Fanny oder Das weiße Land - Beatrix Kramlovsky - E-Book
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Fanny oder Das weiße Land E-Book

Beatrix Kramlovsky

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Beschreibung

Die Geschichte einer großen Sehnsucht vor der unbarmherzigen Kulisse Sibiriens

Seit 1914 sitzt Karl in Kriegsgefangenschaft in Sibirien und kämpft gegen Hunger und Kälte. Er sehnt sich nach der Heimat und wünscht sich nichts mehr als die Rückkehr zu seiner geliebten Fanny – ins fast zehntausend Kilometer entfernte Wien. Im Mai 1918 ist es endlich so weit: Karl und sein Bruder Viktor flüchten gemeinsam nach Westen. Auf Pferdekarren, reparierten Eisenbahnwaggons und zu Fuß, aber immer Richtung Heimat.
Beatrix Kramlovsky erzählt von den vergessenen Kriegsgefangenen – von Künstlern, Schlossern und Träumern, die einzig die Liebe aufrecht hält. Und davon, wie eine unbarmherzige Landschaft einem alles abtrotzen kann, nur nicht die Menschlichkeit.

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Seitenzahl: 350

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Das ist das Cover von Fanny oder Das weiße Land

Über das Buch

Die Geschichte einer großen Sehnsucht vor der unbarmherzigen Kulisse SibiriensSeit 1914 sitzt Karl in Kriegsgefangenschaft in Sibirien und kämpft gegen Hunger und Kälte. Er sehnt sich nach der Heimat und wünscht sich nichts mehr als die Rückkehr zu seiner geliebten Fanny — ins fast zehntausend Kilometer entfernte Wien. Im Mai 1918 ist es endlich so weit: Karl und sein Bruder Viktor flüchten gemeinsam nach Westen. Auf Pferdekarren, reparierten Eisenbahnwaggons und zu Fuß, aber immer Richtung Heimat.Beatrix Kramlovsky erzählt von den vergessenen Kriegsgefangenen — von Künstlern, Schlossern und Träumern, die einzig die Liebe aufrecht hält. Und davon, wie eine unbarmherzige Landschaft einem alles abtrotzen kann, nur nicht die Menschlichkeit.

Beatrix Kramlovsky

Fanny oder Das weiße Land

Roman

hanserblau

Für die Liebenden

Für alle, die noch nicht nach Hause gefunden haben

Was ist uns geblieben? Zu Häupten die Sterne, die

unnahbar fremden,

unter den Füßen die Toten, das wilde, kindliche Gras

und im Herzen die Schuld, die ruhlos lebendige.

CHRISTINE BUSTA

Und das Antlitz der Liebe ist nichts als das Weiß

des Winters auf den

Ästen und Zweigen von Bäumen, die durch Löcher

im farblosen

Himmel fallen. PATTI SMITH

Prolog

Wie es ist

Die Zeit ist stumm. Sie hängt über den Lagern, über den Männern als zähe Lautlosigkeit. Die elektrischen Zäune halten die Gefangenen in Schach; die Zeit jedoch durchdringt sie, drückt Wachen und Bewachten ihren Stempel auf. Sie verletzt unbemerkt. Manchmal fängt einer zu heulen an. Die anderen warten auf das Versickern der Klage. Manchmal endet sie im Irrsinn. Die Männer fürchten sich alle davor.

Karl hört Vogelgezwitscher, das Säuseln der jungen Blätter im Frühling und ihr krachendes Brechen im Herbstwind. Er hört das Gras wachsen, sich biegen, welken und weiß, dass die Jahreszeiten vorüberfließen, ihn und die anderen Männer zurücklassen, als seien sie durch Zufall hierhergekarrt worden. So ist es ja auch. Wenn einer nach Wochen bewusst im Spiegel sein vertrautes Abbild sucht, entdeckt er neue Falten und weißes Haar. Die Zeit hat sie berührt. Sie vergehen wie Vogelgezwitscher, wie Gras, wie Blätter, zukünftiger Dünger einer fremden Erde.

Die Zeit ist stumm, wenn sie die Gefangenen umarmt, selbst früh am Morgen beim Appell. Sie spielt mit den Männern, während Namen verlesen werden und manche hinhören, ob Antworten ausbleiben. Der Kontrollaufruf schneidet die Nacht vom Tag, teilt in Vergangenes und Kommendes, markiert den Weg durch den konturlosen Morast ihrer Gefangenschaft.

Karl zeichnet, um das Gewicht der Zeit zu ertragen. Er zeichnet, was ihm vor die Augen kommt, er legt Zeugnis ab über die Stunden, wird zum Chronist von Momenten, und er weiß, er gehört zu den Glücklichen, weil er noch lebt und weil es daheim jemanden gibt, der auf ihn wartet. Der Stift in der Hand hält ihn fest in der Gegenwart, damit ihn der Gedanke an die versperrte Zukunft nicht erdrückt. Die Zeit bedrängt ihn und lehrt ihn das Fürchten wie alle anderen auch. Aber er trägt den Klang von Fannys Stimme mit sich, eine Melodie, die Liebe verspricht. Solange er sie hört, wird er stark bleiben.

Die Zeit umarmt ihn stumm.

I

März 1918

Der Ausbruch aus Chabarowsk

Du bist dem Pazifik näher als ich dem Atlantik. Umdich sind Vögel, die anders zwitschern, Blumen, die anders aussehen, Bäume, die anders wachsen, Jahreszeiten, die anderen Regeln folgen. Nur der Himmel über unsist derselbe, und jeder Stern, den du grüßt, grüßt einen halben Tag später mich. Mir ist das Leben hier vertraut, doch meine Heimat bist du in der Ferne.

aus Fannys Brief vom 5.8.1916

Nichts war so gut, wie von Fanny geliebt zu werden, nichts auf der Erde war damit zu vergleichen; zumindest konnte Karl Findeisen sich das nicht vorstellen. Jede Nacht begegnete er ihr, von Schmerz befreit und voll Sehnsucht, die für Augenblicke gestillt wurde. Fannys Hände strichen dann über seine Stirn, während sie mit dieser weichen Stimme sprach, die ihn an Bratschen erinnerte oder an Tenorflöten aus Ahornholz. Es störte ihn nicht, dass er die Worte nicht verstand, dass Fremdheit sich einschlich, als wüsste er nichts von ihrer gemeinsamen Sprache. Er verstand sie ja trotzdem, es war doch seine Fanny. Wie dumm von ihm! Er lächelte und drückte den Kopf gegen ihre warmen Finger, die plötzlich nachgaben, sich auflösten. Sofort war er wach.

Wieder nur ein Traum.

Viktor lag auf der Pritsche unter ihm. Karl konnte ihn atmen hören, mit einem ganz eigenen Schnaufen, das er vermutlich sein Leben lang wiedererkennen würde. Seit mehr als eineinhalb Jahren schlief sein jüngerer Bruder im selben Kasernenraum, immer auf dem Rücken, die Beine gestreckt und leicht gegrätscht, die Arme unter dem Kopf verschränkt oder entspannt am Körper, als würden die Schrecken des Tages seine Träume nie verfärben. Alles an ihm war lang und schlank und jungenhaft. Woher nahm sein Bruder dieses Vertrauen in eine lichtvolle Zukunft, dass alles gut enden würde, dass die Welt auf ihn wartete?

