Familie Wedel - Eckbert Schulze - E-Book

Familie Wedel E-Book

Eckbert Schulze

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Beschreibung

April / Mai 1945, der 2. Weltkrieg ist in Deutschland zu Ende. Die bisherige nationalsozialistische Ordnung ist zusammengebrochen und wird langsam durch die Ordnungsgewalt der Sieger ersetzt. In diesem Spannungsfeld müssen sich alle neu orientieren und ihren neuen Stellenwert finden. Allerdings geht es vorrangig erst einmal darum zu überleben. Mit dem Zusammenbruch der politischen Ordnung ist auch ein Zusammenbruch der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und anderem Bedarf des täglichen Lebens verbunden. Jeder ist sich erst einmal der Nächste, bzw. das Überleben der engsten Familie steht im Vordergrund des täglichen Handelns. Dabei verwischen teilweise die Grenzen der gewohnten stattlichen Ordnung erheblich. Eine Art luftleerer Raum entsteht, die alte Ordnung ist zerbrochen, eine neue ist noch nicht vorhanden, außer den Ordnungsmaßnahmen der Sieger. Das Recht des Stärkeren bzw. des Cleversten wird für einen längeren Zeitraum die Grundlage des allgemeinen Lebens. Verstärkt wird diese Problematik durch das Fehlen vieler Männer im täglichen Leben auf Grund der Kriegsgefangenschaft. Die Not und die traumatischen Erlebnisse der aufzunehmenden Flüchtlinge birgt erhebliches Konfliktpotential. Verstärkt wird es durch die Freilassung der ungeheuren Menge der Fremdarbeiter und deren teilweise ungeklärten weiteren Lebensbedingungen. Die Beseitigung der Trümmermassen in den zerbombten Städten stellt riesige Probleme dar. Die Entnazifizierung und Bestrafung im Großen erfolgt zwar durch die Sieger in den Nürnberger Prozessen, jedoch auf den niedrigen Ebenen findet sie nur unzureichend statt. Die Problematik der Judenverfolgung und deren versuchter Vernichtung wird nur rudimentär und durch die Sieger erzwungen, erkannt und bewältigt. Gleiches gilt für Randgruppen der Nazi Gesellschaft. In diesem Umfeld versuchen die Angehörigen einer niedersächsischen Bauernfamilie sich durchzuschlagen, um etwas Neues und Erfolgreiches für die Zukunft zu beginnen.

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VAE VICTIS

(Wehe den Besiegten)

Brennus, keltischer Heerführer nach der Eroberung

und Plünderung Roms 387 v.Chr.

Dieses Buch widme ich meinen Enkeln

Sarah, Marcel, Vivien, Tom-Luca, Summer, sowie Jakob und Greta

Auch das war Deutschland vor Corona, PC und Smartphone

Bedanken möchte ich mich bei meiner Ehefrau Helga, welche die Manuskripte durchlas und korrigierte, bei Nadine, die alles per PC ins Reine brachte und ständig gute Ideen hatte, bei meinem Sohn Jan-Henrik, der bei allen administrativen Sachen half und bei den Vielen, die mir von damals berichteten und Tipps gaben.

Die Handlung spielt in der Region Braunschweig, allerdings sind teilweise die Geschehen in den jeweiligen Orten fiktiv, ebenfalls die Personen, die in der Handlung ihren Platz haben. Allerdings gab es viele, die ähnlich gehandelt haben und die nicht mit richtigem Namen hier erscheinen.

April / Mai 1945, der 2. Weltkrieg ist in Deutschland zu Ende. Die bisherige nationalsozialistische Ordnung ist zusammengebrochen und wird langsam durch die Ordnungsgewalt der Sieger ersetzt. In diesem Spannungsfeld müssen sich alle neu orientieren und ihren neuen Stellenwert finden. Allerdings geht es vorrangig erst einmal darum zu überleben. Mit dem Zusammenbruch der politischen Ordnung ist auch ein Zusammenbruch der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und anderem Bedarf des täglichen Lebens verbunden. Jeder ist sich erst einmal der Nächste, bzw. das Überleben der engsten Familie steht im Vordergrund des täglichen Handelns. Dabei verwischen teilweise die Grenzen der gewohnten stattlichen Ordnung erheblich. Eine Art luftleerer Raum entsteht, die alte Ordnung ist zerbrochen, eine neue ist noch nicht vorhanden, außer den Ordnungsmaßnahmen der Sieger. Das Recht des Stärkeren bzw. des Cleversten wird für einen längeren Zeitraum die Grundlage des allgemeinen Lebens. Verstärkt wird diese Problematik durch das Fehlen vieler Männer im täglichen Leben auf Grund der Kriegsgefangenschaft. Die Not und die traumatischen Erlebnisse der aufzunehmenden Flüchtlinge birgt erhebliches Konfliktpotential. Verstärkt wird es durch die Freilassung der ungeheuren Menge der Fremdarbeiter und deren teilweise ungeklärten weiteren Lebensbedingungen. Die Beseitigung der Trümmermassen in den zerbombten Städten stellt riesige Probleme dar. Die Entnazifizierung und Bestrafung im Großen erfolgt zwar durch die Sieger in den Nürnberger Prozessen, jedoch auf den niedrigen Ebenen findet sie nur unzureichend statt. Die Problematik der Judenverfolgung und deren versuchter Vernichtung wird nur rudimentär und durch die Sieger erzwungen, erkannt und bewältigt. Gleiches gilt für Randgruppen der Nazi Gesellschaft.

In diesem Umfeld versuchen die Angehörigen einer niedersächsischen Bauernfamilie sich durchzuschlagen, um etwas Neues und Erfolgreiches für die Zukunft zu beginnen.

Entstanden ist diese Geschichte, die nur teilweise reale Hintergründe hat, als eine Art Vergangenheitsbewältigung. Als Angehöriger des Geburtsjahrganges 1951 habe ich vieles gehört, gelesen und am eigenen Leib gespürt, wie viele der hier geschilderten Dinge sich, in anderer Form, tatsächlich ereignet haben. Allerdings verblasst die Erinnerung an diese „wilde“ Zeit mehr und mehr. Zeitzeugen dieser Zeit, die mir vieles aus dem eigenen Erleben mitteilten, versterben. Nur wenige Deutsche interessieren sich für diese Zeit vor dem Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, dem politischen Niemandsland zwischen Diktatur und entstehender Demokratie. Deshalb war es mir wichtig, zumindest in Romanform, diese Revue passieren zu lassen und auf diesen Abschnitt deutscher Geschichte hinzuweisen.

Die Personen und deren Zuordnung in der Familien- und Firmenstruktur

Die drei Wedel Brüder und ihre Schwester

Fritz Wedel

ältester, gelernter Landwirt

Hubert Wedel

2. Sohn Abitur, Offizier

Gert

3. Sohn Kfz Mechaniker

Christina

Küken, Arzthelferin, will Hebamme

werden

Die Eltern

Heinrich Wedel

Malwine Wedel

Die Frauen und Männer rund um die Familie

Ulla Normann

verw. Normann, zukünftige Frau von

Hubert, Lehrerin, 1 Sohn

Doris Kerner

Verlobte von Gert, war in Pfandleihe

Berlin, 1 Kind

Barbara Dietrich

wird Frau von Fritz, Hauswirtschaftsmeisterin Lebensborn

Hartmut Meier

Freund von Christina, Findling, Banklehre

Der engere Kreis

Klaus Wagner

Förster

Joachim Fischer

ehemaliger Steuerfachgehilfe war

Kriegsgefangener

Heinz Dolle

Bauingenieur, Offizier, war

Kriegsgefangener

Dieter Kramer

Rechtsanwalt, war im KZ

Heinz Becker

ehemaliger Jagdflieger, einarmig,

Fahrbereitschaft

Stefan Schwarz

ehemaliger Soldat, versehrt, Kolonnenführer I

Alfred Müller

Polier, ungedient, Kolonnenführer II

Franz Alberts

Polier, RAD Kolonnenführer III

Helfer der Wedel Familie

Georg Schultz

Knecht am Hof, älter

Harald Krizoweit

ehemaliger Soldat von Fritz und

Hubert

Paul Heinemann

ehemaliger Soldat von Fritz und Hubert,

Pferdeflüsterer

Elvira Kunigkeit

Schwester, Zukünftige von Harald

Braun Klaus

Kfz Meister bei Gert, KZ

Heinz Knackstedt

Reitlehrer, Fahrer

Lisa Troller

ehem. Kindermädchen von Ulla,

Sekretärin bei Briten

Sigrid Klotschke

2. Chefin der Molkerei Käse, 2 Kinder, geht

zu Paul

Gertrud Nicolai

Sekretärin und Chefin im Büro

Die Engländer

Major Allen

später Oberstleutnant,

Stadtkommandant BS

Sergeant Woods

Chef der Kriegsgefangenen, Allrounder,

Tauschpartner

Leutnant Williams

Ingenieur, verwaltet Liegenschaften

Im Laufe der Erzählung treten natürlich noch mehr Personen auf, wie der Ortsbürgermeister von Lehre, Bruder von Heinrich Wedel und weitere Bewohner des Dorfes aus Firmen, Ämtern usw.

Die Handlung spielt in der Region Braunschweig, allerdings sind teilweise die Geschehen in den jeweiligen Orten fiktiv, ebenfalls die Personen, die in der Handlung ihren Platz haben. Allerdings gab es viele, die ähnlich gehandelt haben und die nicht mit richtigem Namen hier erscheinen.

