Fehlalarm – Ein Düsseldorf-Krimi - Horst Bieber - E-Book

Fehlalarm – Ein Düsseldorf-Krimi E-Book

Horst Bieber

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Beschreibung

Kommissar Sartorius steht vor einem Rätsel. Jemand hat das Gebäude der Firma Alfachem unter Wasser gesetzt und anschließend den Brandalarm der höchsten Gefahrenstufe ausgelöst. Als die Feuerwehr wenig später mit einem riesigen Einsatzkommando anrückt, findet sie nur die Leiche des Nachtwächters. Die Todesursache ist nicht eindeutig, wahrscheinlich Herzversagen. Die Polizei will den Fall eigentlich unauffällig zu den Akten legen. Doch Hauptkommissar Sartorius bleibt hartnäckig, zumal Dr. Brauneck, einer der wichtigsten Chemiker der Alfachem, seit dem Fehlalarm spurlos verschwunden ist …
Seine Hartnäckigkeit bringt Sartorius allerdings in große Gefahr, was kaum verwundert, da sich nach und nach herausstellt, dass eine politisch gefärbte Verschwörung hinter der ganzen Sache steckt. Er gerät immer tiefer in einen Sumpf von Intrigen, Geheimdienstaffären und illegalen Erfindungen und es erscheint fraglich, ob er aus diesem Labyrinth je herausfinden kann.

Seinen ersten Kriminalroman SACKGASSE veröffentlichte Horst Bieber 1982. Für seinen Krimi SEIN LETZTER FEHLER, erschienen 1986, erhielt er 1987 den Deutschen Krimi Preis.

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Horst Bieber

 

 

Fehlalarm

 

 

 

Ein Düsseldorf-Krimi

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

 

Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv

Cover: © by Steve Mayer nach Motiven, 2022

Korrektorat: Antje Ippensen

 

Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang

 

Alle Namen und Personen, Firmen und Vorgänge sind frei erfunden. Nur die Verhältnisse sollen an die Bundesrepublik erinnern.

 

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

Fehlalarm 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

13. Kapitel 

14. Kapitel 

15. Kapitel 

16. Kapitel 

17. Kapitel 

18. Kapitel 

19. Kapitel 

20. Kapitel 

21. Kapitel 

22. Kapitel 

23. Kapitel 

24. Kapitel 

Der Autor Horst Bieber 

 

Das Buch

 

 

Kommissar Sartorius steht vor einem Rätsel. Jemand hat das Gebäude der Firma Alfachem unter Wasser gesetzt und anschließend den Brandalarm der höchsten Gefahrenstufe ausgelöst. Als die Feuerwehr wenig später mit einem riesigen Einsatzkommando anrückt, findet sie nur die Leiche des Nachtwächters. Die Todesursache ist nicht eindeutig, wahrscheinlich Herzversagen. Die Polizei will den Fall eigentlich unauffällig zu den Akten legen. Doch Hauptkommissar Sartorius bleibt hartnäckig, zumal Dr. Brauneck, einer der wichtigsten Chemiker der Alfachem, seit dem Fehlalarm spurlos verschwunden ist …

Seine Hartnäckigkeit bringt Sartorius allerdings in große Gefahr, was kaum verwundert, da sich nach und nach herausstellt, dass eine politisch gefärbte Verschwörung hinter der ganzen Sache steckt. Er gerät immer tiefer in einen Sumpf von Intrigen, Geheimdienstaffären und illegalen Erfindungen und es erscheint fraglich, ob er aus diesem Labyrinth je herausfinden kann.

 

 

***

 

 

Die Hauptpersonen:

Die Firma Alfachem:

Norbert Althus

Dieter Fanrath

Angela Wintrich

Richard Jäger

Dr. Alexander Brauneck

Britta Martinus

Peter Cordes

 

Die staatlichen Organe: Paul Sartorius, Petra Wilke, Heike Saling

 

Außerdem wirken mit:

Inhaber

Geschäftsführerin

Sicherheitsbeauftragter

Chemiker

Laborantin

Nachtwächter

Hauptkommissar

Hauptmeisterin

Staatsanwältin

ein jähzorniger Brandmeister

eine erfahrene Nutte und eine Anfängerin

ein falscher Grieche,

Referenten und Büroleiter verschiedener Ministerien und ein Innenminister

 

 

Fehlalarm

 

 

Ein Düsseldorf-Krimi

 

 

1. Kapitel

 

An der Einmündung der Grubenstraße musste Sartorius scharf bremsen. Polizisten räumten Straßensperren weg, rollten Wimpelleinen ein und schalteten blinkende Warnlampen aus. Zwei Mann warfen die Metallständer mit unnötiger Wucht auf die Ladefläche eines Transporters, selbst auf die Entfernung war ihre schlechte Laune nicht zu verkennen.

»Was ist los?«, fragte er den jungen Wachtmeister, der mit wütender Miene auf ihn zugestürzt kam, und hielt ihm vorsichtshalber den Dienstausweis unter die Nase.

»Ah, Sie – guten Abend, Herr Hauptkommissar. Blinder Alarm, sonst nichts.« Es kostete ihn Mühe, höflich zu bleiben. »K-4-Alarm, nur ein kleiner K-4-Alarm.«

»Das tut mir leid«, sagte er freundlich.

