Familie mit Herz 173 - Felicia Blum - E-Book

Familie mit Herz 173 E-Book

Felicia Blum

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Beschreibung

Annicks Leben besteht neben Schule aus Werbedeals, Markenkooperationen und vor allem Content-Produktion für ihren Youtube-Kanal. All diese Pflichten und Termine organisiert ihre Mutter, die mittlerweile zu ihrer Managerin geworden ist. Ein Video nach dem anderen lädt Sandra über den Alltag ihrer Tochter hoch. Vor zehn Jahren wurde die heute Fünfzehnjährige über Nacht zu einem Social-Media-Star. Und das nur, weil Sandra ein Video über Annicks 1. Schultag veröffentlicht hat. Mehr als hunderttausend Follower nehmen heute an dem Leben des blonden Teenagers teil, folgen den Kaufempfehlungen und wollen so sein wie sie.
Doch plötzlich taucht ein Video auf, in dem Annick berichtet, dass ihr Leben als Influencerin der reinste Albtraum sei. Sie klagt ihr Mutter an über zu wenig Privatsphäre, sie spricht über unter Online-Belästigung und Mobbing, sogar Ängste und Depressionen habe sie und müsse für ihre Mutter Zwangsarbeit leisten. Ist das glückliche Familienleben nur Fake?


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Inhalt

Cover

Die Mami-Bloggerin

Vorschau

Impressum

Die Mami-Bloggerin

Ist ihr Familienglück am Ende nur Fake?

Von Felicia Blum

Annicks Leben besteht neben Schule aus Werbedeals, Markenkooperationen und vor allem Content-Produktion für ihren YouTube-Kanal. All diese Pflichten und Termine organisiert ihre Mutter, die mittlerweile zu ihrer Managerin geworden ist. Ein Video nach dem anderen lädt Sandra über den Alltag ihrer Tochter hoch. Vor zehn Jahren wurde die heute Fünfzehnjährige über Nacht zu einem Social-Media-Star. Und das nur, weil Sandra ein Video über Annicks 1. Schultag veröffentlicht hat. Mehr als hunderttausend Follower nehmen heute an dem Leben des blonden Teenagers teil, folgen den Kaufempfehlungen und wollen so sein wie sie.

Doch plötzlich taucht ein Video auf, in dem Annick berichtet, dass ihr Leben als Influencerin der reinste Albtraum sei. Sie klagt ihr Mutter an über zu wenig Privatsphäre, sie spricht über unter Online-Belästigung und Mobbing, sogar Ängste und Depressionen habe sie und müsse für ihre Mutter Zwangsarbeit leisten. Ist das glückliche Familienleben nur Fake?

Es gab auf dieser Welt wohl keinen Menschen, den Sandra Hartmann mehr liebte als ihre Tochter.

Mit diesem Gedanken wachte die alleinerziehende Mutter mit den honigblonden, langen Haaren auf, streckte sich und sah zufrieden aus dem Fenster. Der Berliner März war immer noch recht kühl, trotzdem kündigte sich im Prenzlauer Berg zaghaft der Frühling an.

Erst letzte Woche hatte Sandra im Mauerpark Schneeglöckchen und Winterlinge entdeckt und schnell ein paar Fotos gemacht, die sie zu einem kleinen Sekundenfilm zusammengeschnitten und als »Reel« auf YouTube hochgeladen hatte. Auch auf Instagram teilte sie solche Dinge, dort hießen sie »Stories« und wurden ganz oben auf der Startseite ihrer Abonnenten angezeigt. Die treuen Zuschauer der Familie liebte solche Aufmerksamkeiten.

Sandra stand auf und richtete Kopfkissen und Decke ihres Kingsize-Bettes so ordentlich, als hätte nie jemand darin geschlafen. Dann ging sie in ihren begehbaren Kleiderschrank und entschied sich für einen beigen Kaschmirpullover und eine helle Jeans.

Sie setzte sich an ihren Schminktisch, flocht ihr Haar zu einem Fischgrätenzopf und trug Foundation, Concealer und etwas Rouge auf, um frisch, aber trotzdem noch ungeschminkt auszusehen. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk im Spiegel, dann ging sie zurück ins Schlafzimmer und griff nach ihrer Kamera, überlegte es sich dann jedoch wieder anders und nahm stattdessen ihr Handy zur Hand. Schnell öffnete sie Instagram und schaltete den Live-Stream an.

