bist du ganz allein hier?«, fragt die Frau.

»Nein. Unser Onkel ist mit uns gekommen.« Das ist die Wahrheit, und was nach unserer Ankunft geschah, brauche ich niemandem zu sagen. Vielleicht kommt Abdul ja wieder. Ab und zu steht er am Zaun und winkt. Er bringt Essen, ein Spielzeug für Gadi, für das sie noch viel zu klein ist.

»Sie sollte eine Mütze haben«, sagt die Frau.

Ich nicke.

Wir wippen, ich lege meine Hand über Gadis Kopf. Wippen. Wippen. Gadi wird müde davon. Ihr fallen die Augen zu.

Als die Frau aufhört, die Wippe zu betätigen, wird sie wieder hellwach und fängt zu weinen an.

»Hör mal. Die Kleiderkammer ist jetzt offen. Willst du nicht schauen, ob du eine Mütze für deine Schwester findest? Und auch was für dich. Deine Sachen saugen sich ganz mit dem Regen voll.«

Ich nicke. Steige von der Wippe. Gadi brüllt.

»Ich passe solange auf sie auf. Das dauert keine Viertelstunde, bis du was Passendes gefunden hast, was meinst du?«

Das kann ich nicht machen, sagt eine Stimme in mir.

»Übrigens geben sie im Speisesaal für Kinder ein paar Extras aus.«

Ich nehme Gadi besser mit. Aber die tobt in meinen Armen. Will wieder auf die Wippe. Ich setze sie auf den Boden. Die Frau streckt die Arme nach ihr aus. Gadi watschelt auf sie zu.

»Na komm, meine Kleine, meine Süße, Sonnenscheinchen!« Sie streckt die Arme nach meiner Schwester aus, und Gadi lacht.

Sie wird gar nicht merken, dass ich weg bin. Nur kurz. Ich bin ja nur kurz weg.

Kapitel 4

Juliane Lompart, die ihr Alter gern mit »ein klein wenig über 80« angab, ließ sich im Sessel nieder und betrachtete ausgiebig ihr hageres Gesicht im Spiegel. Sie sollte ein wenig zunehmen. Allmählich wirkte sie wirklich wie ein mit Haut überspanntes Knochengerüst. Und der Lidstrich aus den 60ern, musste der wirklich sein? Sie nestelte an ihren Kreolen.

»Wie immer, Frau Lompart?«

»Hm«, machte Juliane. Kathi Deusel schnitt ihr seit Jahr und Tag die Haare. Fedrig, kurz, mit langen Koteletten. Überflüssig, zu fragen.

»Haben Sie gehört, Frau Lompart? Da soll es im Flüchtlingslager richtig einen Auflauf geben.«

»Heim.«

»Wie?« Kathi rollte Julianes Federgewicht mitsamt dem schweren Sessel zum Waschbecken. »Bitte zurücklehnen, Frau Lompart.«

»Es ist ein Flüchtlingsheim. Kein Lager.«

Wasserrauschen.

»Ist es so angenehm, Frau Lompart?«

Juliane sagte nichts. Mit Kathi Deusel verband sie eine Beziehung ausdauernden, gleichwohl respektvollen Kleinkriegs.

»Jedenfalls, das haben sie in der Zeitung geschrieben, kommt die Suttner nach Ohlkirchen. Die Landtagsabgeordnete, die sich starkmacht für Kinderrechte.« Kathi massierte Julianes Kopf. Der Duft von Neroliblüten breitete sich aus. »Schrecklich, nicht wahr, die armen Würmer, verlieren die Heimat, ertrinken beinahe im Mittelmeer und landen in unserem allerschlimmsten oberbayerischen Wetter.«

Juliane schwieg. Der Druck von Kathis Händen an ihrem Schädel tat wohl. Sie spürte förmlich, wie die Anspannung der letzten Wochen von ihr gekratzt wurde. Dabei hatte sie sich freiwillig bereit erklärt. Und war immer noch mit dem Herzen dabei.