»Und natürlich am Freitagabend. Wir haben ja die Woche über nichts zu tun.«

Auf diese Diskussion wollte er sich nicht einlassen. Der Wachtmeister riss sich zusammen und trat zur Seite: »Etwa achthundert Meter weiter.«

»Vielen Dank.« Vorsichtig ließ er die Kupplung kommen und steuerte im Slalom an den Polizeiwagen vorbei. Wie war das noch – K4? Das war Brandalarm der höchsten Stufe, erinnerte er sich schwach. Objekte der obersten Gefahrenstufe; ein ganzes Viertel um den Brandherd herum musste abgesperrt und evakuiert werden. Um diese Zeit, kurz vor Mitternacht, hielten sich allerdings nur wenige Menschen im Industriegebiet auf, Nachtwächter und einige wenige Arbeiter an den Maschinen, die aus technischen Gründen rund um die Uhr liefen. Als er die Scheibe herunterkurbelte, fächelte ihm lauwarme Luft entgegen. Sogar fast ohne Gerüche, was in dieser Gegend nicht die Regel war, obwohl alle Fabriken erst in den letzten zwanzig Jahren nach modernsten Standards gebaut worden waren. Breite Straßen, viele Leuchten und an einigen Stellen sogar spärliches Grün. In den Hallen und Gebäuden brannte kein Licht, die ungewöhnliche Stille irritierte ihn regelrecht.

Vor der »Alfachem. Chemische Werke Norbert Althus & Dieter Fanrath« parkten Polizeiautos und Feuerwehrwagen kreuz und quer. Auch hier wurde zusammengepackt, wurden Schläuche aufgerollt, Geräte in den grellroten Kastenwagen verstaut. Vier Männer steckten in unförmigen Taucheranzügen, große Stahlflaschen auf den Rücken geschnallt, die Köpfe unsichtbar in kugelförmigen Helmen, aus denen sie sich nicht ohne Hilfe befreien konnten. Sie sahen aus wie Astronauten kurz vor dem Ausflug in den Weltraum. Gelbe und blaue Lichter zuckten, zornige Männer schimpften vor sich hin, schleppten Schlauchtrommeln zu den Gerätetransportern zurück und kurbelten Hydrantenanschlüsse zu.

Einen Moment sah Sartorius fasziniert zu. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Zwölf Fahrzeuge der Feuerwehr, der Leiterwagen war schon auf die Seite rangiert, ein Großeinsatz. Kein Wunder, dass die Männer ihrem Zorn Luft machten. So unauffällig wie möglich schlängelte er sich durch das Gewirr von Schläuchen, Kabeln und Kisten.

Vor ihm lag, von den noch brennenden Scheinwerfern erleuchtet, eine Art Hochbunker, ein farbig angestrichener Betonbau ohne Fenster. Die wenigen Türen standen jetzt weit offen, auf der Verladerampe fuchtelten zwei Männer wild herum. Das hohe Gittertor vor dem Werkshof war zur Seite gefahren. Ein Mann hockte auf einer Kiste und balancierte ein Klemmbrett mit Formularen auf den Knien.

»Guten Abend«, grüßte Sartorius höflich, »mein Name ist Sartorius, Kriminalpolizei. Sie haben doch einen Toten gefunden?«

Der Mann schaute kurz hoch, den Dienstausweis beachtete er nicht. »Vorne im Bürogebäude.«

»Danke.«

Links und rechts führten befestigte Wege am Werksgelände vorbei, das mit einem hohen, festen Zaun gesichert war, gekrönt von Y-Trägern mit Nato-Draht. Zwei Schaumtank-Fahrzeuge setzten gerade rückwärts heraus auf die Grubenstraße, er musste sich an den Zaun pressen und spürte im Rücken den festen Alarmdraht. Das Ding war ja gesichert wie Fort Knox! Lärm und Dieselgestank betäubten ihn für Sekunden.

Die Feuerwehrwege mündeten oben auf der Hollerstraße, an der das Verwaltungsgebäude lag. Bürohaus und Fertigungsbunker waren auf beiden Seiten des Geländes mit Flachbauten verbunden, und in dem dadurch gebildeten Hof wuchsen tatsächlich zwei Bäume, deren Kronen die Dächer der Verbindungstrakte überragten. Das Gelände stieg leicht an.

In der Hollerstraße herrschte etwas weniger Betrieb, auch hier stand das Tor weit offen, auf den Parkplätzen vor dem Gebäude waren mehrere Polizeiwagen abgestellt. Neben den Glastüren zur hellerleuchteten Eingangshalle langweilte sich ein Polizist, der lässig an die Mütze tippe: »’n Abend, Herr Kommissar.«

»Abend«, erwiderte er kurz und blieb einen Moment stehen. Die Glastüren waren aufgebrochen, mit roher Gewalt hatte man das Panzerglas eingeschlagen und anschließend das Doppelschloss mit einem Winkelhaken aufgestemmt.

»Waren wir das?«, erkundigte er sich.

»Nein, die Feuerwehr«, antwortete der Wachtmeister gemütlich. »Als die kam, war hier alles dunkel und verriegelt. Obwohl laut Alarmplan der Nachtwächter alle Türen und Tore öffnen sollte.«

»Der Einsatzleiter …«

»… ist drin. Brandes heißt er.« Der Polizist grinste. »Der kocht, Herr Kommissar. Und sprüht Funken.«

»Dann gibt’s wenigstens was zu löschen«, zwinkerte er und trat in die Halle, stockte und schüttelte verwirrt den Kopf. Die Halle schwamm, anders konnte man es nicht bezeichnen. Auf den hellbraunen Steinfliesen schwappte das Wasser zentimeterhoch, von den Steinplatten der Wände lief die Feuchtigkeit noch in dünnen Rinnsalen herunter. Selbst die Decke tropfte. Auf der Treppe glänzten die Stufen verräterisch, kein Quadratzentimeter schien trocken zu sein. Links vom Eingang war eine Art Pförtnerloge eingebaut, rechts die Treppe, und genau gegenüber den Eingangstüren gab eine bis zum Sicherungshaken geöffnete Tür den Blick auf den Innenhof frei. Die Fenster links und rechts standen weit offen. An der rechten Wand beugten sich drei Männer über ein formloses, nasses Bündel auf dem Boden, das nicht mehr nach einem Menschen aussah. Direkt an der Wand; als habe sich der Mann auf seiner Flucht noch an die Steine gepresst, um dem Täter zu entgehen. Alle Lampen brannten, und das Licht wurde von den nassen Flächen reflektiert.