Inhaltsverzeichnis

Der Anfang

Die Flüchtlinge unterwegs

Umbau auf dem Hof Wedel

Ulla und die junge Frau mit Baby

Hubert beim Holzsammeln

Hartmut ist zurück und Hubert erklärt sich

Anmeldung der Kfz

Getreideernte

Lisa bekommt Post

Alltag auf dem Hof

Führerscheinprüfung

Aufteilung der Beute

Im Sägewerk

Erster Holztransport

Wieder auf dem Schrottplatz

Der „Geschäftsführer“ wird gefunden

Die Feldhäuser

Duschevent der Mädels

Hausbau

Gleicher Tag: Gert

Absprachen und Einteilungen

Waldarbeit

Eine weitere Frau für den Hof

Einkaufen im großen Stil

Noch mehr Pferde

Das Pferdedepot

Hanomag die Erste

Ehmen und Grasdorf

Das Pferdedepot wird geräumt

Die Feier

Ein Tausch und ein Neuanfang

Sigrids Geschichte

Gert bei Hanomag

Es gibt viel zu tun

Arbeitsame Tage

Das OT Lager

Fliegerhorst Goslar

Die Geschichte des Kreisbauernführers

Eröffnung der Sandkuhle

Gerts Testlauf

Brauerei und Bürokratie

Die Brauerei

Das Werwolflager

Schon wieder eine Überraschung

Erster Versuch bei der Bank

Die Vorführung

Die Kauforgie beim Notar

Die Versteigerung

Baufortschritt der angenommenen Aufträge

Noch mehr Hinterlassenschaft

Erste Hochzeitsvorbereitungen

Der Anfang

Nachdem er sein Pferd hinter dem versteckt liegenden Gut übergeben hatte, betrat er den alten, ehrwürdigen Holzbau durch die Küche und ging in eines der vorderen Zimmer, was vorher wohl das Arbeitszimmer des Verwalters gewesen war.

In der Tür blieb er stehen, legte die Hand lässig an die zerknautschte Mütze und sagte ruhig: „Oberleutnant Wedel meldet sich wie befohlen zur Stelle!“

Hinter dem breiten Schreibtisch erhob sich ein schlanker junger Hauptmann der Infanterie und trat auf ihn zu. Fast unmerklich zog er dabei ein Bein nach.

Lächelnd streckte er seine Hand aus: „Schön, dass Sie da sind Wedel, nehmen Sie bitte Platz. Wir haben gerade frischen Kaffee gemacht und diese Delikatesse werden sie in diesen mageren Zeiten wohl nicht abschlagen.“

Wedel lachte leise auf und ergriff dabei die feine, aber kräftige Hand.

„Wie werde ich meinem Kampfgruppenkommandeur so etwas abschlagen können!“

Während der Hauptmann auf seinen Platz zurückkehrte, nahm er die Mütze und das Koppel mit der Pistole ab, legte beides auf einen Beistelltisch, um dann an der vorderen Seite des Schreibtisches Platz zu nehmen.

Nachdem der Hauptmann Zigaretten angeboten hatte und diese brannten, genossen beide das so selten gewordene Getränk. Die Ruhe, welche beide dabei plötzlich umgab, empfand Wedel fast schon als beunruhigend. Irgendetwas schien hier nicht zu stimmen.

Schließlich stellte der Kommandeur behutsam seine Tasse ab und sagte lächelnd: „An Ihrem Gesichtsausdruck stelle ich fest, dass Ihnen irgend etwas missfällt.“

Wedel blies den Rauch aus dem Mund und antwortete gelassen: „Das stimmt, Herr von Waldeck.“

Seit beide vor vier Wochen zum ersten Mal im scharfen Einsatz gewesen waren, hatten sie auf die Anrede mit dem Dienstgrad verzichtet, das brauchte es bei den beiden nicht mehr, hatten sie schnell festgestellt. Hubert Wedel war 23 Jahre alt und von Waldeck gerade 25. Beide waren hoch dekoriert, von Waldeck sogar mit dem Ritterkreuz. Gerade aus dem Lazarett entlassen, hatte man ihm das Kommando über diesen zusammengewürfelten Infanterieverband übertragen und selbstverständlich hatte er dieses Kommando, obwohl noch nicht völlig genesen, sofort übernommen.

Wedel war ihm mit seiner Artilleriebatterie unterstellt worden und seit dieser Zeit kämpften sie gemeinsam im Rahmen eines hastig aufgestellten Armeekorps in der Norddeutschen Tiefebene gegen die kaum noch aufzuhaltenden britischen Verbände.

Vor zwei Tagen erst war es zum letzten Zusammenstoß mit einer britischen Panzereinheit gekommen und Wedel hatte mit seinen Geschützen die übel zugerichtete eigene Infanterie vor dem Überrollen durch britische Panzer bewahrt.

Gemeinsam hatten sie anschließend vor der Aller ihre neuen Stellungen bezogen und warteten nun ab, was als nächstes geschehen würde. Feindberührungen gab es jedoch seit gestern keine mehr. Das war aber nicht alles, was die beiden verband. Viel wichtiger und prägender war für beide die gemeinsamen Erinnerungen an die Zeit in der Kavallerieschule in Krampnitz, wo sie eine Zeit lang Ausbilder gewesen waren, bis sie nacheinander wieder zum Frontdienst zurück kommandiert worden waren. Schließlich waren beide leidenschaftliche Reiter, was sie viel mehr verband.

Von Waldeck erhob sich wieder und betrachtete die Karte an der Wand hinter ihm.

„Ich will Ihnen zeigen, was ich bisher über die allgemeine Lage herausgefunden habe.“

Mit der linken Hand griff er nach seiner kurzen Reitgerte und deutete dann mit dieser auf das Kartenblatt.

„Nachdem sich die Briten bei uns eine blutige Nase geholt hatten, verzichteten sie auf weitere Angriffe, ließen uns einfach rechts liegen und griffen über die Aller nach Nordosten weiter an. Nach dem, was ich sicher weiß, befinden sie sich mittlerweile hier, hier und hier.“

Mit seiner Gerte deutete er dabei auf drei Ortschaften weit hinter der Aller.

Wedel drückte seine Zigarette aus und sagte ruhig: „Damit stehen sie bereits in unserem Rücken. Was sagt denn unser glorreiches Korpskommando dazu, weiß es überhaupt davon?“

„Den letzten Funkspruch, den wir heute Nacht erhielten lautete: Weiter kämpfen, vertraut dem Führer und seinen neuen Waffen!“

Während von Waldeck sein Stöckchen auf den Schreibtisch warf, zischte Wedel: „Welch ein Schwachsinn, wer glaubt das denn noch eigentlich?“

„Niemand, zumal Sie, mein lieber Wedel, offenbar noch gar nicht wissen, dass unser großartiger Führer kämpfend in Berlin gefallen ist!“

Ruhig erhob sich Wedel und betrachtete seinen Kommandeur genau: „Und was ist nun?“

Der jedoch sagte erst einmal gar nichts, sondern füllte beider Tassen mit Kaffee und schob dann eine zu ihm hinüber.

„Setzen Sie sich ruhig wieder, Wedel. Großadmiral Dönitz ist sein offizieller Nachfolger und führt den Krieg von Rendsburg/ Kiel aus weiter.“

Während Wedel das eben Gehörte verdaute und dabei vorsichtig einen Schluck Kaffee nahm, erhob sich von Waldeck und kam um den Tisch herum. Gelassen setzte er sich vor Wedel auf die Schreibtischkante.

„Es ist aus. Alles ist nun endgültig verloren. Das einzige was uns bleibt ist, unsere Leute ordentlich und gesund nach Hause zu bringen.“

Der Artillerieoberleutnant stellte seine Tasse ab.

„Was ist mit unserem Eid, den wir geschworen haben?“ fragte er unsicher.

„Den Führer Adolf Hitler, auf den wir geschworen haben, gibt es nicht mehr und jeder normal denkende Mensch kann erkennen, dass es nun endgültig vorbei ist.“

Er kehrte zur Karte zurück und fuhr dann fort: „Südlich von uns sind die Amerikaner schon lange im Zuge des Mittellandkanals und der B 1 durch. Sie trafen sich mit den Russen in Torgau. Nördlich von uns stehen die Briten und haben uns nur deshalb noch nicht geschnappt, weil sie sich mit den restlichen Truppen unseres Befehlshabers im Großraum Munster-Bergen Hohne herumschlagen müssen. Wenn das erledigt ist, drehen sie um und schnappen sich uns. Wollen Sie, dass Ihre Leute in Gefangenschaft geraten oder geben wir Ihnen die Chance, gesund und schnell zu ihren Familien zurück zu kommen? Wissen Sie genau, wie das mit der Gefangenschaft aussieht und wie lange die dauert?“

Wedel zündete sich eine neue Zigarette an und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Wenn das alles so war, durfte er wirklich nur noch an seine ihm unterstellten Soldaten denken, deren verantwortlicher Führer er war. Aber was war nun richtig, was war nun wirklich zu tun?

Mit allem hatte er gerechnet, als er zu diesem befohlenen Treffen geritten war. Eine neue Verlegung der Einheit, ein neuer Kampfauftrag oder eine Besprechung über die immer schwieriger werdende Versorgungslage. Und nun das!

Er fühlte eine völlige Leere in seinem Kopf, zündete sich gedankenverloren eine weitere Zigarette an.

Von Waldeck ließ ihm die Zeit zum Denken und zum Verarbeiten des Gehörten. Auch er hatte eine lange schlaflose Nacht hinter sich gebracht. Sein Pflichtgefühl und seine Loyalität zum gegebenen Eid hatten mit der Realität und der Fürsorgepflicht für seine Soldaten gerungen.

Erst als der Morgen graute waren ihm die Augen zugefallen. Als er später mit schmerzendem Kopf, so, als ob er die Nacht hindurch gezecht hätte, aufgewacht war, stand sein Entschluss jedoch fest.

Er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um eine sinnlose Opferung seiner Soldaten zu verhindern.