Unglaublich, wie es dem Roten Kreuz gelungen war, sie im selben Lager unterzubringen, unglaublich vor allem, weil die vielen Gefangenentransporte das zaristische System offensichtlich überforderten. Zudem war Viktors Division erst eineinhalb Jahre nach Karls Regiment gefangen genommen worden. Schaudernd erinnerte er sich an den stinkenden Sammelplatz nahe Moskau im Jänner 1915, auf dem er in einem Winter voller Schrecken gelandet war. Erst Monate später folgte die Verlegung in eine Kasernenruine, wo Karl und die anderen Offiziere wenige Wochen darauf von ihren Mannschaften getrennt wurden. Sein Streifschuss verheilte, nach außen hin wirkte er genauso unverwundet wie viele andere, die sich schämten wie er, gefangen, wertlos für den österreichischen Kaiser und die paralysierte Monarchie, die mit einem rasanten Sieg gerechnet hatte.

Damals hatte Karl nicht geahnt, dass sein jüngerer Bruder ebenfalls in Galizien landen würde, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als der alte Kaiser starb und der fromme Neffe sein oberster Kriegsherr wurde. Die Mutter schrieb von Viktors Gefangennahme während der Gegenoffensive General Brussilows in einem fürchterlichen Grabenkrieg. Aber Viktor hatte Glück im Unglück, er wurde entwaffnet, als die russischen Wagons mit den Gefangenen bereits Richtung Osten rollten, weg von den grausigen Sammelplätzen in Weißrussland und der Ukraine, und noch früh genug im Spätsommer 1916, um nicht Wochen später auf einem Rangierbahnhof in der Taiga zwischen zusammengepferchten Leibern zu erfrieren.

Die Brüder glichen Sandkörnern zwischen Tausenden anderer Sandkörner, und doch waren sie nicht vergessen, existierten als Namen auf Listen, als Söhne verzweifelter Eltern, die, anderen verzweifelten Eltern gleich, das Rote Kreuz um Hilfe baten, dass die zwei wenigstens miteinander gefangen sein durften.

In einem Land zu sein, dessen Dimensionen nicht vorstellbar waren und dessen Weite Zeit anders erleben ließ, Tage zu Wochen, zu Monaten des Stillstands verband, das hatte Karl im ersten Jahr am meisten zugesetzt. Er war beschäftigt, zu atmen, zu überleben, sich abzuschotten. Karl drehte sich um. Die Matratze vertrug eine neue Füllung, das Stroh roch schon und klumpte. Von draußen drang kein Laut herein. Die Stille wurde zerschnitten vom vertrauten Schnarchen Eduards gleich neben ihm. Freund Ludwig wälzte sich rechts unten und nuschelte in seinen Schnurrbart, jetzt stöhnte Imre aus dem Eck bei der Tür, und von irgendeinem kam ein Furz. Nur Josef schlief so still, dass es Karl manchmal beunruhigte. Die Minuten verrieselten zäh, jede Nacht das gleiche Lied der traumverlorenen Schläfer, geschützt vor der tödlichen Monotonie der Lagertage.

Bei Fanny daheim musste jetzt Nachmittag sein, sie würde Blumen binden, hoffentlich genügend Kundschaft haben, und Max würde im Lagerraum direkt hinter dem Laden mit Zapfen spielen, wenn es nicht zu kalt war. Und kalt war es oft. Die Pflanzen mussten frisch bleiben, Fanny hatte früher wollene Fingerlinge getragen, Stiefel und den alten blauen Mantel einer Schwester. Er stellte sich vor, wie Max mit dem Strohbesen den Steinboden kehrte, das geliebte Bilderbuch, das er von Karls Eltern bekommen hatte, würde neben Fannys Bestelllisten liegen. Das machte er gern, hatte Fanny berichtet, Nachmittag für Nachmittag von Montag bis Samstag, in einer endlosen Folge von Wochen, Monaten, abwechselnd kehren und im Buch blättern, die Lippen bewegen, als läse er sich die Geschichte vor, die er natürlich schon längst auswendig konnte. Im Herbst würde er in die Schule kommen. Wieder so ein Sehnsuchtsdatum für Karl, ein Entwicklungsschritt, den er vermutlich nicht erleben würde. Max fragte immer noch regelmäßig nach ihm, und Fanny schrieb ihm das, jeder Brief ein Trostpflaster gegen die schlimmsten Fallgruben der Einsamkeit. Karl stellte sich den Blumenladen vor, hell, kühl, feucht, wie er ihn in Erinnerung hatte, zuerst mit einer Wiege im Lagerraum, später mit einem Krabbelkind, für das er einen Laufstall getischlert hatte, die Würfel, Ringe und Kugeln aus Fichtenholz, von ihm geschnitzt und bemalt. Der heranwachsende Max war ihm fremd, trotz Fannys Erzählungen, trotz der Fotografie, die sie ihm jährlich zum Geburtstag schickte.

Die Zeit im Lager wurde zu einer Nebelbank, die Karl mühsam durchwatete, darauf bedacht, seinen Verstand nicht zu verlieren, sich in keine politischen Geplänkel unter den Offizieren ziehen zu lassen, bei jeder Gelegenheit Papier zu ergattern, manchmal einen Grafitstift, manchmal Kohle. Oft zeichnete er in die Luft; dann lächelten die anderen über den närrischen Wiener, der wohl eine Brise dirigierte und wünschte, dass der Wind ihn nach Hause brächte.

Wie wunderbar war es gewesen, seinen Bruder plötzlich zwischen den ungepflegten Neuankömmlingen zu entdecken! Viktor, die Uniform so gut wie möglich geschlossen, im linken, löchrigen Schuh etwas, das wie Bast aussah, einen Bart im Gesicht, der wild wucherte und der ihm nach der Aufnahme sofort auf ordentliche österreichische Fasson gestutzt wurde; Karl konnte zuerst kaum das überwältigende Lächeln seines Bruders unter dem verlausten Haar erkennen. Aber er sah das Glitzern in den Augen, die verräterischen Tränen, und mit großer Erleichterung registrierte er die Leichtfüßigkeit, mit der Viktor zu ihm gerannt kam. Keine schweren Verwundungen, hatte Karl gedacht und dann einfach die Umarmung genossen.

Sich vorzustellen, dass Tausende Kilometer entfernt Menschen in Ämtern Listen verglichen und Namen zusammenstellten, in der Hoffnung, dass man im Hinterland am Rande eines Kontinents alle diese Männer auffinden und mit der Bahn zusammenbringen würde, während an den Fronten die nächsten Soldaten gefangen genommen, zerfleischt, zerschossen, verscharrt wurden. Ein Irrsinn sondergleichen.