Als sie seine Schritte hörten, richteten sich die drei Männer auf und drehten sich um. Hellmers, den Arzt, kannte Sartorius; die beiden anderen schauten ihm unwillig entgegen.

»Guten Abend – oder guten Morgen«, grüßte er. »Sartorius, Kriminalpolizei, 1. K.«

Der mittelgroße Stämmige fauchte: »Brandes. Ich bin der Einsatzleiter.« Er glühte tatsächlich vor Zorn, und seine hellroten Haare sträubten sich. Vielleicht ein tüchtiger, aber auf jeden Fall ein jähzorniger Mann.

»Ich bin Richard Jäger, der Sicherheitsbeauftragte der Alfachem.« Ein müdes, sorgenvolles Gesicht. Mitte Fünfzig, mittelgroß und nach Figur und Auftreten bestimmt kein Held. Sartorius nickte ihm freundlich zu. Hellmers zerkaute ein Lächeln und seufzte komisch. »Tut mir leid, Paul, ich kann dir nichts sagen. Eine Kopfwunde, aber die muss nicht tödlich gewesen sein.«

»Ich denke, es war ein Fehlalarm«, sagte er verwundert.

»War’s auch!«, brauste Brandes auf.

»Und warum ist hier gelöscht worden?« Dabei deutete er auf die Wasserflecken und spürte in derselben Sekunde, wie die Nässe durch seine Sohlen drang.

»Hier hat niemand gelöscht!«, brüllte Brandes. »Hier hat’s nicht gebrannt, in der ganzen Scheißfirma nicht. Der Arsch, der uns alarmiert hat, tickt nicht sauber, der hat die ganze Halle unter Wasser gesetzt.« Er fuhr so heftig herum, dass er auf dem glatten Boden beinahe ausgerutscht wäre. »Damit. Wenn ich den kriege …«

›Damit‹ war ein Kasten in der Wand, mit einer roten Blechkappe, hinter der sich ein unordentlich aufgerollter Wasserschlauch und ein Wasserhahn befanden. Jäger räusperte sich unglücklich: »Ja, Herr Kommissar, mit dem Schlauch dort. Alles ausgespritzt, auch im ersten und zweiten Stock.«

Nun ja, es gab viele Methoden, verräterische Spuren zu beseitigen, und Wasser unter hohem Druck zählte nicht zu den schlechtesten. Die Spurensicherung brauchte gar nicht erst anzutreten; was das Wasser nicht zerstört hatte, war von den Feuerwehrleuten vernichtet worden. Brandes atmete schwer und zwang sich zur Ruhe: »Manchmal könnte man aus der Haut fahren. Ausgerechnet K4!«

Hellmers hatte das Intermezzo beobachtet und griff jetzt nach seiner Tasche: »Du hörst von mir … nein, kein Tipp, wann oder woran er gestorben ist. Nicht unter diesen Umständen.«

»In Ordnung.«

»Wiederseh’n.« Zu dritt sahen sie dem Arzt nach, der froh schien, diesen Ort zu verlassen; Sartorius wäre gern an seiner Stelle gewesen. »Der Tote ist …«

»Unser Nachtwächter«, bestätigte Jäger leise. »Cordes, Peter Cordes.«

»Hat er den Fehlalarm ausgelöst?«

»Keine Ahnung.« Jäger zog unbehaglich die Schultern hoch und vermied, Brandes anzublicken, der prompt den Kopf schüttelte: »Unwahrscheinlich. Kommen Sie, ich zeig’s Ihnen.«

Mit schnellen Schritten marschierte er auf die Tür neben der Empfangsloge zu. Dahinter lagen zwei ineinander übergehende Räume. Der vordere, ein besserer Schlauch, war mit technischen Geräten vollgestopft. Eine Wand bestand fast ausschließlich aus Tafeln mit Lampen und Anzeigeskalen, Tabellen und Schildern.

»So, sehen Sie! Die Firma ist eins a gesichert, in der oberen Reihe die Temperaturmelder, alle vollautomatisch. Darunter Rauchmelder. Und an gefährlichen Stellen Gasspürgeräte.«

Obwohl er so gut wie nichts verstand, nickte Sartorius brav. Über den einzelnen Feldern waren Schildchen angebracht: »PVC-Lager. Rührwerk I. Extruder.« Weil sein Gesicht seine Ratlosigkeit verriet, gestattete sich Brandes ein winziges Lächeln: »Das sind vollautomatische Melde- und Überwachungsgeräte. Wenn eines von denen anspringt, gibt die Anlage automatisch Alarm über eine eigene Ringleitung, die vom Telefonnetz unabhängig ist. Der Alarm läuft bei uns in der Hauptwache auf. Gleichzeitig springen hier im Werk überall Sirenen an. Der Nachtwächter muss in diesem Fall die Tore in der Grubenstraße und der Hollerstraße entriegeln und öffnen, damit wir ohne Verzögerung auf das Werksgelände können. Außerdem muss er alle Türen zu allen Gebäuden durch eine Fernbedienung entriegeln, darf sie aber auf keinen Fall öffnen – können Sie sich vorstellen, warum nicht?«