»Hallo, meine liebe Annickerbande! Ich wünsche euch einen wunderschönen guten Morgen und freue mich, dass ihr wieder zu ›Annicks Tag‹ eingeschaltet habt!«

Sie streckte den Arm weit von sich und etwas höher, damit das Handy sie aus einem guten Winkel filmte. Ihr Gesicht sah dabei immer recht schmal und vorteilhaft aus. Ihr Handy zeigte rechts oben an, wie die Zuschauerzahl in die Höhe schoss. Sandra war gerade mal ein paar Minuten online und schon mehr als hundert Menschen verfolgten den Stream ihres Instagram-Kanals. Sandra filmte fast jeden Morgen, viele Fans schrieben ihr, dass sie nach dem Aufstehen nur darauf warteten, den Tag mit Familie Hartmann und der wunderbaren Annick zu starten. Nicht umsonst nannte sich die Community »Annickerbande«. Vor ein paar Jahren hatte sich dieser Begriff durchgesetzt und etabliert. »Meine Bande«, nannte ihre Tochter liebevoll die Zuschauer. Und ja, das waren die Zuschauer. Ihre Bande, der verlängerte Arm der Familie, wenn man so wollte. Ihnen hatten die Hartmanns diesen Lebensstandard zu verdienen. Ihnen und Sandras harter Arbeit.

»Also gut!«, sagte Sandra nun und lächelte in die Kamera. »Heute haben wir einiges vor. Annick schreibt eine Matheklausur, und ich will heute einen ganz tollen Karottenkuchen mit neuem Rezept ausprobieren. Außerdem ist bald wieder Pool-Saison! Ich freue mich schon riesig, aber dafür muss das Becken natürlich richtig vorbereitet werden. Ich sag's euch, meine liebe Annickerbande«, warf sie mit Kopfschütteln ein, »ich habe den vollkommen vernachlässigt. Ich werde euch das später zeigen: Überall ist Laub und Ablagerungen an den Wänden. Da steht eine ordentliche Reinigung an. Ich werde euch natürlich mitnehmen. Das ausführliche Ergebnis seht ihr dann morgen auf YouTube.« Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, während sie das Schlafzimmer verließ und zielstrebig das Kinderzimmer ansteuerte. »Aber nun wollen wir erst einmal Annick wecken«, sagte sie leise in die Kamera, klopfte und öffnete die Tür. »Guten Morgen, mein ...«

»Mama! Nicht!«

Verdutzt blieb Sandra stehen, bis sie das Problem realisierte. Annick war bereits wach und stand vor ihrem begehbaren Kleiderschrank, mit dem Rücken halb zu Sandra. Ihr karamellblondes Haar floss ihre Schultern hinab, die blauen Augen sahen erschrocken zur Mutter. Nur in BH und schwarzer Cargo-Hose stand sie da, die Arme in den Ärmeln ihres kuscheligen Strickpullover versteckt.

»Ach Gott, entschuldige!«, rief Sandra und schloss sofort wieder die Tür hinter sich. Peinlich berührt lachte sie in die Kamera, nach einigem Zögern hörte man auch Annick lachen. »Ihr Lieben, wie unangenehm! Das passiert mir viel zu oft. Ihr wisst ja, bei uns im Haus wird nicht abgeschlossen, aber vielleicht sollten wir uns eine Videotürklingel anschaffen, wenn das so weitergeht. Ich weiß nicht, ob ihr die kennt. Die sind eigentlich für die Haustür gedacht, aber die haben Kamera und Bewegungserkennung integriert. Da sieht man auf dem Smartphone sofort, wer hinter der Tür steht, man ist also gut vorgewarnt. Da kenne ich eine tolle Firma, die akkubetriebene Klingeln im Sortiment hat. Wenn euch das interessiert, lade ich später noch einmal eine Story hoch, wo ich euch die Firma und einen Rabattcode verlinke.«

Sie lächelte so warm und breit, wie sie nur konnte.

»Aber nun muss ich Frühstück machen. Wir sehen uns gleich wieder, meine Lieben.«

Kaum hatte sie den Live-Stream beendet, riss Annick die Tür auf.

»Mama, ich habe dir doch schon so oft gesagt, du sollst nicht sofort reinkommen, nachdem du geklopft hast!«

»Aber du hast nun einmal das schönste Morgengesicht, wenn man dich überrascht«, gab Sandra zurück und gab ihrer schmollenden Tochter einen Kuss auf die Stirn. »Außerdem konnte ich so unseren neuen Werbepartner wunderbar einbinden, besser hätte es nicht laufen können!«

Sandra lachte vergnügt, dann ging sie gemeinsam mit Annick hinunter in die Küche. Während die Mutter sich sofort an der Kaffeemaschine zu schaffen machte, holte Annick eine Schüssel und eine Packung Cornflakes aus einem der oberen Schränke.