Der Winter 1916 in Ostsibirien war der erste Winter mit seinem Bruder gewesen. Nun hatten sie bereits den dritten fast hinter sich, in einer mittlerweile zusammengeschweißten Gruppe aus sechs Männern. Sie hielten zusammen, sie teilten ihre Rationen, sie teilten, was sie in den kostbaren Paketen aus der Heimat vorfanden, sie lebten gut in ihrem Zimmer, in dem nicht wie in den meisten Räumen des Offizierslagers Pritschen für zehn Mann standen, sondern nur drei Hochbetten. Deshalb hatten sie Platz für selbst getischlerte Regale, einen Tisch und vier Stühle. Pure Annehmlichkeit, wie er wusste. Aber erst seit der Ankunft seines Bruders in Chabarowsk erlaubte sich Karl Findeisen wieder das leise Glück der Hoffnung.

Er wälzte sich auf seiner Matratze, tastete nach dem Weihnachtsbrief Fannys, den er im Jänner bekommen hatte und in einer aufgenähten Tasche an der Innenseite des Unterhemdes bei sich trug. Es war viel zu finster, um das Bild anzuschauen, das sie mitgeschickt hatte. Das machte nichts. Wenn es hell genug war, würde er wieder nach dem Papier greifen, mit dem Finger darüber fahren und sich vorstellen, es wäre ihre Haut. Jeden Tag tat er das, versicherte sich, dass er die Änderungen der letzten Jahre aufgenommen hatte, dass er Fanny sofort wiedererkennen, dass es keine Fremdheit zwischen ihnen geben würde an dem noch fernen Tag in Wien, den er beständig herbeisehnte.

Er hatte Fanny auf einem typischen Faschingsgschnas in der Wiener Vorstadt 1910 kennengelernt, ein taufrisches hübsches Ding. Dass sie lieber mit ihm redete, als mit gewandteren Männern zu poussieren, hatte ihm natürlich geschmeichelt; dass sie über mehr als Allerweltstratsch reden konnte, hatte ihn begeistert. Sie hatte Seidenblumen im hoch aufgetürmten Haar, trug über einem hellgrauen Leinenkleid einen dünnen Mousseline mit Millesfleurs und war stark geschminkt. Auf die eine Wange hatte sie eine Rose aufgemalt. Sie bewegte sich gut beim Tanzen, aber im Nachhinein bemerkte er, dass sie ihn zum Reden gebracht hatte, ohne von sich viel preiszugeben. Er erfuhr ihren Vornamen, dass sie Blumen und Blumenmalerei liebte, dass sie nicht mehr bei ihren Eltern, sondern bei ihrer zweiten Schwester lebte, einer fröhlichen Frau im Pierrotkostüm, die ihren Mann nicht aus den Augen und Armen ließ. Sie alle verschwanden, bevor er schwerfälliger Tölpel sie um ihre Adresse bitten konnte.

Es dauerte bis in den Frühling, als er ihr zufällig beim sonntäglichen Korso auf der Praterallee wiederbegegnete. Noch heute war er seinem Bruder dankbar, der ihn vom geplanten Museumsbesuch abgebracht und überredet hatte, in Galauniform den Jahrmarkt der Wiener Eitelkeiten entlangzuflanieren. In der Mitte fuhren die offenen Einspänner der Hocharistokratie und die Angeberkutschen der vielen Ringstraßenbarone, die sich das nach der Finanzkrise der Siebzigerjahre noch oder schon wieder leisten konnten. Auf den Seitenwegen waren die Reiter unterwegs und das spazierende Bürgertum, weiter drüben von den Liegewiesen drang das Geschrei spielender Kinder. Er sah Fanny, bevor sie ihn erkannte. Sie war diesmal in Begleitung zweier Paare, lebhaft ins Gespräch vertieft, und sie errötete tief, als er abrupt vor ihr stehen blieb und seinen goldbetressten Tschako lüftete. Er bemerkte ihr leichtes Zurückweichen, als sie die Uniform wahrnahm, das Interesse, mit dem die Paare neben ihr die zwei Goldsterne auf seinem Kragen begutachteten. Dann wurde ihm klar, dass eine der Frauen der Pierrot auf dem Gschnas gewesen und dies offensichtlich ein Familienspaziergang der Schwestern war, denn kleine Kinder schoben sich vor die Röcke der Frauen. An diesem Tag tauschten sie ihre Adressen, lernte er die wilde Verliebtheit kennen, die seinen fröhlichen Bruder so oft überkam und die Karls Leben veränderte.

Im Jahr darauf, als die Liebelei trotz aller Widrigkeiten ernsthaft wurde, wusste er bereits, wie lebhaft Fannys Denken war, wie aufgeschlossen sie auf die Welt reagierte, dass sie sogar politische Artikel las und wie sehr sie sich über den Bürgermeister Lueger und dessen unverhohlenen Antisemitismus ärgerte. Ein Mädchen mit acht Jahren Schulbildung! Sie war unglaublich, die klügste der drei Schwestern, deren gut gewählte Ehemänner der Passierschein in die bürgerliche Welt sein sollten. Ihre Eltern waren eine Weißnäherin, von der Tuberkulose früh hingerafft, und ein ehemaliger Schmied, der in den Werkstätten der neuen Stadtbahn arbeitete und den Karl nie kennenlernen sollte, weil Fanny aus Gründen, die sie eisern für sich behielt, ignorierende Distanz zu ihrem cholerischen Vater vorzog.

Die damals Zwanzigjährige hatte wenige Chancen, doch die wusste sie zu nutzen. Wien wuchs zwar nicht mehr so rasch wie um die Jahrhundertwende, aber die Zweimillionenstadt blühte in der Sicherheit einer blinden Friedensgewissheit. Seine Fanny! Sie begann mit einem winzigen Blumenstand, während er sein Gehalt beisammenhielt, um die Eltern zu entlasten und das Lehrerseminar für seinen Bruder zu bezahlen. Das drohende Problem mit der Heiratskaution wollte er später lösen. Seine Kameraden fanden ihn und seine Schwäche für ein armes Vorstadtmädel unglaublich dumm, denn betuchtere Eltern als Fannys legten das Geld für die Hochzeit mit einem Stabsoffizier wie Karl gerne hin, um ihren Töchtern einen gesellschaftlichen Aufstieg zu ermöglichen. Fanny kümmerte das wenig. Sie sprach mit ihm über die gemeinsame Zukunft, sie träumte mit ihm vom Eheleben, während sie an ihrer Selbstständigkeit rackerte und sich nicht den Kopf darüber zerbrach, wie es irgendwann einmal sein mochte, in der kaiserlichen Offizierswelt als unpassende Gefährtin unter den Frauen der anderen einen Platz zu finden, der Demütigungen und Isolierung versprach. Sie war sich seiner sicher, sie liebte ihn so sehr.