In aller Ruhe nahm er einen Schluck Kaffee und sagte danach leise: „Wedel, wie viele Geschütze hat Ihre Einheit noch?“

Der Angesprochenen hob seinen Kopf und schaute ihn an, als ob er aus einem Traum erwachte.

„Drei, das habe ich doch gemeldet!“

„Wie viel Munition dazu?“

„78 Schuss insgesamt und pro Mann ca. 150 Schuss Handwaffenmunition. Aber das alles wissen Sie doch bereits!“

„Natürlich weiß ich das alles. Meine Infanteristen haben ungefähr genau so viel, die Maschinengewehre etwas mehr. Munition zur Panzerabwehr haben wir jedoch keine mehr. Die Geschütze dafür sind bereits unbrauchbar gemacht worden. Die Verpflegung reicht noch für maximal drei Tage, dafür haben wir kaum noch Verbandsmaterial für den Arzt.

Beim letzten Angriff der Briten verloren wir insgesamt 37 verwundete und 13 Gefallene. Die Verwundeten, einschließlich Ihrer Leute, befinden sich übrigens im Lazarett in Salzwedel. Betriebsstoff gibt es nur noch für die Kräder und meinen Kübel; sonst haben wir nur noch unsere Pferde!

Gegenüber von uns befindet sich mindestens eine britische Panzerdivision, die voll ausgerüstet und ausgeruht ist. Bei allem Heldenmut, aber wo bleibt da unsere Chance?“

„Das war doch schon öfters so und wir haben dann immer unseren Kopf aus der Schlinge gezogen“, kam Wedels leise Antwort.

Jetzt aber wurde von Waldeck lebendig. Seine Stimme war zwar nicht laut, aber fest und sehr klar.

„Aber das war in Russland, in Italien, in Frankreich und sonst irgendwo.

Jetzt allerdings sind wir in der Heimat und alles um uns herum ist zusammengebrochen. Unsere Leute stammen hier aus der Gegend, genau so, wie Sie und ich. Sollen sie direkt vor ihrer Haustür noch geopfert werden? Wer soll das denn hier wieder alles aufbauen? Nein, mein Entschluss steht fest. Die Kampfgruppe Waldeck existiert ab morgen früh um 06:00 Uhr nicht mehr. Jeder bekommt seine ordnungsgemäßen Papiere und kann sich dann auf eigene Faust nach Hause durchschlagen. Hier ist ihre Ausfertigung dieses Befehls.“

Aus einer flachen Ledermappe zog er ein Blatt Papier und überreichte es Oberleutnant Wedel. Stumm sah der darauf, hatte immer noch sichtbar Mühe, das Gehörte zu verstehen und umzusetzen.

Klar und deutlich stand es darauf schwarz auf weiß: Ab morgen früh war für sie alles vorbei. Umständlich faltete er das Papier und steckte es in seinen Ärmelaufschlag.

Erst langsam gewann sein Gespür für das Praktische und Machbare wieder die Oberhand.

Vorsichtig lehnte er sich im Stuhl zurück und sagte: „Ich denke, dann haben wir bis morgen früh noch eine Menge zu tun!“

„Meine Leute arbeiten bereits eifrig. Aber vergessen Sie jetzt bitte auf keinen Fall die Sicherung Ihres Raumes, lassen Sie sich bitte zum Schluss nicht noch überraschen, halten Sie die Disziplin bis zum bitteren Ende! Ich kann mir vorstellen, wie es in Ihnen aussieht, aber es ist unsere Pflicht, als kommandierende Offiziere jetzt nur noch an unsere unterstellten Leute zu denken.“

Beide erhoben sich und gaben einander die Hände.

„Passen Sie auf sich auf Wedel, wir sehen uns bestimmt wieder.“

„Das wäre schön, aber dann bitte in einer anderen Zeit unter friedlichen Umständen. Was werden Sie jetzt tun?“

„Ich werde als Letzter gehen und versuchen, mich zum Gut meiner Eltern nach Salzgitter durchzuschlagen. Ich komme nachher noch einmal bei Ihnen vorbei.“

Wedel zog seine Handschuhe an und setzte seine Mütze auf, dann grüßte er militärisch straff und ging.

Immer noch fühlte er sich wie in Trance, bekam nur am Rande mit, wie ihm sein Pferd gebracht wurde, er aufsaß und langsam auf dem Waldweg zu seiner Einheit zurückritt. Erst als seine Stute, durch einen aufspringenden Hasen aufgeschreckt, abrupt stehen blieb, wachte er wieder richtig auf. Beruhigend tätschelte er ihren glänzenden Hals.

„Ruhig, meine Liebe, es ist doch nur ein Hase. Gleich sind wir wieder bei den Anderen.“

Sofort ging sie weiter in ruhigem Schritt, dieses Mal jedoch mit einem wachen und aufmerksamen Reiter im Sattel.

Entspannt ließ er ihr einen langen Zügel, dann schüttelte er erst einmal kräftig seinen schmalen und feinen Kopf. Wo waren seine Gedanken nur gewesen, den ganzen Weg bisher? Wie konnte er nur so nachlässig sein.

„Wedel, Wedel, reiß dich zusammen, überlege lieber, was jetzt alles zu tun ist“, sagte er dabei halblaut zu sich selbst.

Hellwach und sehr konzentriert beobachtete er ab sofort den Wald um ihn herum, der langsam lichter wurde.

Dabei arbeitete sein Gehirn aber sehr präzise in den von ihm gewohnt logischen Bahnen. Gleich musste die erste Sicherung ihres Sammelraumes kommen, die sie von dieser Seite vor Überraschungen schützen und warnen sollte. Kurz darauf entdeckte er auch diese Stellung etwas tiefer im Wald, wo einer seiner Gefreiten hinter dem Maschinengewehr lag und den Weg beobachtete. Sicher hatte der ihn schon längst entdeckt, gab seinem Chef mit erhobener Hand stumm das Zeichen, dass alles in Ordnung sei, als dieser vorbeiritt. Verstehend legte Wedel zwei Finger an den Schirm seiner Mütze und folgte weiter dem Weg in den Verfügungsraum seiner Batterie. In zwei einzeln stehenden Gehöften, die sich halb im Wald an einer weiten Lichtung verbargen, hatten sie ihr Quartier bezogen. Ausgestattet mit den Erfahrungen und der Routine der letzten Kriegsjahre, hatten sie in einem der Höfe ihren Gefechtsstand eingerichtet und alles, was nicht zur Bedienung der Geschütze benötigt wurde, im Wald und in zwei großen Scheunen der neugierigen Sicht von feindlichen Fliegern entzogen. Die Haubitzen selber standen weiter westlich am Waldrand hinter einer kleinen Anhöhe, von der aus man weit das davor liegende flache unbewaldete Land übersehen konnte.

Im leichten Trab überquerte Hubert Wedel die große Lichtung und parierte sein Pferd erst vor einer der großen Scheunen. Als er absaß, trat einer seiner Soldaten aus dem Halbdunkel des großen Baus und nahm die Zügel der dunkelbraunen feinen Stute.

„Alles in Ordnung?“ fragte Wedel, als er selber den Sattelgurt löste.

„Keine besonderen Vorkommnisse, Oberleutnant. Die Batterie ist verpflegt, die Pferde sind versorgt, jeder, der kann, ruht momentan.“

„Alles bis auf die Alarmposten, oder?“

Dabei klopfte er grinsend nochmals den Hals seines Pferdes.

Prompt grinste der Mann zurück: „Die natürlich nicht, wer will sich denn schon gern in solch einer Situation erwischen lassen!“

„Wo ist der Wachtmeister?“

„Im Haus drüben, im Gefechtsstand.“

Während der Soldat mit seinem Pferd in der Scheune verschwand, ging Hubert Wedel in diese Richtung. Der Besitzer des Hofes hatte ihnen spontan die Räume in einem Anbau zugewiesen. Wahrscheinlich war dieser Anbau sein geplantes Altenteil, wurde momentan jedoch noch nicht dafür genutzt. Beide Söhne des Hofes befanden sich noch bei Einheiten irgendwo im Osten. Mehr hatten die Bauersleute dazu nicht gesagt; was sollte man dazu auch mehr spekulieren? Offensichtlich waren beide jedoch noch am Leben, denn das war ja die Hauptsache.

Schwungvoll stieß er die Tür zum provisorischen Geschäftszimmer auf.

„Mahlzeit, Männer!“ sagte er laut zu den Dreien, die bei seinem Eintreten die Spielkarten fallen ließen und aufsprangen.

Der Unteroffizier grüßte und sagte sofort: „Keine besonderen Vorkommnisse, Herr Oberleutnant. Der Wachtmeister erlaubte uns eine Runde Skat!“

„Das werdet ihr jetzt leider einstellen müssen, gleich gibt es genügend zu tun. Der Versorgungsunteroffizier und der Feldwebel Meier zu mir. Anschließend wird hier das gesamte Geschäftszimmer aufgebaut. Wie viele Schreibmaschinen haben wir?“

„Zwei, Herr Oberleutnant!“

„Gut, beide hier her, genug Papier und alle Personalakten bereithalten. Fragen?“

Die drei staunten ihn zwar immer noch an, schüttelten dann aber gleichzeitig die Köpfe.

„Also los, auf geht’s!“

Sofort setzte eine hektische Betriebsamkeit ein und Hubert wandte sich zur nächsten Tür, in der bereits kurz nach seinem Eintreten ein großer kräftiger Wachtmeister gestanden und ruhig zugehört hatte. Es war sein älterer Bruder Fritz.

Hubert trat auf ihn zu, legte einen Arm um dessen breite Schultern und sagte leise: „Lass uns zu dir gehen.“

Der andere nickte stumm und gemeinsam betraten sie sein Dienstzimmer.