»Kann ich am Wochenende Laura sehen?«, fragte sie über das Brummen der mahlenden Kaffeebohnen hinweg.

Sandra wartete einen Augenblick, dann drückte sie wieder auf einen Knopf, um den Brühvorgang zu aktivieren.

»Du weißt doch, dass du Sonntag das Shooting hast. Außerdem müssen wir noch Filmmaterial für nächste Woche vordrehen. Wir haben Gratistickets für den Zoo, sie wollten dich unbedingt als Werbegesicht haben.«

Annick verzog das Gesicht.

»Ich will nicht in den Zoo. Tiere in Gefangenschaft sind unglaublich traurig.«

»Löblich«, erwiderte Sandra, während sie nebenbei auf ihrem Handy das E-Mail-Postfach überflog, »aber wir werden gut dafür bezahlt, damit du erklärst, warum die Tiere eben dabei nicht leiden und es gute Gründe für diese Haltungsart gibt.«

Sie nahm ihren Cappuccino aus der Maschine und setzte sich zu ihrer Tochter, die lustlos in einer Müslischale herumstocherte.

»Nächstes Wochenende kannst du Laura treffen.«

»Das sagst du jedes Wochenende«, gab Annick genervt zurück.

Sandra hob eine dunkelblonde Augenbraue.

»Natürlich triffst du sie nächstes Wochenende! Da feiern wir doch deinen fünfzehnten Geburtstag! Außerdem verbitte ich mir diesen Ton, junges Fräulein.«

Annick sagte nichts. Schließlich stellte sie die halbleere Schüssel in das Spülbecken und sah schnell auf ihre Armbanduhr.

»Ich muss gleich los. Denk daran, dass Onkel Felix mich heute abholt und nach Hause bringt. Sollen wir vielleicht noch schnell ein Video machen, wie ich von der Schule nach Hause komme? Du weißt doch, wie er zu der ganzen Filmerei steht.«

Oh ja, das wusste Sandra. In seiner Anwesenheit herrschte quasi Drehverbot. Es war fürchterlich anstrengend, doch sie ließ es zähneknirschend durchgehen. Zum einen, weil er seit Jahren verbittert daran festhielt, zum anderen, weil Sandra diesem Mann – leider – viel zu verdanken hatte. Er war quasi Annicks Vater-Ersatz. Sie seufzte.

»Du hast recht, mein Schatz. Das ist sehr aufmerksam von dir.« Sie strich ihrer Tochter eine Strähne aus dem Gesicht. »Also gut«, sagte sie wieder im professionellen Ton, »Haare hochstecken, Jacke unterm Arm und vor die Tür. Am besten, du unterbrichst mich mitten in einem Küchenvideo, dann kann ich wieder auf die Türklingel zurückkommen.«

»Super Idee«, sagte Annick zustimmend und ging brav in den Flur.

Sandra sah ihr lächelnd nach.

Ja. Es gab wirklich niemanden auf dieser Welt, den sie mehr liebte und mehr zu verdanken hatte als diesem süßen, goldenen Engel.

♥♥♥

Prenzlauer Berg war ein Stadtteil in Berlin, der für seine alternative Künstlerszene, die vielen Restaurants und vor allem seine stilvoll sanierte Altbauten bekannt war. Die große Anzahl an Spielplätzen, Kindergärten und Schulen zog Familien magisch an. Und Familien, die waren Oliver Feldsteins Spezialgebiet. Das Jugendamt, bei dem er arbeitete, war in einem hohen Backsteingebäude in der Nähe vom Fröbelplatz einquartiert. Sein Schreibtisch stand an einem der hohen Fenster, von draußen hörte er Kinderlachen und dumpfe Bassmusik.

Die Brille, die ihm immer wieder nach vorne rutschte, schob er in regelmäßigen, routinierten Abständen zurück auf seine Nasenhöcker. Seufzend verlagerte er seinen Blick vom Computerbildschirm zu dem hohen Stapel an Unterlagen vor ihm. Der schlanke Mann mit den kurzen, zerzausten Haaren und den nachtblauen Augen übte seinen Job zwar nach wie vor mit einem Feuer aus, das den meisten seiner Kollegen schon erloschen war, doch auch ihn überforderte einstweilen der nie endende Berg an Akten. Es waren die notleidenden Kinder und hilfesuchenden Eltern dahinter, die ihn trotzdem antrieben, jeden Tag unermüdlich weiterzumachen.