»Sie sind doch dort engagiert, im Lager, nicht, Frau Lompart?«

»Heim.«

»Sind dort viele Kinder?«

»Schon.« Juliane war seit drei Tagen nicht mehr dort gewesen. Ein Minivirus. Konnte man sich im November leicht einfangen. Nachher würde sie wieder zum Dienst antreten. Der Umtrieb fehlte ihr. Eine einsame Wohnung war nicht der atmosphärische Höhepunkt des persönlichen Daseins.

»Die armen Kleinen.« Kathi spülte das Shampoo aus Julianes Haar. Das Neroliblüten-Aroma verflog.

Juliane fand das Wetter am wenigsten bedrückend, wenn sie an die Kinder im Ohlkirchener Flüchtlingsheim dachte. Sie sah die Bedrohungen eher von innen, nicht vom Himmel kommen.

»Andrea von Suttner?«, fragte Juliane, während Kathi ein Handtuch um ihren Kopf schlang.

»Genau die. Groß angekündigt. Pressetermin. Politiker und was weiß ich für Prominente werden erwartet.«

Halten ihren Rüssel in die Kameralinse und sind wieder weg, wenn’s brenzlig wird, dachte Juliane. Flüchtlingshelferin war genau ihr Ding. Sie war abgeklärt genug, um bereits vor Dienstantritt zu ahnen, dass es mit reiner Menschlichkeit nicht getan war. Sie hatte sich nicht getäuscht. In den vergangenen Monaten war sie mit zwischenmenschlichem Dreck umströmt worden. Schmutz, Schuld, Wahnsinn, Trauma. Und mittendrin navigierten die Kinder. Wie viel von den Tragödien um sie herum sich für immer in ihren Seelen einbrennen würde, wusste niemand. Verstörend. Aber in ihrem Alter warf Juliane nichts mehr um. Nicht mehr viel.

Kathi rubbelte ihr Haar halb trocken und begann zu schneiden.

»Da treiben sich eine Menge junge Männer herum. Wissen Sie, das macht mich unsicher.«

»Männer sind potenziell immer Störenfriede.« Und Gefahren für die Allgemeinheit, fügte Juliane im Stillen hinzu.

»Da gibt es jetzt eine WG. In der Waldstraße. Nur Männer. Ich wohne zwei Straßen weiter. Wenn ich nach der Arbeit heimfahre, ich sage Ihnen, Frau Lompart, da kann eine Frau wirklich Angst bekommen. Selbst bei diesem Schmuddelwetter lungern die vor dem Haus herum.«

»Waldstraße, sagen Sie?«

»Sie wohnen nicht so weit weg von da, wie?«

»Hm.«

»Und es sind immer wieder andere. Meine Freundin ist Sekretärin bei der Zeitung, und die sagt, da kommen täglich Anrufe rein, weil Anwohner sich beschweren. Die fühlen sich verunsichert. Nur Männer. Kommen Sie da mal nachts nach Hause, als Frau, wenn Sie Spätschicht arbeiten zum Beispiel. Also ich möchte das nicht!«

Ich möchte auch vieles nicht, dachte Juliane. Nur kümmert es die Welt leider gar nicht, was ich will.

»Jedenfalls sagt Rosi, meine Freundin, dass diese ganzen Beschwerden nicht aufgegriffen werden. Die Redakteure hören sich alles an und vertrösten. Da wird was verheimlicht, glauben Sie nicht, Frau Lompart?«

Schnipp, machte die Schere. Belustigt betrachtete Juliane, wie weißes Haar auf den dunkelblauen Frisierumhang herabrieselte. Gefühl der Befreiung. Loslassen. Sich nicht mit Überflüssigem abgeben. Und wenn es sich um Haare handelte, die anderthalb Zentimeter zu lang geworden waren.

»Ich bin überzeugt, dass vieles nicht an die Öffentlichkeit kommt, damit die Stimmung nicht kippt. Die Koteletten wieder spitz, Frau Lompart, nicht wahr?«

»Waldstraße, sagen Sie.« Nicht, dass Juliane Angst vor arabisch aussehenden Männern hatte. Über das Alter war sie hinaus.