Sartorius nahm ihm das Examinieren nicht übel: »Damit kein Durchzug entsteht und dem Feuer kein Sauerstoff zugeführt wird.«

»Treffer! Das gilt auch für die Fenster …«

»Richtig«, stimmte er überrascht zu. »Aber in der Halle …«

»Sehen Sie! Bei einem K4-Alarm rast ein Vorauskommando los, zu dem der Einsatzleiter gehört. Wenn alles nach Vorschrift gelaufen wäre, hätte ich sofort in dieses Zimmer marschieren und feststellen können, an welcher Stelle es brennt oder wo Gas emittiert wird. Danach hätte ich meine Kräfte gleich an die richtige Stelle dirigieren können.«

»Ja, das leuchtet mir ein«, sagte er nachdenklich, »in einer Chemiefabrik kann man wohl nicht wahllos mit Wasser löschen.«

»Oh, Sie können schon, Sie riskieren nur, dass Ihnen der ganze Laden um die Ohren fliegt. Manche Chemikalien reagieren ganz nett mit Wasser. So! Der Alarm ging um dreiundzwanzig Uhr vierzehn bei uns ein. Um dreiundzwanzig Uhr einundzwanzig standen wir draußen vor dem Tor. Alles verschlossen, kein Licht, keine Tür geöffnet, alle Tore zu und nirgendwo ein Nachtwächter.«

»Also sind Sie über das Tor geklettert …«

»Natürlich! Und haben die Eingangstüren aufgebrochen. Die Halle stand unter Wasser …«

»Der Nachtwächter lag da schon an der Wand?«

»Muss wohl, in dem Moment habe ich aber nicht darauf geachtet, sondern bin sofort in diesen Raum gestürmt. Und habe das gefunden! Kein automatischer Alarm, sondern von Hand ausgelöst.«

Direkt neben der Tür hingen zwei schwarze Kästen an der Wand. Über einem stand dick und schwarz »Feuerwehr«, über dem anderen »Polizei«. An dem Polizeikasten wies der Hebel nach oben; ein schmaler Papierstreifen mit einer Plombe saß stramm über dem Schalthebel und einem Haken auf der Oberkante. Bei dem Feuermelder war der Hebel in die untere Position gedrückt, links und rechts baumelte der zerrissene Papierstreifen mit der Plombe herunter.

»Der Alarm ist also von Hand ausgelöst worden.«

»Ja.«

»Vom Nachtwächter?«

»Na, na, Herr Kommissar! Um dreiundzwanzig Uhr vierzehn. Sieben Minuten später waren wir hier. In der kurzen Zeit muss dieser Cordes alles unter Wasser gesetzt haben, den Schlauch zusammengerollt und sich umgebracht haben.«

»Eine dumme Frage«, gab er zu, nicht im mindesten beleidigt.

»Nicht dümmer als das, was sich hier abgespielt hat.«

Darauf entgegnete er lieber nichts. Die vielen Schalter und Anzeigegeräte, Lampen und Skalen verwirrten ihn, er brauchte Zeit, die Schilder zu studieren. Auf der anderen Seite zeigte eine Schalttafel an, dass jetzt alle Türen der Alfachem entriegelt waren, einige standen offen, sichtbar an orangefarbenen Lichtern. Der Sammelschalter für alle diese fernbedienten Schließmechanismen war in die Position »AUF« geschoben.

»Das haben wir gemacht«, knurrte Brandes, der seinem Blick gefolgt war. »Alles war zu, mäusedicht verschlossen.«

»Aber die Fenster in der Halle …«

»… haben wir offen vorgefunden, gegen die Vorschrift, um das noch einmal zu wiederholen.«

Eine weitere Tafel bestand aus einer Art Telefontastatur: »Notfall. Sicherheitsbeauftragter. Notdienst.«

»Was heißt das?«

Bis jetzt hatte Jäger sich bemüht, unsichtbar zu sein, nun musste er antworten. »Zwei Leute sind über das Wochenende Tag und Nacht erreichbar. Falls mal was passiert. Ich hatte Dienst und hin über diesen Notruf geholt worden. Der zweite Mann, ein Techniker, kontrolliert gerade in der Produktion, ob irgendetwas mit den Maschinen geschehen ist.«

»Ah so!« Er wollte es nicht zugeben, war aber beeindruckt von all den Sicherungen. Und wieder las Brandes seine Gedanken, er lachte spöttisch: »Perfekt organisiert, was? Zwei meiner Männer kennen jeden Winkel dieser Firma, nein, nein, wir bereiten uns auf alles vor.«

»Aber dass ein Toter in einem allseits verschlossenen Gebäude einen Fehlalarm gibt, haben Sie noch nicht erlebt«, reizte Sartorius ihn, und prompt stieg Brandes‘ Blutdruck.

»Nein!«, fauchte er.

»War denn wirklich alles verschlossen?«

»Sicher.«

»Das heißt, dass der Täter Schlüssel gehabt haben muss, um hinter sich alles wieder vorschriftsmäßig zu versperren.«

Brandes und Jäger stöhnten wie auf Kommando, und Sartorius lachte leise. Von Chemie verstand er weniger als nichts, bei der Feuerwehr kannte er sich kaum aus, aber Tote in geschlossenen Räumen fielen eindeutig in seine Kompetenz.