Fest schloss Hubert hinter ihnen die Tür und setzte sich anschließend auf eine Holzkiste neben dem Eingang. Fritz setzte sich halb auf seinen Feldschreibtisch und sah ihn erwartungsvoll an. Er kannte seinen Bruder und wusste daher genau, dass er nicht zu fragen brauchte, denn der würde ihm gleich etwas Neues mitteilen.

Nachdem sich beide eine Zigarette angezündet hatten, berichtete Hubert leise in kurzen Sätzen von dem, was ihm von Waldeck mitgeteilt und befohlen hatte. Stumm hörte Fritz ihm dabei aufmerksam zu, schob nebenbei nur den Aschenbecher in Richtung seines Bruders und Chefs.

Auch, als der geendet hatte, sagte er noch nichts, sah seinen Bruder nur abwartend an, denn er war sich sicher, dass da noch etwas käme.

Hubert drückte seine Zigarette aus und fragte dann: „Was hältst du davon?“

Sein Bruder tat es ihm nach, dann erhob er sich und reckte seine breiten 1,90 Meter.

In seiner ruhigen Art antwortete er dann: „Ich halte es für das Beste, was von Waldeck tun kann. Er nimmt das Risiko und die damit verbundene Gefahr ganz auf sich allein. Lange genug haben wir unser Bestes gegeben, beide waren wir verwundet, befanden uns meistens in der vordersten Front. Aber unter den jetzigen Umständen dürfen wir nur noch an unsere Leute denken. Du hast sie selber mit mir in der Ersatzabteilung ausgesucht, sie haben uns vertraut und sich auf uns verlassen. Das müssen sie auch jetzt können. Alle wollen sie nach Hause und nicht in eine Gefangenschaft. Was hast du vor? Wie wollen wir es organisieren?“

Hubert erhob sich ebenfalls und schnaufte tief durch. Ohne den in sich ruhenden und sachlichen Bruder hätte er in seinem Alter diese Einheit nicht so erfolgreich geführt. Auch wenn er nur ein Jahr älter war, auf seine Meinung konnte er sich immer verlassen, vor allem auf diese unerschütterliche Ruhe und die Fähigkeit, die Dinge nach ihrer Wichtigkeit zu beurteilen.

„Ich werde es den Männern gleich mitteilen. Lass sie bitte antreten. Dann will ich einen Überblick über Verpflegung, Material, Marketenderwaren und Munition. Danach werden wir mit den Teileinheitsführern eine Besprechung durchführen und alle Details regeln.“

„Gut, fangen wir an!“

Fritz öffnete die Tür zum Geschäftszimmer und sagte laut: „Batterie in zehn Minuten ohne die Wachen in der Scheune antreten!“

Der Befehl wurde wiederholt und anschließend lief das gewohnte Ritual ab.

Halblaute Rufe waren zu hören, Türen klappten, es kam Bewegung in den vorher so ruhigen Hof. Zwischendurch kamen Feldwebel Meier, Führer der Geschützstaffel und der Versorgungsunteroffizier. Sie erhielten die Aufträge, mit ihren genauen Übersichten zu den Beständen in einer Stunde hier zu erscheinen. Beide gingen leicht erstaunt wieder.

Nachdem Fritz in die Scheune vorausgegangen war, stand Hubert noch eine Zeit lang am Fenster und schaute Gedanken verloren hinaus in die Frühjahrssonne. Sollte es wirklich vorbei sein? Das ständige Spiel mit dem Tod? Diese ständige Verantwortung? Alles Mögliche auch richtig zu machen? Wie würde es sein, das Leben ohne Krieg, das er nach der Schule bisher nur am Rande im Urlaub erfahren hatte? Wieder schüttelte er energisch den Kopf, dann ging er hinüber in die Scheune. Zuerst einmal mussten es jetzt ihre Männer erfahren. Die grübelten nämlich bestimmt schon, was das nun wieder bedeuten sollte.

Im Zwielicht der geöffneten Tore stand die Batterie angetreten, wurde ihm vom Bruder gemeldet. Eigentlich war es wie immer in den letzten Wochen und Monaten, aber dieses Mal hatte er das Gefühl, dass ihn alle viel interessierter als sonst ansahen, denn irgend etwas Außergewöhnliches würde er ihnen gleich mitteilen.

Ruhig und ausführlich schilderten ihnen ihr Oberleutnant die derzeitige Lage, beginnend mit dem Tod Hitlers. Dabei herrschte absolute Stille bei seinen Leuten. Nur als er ihnen schilderte, wo vermutlich der Feind stand und was er vorhaben könnte, kam etwas Unruhe in die Reihen.

Fast alle kannten sich hier in der Gegend aus, so dass sie mit den Ortsnamen und den damit verbundenen Entfernungen genau etwas anzufangen wussten.

Abschließend las er ihnen den Befehl des Kampfgruppenkommandeurs vor und schloss mit dem Satz: „Fragen dazu?“

Nein, momentan gab es keine. Alle warteten gespannt, was er nun für ihre Batterie befehlen würde, wie er das Ganze nun umsetzte oder auch nicht. Sie wurden nicht enttäuscht.

„Bis morgen früh um 05:00 Uhr bleiben die Sicherungen draußen, so wie sie jetzt auch sind. Die Ablösung läuft planmäßig. Bis dahin bleiben wir voll einsatzbereit. Bis Mitternacht will ich wissen, wohin die Einzelnen wollen und wer mit wem zusammenbleibt. Das Geschäftszimmer erledigt alles Schriftliche, so dass jeder etwas Amtliches in seinem Soldbuch stehen hat. Um 17:00 Uhr ist Teileinheitsführerbesprechung, Wachtmeister übernehmen!“

Hubert Wedel verließ die Scheune und ging in sein Zimmer, das neben dem seines Bruders lag. Auf einem Meldeblock notierte er sich dort in Ruhe alles, an was er jetzt denken musste. Kurz nachdem er damit begonnen hatte, schreckten ihn drei kurze Huptöne auf: Fliegeralarm!

Hastig ging er in das Geschäftszimmer und sah hinaus. Wo eben noch draußen ein Gewimmel von aufgeregten Soldaten geherrscht hatte, war jetzt absolute Ruhe. Verlassen lag der Hof in der Nachmittagssonne.

Erleichtert schnaufte er durch. Das fehlte gerade noch, dass sie jetzt noch aus der Luft aufgeklärt würden. Durch eines der kleinen Fenster beobachtete er zwei Mustangs, die entlang der Straße auf den Wald zuflogen, kurz davor nach Norden abdrehten und dann entlang des Waldrandes wegflogen. Das war gerade noch einmal gut gegangen und kurz darauf gab es durch die Hupe die Entwarnung. Sein Bruder kam herein und gemeinsam gingen sie in sein Zimmer.

„Mach dir darüber keine Sorgen“, sagte Fritz dabei gelassen, „die Disziplin halten wir schon bis zum Ende aufrecht!“

„Das will ich auch hoffen! Was sagen denn unsere Leute?“

„Sie denken so wie ich. Nur jetzt nicht noch in Gefangenschaft kommen und bitte kein Gefecht mehr. Sie haben einfach die Schnauze gestrichen voll! Eine Sache musst du aber ganz dringend klären, was geschieht mit unseren Pferden?“

„Wie viele haben wir noch genau?“

Fritz zog einen Zettel aus seiner Brusttasche und las laut vor: „Fünf Reitpferde, dabei sind unsere beiden und dann noch exakt 28 Zugpferde. 18 von den Geschützen und zehn von den restlichen Wagen.“

Während er den Zettel wieder einpackte, sagte Hubert: „Wir teilen sie auf. Viele unserer Soldaten kommen aus der Landwirtschaft, die werden sie jetzt brauchen. Die meisten haben nur noch Zugochsen im Stall.“

„Das müssen wir ihnen dann aber schriftlich geben, nicht, dass es heißt, sie hätten sie gestohlen!“

„Wie viele brauchen wir denn für unseren Hof?“

Diese Frage war für seinen Bruder völlig logisch und unvermeidbar, immer kam er auf den entscheidenden Punkt.

„Vater hat uns doch geschrieben, dass man uns vor einiger Zeit die letzten Pferde genommen hat. Also haben wir gar keine mehr. Und wir hatten Acht! Aber erst einmal sehen wir zu, dass unsere Leute versorgt sind und ein Gespann für diesen Hof hierbleibt. Als Dank für die Hilfe und Unterbringung.“

„Klärst du das mit dem Bauern?“

„Ja, aber erst nach der Besprechung!“

Kurz darauf betraten auch bereits die anderen befohlenen Teilnehmer den Raum und gemeinsam besprachen sie alle anstehenden Probleme. Die noch vorhandene Verpflegung und das Geld in der Batteriekasse würde aufgeteilt werden, es würde für jeden gerade noch einen Monatssold betragen. Auch die Sache mit den Pferden wurde zum Schluss besprochen, die Brüder behielten den Rest. Es war genau die Anzahl, die Fritz sich gewünscht hatte und außerdem behielten sie ihre Reitpferde.

Einzig das Problem der Munition blieb ungeklärt. Wohin damit? Hubert würde es mit dem Bauern besprechen, vielleicht wusste der eine Lösung. Aber erst einmal hatte alle eine Menge Aufgaben und genügend zu tun. Bald würde es dunkel werden und die Gefahr der feindlichen Luftaufklärung dann gegen null gehen. Trotzdem würde erst einmal alles, so weit wie möglich, draußen ohne Beleuchtung ablaufen.

Mit seiner Ruhe und Übersicht erwies sich Fritz sofort als der Fels in der Brandung, er hatte seine Aufgabe im Griff. Jetzt konnte Hubert mit dem Bauern und dessen Frau sprechen. Beide saßen bei Kerzenlicht in ihrer verbliebenen guten Stube. Er las in einem Buch, sie strickte.