»Waldstraße 36, wenn ich mich nicht irre.«

Kathi irrte sich in solchen Dingen nie. Mit ihrem Salon war sie die Börse von Ohlkirchen, mehr sogar als das »Méditerranée«, kulinarischer Geheimtipp des Münchner Speckgürtels. Die Landeshauptstadt lag nur eine halbe Stunde Autofahrt entfernt. Der Jetset hatte das kultige Restaurant des kanadischen Kochs Claude-Yves vor Jahren für sich entdeckt, wodurch der kleine Ort im Fünf-Seen-Land auf der Landkarte der Reichen aufgetaucht war. So entstand Kult. Juliane musste grinsen, wenn sie daran dachte, dass ihre Freundin Kea Laverde, Wahl-Ohlkirchnerin, dem Kanadier ein Kochbuch geghostet hatte, das sich verkaufte wie geschnitten Brot. Sie beschloss, bei Gelegenheit in der Waldstraße vorbeizugehen. Gut möglich, dass …

»Frau Lompart, den Pony schön fransig? Und ein wenig von der Seite her geschnitten, wie?«

»Exakt, Kathi.« Juliane schmunzelte, und das Gesicht im Spiegel zerfiel in 1000 Fältchen.

Kapitel 5

Alle lügen.

Mama hat gelogen. Sie hat gesagt, in Europa ist alles besser.

Bestimmt hat sie auch gelogen, als sie gesagt hat, Opa wird wieder gesund.

Was, wenn der Opa stirbt, und Mama ist ganz allein zu Hause? Warum bin ich nicht dort?

Ich renne in die Kleiderkammer und habe ruckzuck ein Mützchen für Gadi ergattert. Die Frauen sind nett da. Die meisten haben kurze Haare und tragen bunte Westen über ihren Sachen. Sie lächeln viel.

Alle lügen.

Im Speisesaal gibt es keine Extras für Kinder. Nur ein paar Frauen sitzen an den Tischen. Sie haben Papiere vor sich und reden. Ich stehe eine Weile unschlüssig an der Essensausgabe, aber da ist niemand, und schließlich kommt die rothaarige Frau und sagt etwas. Wenn ich sehe, wie sich ein Mund bewegt, wie Lippen sich runden und spreizen, und wenn ich nichts verstehe von dem, was aus dem Mund kommt, möchte ich davonlaufen. In irgendein Dunkel.

Nach Hause.

Die Frau rudert mit den Händen, sie zieht die Schultern hoch, ihre Handflächen zeigen nach oben. Ich verstehe. Es gibt jetzt nichts zu essen. Sie deutet auf die Uhr. Vielleicht denkt sie, ich kann die Uhr nicht lesen, doch ich weiß auch so, dass erst am Abend wieder Essen ausgegeben wird. Plötzlich ist mein Kopf voller Luft. So viel, dass der Kopf bestimmt gleich platzt.

Ich habe versprochen, auf Gadi aufzupassen, ich kann mir keinen geplatzten Kopf leisten. Ich muss zu Gadi.

Gerade jetzt rast Angst wie ein Blitz durch mich hindurch. Ich renne. Raus aus dem Speisesaal, durch den kalten Flur, zur Tür, wo der böse Typ in dem schwarzen Overall steht, ich stoße die Tür auf, raus! Wind, Regen, Nässe, Grau.

Der Spielplatz. Matsch. Sand. Die Rutsche. Die Wippe.

Keine Gadi. Keine Frau.

Ich schreie. Die Luft schießt aus meinem Mund, und mein Kopf ist leer. Ich habe es versprochen, versprochen, auf Gadi aufzupassen.

Mama!

Etwas schlägt in meinen Bauch, ich muss mich zusammenkrümmen.

Zum Klettergerüst! Keine Gadi!

Zurück zur Rutsche. Keine Gadi.

Zur Wippe. Nichts.

Die Frau ist mit Gadi reingegangen. Bestimmt ist sie das. Es regnet immer stärker, ich habe ein nasses Gesicht, das Mützchen für Gadi ist durchtränkt vom Regen, ich presse es an meine Wange, es ist kalt, eisig.