»Oliver, spinnst du? Wir haben genug zu tun. Du kannst doch nicht während der Arbeitszeit surfen!«

Der Angesprochene sah auf. Seine Arbeitskollegin, die gerade von der Küche wiedergekommen war, stand mit dampfendem Kaffeebecker und zusammengezogenen Augenbrauen hinter ihm und betrachtete kritisch seinen Computerbildschirm.

Der mahnende Ton erinnerte ihn an die früheren Maßregelungen seiner Mutter, wodurch er aus alter Gewohnheit errötete. Er fing sich schnell wieder.

»Natürlich nicht«, verteidigte er sich und drehte den Bildschirm noch mehr in ihr Blickfeld, »das ist beruflich. Sieh dir das mal genauer an.«

Seine Kollegin beugte sich vor. Die Startseite von YouTube leuchtete sie an. Von den vielen Vorschaubildern der Videos, die man dort sehen konnte, klickte er schließlich eins an. Er drehte die Lautstärke hinunter, aber immer noch laut genug, dass man immer noch gut hörte. Ein Kleinkind war auf dem Rücksitz eines Autos zu sehen, es weinte in die Kamera.

»Verstehst du, warum ich dir den Schnuller wegnehmen musste?«, hörte man eine weibliche Stimme im Hintergrund. Das Kind schluchzte lauter und streckte die Hände in Richtung Kamera. »Nein, den bekommst du nicht wieder. Du bist viel zu alt dafür. Du musst lernen, auch ohne Schnuller den Tag zu überstehen. Du kriegst ihn am Abend wieder.« Es brüllte und tobte nun, man hörte die Mutter schimpften.

»Warum filmt man so etwas?«, fragte Olivers Kollegin irritiert.

Er klickte ein neues Video an. Es zeigte einen Vater, der gemeinsam mit seiner Tochter für ein Gewinnspiel warb. Als Nächstes folgte ein Tanzvideo eines Jungen, der nicht älter als zehn Jahre alt sein konnte. Auf dem Kanal sah man, dass jeden Tag mindestens ein neues Kurzvideo von ihm hochgeladen wurde.

Die Kollegin richtete sich wieder auf und sah auf die Uhr.

»Ich habe leider keine Zeit mehr dafür, ich muss ...«

»Wir haben nie Zeit, Silvia, das liegt in der Sache der Natur. Aber das ist wichtig. Wie oft fehlen uns bei unseren Fällen Beweise? So oft müssen wir uns auf mündliche Aussagen verlassen. Familienblogger wie diese liefern uns massenweise Bildmaterial, bei dem sie gegen die Gesetze verstoßen.«

»An welche Gesetze denkst du da konkret?«, fragte seine Kollegin müde.

Oliver schnaubte. »Hast du denn gerade nicht dieselben Videos wie ich gesehen? Wir sind gerade Zeugen von Kindesmissbrauch und illegaler Kinderarbeit geworden!«

Nun war es an Silvia zu schnauben. »Also, Oliver, ich bitte dich. Beim ersten Video können wir von mir aus noch über Kindeswohlgefährdung diskutieren, aber selbst das finde ich bei ein paar Sekunden Videomaterial weit hergeholt. Und sonst habe ich nur eine Jugendliche neben ihrem Vater auf einer Couch gesehen und einen fröhlichen, tanzenden Jungen.«

Oliver schob sich aufgeregt die dicke Hornbrille auf die Nasenhöcker.

»Das Mädchen bewirbt gemeinsam mit ihrem Vater ein Gewinnspiel. Sie macht nicht nur Werbung, es werden auch Werbeclips währenddessen eingespielt. Das Video ist also monetarisiert. Wie auch die anderen Videos. Die Eltern machen Geld mit diesen Videos. Also ist das Kinderarbeit. Das Kinderzimmer sollte nicht zum Arbeitsort werden.«

Silvia kratzte sich die Stirn. »Kinder über sechs Jahren dürfen bis zu vier Stunden täglich auftreten.«

»In Film und Fernsehen«, warf Oliver ein.

»Ist YouTube doch mittlerweile. Viele schauen nur noch das statt Fernsehen. Die Welt dreht sich weiter, Oliver. Außerdem weiß ich immer noch nicht, ob wir es hier wirklich mit Kinderarbeit zu tun haben. Diese Familien zeigen ihr Leben. Die spielen nichts vor. Ich habe drüben auf meinem Tisch die Anzeige gegen eine alkoholabhängige Mutter liegen, die nicht genug Geld hat, ihrem Kleinen genug Windeln zu kaufen, während du mir belanglosen Familienalltag auf YouTube zeigst. Ich werde meine wertvolle Zeit nicht damit verschwenden, Probleme dort zu suchen, wo sie nicht sind.«

»Und genau das ist das Problem«, beharrte der Sozialarbeiter. »Ich beobachtete diese Familienblogger schon länger, Silvia. Viele von ihnen gehen zu weit, sie profitieren auf Kosten ihrer Kinder. Man muss etwas tun, man muss eingreifen. Ich sehe da Menschen, von denen ich weiß, dass sie Jahre später bei uns landen, wenn man nicht vorher etwas unternimmt.«

Seine Kollegin hob die Brauen hoch.