„Guten Abend, Bauer, wir beenden das Ganze heute Nacht“, sagte Hubert, nachdem ihm ein Platz in einem der Sessel angeboten worden war. Der Besitzer des Hofes, wettergegerbt, um die 50, aber bereits mit silbernen Haaren ausgestattet, nickte und nahm dann langsam die Pfeife aus dem Mund.

„Wir haben es bereits gehört. Das ist gut so. Es ist das Beste, was euch allen geschehen kann!“

Ohne von ihrer Strickerei aufzuschauen, ergänzte seine Frau ruhig: „Hoffentlich sind die Offiziere unserer Söhne auch so mutig und einsichtig.“

Wieder spürte der Oberleutnant bei diesen wenigen Worten ihre große Sorge.

„Ich hoffe, dass es bei denen auch gut geht.“

Es war nur ein schwacher Trost, aber was sollte er sonst sagen? Aber etwas musste er sagen. Sicherheitshalber wechselte er das Thema.

„Wir haben nur noch ein größeres Problem. Was machen wir mit unserer restlichen Munition? Ich will auf keinen Fall, dass sie in falsche Hände gerät. Die Kanonen sind nachher unbrauchbar, die sind dann nur noch Alteisen.“

Gelassen sog der Bauer an seiner Pfeife, dann sagte er: „Ich glaube, ich habe da etwas. Kommen Sie mit!“

Hubert folgte ihm hinaus auf den Hof und traf dort auf Feldwebel Meier, der ihm meldete, dass die gesamte Munition zusammengefasst und gezählt sei.

„Kommen Sie mit. Vielleicht haben wir gleich deren letzten Lagerort.“

Gemeinsam folgten sie dem Bauern, der den Hof verließ und einen fast zugewachsenen Weg in den Wald einschlug. Leise rauschte der Wind in den Kronen der großen alten Bäume. Der aufgehende Mond ließ sie den alten Weg gut erkennen.

Fast zehn Minuten waren sie schweigend gegangen. Der Bauer blieb am Rand einer Lichtung stehen, die mit Büschen und kleinen Bäumen bewachsen im Mondlicht lag.

„Hier ist das Hexenloch. Es ist der Rest eines ehemaligen trockengelegten Hochmoores. Wenn ihr von hier aus einige Bohlen hineinlegt, kommt ihr damit gut an die ersten Tümpel heran. Darin könnt ihr die gesamte Munition versenken. Kein Mensch kommt je wieder an sie heran.“

„Das erscheint mir sehr sinnvoll. Feldwebel Meier sehen Sie dabei irgendwelche Probleme?“

„Nein, aber kann man hier irgendwo mit einem Wagen drehen?“

„Ungefähr 20 Meter weiter kommt eine Weggabelung, da geht es problemlos.“

„Oberleutnant, ich fange gleich damit an. Erst die Granaten, dann die restliche Munition.“

„In Ordnung Feldwebel!“

Während der Feldwebel bereits zurückging, zeigte der Bauer auf die moorige Fläche hinaus: „Früher, schon im 30-jährigen Krieg haben sich unsere Vorfahren hier vor den Kriegshorden versteckt und anschließend weiter gekämpft. Aber das hat heute nun wirklich keinen Sinn mehr.“

„Nein“, sagte Hubert leise, „das hat keinen Sinn mehr. Die Heimat braucht uns jetzt zu Hause. Da gibt es so viel Wichtiges und Notwendigeres zu tun. Lange genug waren die Alten und Frauen allein, mussten die Last der Arbeit tragen.“

Beide wandten sich zum Gehen.

„Oberleutnant, ich bin stolz, dass es noch Leute wie dich und deinen Bruder gibt; kommt mir gut nach Hause!“

„Danke! Ach ja, wir haben noch ein Gespann Zugpferde übrig, könnt ihr die nicht brauchen?“

„Aber natürlich, es muss jedoch seine Ordnung haben!"

„Alles wird seine Ordnung haben, mein Bruder erledigt das schon."

„Danke dafür."

Gerade als beide wieder den Hof betraten, kam ihnen bereits der erste Transport auf einem Pferdefuhrwerk entgegen.

Gemeinsam gingen sie in das provisorische Geschäftszimmer, wo einer der Gefreiten sofort seinen Stift weglegte und sagte: „Herr Oberleutnant, Sie haben Besuch. Er ist beim Wachtmeister!“

„Danke.“

Zusammen mit dem Bauern betrat Hubert den Raum und wurde freudig überrascht. Sein Kommandeur war da.

Lächelnd erhob sich Hauptmann von Waldeck, trat auf ihn zu und schüttelte kräftig seine Hand.

„Ich wollte mich persönlich von euch verabschieden. Bei uns ist alles fertig und hier geht es ja auch gut voran.“

Endlich hatte Hubert sein jungenhaftes Grinsen wieder gefunden.

„Dieser Besuch ehrt uns. Aber erst einmal soll der Mann, der uns hier so gut beherbergt hat, sein versprochenes Gespann haben!“

Sofort erhob sich sein Bruder Fritz, öffnete die Tür und rief laut: „Harald!“

Kaum hatte er das getan, als auch schon der gerufenen Gefreite in der Tür stand. Jeder nannte ihn nur „Harald; er war der Melder des Batteriechefs und nebenbei noch zuständig für alle Reitpferde der Batterie.

„Übergib dem Bauern das Gespann und anschließend die Papiere dazu aus dem Geschäftszimmer. Dann kannst du bitte noch Fiete hereinschicken.“

Kaum waren die beiden aus der Tür hinaus, als Fiete, der Obergefreite das Geschäftszimmer mit einer dampfenden Kaffeekanne betrat.

Beim Hinausgehen rief ihm der Wachtmeister hinterher: „Wir haben eine Besprechung. In der nächsten halben Stunde wollen wir ungestört sein, außer, wenn es wirklich wichtig ist!“

„Wohl, Wachtmeister!“ murmelte der Obergefreite und schloss die Tür von außen.

Kaum war das geschehen, als auch schon eine Cognacflasche und drei Gläser auf dem Tisch standen.

„Der Kaffe ist immer so dröge“, murmelte Fritz grinsend und goss ein.

Stumm prosteten sie einander zu, spülten anschließend mit Kaffee nach.

Von Waldeck berichtete, er hätte aus dem Radio gehört, dass es eventuell bald zu Kapitulationsverhandlungen kommen sollte.

„Aber nur für den westlichen Kriegsschauplatz, nicht für den Osten. Von dort wollen sie so viel Leute wie möglich zurückholen.“

„Umso besser, dann greifen wir der ganzen Sache ja nur ein klein wenig vor“, murmelte Fritz und goss Kaffe nach. Hubert berichtete von den Maßnahmen, die bei ihnen erledigt werden mussten, dann wechselten sie das Thema.

„Was wollen Sie anschließend machen?“ fragte Hubert seinen Kommandeur.

„Erst einmal will ich nach Hause und sehen, was bei uns auf dem Gut los ist. Mein älterer Bruder ist gefallen, jetzt werde ich es übernehmen müssen. Und was habt ihr vor?“

Nur kurz sahen sich die Brüder an, dann antwortete der Ältere: „Ich werde mich um den Hof kümmern und unser Jungfuchs hier wird wohl studieren!“

Der aber sah ihn erst einmal verblüfft an.

„Wann hast du dir das denn ausgedacht?“

Fritz setzte seine Tasse ab und grinste von Waldeck an.

„Manchmal ist er wie ein Kind, bockt einfach und wird stur. Aber Spaß beiseite, er ist der Einzige von uns dreien, der ein richtiges Abitur gebaut hat und dann noch ein sehr gutes. Der Hof ernährt uns nicht alle, daher sollte er schon etwas Ordentliches anfangen!“

„Aber so einfach wirst du mich nicht los!“

„Will ich auch gar nicht, aber so wird es bald kommen!“

Lächelnd hatte von Waldeck den brüderlichen Disput verfolgt.

„Ich sehe schon, ihr werdet euch ganz sicher einigen. Aber jetzt muss ich wieder zurück. Seht euch vor und viel Glück. Mit Sicherheit werden wir uns irgendwann wiedersehen, aber dann werde ich nicht mehr Hauptmann und der Kommandeur sein, sondern nur noch Helmut!“

Die Brüder erhoben sich, drückten seine Hand und sagten nacheinander lächelnd: „Hubert“ und „Fritz“.

Gerade wollten sie noch etwas hinzufügen, da wurde die Tür aufgerissen: „Oberleutnant, kommen Sie schnell und sehen Sie sich das an!“

Der Unteroffizier war ganz aufgeregt. Zu dritt traten sie vor die Tür und sahen stumm nach Norden in die angegebene Richtung. Hinter dem Horizont flackerte es wieder und wieder hell auf, dann war es plötzlich wieder dunkel.

„Das war eine ganze Menge an britischer Artillerie. Ich denke, die geben jetzt denen da oben den Rest!“

Hubert seufzte tief auf, aber da fuhr von Waldeck bereits fort: „Ich muss los, nicht, dass die Briten zu früh zurückkommen und uns dann noch schnappen! Seht zu, dass ihr bald loskommt!“

Während von Waldeck in den Sattel seines Pferdes sprang und los galoppierte, hörte Hubert hinter sich bereits die kurzen halblauten Befehle seines Bruders. Innerhalb kürzester Zeit standen alle Teileinheitsführer um sie herum.

„Wie sieht es aus, wann können wir verschwinden?“ fragte er halblaut seinen Bruder.