Ein rundes Gesicht mit kleinen, aber vollen Lippen; Puppe mit Herzmund, hatte Viktor festgestellt, als Karl ihm das erste Foto zeigte, das Fanny ihm schenkte. Viktor, acht Jahre jünger als Karl, war schnell im Klassifizieren, aber er lag nicht immer richtig. Manchmal irrte er gewaltig, und trotzdem schwieg Karl meistens. Fanny war alles andere als eine Puppe, die er liebevoll und immer wieder mit schnellen Strichen porträtierte, sondern eine komplizierte Pflanze, gut verankert mit Pfeilwurzeln, kräftig grünem Blattwerk, das jedes Licht in sattes Funkeln verwandelte, und einem Gesicht, das einer offenen Blüte glich.

Solche Vergleiche hatte Karl damals für sich behalten. Berufsoffiziere der Kaiserlichen Hoheit hatten nicht wie Gärtner zu reden. Ihre Hege bedeutete Blutvergießen für die eigene Ehre und das Wohl des Landes. Während Viktor mit tänzerischer Leichtigkeit ihre Kameraden unterhielt, schwieg Karl also; saß am Rande, beobachtete, grübelte und zeichnete. Mittlerweile hatte man sich in Chabarowsk an Karls spinnerte Schwärmerei für Pflanzen gewöhnt. Das lag wohl daran, dass er in der Lagerakademie, die der General vor zwei Jahren für die Zeit der hellen Sommerabende gegründet hatte, nicht nur über Geografie und Klimazonen dozierte — ein heikles Thema, weil es als Vorbereitung für Fluchtwege dienen konnte —, sondern auch über heilende Pflanzen berichtete, die es in der Umgebung gab. Er erinnerte sich an die wohltuende Wirkung von Heidelbeermus und fand ähnlich wirkende Beeren, größer und mit rotstichigem Fruchtfleisch, dort, wo sibirische Birken mit Nadelbäumen zusammenstanden. Er beschrieb und zeichnete aus dem Gedächtnis Kräuter mit medizinischer Wirkung. Einmal hatte ihm während eines erlaubten Spaziergangs ein Jäger aus der Tundra hilfreiche Blumen und Blätter gezeigt, und ein Tiroler Oberst hatte sich an Rezepte seiner Mutter für Wundverbände und Tees gegen Durchfall erinnert.

Die nützlichsten Dinge traten bei diesen Lehrstunden im grell orangen Sommerlicht zutage. Die Männer lernten voneinander — Technik, Naturwissenschaften, Geschichte. Englisch und Französisch wurde unterrichtet, nur Russisch wollte keiner so recht lernen, und die Sprachen der Einwohner draußen vor den Zäunen blieben so weiterhin unbekannt. Der Großteil des hilfreichen Wissens, dachte Karl, stammte von Müttern, die sie alle seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Von Frauen kamen auch die während der langen Postreise vertrockneten Biskuits, die man in Tee eintunken musste, um sich nicht die Zähne auszubeißen. Frauen dachten an Nadel und Zwirn, Socken und Dörrobst in den Paketen, die über Wien und Berlin rund um den halben Globus in den chinesischen Hafen Tientsin und von dort nach Norden über die Grenze gesandt wurden. Sogar diesen Postdienst hatte eine Frau erfunden, und er wurde seit Jahren von ihr am Leben erhalten. Karl hätte Elsa Hanneken gern kennengelernt, die das Handelsnetzwerk ihres Mannes dazu nutzte, etwas Tröstliches zu schaffen. Ob sie erfuhr, wie viel Lebenswillen die Gefangenen diesen Sendungen verdankten? Ohne Frau Hanneken wäre es nie zu einem geregelten, geschützten Postverkehr für die Gefangenen gekommen; ohne sie hätte Karl nicht fast jeden Monat einen Brief von Fanny erhalten, wäre keine seiner Karten in Wien angekommen. Ohne sie wäre das Band zwischen den vielen voneinander Getrennten sicherlich öfter gerissen. Egal, was die Zensur daheim und in Russland vernichtete, wie viele sich an Paketen vergriffen, wie viel man an Wachtposten abgeben musste, es blieb trotzdem immer etwas übrig, sogar der Geldtransfer funktionierte erstaunlich gut.

Karl wollte gar nicht darüber nachdenken, wie es den einfachen Soldaten ging, die nicht über das kleine Taschengeld der Offiziere verfügten, die keinen Paketdienst kannten, weil ihre Lager so abgelegen oder geheim waren, die in den Bergwerken und bei den großen Bauvorhaben an den Flüssen oder bei der Bahn schuften mussten, bis sie umfielen und Teil der feindlichen Erde wurden. Es war ja schon der Unterschied zwischen den beiden voneinander getrennten Lagern in Chabarowsk eklatant. Ermutigend war bloß, dass immer öfter der Strom im Drahtzaun ausfiel, dass der Mangel in der Außenwelt gute Auswirkungen auf ihr beschränktes Universum hatte.

Manchmal wollte er nur deshalb schlafen, damit er zu jener Fanny, die seine Träume bestimmte, fliehen konnte. Sie schrieb ihm verlässlich, berichtete von Max auf so lebendige Art, dass er fast meinen konnte, dabei gewesen zu sein, als sein Sohn zum ersten Mal auf einen Apfelbaum in Großvaters Obstgarten geklettert war. Er sah noch vor sich, wie sein Max kurz vor der Mobilmachung 1914 frei und ohne Unterstützung vorwärtsgewackelt war, wie er zu reden begonnen hatte. »Das Bankert von der jüngsten Rosin-Tochter«, hatte Karl einmal eine Frau im Wiener Volksgarten sagen gehört. Das schmerzte, so wie es ihn bedrückte, dass Fanny das Kind in einer Stadt, die zunehmend unter den Kriegsfolgen litt, alleine großziehen musste. Außerdem fraß es in ihm wie eine Raupe im Maulbeerbaum, dass sie ihre Entscheidungen ohne seine Hilfe traf, wie viele andere verlassene Frauen, als wären Männer gar nicht notwendig! Im August 1914 war er schon dem ersten Schlachtfeld entgegengefahren, da hatte Fanny gerade den Mietvertrag für ihr neues Geschäftslokal am Ulrichsplatzl mit der winzigen Wohnung dahinter unterschrieben. Max war eineinhalb Jahre alt, und Karl hätte sich nicht träumen lassen, dass er die beiden für Jahre nicht mehr sehen und hören, dass es keine baldige Hochzeit für sie geben würde. Immer dieser Zwiespalt, die heiße Freude über jeden Brief, der ihn erreichte, das niederschmetternde Gefühl des Überflüssigseins, weil sie ihr Leben auch ohne ihn meisterte. Zweifel an ihr ließen ihn schaudern, und dann wieder stach die Scham, dass er nicht uneingeschränkt stolz auf sie und ihre Fähigkeiten sein konnte.