»Tja, Herr Brandes, dann übernehmen wir mal. Ihren Bericht bekomme ich auf dem schnellen Dienstweg, einverstanden? Und über alles weitere halte ich Sie auf dem Laufenden.«

»In Ordnung.« Plötzlich wirkte der Brandrat erschöpft. »Sie müssen meine Erregung entschuldigen – aber dieser Fehlalarm hat einhundertzwanzig Mann auf die Beine gescheucht. Meine und Ihre. Das können wir uns nicht leisten.« Ein-, zweimal holte er tief Luft, verschluckte aber, was ihm noch auf der Zunge lag, und stapfte grußlos in die Halle hinaus. Für alle Fälle wartete Sartorius eine Minute, bevor er ihm folgte. Draußen dröhnten überall schwere Motoren auf, die Feuerwehr rückte ab, und in dem Lärm hätte er das leise Hüsteln hinter sich fast überhört. Jäger schnitt eine Grimasse, als plagten ihn Zahnschmerzen.

»Ausgerechnet Brandes!«

»Etwas jähzornig, hatte ich den Eindruck.«

»Und nachtragend, Herr Kommissar. Das wird noch Ärger geben – ich darf gar nicht daran denken.«

In der Halle waren zwei neue Trupps eingetroffen. Alle hoben beim Gehen die Füße an, als könnten sie damit ihre Schuhe trocken halten. Die übliche Routine hatte begonnen, ein Fotograf blitzte, zwei Leute arbeiteten mit dem Messband, ein dritter fertigte auf Millimeterpapier eine Skizze an.

»Da bist du ja endlich!«, schnauzte Kurz laut. Name und Figur stimmten hundertprozentig überein, Achim Kurz war kurz, beleibt, flink und tüchtig, hatte aber weder die Höflichkeit noch die Geduld gepachtet. »Was soll ich hier? Wasserproben entnehmen?«

»Warum nicht? Du Säufer weißt doch gar nicht mehr, wie Wasser schmeckt«, frotzelte Sartorius den Leiter der Kriminaltechnischen Untersuchung an.

»Nee, da hast du recht. Ich verlange außerdem Nässezulage.«

»Kriegst du, lieber Achim. Was hat dich denn an einen Tatort getrieben? War dir das Bier ausgegangen?«

Alle hörten zu, aber keiner unterbrach seine Tätigkeit oder verzog eine Miene. Kurz machte auch – in dieser Beziehung passte sein Name – kurzen Prozess mit Faulpelzen und Lästerern.

»Bier! Wer trinkt noch Bier? Besteht doch zum größten Teil aus Wasser, bäh! War dieser faule Knochenklempner schon hier?«

»Ja, aber er kann und will noch nichts sagen.«

»Zumindest ist die Leiche schon gewaschen.«

So zynisch konnte man es auch ausdrücken; Sartorius schwieg und ging noch einmal zu dem hilflosen Bündel. Cordes war ein schmächtiger Mann gewesen, und das faltige, spitze Gesicht war im Tode zu einer Fratze unmenschlicher Angst verzerrt und erstarrt. Dünne graue Haare, die ihm jetzt nass am Schädel klebten. Auch Hose und Hemd saßen ihm wie eine zweite Haut auf dem Körper, der Täter musste den Wasserstrahl minutenlang direkt auf den Toten gerichtet haben. Sinnlos, hier nach Spuren zu suchen.

»Pass auf, Achim, laut Vorschrift sollten alle Fenster in dieser Treppenhalle fest geschlossen sein. Wahrscheinlich hat der Täter sie geöffnet, schau dir mal die Griffe an, auch in den oberen Etagen.«

»Geht in Ordnung. Bernd, Roland, los, marsch, marsch!«

Zwei Männer setzten sich wortlos in Bewegung.

»Wir wissen nicht, wie der Täter ins Gebäude gekommen ist. Das hier ist Richard Jäger, der Sicherheitsbeauftragte der Alfachem.«

»Schon verstanden, lieber Paul. Dann woll’n wir mal, Herr Jäger.«

Auf seinen kurzen Beinchen wieselte Kurz davon, und Jäger, der nicht wusste, wie ihm geschah, folgte ihm widerwillig. Der kleine Dicke besaß mehr Kräfte, als man ihm Zutrauen wollte, und wen er am Arm gefasst hielt, kam so leicht nicht frei.

»Packt so schnell wie möglich zusammen. Hier finden wir ja doch nichts.«

Die Männer brummten Zustimmung, und Sartorius verließ die Halle. Jetzt brauchte er eine Zigarette. Vor der Tür lehnte noch immer der Wachtmeister an der Wand, er döste vor sich hin und wollte sich stramm hinstellen, als er den Hauptkommissar bemerkte.

»Lassen Sie das!«, befahl Sartorius, und der Mann schnaufte erleichtert. In der Grubenstraße starteten die letzten Autos, was in der stillen Nacht gut zu hören war. Solche Großeinsätze hatten ihren eigenen Rhythmus, die grünen und roten Wagen erschienen in Pulks, kurz nacheinander, verbreiteten Hektik und Krach. Aber nach dem Einsatz rückten sie leise, vereinzelt, in großen Abständen wieder ab, so, als habe sich alle ihre Aktivität erschöpft. Die Nacht eroberte sich ihre Stille und Dunkelheit zurück. Noch vor dem Ende seiner Zigarette schoben sich die beiden Männer mit der Zinkwanne an ihm vorbei. Auch die Polizei schien sich heimlich zu entfernen, die Spurensicherung hatte sich schon verabschiedet. Minuten später tauchte Siekmann auf; das achte Revier an der Bohlenbahn war wohl für die Absperrung des Viertels zuständig.