„Es ist jetzt kurz nach Mitternacht. Ich schlage vor, um 3 Uhr sind alle marschbereit und treten zum letzten Mal in der Scheune an.“

„So machen wir es, legt los!“

Schon waren alle wieder verschwunden und recht schnell begann ein hektisches Treiben auf dem großen Hof. Dieses Mal jedoch mischte sich der Oberleutnant unter seine Leute, wechselte mit jedem von ihnen noch so viele Worte, wie möglich. Eine gespannte Hektik hatte sich mittlerweile aller bemächtigt.

Die Zeit verging viel zu schnell und bereits um halb drei meldete ihm sein Bruder, dass alle Vorbereitungen abgeschlossen und die Handfeuerwaffen bereits im Moor versenkt worden waren.

„Aber ich trage doch noch meine Pistole!“

„Gib sie mir.“

„Wirfst du sie auch ins Wasser?“

„Noch nicht, denn ich will nicht kurz vor Schluss noch waffenlos erwischt werden. Kampflos kriegt uns jetzt keiner mehr!“

Bevor Hubert etwas sagen konnte, war sein Bruder auch schon mit seiner Pistole verschwunden und der Schreibstubenunteroffizier trat mit den Soldbüchern und Wehrpässen auf ihn zu. Jetzt musste er sich sputen.

Kaum hatte er die letzte Unterschrift geleistet, als sein Bruder den Raum betrat: „Die Batterie steht zum letzten Appell!“

Mit einigen Schritten Abstand folgte ihm Hubert in die Scheune.

Schwach erhellte eine elektrische Birne den großen Raum, als ihm zum letzten Mal gemeldet wurde. Bevor er jedoch etwas sagte, sah er noch einmal die Reihen der angetretenen Soldaten entlang und schluckte dann einmal kurz. Endlich löste sich der Kloss in seinem Hals.

„Ich möchte mich bei euch für alles das, was ihr für unser Vaterland geleistet habt, bedanken. Aber nun braucht uns die Heimat dringend daheim. Kommt gut nach Hause und passt auf euch auf. Wenn ihr Probleme habt, wißt ihr, wo mein Bruder und ich wohnen. Wenn wir helfen können, tun wir das selbstverständlich.“

Damit endete seine letzte Ansprache als verantwortlicher Offizier. Anschließend händigte er jedem Angehörigen seiner Einheit persönlich seine Papiere aus und gab ihm abschließend noch einmal die Hand. Nacheinander verschwanden die Leute still und hastig.

Schließlich standen noch zehn Soldaten um ihn herum und sahen ihn erwartungsvoll an.

Fritz übernahm das Kommando und klärte ihn auf. „Hans kommt mit uns. Er fährt einen der vierspännigen Baggagewagen; Söhnke den anderen. Du, ich, Harald und Fiete, der Sohn unseres Försters, reiten ihre eigenen Pferde. Die Restlichen sitzen mit auf den Wagen und wollen von uns aus weiter."

„Wie stellst du dir den Marsch nach Hause vor?“

„Fiete und ich haben uns die Karten angesehen, er kennt sich gut aus. Heute Abend rasten wir bei dem Förster, bei dem er in der Lehre war. Morgen Abend will ich zu Hause sein.“

„Dann los! Du übernimmst ab sofort das Kommando!“

Ohne groß zu fragen, hatte Fritz das bereits getan und Hubert war darüber froh. Abmarschbereit standen die Gespanne und die Reitpferde hinter der Scheune und alle saßen auf. Als sich die kleine Kolonne in Bewegung setzte, ritten Fritz und Fiete voraus. Dann folgten die beiden Wagen und zum Schluss ritten Hubert und Harald neben einander hinter her. Schon nach wenigen Metern hatte sie der dunkle Wald schützend aufgenommen. Die Heimkehr hatte begonnen.

Als der Morgen graute stand endgültig fest, dass Fiete sich offenbar wirklich gut auskannte. Bisher waren sie nur auf einsamen Wald- und Feldwegen gefahren und hatten größere Straßen und Ortschaften vermieden und umfahren. Bei der ersten Rast hatten sie sich schon ein gutes Stück von ihrem Ausgangspunkt entfernt. Während sich Harald wie immer um die Reitpferde kümmerte, tranken sie heißen Kaffee aus Thermosflaschen.

„Fiete, das machst du wirklich gut. Lieber ein paar Meter mehr und Umwege, aber dafür sicher!“

Fritz biss in ein belegtes Brot und sagte kauend: „Hauptsache, wir kommen heil an und laufen nicht noch diesen verfluchten Standgerichten in die Arme!“

Sofort erinnerten sich alle wieder an die aufgehängten Menschen, angeblich Deserteure, die hinter Wunstorf an einer Hofeinfahrt gebaumelt hatten. Ein Zusammentreffen mit solch einem fliegenden Standgericht, das ausnahmslos von Fanatikern besetzt war, galt es unbedingt zu vermeiden. Fritz hatte den letzten Rest des Brotes hinuntergeschluckt, erhob sich und rieb seine großen Pranken aneinander.

„Kampflos werden die mich aber nicht bekommen!“ sagte er nur und ging hinter den Wagen.

Die anderen nickten stumm und damit wusste Hubert, wo seine Pistole war und dass sein Bruder für alle Fälle noch mehr davon griffbereit hatte. Hoffentlich würden sie die Waffen nicht benutzen müssen. Bevor sie solch einer Horde in die Finger fielen und ohne viel Federlesen als Deserteure verurteilt würden, kämen sie schon zum Einsatz. Stumm und entschlossen saßen alle wieder auf. Der Treck ging weiter.

Nach der zweiten Rast über Mittag ritt Fiete voraus, um den Förster, seinen ehemaligen Lehrherren, über ihr Kommen zu unterrichten. Den Weg zu ihm hatte er genau beschrieben. Da würde es wohl keine Probleme geben. Immer noch folgten sie unbefestigten Wegen durch den Wald und die momentan menschenleere Flur. Allerdings ließen sie sich davon nicht täuschen. Aufmerksam beobachteten alle die Gegend, um ja nicht unliebsam überrascht zu werden. Wieder einmal hatten sie schnell ein offenes Geländestück überquert und tauchten in einem Waldgebiet mit leichtem Baumbestand unter. Um ihre Pferde zu schonen, saßen die Reiter ab und führten ihre Tiere vor den nachfolgenden Wagen auf dem sandigen Waldweg am langen Zügel. Still und ruhig war es um sie herum. Nur hin und wieder war das Gezwitscher von Vögeln zu hören und hinter ihnen mahlten die Räder der Wagen im Sandweg. Gelegentlich unterbrochen vom Schnaufen der davor arbeitenden Pferde.

„Was meinst du, was Vater sagt, wenn wir einfach so zu Hause auftauchen?“ fragte Hubert seinen Bruder.

Der öffnete gerade seine Uniformjacke und räusperte sich dabei lautstark.

„Ich denke einmal, er wird sich, genau wie unsere Mutter, freuen, dass wir heil zurück sind.“

„Meinst du, dass er uns vielleicht für Verräter oder Deserteure hält?“

Einige Schritte schwieg Fritz, dann zündete er sich mit einer Hand eine Zigarette an.

„Nein, das wird er nicht tun. Als ich das letzte Mal daheim war, ging er mit mir allein in den Garten und sprach darüber mit mir. Passt auf euch auf, sagte er damals. Ich muss hier so tun, als ob ich von allem überzeugt bin; aber das bin ich schon lange nicht mehr. Es wird ein bitteres Ende geben, der Krieg ist verloren. Du als der Älteste hast eine besondere Verantwortung für deine Brüder, bring sie bitte gut und heil nach Hause!“

Hubert sah hinauf zu den schnell ziehenden Wolken, dann seufzte er tief.

„Wenn es so ist, geht es mir viel besser. Wie es wohl Gert geht?“

„Das Letzte, was ich von ihm weiß, immerhin ist das schon vier Monate her, ist, dass er bei einer der neuen Panzereinheiten war. Aber nicht als Panzerfahrer, sondern bei der Instandsetzung, schließlich hat er das ja auch gelernt. Da wird er bestimmt nicht ganz vorn sein, sondern etwas weiter hinten. Und da er immer schon wusste, wie man unangenehmen Dingen aus dem Weg geht, wird er gut durchkommen.“

Hubert grinste breit. Ja so war ihr jüngerer Bruder. Ein begnadeter Mechaniker, der nichts Anderes im Kopf hatte als Maschinen und das Basteln daran. Natürlich war auch er bei all ihren früheren Streichen und Abenteuern dabei gewesen, aber nie war er dabei erwischt worden.

Den Kopf hatten immer sie beide Älteren hinhalten müssen.

„Christina, unsere Schwester, das Küken, war eine Zeit lang Krankenschwester in einem Lazarett. Im letzten Brief schrieb Mutter, dass sie sich zur Hebamme ausbilden lassen wolle und ein Praktikum bei unserem Dorfarzt macht.“

„Bei unserem alten Doktor?“

„Ich glaube schon.“

Ein leiser Pfiff vom ersten Wagen unterbrach ihr Gespräch abrupt. Ein Reiter trabte auf sie zu.

„Das ist Fiete“, rief Söhnke vom Bock herunter, „aber der scheint es recht eilig zu haben. Hoffentlich gibt es keinen Ärger!“

Einige Minuten dauerte es noch, bis Fiete auf ihrer Höhe war und sein Pferd neben die der Brüder drehte. Sofort hielt der gesamte Zug an und alle Augen richteten sich auf ihn.

„Schnaufe erst einmal tief durch. Ist der Teufel hinter dir her?“ sagte Hubert und hielt Fietes Pferd am Halfter.