Karl ließ die Hand auf Fannys Brief liegen und versuchte, sich wieder in den Schlaf zu stehlen, noch eine Stunde vergessen zu können, bevor der Morgenappell sie alle hinaus in die Kälte trieb. Er atmete tief ein, das Gesicht an die Steinwand gedrückt. Manchmal bildete er sich ein, zeitig in der Früh das Meer im Osten zu riechen. Das war unmöglich; es konnte nur der Amur sein, dieses im Frost erstarrte Wasser, dessen Ufersäume vom wachsenden Eis in grelles Weiß verwandelt worden waren.

Er erinnerte sich daran, wie der Fluss im Herbst die goldenen Sumpfwälder spiegelte, das Totholz unter den Mückenschwärmen, die neuen Brückenpfeiler der Transsibirischen Eisenbahn, und er erinnerte sich an den Tag des letzten erlaubten Ausgangs, als er im Oktobersturm auf dem Weg aus der Stadt zurück gewesen war. Dann schlossen sich die Tore des Lagers. Über den zugefrorenen Strom hatten zu viele in den Wintern zuvor die Flucht nach China versucht. Der Amur glich jetzt einer sechs Kilometer breiten Gletscherzunge, nur ohne Felsen, ohne Narben, ohne Schrunden, eine schillernde Eisbahn in der tief stehenden Dezembersonne und unter dem fahlen Sternenlicht der tödlichen Frostnächte.

Die grausame Klarheit des Himmels faszinierte Karl. Die wenigen Wolken, die in der Luft hingen, die dünne Schneedecke zu Winterbeginn, über die der Wind pfiff. Wie in den vorherigen Wintern waren sie alle geradezu hypnotisiert von diesem Wetter, dem sie ausgesetzt waren, dem sibirischen Weiß, das alle Farben dieser Welt für ein halbes Jahr verdeckte, ab November unter Schneemauern verbarg, diesem tödlichen Weiß, das sie grausamer in Schach hielt als die Stacheldrahtzäune und bewaffneten Soldaten. Und doch hatte keiner von ihnen in den letzten zwei Jahren Zehen oder Finger eingebüßt, ein nicht selbstverständliches Glück.

Auch ihre Bewacher litten unter der Kälte. Am Zustand der russischen Uniformen konnte man sehen, dass die Versorgungsengpässe zunahmen. Die Stoffe, die der Schneiderei im Mannschaftslager zugeteilt wurden, hatten nicht mehr die Qualität der ersten Kriegsjahre. Allerdings waren das russische Amtsgebäude und die Kantinen besser geheizt als die Häuser der Offiziere. Der Pelzhandel mit den Stammesjägern aus dem Nordosten blühte mit wohlhabenden Offizieren. Karl knetete die selbst gestrickten Fäustlinge, die seine Mutter im letzten Paket mitgeschickt hatte. Er nahm sie nachts mit der Haube, die von Fanny gekommen war, ins Bett, um sie körperwarm in der Früh überstreifen zu können. Die Mutter hatte in »mostobstalleengrün« für ihn und in »mostviertelhimmelnachtblau« für Viktor gestrickt. Vermutlich hatte es nur die zwei Farben gegeben, aber es machte ihn so froh, dass sie ihn auf diese Weise an die Landschaft seiner Kindheit erinnerte, sich Wörter ausdachte, die das Heimweh auftunken konnten wie weiches Weißbrot sämigen Gulaschsaft. Denn gab es Schöneres als die vielen Tausend Alleebäume, die während der Blütezeit sein Land mit rosa und weißen Doppellinien überzogen und die duftenden Karrees der Obstgärten miteinander verbanden? Gab es Hinreißenderes als diesen trunkenen Herbsthimmel während der Gärungszeit, wenn der junge Most nuschelnd in den Fässern arbeitete? Daran zu denken trieb ihm jedes Mal Tränen in die Augen.

Chabarowsk war eine prosperierende Siedlung, der alle große wirtschaftliche Zukunft voraussagten. Karl hatte selbst im Sommer 1917, als die provisorische Regierung in der Bauernrevolte unterging und der Bürgerkrieg um sich griff, gesehen, welche Schätze sich noch in den Schaufenstern der Hauptstraße von Chabarowsk türmten. Im Nachhinein war er ungehalten, dass er nicht mehr Papier besorgt, mehr Ansichten von den Jugendstilhäusern und der Kathedrale mit den goldenen Zwiebeltürmen gemacht hatte; im bereits eisverkrusteten Oktober hatte er kein Zeichenmaterial gekauft und im frostigen Wind den Weg am Fluss nicht genießen können, weil er erschlagen war von der Aussicht, wieder einen Winter hier verbringen zu müssen. Ein blinder Esel war er gewesen, die Einkaufsgelegenheit nicht zu nutzen.

Karl hatte sich in den letzten Jahren gern in Betrachtungen des sommerlichen Straßenlebens verloren, Kindern hinterhergeschaut, die spielten, als gäbe es keinen Krieg, sich immer wieder gewundert über die vielen Völker und Mutmaßungen angestellt, ob sie mit Yupiks verwandt waren oder mit Mongolen oder eine ganz eigene Gruppe bildeten, weil ihre Gewänder anders aussahen, ihre Sprachen anders klangen, anders auch als das Chinesische oder Koreanische, das Gärtner und Händler auf den Gemüsemärkten sprachen. Die Hauptstraße mit ihren modern verspielten Fassaden, die Schaufenster voll mit Dingen, die ihn an Märchen erinnerten, die Menschen in farbenprächtigen Kostümen, und dazwischen das russische Bürgertum, das ihm ähnlich erschien wie vor Jahren die Wiener Mischung daheim. So viel Lachen nur wenige Kilometer von den Lagerzäunen entfernt! Er war einfach dagestanden und hatte versunken zugesehen.

Wäre Viktor im Oktober ein Passierschein zugeteilt geworden, hätte er vermutlich umsonst Zeichenkohle und geheftete Blöcke in der Stadtduma bekommen. Viktor konnte mit seinem Charme einiges bewerkstelligen und war geschickt darin, Situationen zu nutzen. Karl verstand immer noch nicht, wie sein Bruder, dieses Glückskind, überhaupt erwischt und gefangen genommen worden war.

Das Einzige, was für Karl wirklich feststand, war Liebe. Aber darüber konnte er nicht reden.

Selbst wenn die Theatergruppe ein Stück aufführte, das von der Liebe handelte, der Schöne Alfred in Frauenkleidern über die Bühne schwebte und die Männer dem jungen Offizier hingerissen und selbstvergessen Ovationen brachten, oder wenn wieder einmal eine Welle der sexuellen Verbrüderung durchs Lager fegte, konnte man oft nicht von Liebe reden. Offiziere hatten Geld. Den Mannschaften blieben nur Träume.

Manche Offiziere verdienten mit krummen Geschäften genügend, um sich Bestechungen zu leisten, zusätzliche Wäsche für den Winter, ein zu junges Mädchen, dessen Sprache keiner verstand und bei der niemand nachfragte, wenn ihr Bauch wuchs und Haken oder Stricknadeln das Problem beseitigen sollten. Andere verfolgten die spärlichen Nachrichten vom Kriegsgeschehen und trösteten sich mit Planspielen. Manche politisierten, und von ihnen hielt sich Karl am weitesten entfernt, egal, welche Positionen sie vertraten.