Ins Haus. Schlafsaal. Speisesaal. Duschen. WCs. Der Gang. Der Gang.

Ich keuche. Angst. Schweiß. Die Nässe des Mützchens an meiner Wange.

Leute kommen gerannt. Ich höre Kreischen, Weinen, Brüllen.

Das bin ich. Safiye. Zwölf Jahre alt. Aus Raqqa, Syrien.

Gadi ist weg. Sie ist verschwunden und mit ihr die Frau.

Kapitel 6

Resmi hatte darum gerungen, zu vergessen; sah nur noch nach vorn. Deshalb tat er das hier. Er fuhr in einem Auto über die Autobahn zum Flughafen. Etwa zehnmal pro Monat. Er kannte die Autobahnen, steuerte regelmäßig München, Stuttgart, Frankfurt an. Er tat es für die Kinder und die Zukunft. Zwang sich, das Gute zu sehen. Das, was sie für diese Kinder taten.

Er fragte nie nach. Er trank auch nicht. Er war Muslim, aber mitunter hatte er sich ein Glas Wein gegönnt. Er sah das nicht so eng. Was hatten sie gefeiert, er und seine Frau und die Freunde. Damals. Nein, es war nicht lange her. Und zugleich Äonen.

Jetzt trank er nicht mehr. Sein Führerschein war ihm heilig. Er ermöglichte ihm den Broterwerb, und er hoffte immer noch, wenigstens seine beiden kleinsten Töchter nach Deutschland holen zu können. Die Hoffnung schwand, zu viel Bürokratie, außerdem kamen die Mädchen ohne einen männlichen Verwandten nicht aus Raqqa raus, geschweige denn, dass sie Passierscheine besaßen, um bis in den Libanon zu kommen. Doch die deutsche Botschaft in Beirut hatte erst im nächsten Jahr wieder Termine für die Antragstellung frei. Im Sommer 2018! Bis dahin waren die Mädchen unter Umständen nicht mehr am Leben.

Die Frau, die er im Rückspiegel beobachtete, war schön. Eine Syrerin, sie trug das Haar blond gefärbt und kurz, wie es die europäischen Frauen scheinbar bevorzugten. Er fand, die sahen allesamt aus wie Männer, hässlich gekleidet waren sie, trugen keinen Schmuck und derbes Schuhzeug. Aber die hinten auf der Rückbank: eine Schönheit. Eine moderne Syrerin, solche, wie es sie hunderttausendfach gegeben hatte, damals, in jenen Tagen, in denen er sein richtiges, sein echtes Leben gelebt hatte. Seither war er nicht mehr in Syrien gewesen.

Seine Frau war auch eine moderne Frau gewesen, eine studierte, hatte als Architektin gearbeitet, bis der IS losgelegt hatte und sie in Raqqa nur noch mit Gesichtsschleier und bodenlangem Umhang auf die Straße konnte. Trotzdem war sie rausgegangen, und da hatte es sie erwischt. Kein Abschied. Nur Leere. Höllenleere.

Er würde nicht an Saida denken. Nicht jetzt. Manchmal dachte Resmi an sie, trauerte, an Tagen, an denen er niemanden fahren und die winzige Wohnung nicht verlassen musste; und dann waren da seine Töchter, von denen er Tag und Nacht träumte, beständig umlagerten sie ihn, seine drei Augensterne. Die Älteste hatte geheiratet und lebte mit ihrem Mann in einem Lager in der Türkei. Die beiden Jüngeren schlugen sich durch, mithilfe der Großeltern. Er war erst anderthalb Jahre in Deutschland, seitdem kämpfte er darum, die Mädchen holen zu können.

Deutsch hatte er schon ganz gut gelernt. Im Alltag kam er zurecht, nur mit dem Lesen und Schreiben haperte es. Er konnte sich verständlich machen, sodass er in der Apotheke die Kapseln gekauft hatte. Die Frau sprach zwar auch Deutsch. Womöglich besser als er. Doch die Anweisungen lauteten ganz eindeutig. Er war zuständig für die Medikamente und fürs Fahren. Er würde sie an einem Hotel am Münchner Flughafen absetzen. Dort würde sie mit dem Kind übernachten und am nächsten Morgen in ein Taxi steigen und zum Terminal fahren. Einchecken und die Sicherheitskontrollen absolvieren. An der Passkontrolle würde sie ein schlafendes Kind im Arm wiegen.