»Scheißspiel«, murmelte Siekmann statt einer Begrüßung. »Brauchst du uns noch?«

»Lass mir einen Wagen da, bis der Laden wieder verschlossen ist. Den Rest kannst du mitnehmen.«

»Brandes hat sich schon verdünnisiert?«

»Ja. Warum fragst du?«

»Bei K4 ist er Einsatzleiter, auch für uns.« Ärgerlich nahm er die Mütze ab und kratzte sich den Kopf. »Der sollte zum Militär gehen.«

»Wieso kommandiert bei K4 die Feuerwehr?«

»Ach, die größte Gefahr ist wohl, dass bei einem Brand Gas entsteht. Oder gefährliche Wolken. Die können schon besser abschätzen, was geschehen muss.«

»Hast du mal einen echten K 4-Einsatz mitgemacht?«

»Jau, zweimal. Bei einem Brand sind mir sieben Leute umgekippt, alle reif fürs Krankenhaus, einer ist erstickt. Nee, Chemiebrände schenke ich dir mit Handkuss.« Unter dem Arm trug er eine Mappe, die er hochhob. »Einsatzpläne, Paul. Zum Glück hab ich zwei ehemalige Seeleute bei meiner Truppe, die verstehen was von Feuer. Das Wochenende fängt gut an. Na, dann mach’s mal gut!«

»Tschüss, Gerd.«

Die nächsten zehn Minuten konnte er verträumen, dann hüstelte es hinter ihm wieder. Der Sicherheitsbeauftragte war auch zu bedauern, erst Brandes, dann Kurz, der energisch schnaufte: »Kein Einbruch, Paul. Alle Schlösser unbeschädigt. Ich verdufte dann auch.«

»Ja, danke, Achim.« Wenn Kurz behauptete, es sei nicht eingebrochen worden, durfte er sich darauf verlassen. Auch Jäger schien davon überzeugt, er rang die Hände: »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Cordes einen Fremden hereingelassen hat. Nicht Cordes.«

»Wieso nicht?«

»Er war – na ja, er war nicht der Hellste. Und ängstlich außerdem. Deswegen hat er sich streng an seine Vorschriften gehalten: Kein Einlass, wenn er allein in der Firma war.«

»Ängstlich – hm. Auch zuverlässig?«

»Doch, doch! Gut, er hätte mich hereingelassen, na ja, das wär gar nicht nötig gewesen, ich hab Schlüssel für den Seiteneingang, wegen möglicher Notfälle oder so.«

»Seiteneingang?«

»Ja. Soll ich’s Ihnen zeigen?«

»Ja, bitte.«

Sie mussten etwa vierzig Meter laufen, bis sie eine feste Stahltür in der Umzäunung erreichten. Jäger holte einen Bund aus der Jackentasche und schloss auf. Genau gegenüber, fast schon an der Ecke des Bürogebäudes, gab es eine weitere Stahltür, die er öffnete. Dahinter lag ein schmaler Gang.

»Hm«, machte Sartorius wieder. »Haben viele Mitarbeiter Schlüssel zu diesen beiden Türen?«

»Nein.« Einen Moment rechnete Jäger stumm. »Sieben Leute: Die beiden Chefs. Die Geschäftsführerin. Zwei Chemiker, die oft spät oder nachts arbeiten. Ich. Und abwechselnd der Mann, der Bereitschaft schiebt.«

»Was heißt ›Bereitschaft‹?«

»Na ja, abends werden die Maschinen abgestellt, aber wenn dann doch mal was nicht in Ordnung ist, kann Cordes einen Facharbeiter per Knopfdruck alarmieren.«

»Cordes fasst also die Maschinen nicht an?«

»Um Gottes willen, nein!« Jäger schien ehrlich entsetzt. »Das wäre eine Katastrophe. Zum Glück hat er – hatte er Angst vor der Chemie.« Dabei lachte er, was nicht ganz überzeugend klang. »Ich hätte kein Auge bei dem Gedanken zugemacht, Cordes treibe sich in der Produktion herum.«

Das wiederum hörte sich ehrlich an; Sartorius überlegte einen Moment, warum die Alfachem überhaupt einen Nachtwächter beschäftigte, wenn sie den Mann aus den wirklich gefährdeten Bereichen des Betriebes fernhielt. Wahrscheinlich bestanden die Versicherungen auf einem solchen Mann. »Wie lange war er Nachtwächter bei der Alfachem?«

»Sieben Jahre, ja, ziemlich genau sieben Jahre.«

»Und nie Grund zu Klagen?«

»Nein. Nie.« Jäger verschloss die Tür wieder.

»Bis auf heute Abend.«

»Bis auf, ich weiß nicht, Herr Kommissar.« Sie schlenderten zu dem Tor in der Umzäunung zurück. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was passiert ist. Nein, beim besten Willen nicht«, wiederholte er, als müsse er sich selbst vergewissern. Sartorius hielt den Mund, während Jäger sorgfältig den Schlüssel umdrehte und zur Probe an der Klinke rüttelte. »Sehen Sie, auf den Anzeigetafeln sind eben Lichter aufgeleuchtet, als ich die beiden Türen geöffnet habe. Wir haben das Gelände gegen alles und mit allen möglichen Tricks gesichert, Cordes wusste ganz genau, dass er im Zweifelsfall lieber einmal zu viel die Polizei alarmieren sollte, als den Helden zu spielen.«

»Hat er das getan, ich meine, die Polizei gerufen?«

»Ja, einmal, da wollten Betrunkene unbedingt über das Tor hier in der Hollerstraße klettern, und er hatte es mit der Angst zu tun gekriegt.«

»Also da hat er die Polizei gerufen?«

»Ja. Mein Gott, wie oft hab ich ihm eingeschärft: Feuerwehr nur, wenn’s wirklich brennt.« Bei dem Gedanken an Brandes verschloss es ihm den Mund, und einen Augenblick verspürte Sartorius Mitleid mit ihm. Sicherheitsbeauftragter – das hieß viel Verantwortung und viel Ärger. Und Jäger schien keine dicke Haut zu besitzen. Morgen und in der kommenden Woche würden viele ihre Verärgerung auf ihn abladen.