Karl schaute zu, träumte und zeichnete. Wann immer es möglich war, schickte er eng beschriebene Blätter an Fanny nach Wien, hoffend, dass der nächste Posttransport eine Antwort von ihr enthielt, die auf den ersten Blick ebenso tugendhaft Liebe beschwor wie sein Brief und erregende Andeutungen verbarg, die ihm Trost waren und Nahrung. Wie bei allen brannte in ihm das Verlangen nach Heimkehr, während er die Schönheiten der sibirischen Fremde bestaunte. Er fürchtete sich davor, dass es noch Jahre dauern würde, Jahre, in denen Fanny die Geduld und vor allem die Liebe verlieren würde. Als die ersten Nachrichten von einer russischen Revolution durchsickerten, hatte er wie die meisten der Hoffnung nachgegeben. Dann folgten Gräuelberichte. Dieser letzte Herbst in Chabarowsk war eine Zeit der Zweifel gewesen, voller unglaubwürdiger Versprechen und neuer Ängste.

Am Tag nach seinem Oktoberausgang war der Wind eingeschlafen, und es hatte richtig zu schneien begonnen. Ihre Lagerwelt war in weißer Stille versunken. Flocken fielen stetig fünf Wochen lang, als würde das Wetter dieser Welt verrücktspielen, und der Schnee, der in anderen Jahren viel später erst in solchen Mengen das Elend bedeckte, blendete wie eine spottende Schönheit Mensch und Tier. Jeden Tag gruben die Männer Wege zwischen den Kasernen, dem Appellplatz, dem Verwaltungsgebäude frei. Offensichtlich hatte man vor Jahren mit einer Besetzung der Mandschurei gerechnet, die Grenze zu China musste aufgrund der japanischen Expansionsträume gesichert werden. Deshalb hatten sie in Chabarowsk richtige Fenster, einen Ofen in jedem Zimmer, Waschräume, die im Sommer fließendes Kaltwasser und im Winter Eimer mit aufgetautem Eis boten, alles Dinge, die in vielen Lagern nicht existierten. Drüben bei den einfachen Soldaten gab es nur einen deutschen Offizier, der als Pfarrer bei ihnen lebte und sie tröstete. Und hier im Offiziersquartier hatte Feldkurat Drexel, der vor dem Krieg im österreichischen Abgeordnetenhaus und im Reichsrat gearbeitet hatte, gleich zu Beginn der Lagerbelegung erwirkt, dass er alle Spitäler und Lager im Osten besuchen durfte, ungehindert Zugang zu Gefangenen erhielt.

Doch das half nicht gegen die Traurigkeit, die sich in Karls Körper festgefressen hatte. Es war der dritte Winter und der Beginn des vierten Jahres ohne Fanny, ohne Max. An der rechten Schläfe hatte Karl ein weißes Haar entdeckt. In wenigen Tagen würde er neununddreißig Jahre alt. Sein Leben raste unaufhaltsam durch diese grausam verharrende Zeit, entglitt ihm schneller und schneller.

Dann hörte es zu schneien auf, und die oberste Schneeschicht verwandelte sich in Eiskrusten voll glitzernder Kanten. Gleißende Stille erdrückte sie fast. Manchmal bekam einer den seltsamen Winterblick, weil er das Schneemeer unter dem blauen Himmel da draußen nicht mehr aushielt, und sie mussten ihn überwachen, bis es ihm doch gelang, zu entwischen und auf einen Wachturm zuzulaufen, um im Schusshagel zu einem roten Bild zu versteifen; rosa und dunkelrote Spritzer, die schnell schwarz wurden, während das Gesicht wachsbleich erstarrte und die ersten sich näherten, um dem Toten die Schuhe auszuziehen, den Mantel, den man brauchen konnte.

Karl spürte, wie der Schlaf in flachen Wellen zurückkehrte. Was für ein Geschenk, dachte er und nickte ein, während er sich noch Fannys Gesicht vorstellte.

Wenige Stunden später, nach dem Morgenappell und nachdem die Brotration des Tages verteilt worden war, zog Karl den dicken Mantel wieder an, wickelte Bänder um seine Hände, bevor er sie in die löchrigen Fäustlinge steckte, die er einem Toten im Jahr zuvor abgenommen hatte, und verschwand hinaus. Wenn er mit einem der Leute von außerhalb Geschäfte machte, ließ er die neuen Sachen im Bett unter der Decke; gerade in den Wochen nach Weihnachten hatte fast jeder ein kostbares Lieblingsstück, das er nicht verleihen, schon gar nicht verlieren wollte.

Er wollte den Gärtner treffen, von dem er immer noch nicht wusste, wie er wirklich hieß und ob er ein Koreaner oder ein Angehöriger der Nanai war. Russen hatten ihm erzählt, dass dieser Volksname die Goldenen bedeutete. Die meisten der Nanai hier waren Fischer und Jäger, weshalb er den Mann für einen Koreaner hielt. Er bot als Tauschobjekte nie Fleisch, immer Gemüse an, das er mit einem Singsang pries.

Der Mann stand bereits am üblichen Platz hinter den geschlossenen Schranken, in Sichtweite der Wachen, wie es die Händler machten, seitdem das Lager belegt worden war. Seit einem Jahr schon brachte Karl kleine Holzfiguren, die er aus dem Gehölz des Ufergebüsches schnitzte. Gerade Zweige eigneten sich am besten für fingerlange Soldaten, die einander ähnelten, weil sie aus gleichen Formen zusammengefügt wurden. Karl färbte sie mit Kohle ein, brannte mit einer Nadel Schablonengesichter in die Köpfe. Die Holzarmee ging ihm mittlerweile auf die Nerven, viel lieber baute er Hunde, Katzen, Pferde zusammen. Kurz vor Weihnachten hatte er etwas anderes versucht, ein neumodisches Automobil. Karl hatte es mit fahlrotem Rübensaft eingefärbt, nachdem sie aus dem Gemüse drei unterschiedliche Essen fabriziert hatten und die Flüssigkeit dann nach gar nichts mehr schmeckte. Der Mann war begeistert gewesen, ja, ein Geschenk für seinen Sohn! Er deutete Hüfthöhe an, eins, zwei, drei, viele Kinder, er brauchte mehr als dieses eine. Natürlich war Karl klar, dass der andere alles weiterverkaufte. Mit Glück hatte dieses erste Stück den Weg zu seinem Kind gefunden, um herauszufinden, ob es als Spielzeug etwas taugte.