„Nö, noch nicht. Also mit dem Förster geht alles klar, wir können in seiner großen Scheune unterziehen, Futter für die Pferde hat er auch noch genug. Aber dann gibt es ein Problem. Auf dem Weg, den wir weiter nehmen müssen lagert in ca. drei km Entfernung seit heute morgen eine versprengte Einheit. Die versperrt uns den Weg.“

„Gibt es Umgehungsmöglichkeiten?“

„Keine, außer wir hängen einen Tag dran, dann müssen wir allerdings auch durch mehrere Dörfer.“

„Was sagt der Förster dazu?“

„Er meint, abwarten. Erst einmal bei ihm unterschlüpfen und dann sollten wir uns das Ganze erst einmal selber ansehen.“ „Gut, dann machen wir es auch so. Ich reite mit Fiete ungefähr 200 Meter voraus, damit uns niemand überrascht und Fritz führt den Rest nach.“

Sofort war bei Hubert wieder der entscheidungsfreudige junge Offizier durchgebrochen. Beide saßen sie wieder auf und ritten voraus. Mit dem entsprechenden Abstand folgten die Wagen mit dem Rest. Unwillkürlich waren sie alle wieder in den bisher üblichen militärischen Ton zurückgefallen. Die alte Hierarchie war immer noch lebendig, schließlich hatte sie sich ja auch bewährt.

Eine gute halbe Stunde brauchten sie noch, dann erreichten sie die tief im Wald liegende Försterei. Beide banden sie ihre Pferde hinter dem alten Haus an und betraten gemeinsam die Veranda vorn, wo der Förster bereits auf sie wartete.

„Wedel“, stellte sich Hubert vor, „danke, dass Sie uns helfen.“

„Dafür nicht, ich denke, ihr hättet das Gleiche auch für mich getan.

Fahrt die Gespanne hinter die Scheune und bringt dann die Pferde hinein. Hier kann euch nichts passieren. Anschließend sollten wir uns jedoch einmal diesen seltsamen Haufen, der euch den Weg versperrt, anschauen. Ich sattele nur noch mein eigenes Pferd.“

Bereits beim ersten Augenkontakt hatte Hubert ein gutes Gefühl. Der Mann war hoch in die 50, mittelgroß und drahtig. Offenbar wusste er genau, wovon er sprach.

Während Fiete zur Einfahrt ging, um die Wagen einzuweisen, setzte sich Hubert auf die Stufen der Veranda in die Sonne und rauchte eine Zigarette. Dabei beobachtete er die Wagen, die nacheinander um das Haus rumpelten und dann hinter der Scheune verschwanden. Schließlich kam Fritz zu Fuß um die Ecke.

„Ich habe Hans eingeteilt, das Ganze hier zu überwachen; wann reiten wir?“

„Der Förster sattelt gerade, oh, da ist er schon!“

Über seiner Jacke trug der Grünrock jetzt ein Koppel mit einem Hirschfänger und einem Futteral für sein Fernglas.

„Oh, Brüder also“, stellte er lakonisch fest, nachdem sich auch Fritz vorgestellt hatte.

„Lasst uns reiten, denn es wird bald dunkel.“

Gemeinsam gingen sie hinter das Haus, wo sein kompakter großer Fuchs neben den Pferden der Brüder stand. Ohne weitere Worte saßen sie auf und folgten dem Förster auf dem Waldweg nach Süden. Niemand sagte ein Wort, bis sie hinter einer Biegung plötzlich vor einer großen Fichte anhielten, die quer über dem Weg lag.

„Da kommen wir mit den Wagen doch nie durch“, sagte Hubert hastig.

Aber der Beamte antwortete gelassen: „Die lag schon seit dem Herbst neben dem Weg. Wenn ich sie mit einem Pferd so herumgedreht habe, könnt ihr das gleiche auch in die andere Richtung tun!“

Fritz hatte derweil von seinem großen stark knochigen Hannoveraner herab das Gelände vor der Fichte gemustert.

„Und was ist mit den Minen davor?“

Grinsend schob er dabei seinen grünen Hut in den Nacken.

„Das sind eingegrabene Blechdosen. Ich war Reserveoffizier bei den Pionieren, da lernt man so etwas!“

„Warum haben Sie das alles getan?“

„Man muss in diesen unruhigen Zeiten schon genau aufpassen, wer daherkommt und dafür einige Schlupflöcher zum eigenen Bau einfach schließen!“

Verstehend grinsten sich die drei an, dann umritten sie die Sperre durch den Wald und folgten danach dem Weg weiter nach Süden. Langsam wurde der Baumbestand lichter. Der Förster hob plötzlich seine Hand, hielt an und saß ab.

„Von hier aus müssen wir zu Fuß weiter. Die Pferde können wir hier anbinden.“

Wortlos folgten ihm die beiden von Baum zu Baum, bis sie am Waldrand eine große Wildhecke erreichten. Mitten hindurch wurden sie auf einen Trampelpfad geleitet, bis sie einen Ansitz erreichten, der, perfekt getarnt, einen Blick in das vor ihnen liegende Gelände erlaubte. Nebeneinander lagen die drei auf dem Grasboden und musterten die Gegend vor sich.

Links kam der Weg aus dem Wald, führte ungefähr 400 Meter durch ein halbhoch bewachsenes Getreidefeld etwas bergab. Kurz dahinter überquerte er mit einer kleinen Brücke einen Bach, anschließend eine geteerte Straße und verschwand am Gegenhang wieder oben im Wald. Der einzige Unterschied zu dieser Seite waren auf der anderen Seite die Bäume und Büsche, die sich dort rechts des Weges entlang zogen.

„Da drüben sind sie!“ sagte der Förster leise und deutete genau auf diese Baum- und Buschreihe. Alle drei besaßen sie gute Dämmerungsgläser, konnten so im diffusen Abendlicht genau die Lkw und Halbkettenfahrzeuge erkennen, die abmarschbereit entlang des Weges aufgefahren waren.

„Was ist das wohl für ein Haufen?“ murmelte Fritz halblaut hinter seinem Glas.

„Sieht nach gepanzerter Infanterie aus, aber genau erkennen kann ich es nicht.“

„Da kommt ein Auto“, sagte der Förster plötzlich und deutete dabei weiter nach Osten auf die Straße.

Die beiden drehten ihre Gläser dort hin und beobachteten den VW Kübel, der langsamer wurde, schließlich von der Straße in den jenseitigen Wald einbog und dann unter den Bäumen verschwand.

„So eine Scheisse! Fritz hast du das taktische Zeichen am Auto erkannt?!“ flüsterte Hubert. „Ja, leider“, kam die ruhige Antwort.

„Was ist das denn nun für ein Haufen?“ wollte der Förster leise wissen.

„Eine Infanterieeinheit der Waffen SS!“

„Herzlichen Glückwunsch!“ kam die lakonische Antwort des Beamten.

Eine Weile beobachteten sie still das Geschehen auf der anderen Seite des Tales, dann verließen sie rückwärts ihre Deckung und ritten langsam zurück. Erst hinter der Baumsperre redete Hubert als erster.

„Wenn man nur wüsste, wie lange die dort noch bleiben.“

„Ich denke einmal spätestens morgen früh werden sie abhauen“, antwortete sein Bruder.

„Wenn sie abhauen, müsst ihr schnell hinüber und drüben in den Wald, wer weiß, wo die Engländer sind“, ergänzte der Förster.

„Ich habe eine Idee“, sagte Hubert gelassen, „können wir uns irgendwo alle zusammensetzen?“

„Klar, bei mir in der Küche. Meine Frau macht etwas zu Essen und ein Bier habe ich auch.“

„Aber nur eines“, brummte Fritz von hinten.

Dabei bogen sie auch schon wieder in die Försterei ein.

Nachdem die Pferde versorgt waren, trafen sie sich alle in der Küche. Die Förstersfrau hatte bereits einen großen Berg belegter Brote auf den Tisch gebracht. Dazu gab es tatsächlich für jeden eine Flasche Bier. Der erste Hunger war schnell gestillt, dann begann Hubert die Lage zu erläutern.

Ruhig hörten alle zu, dann fuhr er fort: „Wir haben nur eine Chance. Wenn die Waffen-SS verschwindet, müssen wir sofort in hohem Tempo durch das Tal und drüben in den Wald.“

Verstehend nickten alle, dann redete er weiter.

„Ich denke, wir machen es folgendermaßen: Fiete und Harald bleiben die Nacht mit ihren Pferden vorn am Waldrand und beobachten die Einheit. Wenn sie Vorbereitungen zum Aufbruch treffen, meldet ihr uns das sofort und wir brechen auf. Wenn aber bis zum Morgengrauen um halb sechs noch nichts passiert ist, spannen wir an und ziehen mit dem Rest auf dem Weg so weit vor, wie es geht. Wenn unsere Chance kommt, müssen wir im gestreckten Galopp über das freie Feld. Wie machen wir das mit der Sperre?“

Der Förster stellte seine Flasche ab, wischte kurz über den Mund und sagte dann: „Zuerst einmal bringe ich die beiden nach vorn und dann halte ich mein Gespann vom Jagdwagen bereit, fahre vor euch her und ziehe mit den beiden Pferden den Stamm zur Seite. Bei mir sollten die beiden sein, die von hier aus nach Osten wollen. Nachdem sie mir geholfen haben, bringe ich sie bis zum nächsten Dorf.“ Die beiden, die in Richtung Wittingen wollten, nickten zustimmend.

Bevor Hubert noch etwas sagen konnte, erhob sich Fritz und öffnete den Sack, den er dabei hatte. Für jeden der Treckbegleiter zog er eine Pistole mit Halfter heraus und warf sie ihm zu.