»Und du willst also etwas dagegen unternehmen?«

Er nickte. »Unbedingt. Wenn man mich lässt.«

Silvia seufzte. Dann sah sie noch einmal auf die Uhr.

»Ich muss jetzt unbedingt weitermachen. Aber wenn dir das wirklich so eine Herzensangelegenheit ist, dann sprich mit der Chefin. Wenn du unbedingt mehr arbeiten willst: Niemand hindert dich daran.«

Sie ging an ihren Schreibtisch und ließ Oliver Feldstein und seine rutschende Brille zurück. Mit ernstem Gesicht sah er auf seinen Aktenstapel und dann wieder auf den Bildschirm. Ja, das wollte er. Auch wenn er jetzt schon viel zu viele Stunden in diesem Büro verbrachte. Aber diese Arbeit war mehr als ein Job. Sie war eine Lebenseinstellung. Er wollte und musste diese Kinder schützen. Er durfte nicht zulassen, dass Eltern unter dem Vorwand von Alltags-Dokumentation erlaubt war, ihre Kinder finanziell auszubeuten. Er würde und konnte nicht tatenlos dabei zusehen, wie diese Online-Plattform das Wohl hunderter Kinder in Deutschland mit Füßen trat.

♥♥♥

»He da, weg mit dem Ding!«

Als Felix Anders sich auf den Fahrersitz seinen roten Peugeot setzte und nach hinten sah, traute er seinen Augen nicht. Oft genug hatte er dem Mädchen schon erklärt, dass in seiner Anwesenheit Social-Media-Nutzung tabu war.

Annick verzog das Gesicht.

»Onkel Felix, ich muss meine Nachrichten beantworten, sonst komme ich nicht hinterher.«

»Du musst vor allem im echten Leben sein«, widersprach er und startete den Motor.

Eine Gruppe von Schülern lief an dem parkenden Auto vorbei, aus dem Schulgebäude strömten noch immer unzählige Kinder. Felix blickte in den Rückspiegel, in dem er seine Nichte weiterhin tippen sah.

»Annick«, mahnte er mit schärferem Unterton.

Widerwillig legte sie das Handy zur Seite. Felix blinkte und wartete darauf, dass die Straße frei wurde.

»Ich spiele ja nicht«, warf das Mädchen hinter ihm ein, »das ist quasi wie Hausaufgaben erledigen. Mama meint, es ist gut, wenn ich meinen Fans persönlich antworte.«

Felix, der endlich eine Lücke gefunden und in gemächlichem Tempo Abstand zwischen sich und Annicks Schule brachte, atmete hörbar aus.

»Umso schlimmer. Du solltest eigentlich nur Hausaufgaben von deinem Lehrer bekommen und nicht deiner Mutter. Außerdem kannst du bei deiner Mama genug am Handy sein. Wir verbringen in unserer kurzen gemeinsamen Zeit Quality Time. Und wenn das heute nur aus dem Fenster schauen bedeutet.« Felix beobachtete, wie Annick sich schmollend abwandte und tatsächlich aus dem Fenster starrte.

»Dafür, dass du keine Kinder willst, verhältst du dich viel zu oft wie ein richtig nerviger Helikopter-Dad.«

»He!«, rief er, während er die Spur wechselte, »ich bin alles andere als nervig. Ich bin immer noch dein cooler Onkel!«

Annick antwortete nicht. Während die beiden am Mauerpark vorbeifuhren, hing auch Felix seinen Gedanken nach. Bei der Bemerkung seiner Nichte hatte er sofort an seine Ex-Frau denken müssen. Die geteilte Vergangenheit war mit Schmerz und Reue verbunden.

»Tut mir leid«, sagte das Mädchen hinter ihm plötzlich, »du denkst bestimmt gerade an Barbara. Ich wollte keine unangenehmen Erinnerungen heraufbeschwören.«

Er lächelte milde. »Ich bin wohl ein offenes Buch für dich, was?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich wollte keine schlechte Stimmung verbreiten, das ist alles. Du wärst sicher ein toller Vater geworden.«

»Danke. Und das hast du nicht«, versicherte er.