In den letzten Wochen hatte Karl versucht, Viktor beizubringen, wie man so schnell wie möglich aus einem geraden Ast Stücke schnitt und zu Wagen und Lokomotiven schnitzte, weil sämtliche Teile aus Rundhölzern geschnitten, ineinandergesteckt und ohne Leim miteinander verbunden wurden. Alles schaffte Karl mit einem Messer, einer winzigen Säge, deren Blatt er selbst gezahnt hatte, einem Schraubenzieher und einem Pfriem, den er einem Schuster in Chabarowsk abgekauft hatte. Viktor war geschickt, vor allem hatte er ein Auge für Proportionen. Er wollte bloß lieber organisieren, anstatt in einer düsteren Ecke herumzuwerken oder zu zeichnen. Also hatte ihm Karl eine Liste von Werkzeugen aufgeschrieben, die der Bruder besorgen sollte, und hatte Eduard Nolting, den ältesten und Ranghöchsten ihrer Gruppe, und Josef Rohleder eingeschult. Eduard war Oberst, Berufsoffizier wie Karl, vierundvierzig Jahre alt, besaß einen zerfledderten Band mit Goethegedichten und redete wenig. Aber er konnte anpacken, und er hatte ein exzellentes räumliches Vorstellungsvermögen. Karl amüsierte es heimlich, dass das nun nicht mehr der Armee diente, sondern der Herstellung daumenlanger Spielfiguren.

Er holte aus den Manteltaschen die neueste Kollektion, Holzbauern, die Schaufeln und Rechen in der Armbeuge eingeklemmt trugen, Bauernfrauen mit ausladenden Hüften unter bodenlangen Röcken, deren rechte Hand ein Loch aufwies, durch das man Körbchen an winzigen Spänen stecken konnte. Alle Figuren trugen unterschiedliche Kopfbedeckungen, die man mit einer Drehung aufschrauben oder abnehmen konnte, und deren Aussehen Karl von den Händlern und Reisenden auf der Hafenpromenade von Chabarowsk abgeschaut hatte. Es waren zehn Männer und zehn Frauen, die Karl direkt auf dem Balken der Schranke aufstellte. Alle Frauen hatten lachende Münder, runde Hüften.

Der Händler reagierte begeistert. Sie waren drei Krautköpfe, eine Sellerieknolle, ein Kilo Reis, eine Handvoll getrocknete Teeblätter und zwei Rüben wert, prall, hart, glänzend.

Karl ging den vereisten Trampelpfad zwischen den Baracken zurück, das schwere Gemüse unter seinem Mantel fest an die Rippen gedrückt, den Tee in der Tasche versenkt. Nur an die Extrasuppen zu denken, verursachte ihm Magenkrämpfe.

Als er die Tür hinter sich schloss und sich umdrehte, blickte er in Viktors Gesicht. Viktor strahlte, und Karl wusste, warum. Sein Bruder hatte eine Fluchtmöglichkeit gefunden.

Sie schlenderten zu sechst hinüber zur Kantine, Karl, Viktor, Eduard Nolting, Kapellmeister Ludwig Fatzinek, der als Oboist gut mit dem Schnitzmesser umgehen konnte, Imre Nemeth aus einem ungarischen Regiment, und Josef Rohleder, der großartiges Russisch sprach und deswegen im Offizierskorps gelandet war.

»Ich kann vom schwedischen Konsul in der Stadt mit Sicherheit nicht nur Zugkarten, sondern auch noch Extrageld erbetteln«, sagte Viktor.

»Auf die Idee kommen andere auch.«

»Das ist egal. Ihr wisst, wie hilfreich er in den letzten Jahren war. Sollten die Russen ihn nach uns fragen, wird er um Antworten nicht verlegen sein.«

»Bist du dir sicher, dass deine Informationen stimmen?«, fragte Ludwig zum wiederholten Mal.

Imre schlug die Hände in den wollenen Fäustlingen erregt zusammen, ohne ein Wort zu sagen. Imre würde Probleme machen, dachte Karl, er verlor in den unpassendsten Augenblicken die Nerven. Einer von ihnen würde sich um den Ungarn kümmern müssen, damit keine Wachen aufmerksam wurden.

»Und wieso sollte unsere Bewachung schludriger werden?«, fragte Karl, obwohl er es sich denken konnte. Unter den Offizieren wurden Gerüchte über die großen Schlachten, die unglaublich schnell den Weg an die Pazifikküste gefunden hatten, diskutiert und mit neu entflammter Hoffnung erzählt. Karl irritierte, dass solche Nachrichten wie Geschosse zu ihnen durchkamen, während die Befehlskette der Russen löchriger wurde, der Friedensvertrag Österreichs mit den Sowjets für die Lager noch keine Auswirkungen zeigte.

»Weil die Generäle des Zaren keine Generäle mehr sind, und der Zar ist gefangen«, lächelte Viktor.

»Trotzdem werden wir immer noch scharf bewacht. Ich traue den Posten nicht über den Weg«, sagte Imre leise und wie immer ein wenig stotternd.

»Wir wissen doch alle, dass in Russland seit Monaten Rote gegen Weiße kämpfen, dass hier in Sibirien keiner ahnt, wer am nächsten Tag das Sagen und die Oberhand hat. Vielleicht ein Neuntel des Landes ist unter Sowjetherrschaft, und um den Rest prügeln sich Militärgruppen, die von einem auf den anderen Tag entstehen und die sich ganz sicher nicht um Kriegsgefangene kümmern wollen. Der japanische Kaiser und seine Militärs sind ebenso gierig. Sie haben es schon erkannt: Jetzt ist die beste Zeit, dem russischen Bären das Fell zu stutzen und die eigenen Gebietsansprüche durchzusetzen. Europas Westen hungert genauso wie Russland. Denkt an das, was uns die Frauen von daheim schreiben! Niemand hat Kapazitäten, um sich am Pazifik auf einen weiteren Krieg einzulassen, nur die Japaner. Wenn die in China einmarschieren, geraten wir zwischen die Fronten.«

»Dann werden sie uns gefangen nehmen, ein weiteres Mal.« Eduard blieb stehen und betrachtete die glitzernden Baumkronen außerhalb der Palisaden, in denen sich das kalte Licht der Frühjahrssonne fing. »Wir müssen uns beeilen, bevor etwas passiert.«

Frühling, dachte Karl, die Zeit wurde tatsächlich knapp. Sie hatten noch zu wenig überzeugende Zivilkleidung, nicht genügend Rubel, nur die Gewissheit, dass in den kommenden Wochen die politische Lage prekärer werden würde und niemand vorhersagen konnte, welche Armee Oberhand gewinnen, welches System sich für sie weiter zuständig fühlen und welcher Kommandant die Regeln machen würde. Und sie mussten überlegen, wie sie ihr bisschen Geld und die persönlichen Schätze bis dahin verstecken konnten.