Manchmal stand er, wenn er einen Auftrag zu Ende gebracht hatte, eine Weile an dem Wanderweg bei Schwaig, direkt an der Rollbahn, und beobachtete die Flugzeuge, die eines nach dem anderen davonzogen, so elegant, so leicht. Er war noch nie geflogen, aber er stellte es sich grandios vor, in so einem Riesenvogel zu sitzen und getragen zu werden, ohne sich sorgen zu müssen, wie der nächste Schritt aussehen würde.

Das kleine Mädchen hatte sich gegen den Kindersitz gewehrt und geschrien und getobt. Die Frau hatte das ganz klug gemacht. Sie hatte gesungen, gescherzt, gelacht. Das Medikament hatte das Seine getan. Sie würden zur Not als Paar mit einem Kleinkind durchgehen, aber das mussten sie gar nicht, alles lief ganz legal. Nicht wie vor 18 Monaten auf seiner Flucht, wo er selbst beinahe zum Kriminellen geworden war.

»Sie schläft«, sagte die Frau.

»Ja.« Schon eine ganze Weile tut sie das, dachte er, aber er war froh um die Unterbrechung seines Gedankenrinnsals, das sich wahrscheinlich bald zu einem mächtigen Strom ausgewachsen hätte.

»Ihre Schwester ist ein hübsches Mädchen.«

»Ihre Schwester?«

»Ja, sie ist mit ihrer Schwester gekommen. Sie ist erst zwölf.«

Er zögerte kurz. Es gab keine Alternative zu dem, was sie hier taten.

»Wie heißt sie?«

»Dieses Kleine hier?« Zärtlich strich die Frau dem Kind über den Kopf. »In den Papieren heißt sie Sonia. Aber ihre Schwester nannte sie Gadi.«

»Mein Glück«, murmelte Resmi.

»Schöner Name, nicht wahr?«

Sie schwiegen beide. Umso lauter trommelte der Regen auf die Windschutzscheibe. Er überholte einen Lkw. Gischt hüllte den Wagen ein, ihn, die Frau, das Kind.

Mein Glück.

»Möge Gott sie segnen. Möge sie ein helles, gesundes, glückliches Leben haben, dort, wo sie hingeht. Mögen viele Menschen sie lieben«, brach es schließlich aus ihm heraus.

»Hm.«

Im Rückspiegel sah er das träumerische Lächeln der Frau.

Er verdiente gut. Ziemlich gut für die einfachen Dienste, die er tat. Fahren, einkaufen, Leute abholen, abliefern. In ein paar Monaten hätte er genug gespart. Er würde seinen Töchtern alles ermöglichen: Schule, Ausbildung. Dass sie ein helles, glückliches Leben hätten. Das wünschte er. Mochte Gott sie segnen. Wenn er sie nur endlich bei sich hätte.

»Wie sind Sie nach Deutschland gekommen?«, fragte er, während er den Blinker setzte, um auf die A 92 abzubiegen.

Sie lachte auf. »Ich habe geheiratet.«

»Einen Deutschen?«

»Ja. Einen Deutschen.«

»Was macht er beruflich?«

»Er ist Arzt.«

Aha. Arzt war ein guter Beruf. Aber die syrischen Ärzte durften in Deutschland nicht arbeiten, jedenfalls nicht sofort. Er war Ingenieur, Wasserbau. Hier fände er nie einen Job.

»Und Sie?«

»Ich?«

»Sind Sie auch Ärztin?«

»Hebamme.«

»Ach.«

»Ja.«

»Haben Sie selbst Kinder?«

»Zwei. Zwei Jungen.«

»Möge Gott Ihre Familie segnen.« Er sah ihr Lächeln im Rückspiegel.

Kapitel 7