„Ich hoffe, dass ist das letzte Mal, dass wir sie tragen und hoffentlich müssen wir sie nicht benutzen. Aber wenn, dann nicht zögern. Denkt an euer eigenes Leben! Wer jetzt nichts mehr zu tun hat, sollte sich ins Stroh legen. Ich liege genau hinter der Tür, falls etwas sein sollte.“

Schweigend gingen alle hinaus und bald verschwanden Fiete und Harald mit dem Förster. Auch Hubert rollte sich in der Scheune in seine Decke, konnte aber nicht einschlafen. Die Gedanken kreisten um den Heimweg. Erst, als er hörte, dass der Förster zurückkehrte, schlief er endlich ein.

Als Fritz ihn weckte, hatte er das Gefühl, eben erst eingeschlafen zu sein, aber durch die Ritzen im Tor schimmerte bereits das erste Grau des neuen Tages.

„Männer hoch, es ist fünf Uhr. Die Pferde müssen gefüttert und gezäumt werden.“

Schweigend verrichteten sie ihre Arbeit und waren fertig, als der Förster sein Gespann für den Jagdwagen auf den Hof führte. Die beiden, die ihn begleiten sollten, warfen ihre Sachen auf die hinteren Sitze und halfen ihm danach beim Anspannen.

Die ersten Sonnenstrahlen blitzten auf, als sich der Zug in Bewegung setzte. Hubert und Fritz ritten hinter dem Jagdwagen, beide tief in Gedanken versunken. Die SS musste immer noch dort sein, sonst hätten sie es erfahren. Wann nur würden sie endlich verschwinden? An der Sperre hielten sie an. Der Förster schirrte seine beiden Füchse an den Baum und problemlos zogen die Pferde ihn zur Seite, bis er neben dem Weg lag.

„Kommt gut nach Hause und bleibt heil und gesund“, sagte der Alte, als sie vorbeizogen. „Danke“, erwiderte Hubert knapp und angespannt, hob zum Abschied die Hand zum Gruß.

Lange dauerte es nicht, dann erreichten sie den Holzplatz neben dem Weg, wo Haralds und Fietes Pferde standen. Hier hielten sie ihre Gespanne an. Die Pferde von Hubert und Fritz wurden übernommen und beide schlichen sich nach vorn, um die Zwei dort im Versteck abzulösen.

Als sie endlich neben ihnen lagen, flüsterte Fiete: „Sie sind noch da.

Gerade haben sie sich verpflegt. Ich glaube unter den ersten Bäumen stehen zwei Panzerabwehrgeschütze feuerbereit in Stellung.“

„In Ordnung“, antwortete Hubert, „ihr geht jetzt zurück und esst erst einmal etwas. Dann löst Harald meinen Bruder ab. Ich bleibe hier.“

Geräuschlos verschwanden die beiden und die Brüder beobachteten mit ihren Gläsern geduldig das Gelände vor ihnen. Nach kurzer Zeit kehrte Harald zurück.

Bevor Fritz ging, sagte Hubert leise: „Halte alles abmarschbereit, es kann ganz schnell gehen! Fiete soll unsere Pferde bereithalten.“

Fritz nickte verstehend und verschwand dann.

Nichts tat sich, die Landschaft vor ihnen lag in der trüben Morgensonne leer und still vor ihnen. Nur durch die Gläser sah man hin und wieder eine Bewegung auf der anderen Seite, bis dort plötzlich mehrere Leute hektisch unter den ersten Büschen und Bäumen verschwanden. Hubert stellte gerade sein Glas schärfer, als Harald ihm auf den Arm klopfte und dem Verlauf der Straße folgend nach Westen deutete. Ungefähr einen Kilometer entfernt, kamen hinter einem Wäldchen mehrere Fahrzeuge langsam auf der Straße heran. Atemlos beobachteten die beiden sie genauer.

„Das sind Aufklärungspanzer der Engländer“, flüsterte Hubert leise, „wo die sind, müssen auch irgendwo Kampfpanzer sein. Hoffentlich passiert jetzt kein Drama!“

Aber erst einmal geschah gar nichts. Erst als der erste kleine Panzer der Engländer schon mit bloßen Augen gut zu erkennen war, löste sich vom Hang gegenüber der erste Schuss und traf ihn. Abrupt blieb er stehen und begann zu qualmen, aber da war auch bereits der zweite Panzer getroffen. Der Rest versuchte schnell von der Straße zu verschwinden.

Die Abschüsse von drei Kanonen hatte Hubert ausgemacht, aber sonst blieb drüben alles ruhig, bis er wieder Haralds Hand spürte. Hastig richtete er sein Glas nach Westen und da kam das, was er erwartet hatte. Sechs Kampfpanzer schoben sich nacheinander hinter dem Wäldchen hervor und begannen, den Feldrain gegenüber unter Feuer zu nehmen. Anfangs wurde das Feuer von dort erwidert, aber die Einschläge der Panzer kamen immer näher. Zwischen ihnen fiel Fritz in die Stellung.

„Was ist los?“ rief er in den Krach der Abschüsse.

„Die Idioten haben sich mit einer englischen Panzerkompanie angelegt und jetzt wird es für sie bitter!“

„Sie hauen ab!“ rief Harald neben ihnen.

Drüben sprangen Motoren an, Panzerfahrzeuge und andere Fahrzeuge fuhren aus ihren Deckungen; überall sprangen Männer auf und warfen sich in die anfahrenden Autos. Es war auch höchste Zeit für sie, denn die Kanonen der Panzer hatten ihr Ziel gefunden, Granaten rauschten punktgenau in die Stellungen der SS. Ein Fahrzeug wurde getroffen und brannte sofort lichterloh. Die anderen fuhren hintereinander los und flüchteten auf der Straße nach Osten. Sofort wurde das von den Engländern erkannt und sie stellten ihr Feuer ein. Langsam formierten sich die Panzer und nahmen die Verfolgung auf.

„Das ist unsere Chance“, keuchte Hubert, „wenn die Panzer hier vorbei sind, müssen wir hinüber, bevor die nächsten kommen. Zieh vor, so weit es geht und wenn ich das Zeichen gebe, Galopp und hinüber. Harald, hole unsere Pferde vor zum Waldrand, los, los, macht schon!“

Blitzschnell verschwanden die beiden und Hubert beobachtete das Geschehen vor sich weiter. Immer schneller werdend fuhr die Panzerkolonne vor bis auf seine Höhe. Als sie noch ca. 300 Meter entfernt waren, sprang er selbst los und hastete den Waldrand entlang zum Weg.

Immer noch gedeckt durch das Dunkel des Waldes standen die Wagen hintereinander und vor ihnen saß Fritz auf seinem großen stämmigen Wallach. Neben ihm hielt Harald ihre Pferde. Keuchend warf sich Hubert hinter den letzten großen Baum und sah hinunter. Die ersten Panzer der Engländer waren schon vorbei, die anderen folgten schnell in großem Abstand, ohne sich um die verlassenen Stellungen zu kümmern. Hastig sah er entlang der Straße. Sie war immer noch leer. Im Osten bogen die ersten Panzer gerade um die nächste Waldecke.

„Haut endlich ab, macht schon!“ flüsterte er heiser.

Dann endlich verschwand auch der letzte Panzer um die Ecke. Immer noch nichts kam aus dem Westen, dies war ihre große Chance!

Hubert sprang auf, riss den rechten Arm zweimal in die Höhe und schrie: „Nun macht schon!“

Prompt tat der große Wallach an der Spitze einen großen Satz und Fritz galoppierte an. Dahinter knallten Peitschen, riefen heisere Stimmen, dann schoss der erste, dann auch der zweite Wagen vierspännig aus dem Wald heraus. Kraftvoll zogen ihre Oldenburger und Holsteiner die Wagen, als wären sie Spielzeuge. Egal, wie schön das Bild der nach vorn preschenden Fuhrwerke auch war, er musste endlich auch weg. Mit mehreren Sprüngen erreichte er sein Pferd, sprang in den Sattel und schon rasten sie hinterher. Immer noch nichts war im Westen zu sehen. Vor ihnen schleuderte das erste Gespann Funken sprühend über die Straße, der Wagen torkelte hinterher. Dahinter folgte das andere unmittelbar. Neben den Gespannen kürzte Fiete ab und sprang über den Bach. Nur einige Meter noch, dann war es geschafft. Fast wäre sein Pferd auf der gepflasterten Straße ausgerutscht, aber im letzten Moment riss er es hoch und erreichte als letzter die Deckung auf der anderen Seite. Auf der Höhe des brennenden Lastwagens parierte Hubert seine Stute zum Trab und sah sich um. Der erste Wagen hatte bereits fast den Waldrand erreicht, als sein Bruder ausscherte und zu einem großen Baum galoppierte. Davor hielt er an und sprang ab.

„Sieh zu, dass alle im Wald verschwinden und fahrt immer weiter. Nicht anhalten, wir folgen schon“, rief er zu Harald, der verstehend die Hand hob und hinter den Gespannen her hetzte.

Schnell hatte Hubert seinen Bruder erreicht und sprang neben ihm aus dem Sattel. Am Stamm lehnte ein junges hageres Bürschchen und hielt sich seinen stark blutenden linken Arm. Hinter dem Baum lagen die Reste eines Panzerabwehrgeschützes.

„Warum bist du nicht mit abgehauen?“ hörte er seinen Bruder gerade fragen.

„Ich war bewusstlos und bin gerade erst wieder aufgewacht. Die anderen dachten wohl, ich sei tot.“

„Ihr seid ja ein toller Haufen!“ grunzte Fritz und sah sich den blutenden Arm an.

„Ich bin doch erst vier Monate dabei, mich haben sie von der Schule weg eingezogen und dann zu dieser Einheit gesteckt.“

Fritz sah Hubert kurz an und der nickte: „Wir nehmen ihn mit; wer weiß schon, was mit dem Burschen sonst geschieht!“

Fritz nickte nur leicht und bestieg seinen Wallach.