Der Polizist unterhielt sich mit einem Mann, und Jäger atmete erleichtert auf: »Das ist Walter Konzek, einer unserer Chemiearbeiter. Er hatte heute Abend Einsatzdienst, ich hab ihn geholt.«

Konzek, groß und breitschultrig, musste sich als Säugling geschworen haben, nie die Ruhe zu verlieren, geschehe, was da wolle. Er mochte Ende Vierzig sein und hatte drahtig dichtes graues Haar. Sartorius gab ihm die Hand, und Konzek betrachtete ihn gründlich, bevor er in tiefster Bassstimme »’n Abend« antwortete.

»Wie sieht’s aus?«

»Nichts, Herr Jäger. Kein Mensch ist in der Produktion gewesen, auch in den Lagern und in den Labors nicht. Nichts angefasst oder verstellt, nichts geklaut.«

»Das verstehe, wer will!«, platzte Jäger heraus.

»Würde es denn einen Einbruch lohnen?«, fragte Sartorius neugierig.

»Kaum.« Konzek ließ sich Zeit mit dem Lächeln. »Hier gibt’s keine Edelmetalle, keine Drogen, keine seltenen Materialien.«

»Auch kein Geld?«

»Vielleicht ein paar hundert Mark in der Kasse«, meinte Jäger, nachdem Konzek – in dieser Frage nicht zuständig – einfach ausdruckslos geschwiegen hatte. »In einem Tresor. Nein, ich kapier das nicht.«

»Okay, wir reden drinnen weiter. Können die Polizisten abrücken?«

»Haben Sie alles verschlossen, Herr Konzek?«

»Sicher, außer uns ist kein Mensch mehr hier.«

»Gut, dann machen Sie hier Schluss«, ordnete Sartorius an. »Siekmann soll das Wochenende über unregelmäßig Streife fahren lassen.«

»Zu Befehl, Herr Hauptkommissar!« Der Polizist verschwand blitzschnell, und er überlegte, ob er sich den halb beleidigten, halb höhnischen Ton nur eingebildet hatte.

In dem schmalen Raum hinter dem Empfang studierte Sartorius noch einmal die Anzeigetafeln. Verwaltungsgebäude, Fabrikation und Labors hatten insgesamt acht Zugänge, bei zweien brannte ein Lämpchen, Tor Hollerstraße und Haupteingang Bürohaus. Der Alarmschalter für die Feuerwehr war jetzt hochgeklappt und mit einem neuen Papierstreifen verplombt. Sonst schien alles normal zu sein. Bei dem leichten Klacken, mit dem der Uhrzeiger sprang, schrak er zusammen. Die Datumsanzeige hatte schon gewechselt, auf Samstag, den 30. Juni. Plötzlich musste er gähnen.

»Welchen Dienst hatte Cordes eigentlich?«

Schwerfällig öffnete Jäger die Augen, er hatte in der Tür gelehnt und für einen Moment seiner Müdigkeit nachgegeben. »Werktags trat er um neunzehn Uhr an und blieb bis morgens sieben Uhr. An Wochenenden blieb er von freitags neunzehn Uhr bis montags sieben Uhr.«

»Die ganze Zeit?«

»Ja. Kommen Sie, ich muss Ihnen was zeigen.« Er gab sich einen Ruck und öffnete die nächste Tür. »Das war sein Reich.«

»Darf ich mich mal umsehen?«

»Natürlich.«

Das erste Zimmer war nicht groß, hatte auch nur ein schmales Fenster zur Straße hin. Eine Liege mit Decke und Kissen, ein Sessel, ein schmaler und hoher Schrank, der Schlüssel steckte. Viel hatte Cordes nicht mitgebracht, eine Art Sack mit Tragegurt, aus dem Sartorius einen verschlissenen Kulturbeutel, zwei kleine Handtücher und ein Hemd hervorholte. Keine Wäsche; nun ja. Vor dem Schrank stand ein Paar Schnürschuhe, über einem Bügel hing im Schrank ein mehrfach gestopfter Pullover. Das Fach über der Stange bog sich unter der Last von Zeitschriften; er zog neugierig drei, vier heraus und brummte verärgert. Jäger nickte kummervoll: »Schrecklich, was? Er las nichts als diese verdammten Pornohefte.«

Nun gab es selbst bei Pornoheften Qualitätsunterschiede, und Cordes hatte sich für das niedrigste Niveau entschieden. Alle Hefte waren intensiv gelesen, zum Teil schon zerfleddert.

»Das darf doch nicht wahr sein!«

»Oh, Herr Kommissar, es kommt noch ärger.« Jäger flüsterte, als schäme er sich.