»Josef, kannst du über deine Ordonnanz die Schneiderei beauftragen, uns Mäntel mit mehr Innentaschen zu nähen, und Stoff besorgen, mit dem wir unsere Rucksäcke flicken können? Bessere Schuhe, als wir jetzt haben, wird es nicht geben«, entschied Eduard Nolting. »Wir maskieren uns als Bauern. Wir wollen nicht auffallen. Ist euch klar, dass wir dann in einer Verkleidung stecken, die alle unsere Rangunterschiede aufhebt und zu Gleichen unter Gleichen macht?«

»Waren das nicht die Traumziele der französischen Revolution?«

»Und die Kommunisten wünschen es sich auch. Aber ob die Bauern das mögen? Wir jedenfalls werden untertauchen. Solange unsere Papiere nicht geprüft werden, kommen wir voran.«

»Ich versuche, den Konsul gehörig anzubohren«, sagte Viktor. »Ludwig, du hältst die Ohren offen, wenn du bei den Russen musizierst. Wir müssen bereit sein, wenn die erste Welle flieht. Wir müssen unter den Ersten sein.«

»Aber du weißt nicht, welche Gruppe das sein wird?«

»Es soll eine Massenflucht werden.«

»Die keiner koordiniert?«

»Doch, angeblich.«

»Aber du weißt nicht, wer sie leitet?«

»Na ja, die zwei Generäle, der Deutsche und unsriger, und ihr persönlicher Stab, also es gibt einen Verbindungsoffizier, an den alle melden sollen, die abhauen …«

»Das ist zu gefährlich. Wenn so viele involviert sind, dann wissen es die Russen auch und knallen uns wie die Hasen ab.«

»Nein, werden sie nicht«, mischte sich Eduard wieder ein. »Sie werden weichgekocht sein, denn die Gerüchte brodeln. Sie werden aufpassen, sie werden uns in den nächsten Wochen überwachen, zuerst akribisch, dann lascher. Wir nutzen die Zeit fürs Akquirieren. Sollte jemand fliehen, ist es gut. Und ich bin sicher, es werden einige sein! Sollte niemand fliehen, wird es die Wachen zermürben. Im April werden sie andere Sorgen haben, denn die politische Lage verschlechtert sich. Die Schneeschmelze wird helfen, bevor uns der Morast festhält, die Scharmützel zwischen Roten und Weißen werden zunehmen, die Japaner vielleicht schon an der Küste auftauchen. Vergesst nicht, dass die Kommunisten hier faktisch noch keine Infrastruktur aufgebaut haben. Die Verbindung nach Moskau ist ein Witz. Es gibt örtliche Parteizentralen, aber dazwischen funktioniert nichts. Nur die Transsibirische fährt verlässlich, vermutlich nicht ins europäische Russland, aber zumindest weit in den Westen.«

»Bist du dir sicher?«

»Jeden Tag kommt ein Zug aus dem Westen an, von Wladiwostok fährt jeden Tag einer ab. Die Eisenbahn scheint heilig zu sein. Wir richten alles her, wir werden bereit sein. Und keiner entfernt sich mehr ohne Ankündigung von den anderen. Wir sechs müssen zusammenhalten und wissen, wo wir einander finden. Das ist doch richtig, oder, Karl?«

Karl nickte Eduard zu, der rangmäßig über ihm stand.

Vor knapp zwei Jahren war er mit ihm gemeinsam im Frühling hier gestrandet, an die zwölftausend Kilometer von Wien entfernt. Karl würde nie vergessen, wie Eduard, als sie in Chabarowsk landeten und mit wackeligen Beinen aus dem Wagon auf den Perron sprangen, sich ihm zuwandte, in der Hand eine elegante Silbertabatière; schnapp! — und offen war sie, auf der vergoldeten Innenseite lagen vier zerknitterte Papyrossi. Karl durfte sich bedienen, die Dose verschwand mit einer Schnelligkeit, die viel Übung verriet, ein Streichholz flammte auf. Karl nahm einen tiefen Zug, reichte die Zigarette zurück an den Oberst, der dankte und den nächsten Zug tat. Für jeden gingen sich vier Lungenzüge aus, schweigend. Später hatten sie einander manchmal kurz zwischen den zusammengedrängten Gesichtern erspäht, Karl wusste nicht mehr, wer als Erster gelächelt hatte, aber über viele Tage hinweg waren diese gemeinsamen Augenblicke ein Quell von Trost gewesen. Die Zigarette begleitete ihr Kennenlernen, die ersten Sätze fielen auf dem Fußmarsch ins Lager, wo Karl das Humpeln des anderen bewusst wurde, er von den erfrorenen drei Zehen erfuhr, der Amputation unter unglaublichen Bedingungen. Später hatte Karl zugegeben, seit Jahren nicht mehr zu rauchen, aber wenn er an Tabak kam, brachte er ihn Eduard. Es war ein ruhiges Verstehen, ein felsenfestes Grundvertrauen, wie Karl es bis dahin nur in seiner Familie und bei Fanny gespürt hatte. Eduard war ein überlegt agierender Führer der kleinen Gruppe, die sich um Karl bildete. Die zwei mochten sich auf Anhieb.

Ludwig war im Herbst in einem Transport gewesen, Imre hingegen hatten die Russen schon vor ihrer aller Ankunft aus einem Lastwagen abgeworfen, schwer verstört nach einer Lagerhaft unter Türken in Samarkand und mit tiefen Brandwunden auf dem Rücken. Sie redeten wenig über die Schlachten, in denen sie gefangen genommen worden waren, selten über die Zustände, unter denen sie zwischen den Feuern, unter Beschuss, vegetiert hatten. Manchmal ließ einer einen Satz fallen über das Sprinten aus einem Graben und Hineinfallen in das nächste Loch, wo schon Tote lagen, oder über das Marschieren, wenn es wieder vorwärtsging. Keiner erwähnte die Angst, die Erfahrung, wenn sie wimmernd jede Kontrolle verloren und die warme Pisse an ihren Schenkeln hinunter in die Stiefel schoss. Keiner hatte vor der ersten Schlacht gewusst, wie der Krieg sich anhören würde. Sie kannten nur den Lärm der kaiserlichen Manöver, das Kriegsspiel, das abends vom Trinken, Singen, Feiern unterbrochen wurde und manchmal von Tanzereien mit den gelangweilten Frauen der Etappenhengste und flüchtigen Ergüssen in Mädchen, die ein Nein nicht wagten oder im besten Fall ein Abenteuer ebenso sehr suchten. Nicht einmal die Brüder hatten miteinander über das Grauen geredet, wenn man sich als Einziger aus einem Graben von den zerrissenen Leichen der Kumpane hochstemmte oder sich das Gesicht abwischte von blutigem Brei, der sich als das Gehirn des Nebenmannes entpuppte. Es gab keine Worte für das, was sie wochenlang erbrechen ließ, sich in ihre Träume drängte. Doch das Schweigen deckte die Erinnerung nicht zu, war nur mit einem Nebel vergleichbar, der hoffentlich gnädig lange über dem Grausigen hängen blieb.

Es gab keinen konkreten Fluchtplan, trotz Viktors Mutmaßungen. Nur eine Sache war gewiss: Sie waren abgeschnitten von allem Tagesgeschehen, von Nachrichten, denen sie trauen konnten. Auf der Flucht würden sie ohne Post leben müssen, ohne Geldsendungen, ohne Briefe, ohne Karten, ohne Pakete. Ihre Familien daheim würden nichts von ihnen erfahren, kein Lebenszeichen erhalten.