»Geht das überhaupt?«

In der Ecke stand ein Fernseher mit Videorecorder, auf einem kleinen Tisch daneben ein Radio. Die Kassetten waren auf dem Boden übereinandergestapelt, achtzig, wenn nicht hundert Stück. Weil er ahnte, was ihn erwartete, nahm er einige mit spitzen Fingern hoch und schüttelte angewidert den Kopf. Nichts als Pornos und Horrorvideos; er legte die Stücke rasch wieder hin.

»Tickte der Cordes nicht mehr sauber?«, fragte er Jäger.

»In diesem Punkt nicht.«

»Der hat die ganzen Nächte hier gehockt und sich solch Zeugs reingezogen?«

»Ja, das ist in der ganzen Firma bekannt. Wissen Sie, Herr Kommissar, Cordes ist, Cordes war – na ja, nicht sehr helle. Ein halber Analphabet, ein ziemliches Würstchen, er hatte Angst vor Menschen und erst recht vor Frauen. Das hier war seine – seine …«

»Ersatzbefriedigung«, half Sartorius aus, jetzt mehr angeekelt als aufgebracht. Jäger nickte schwach. »Und einem solchen Kerl haben Sie die Sicherheit einer chemischen Firma anvertraut?«

»Seine Arbeit hat er sorgfältig erledigt.« Jetzt verteidigte sich Jäger, aber die Röte in seinem Gesicht ergänzte seine Aussagen.

»Er hat nicht getrunken, war langsam, gut, das war er, aber zuverlässig.«

Was brachte es, wenn er mit einem Mann zankte, der nicht anders reden durfte? Wortlos ging er weiter. Der nächste Raum, fensterlos und künstlich belüftet, war als Küche eingerichtet, mit einem kleinen Elektroherd, Kühlschrank, Tisch und zwei Stühlen. Ein niedriger Schrank enthielt Töpfe und etwas Geschirr. Flüchtig inspizierte er den Kühlschrank. Kein Alkohol, das stimmte, viel Milch und Säfte. Außerdem Fertiggerichte, Brot, etwas Aufschnitt, Margarine. Üppig hatte sich Cordes nicht verpflegt. Auf dem Tisch eine Schachtel mit billigen Zigarillos, eine Schachtel Streichhölzer. Die Erbärmlichkeit schüttelte ihn unwillkürlich. Die Seife neben der Spüle war bis auf ein winziges Stück aufgebraucht und das Handtuch nass und schmutzig. Nein, über den toten Nachtwächter sollte er sich wohl nicht mehr ärgern, der verdiente eher Mitleid, in dem Tragesack hatte er ein Portemonnaie gefunden, alt und abgegriffen, das außer einer Monatskarte der Verkehrsbetriebe ganze zehn Mark enthielt. Wer konnte ein Interesse daran haben, so ein armes Schwein umzubringen? Jäger half ihm, die Sachen zusammenzulegen; er würde sie holen lassen, für heute reichte es ihm.

»Was geschieht mit den Zeitschriften und Videos?«

Einen Moment musterte er den Sicherheitsbeauftragten erbost, dann entspannte er sich: Jäger wollte das Zeugs da so schnell wie möglich loswerden, das ehrte ihn; er hatte nicht gefragt, um sich die Arbeit zu erleichtern.

»Vorerst müssen wir alles aufheben, bis wir wissen, wer darauf Anspruch erhebt.« Im Asservatenkeller des Präsidiums verwahrten sie noch ganz andere Dinge, da befanden sich die Pornohefte in bester Gesellschaft. »Hatte Cordes Familie?«

»Ich glaube, nein«, antwortete Jäger zögernd, »aber das kann Ihnen Frau Wintrich besser erzählen, darüber weiß ich nichts.«

»Wer ist Frau Wintrich?«

»Die Geschäftsführerin. Sie muss jeden Moment hier sein, ich habe sie gleich angerufen.«

»Schön, dann warten wir.« Wenn er vor sich ehrlich war, begrüßte er jeden Grund, noch nicht abzufahren. Konzek hatte sich einen Schrubber besorgt und schob in der Halle das Wasser Richtung Türen. Auf den ersten Blick bewegte er sich herausfordernd langsam, aber Sartorius, der ihn heimlich beobachtete, registrierte anerkennend, dass der Grauhaarige gründlich arbeitete. Was er anfasste, brachte er sicher zu Ende, und deshalb ging er spontan auf ihn zu: »Herr Konzek.«

»Ja?«

»Was haben Sie von Cordes gehalten?«

Konzek sah ihn fest an, während er überlegte. Seine Stimme war wirklich ungewöhnlich tief. »Ein armer Teufel, Herr Kommissar. Er konnte einem leidtun.«

»Ja, ich verstehe. Und als Nachtwächter?«

»Mit dem Job ist er fertiggeworden.«

»Sie hatten also keine Einwände gegen ihn?«

»Nein.« Konzek runzelte die Stirn. »Ich weiß ja nicht, was hier passiert ist, aber Cordes hat bestimmt nichts falsch gemacht.«

»Danke, Herr Konzek, Sie haben mir sehr geholfen.«

Mit einem Kopfnicken machte sich der Grauhaarige wieder an die Arbeit, und Sartorius war sicher, dass Konzek ihn genau verstanden hatte, auch das, was Sartorius nicht ausgesprochen hatte.

Eine halbe Stunde tigerte er hin und her, weil er nicht wagte, sich zu setzen; zwei Minuten Ruhe, und er schlief ein. Der Tag war lang, hart und ärgerlich gewesen, er hatte sich beim Kriminal-Dauerdienst nur deshalb zur Bereitschaft gemeldet, weil er einen Vorwand suchte, nicht nach Hause in seine triste Zwei-Zimmer-Wohnung zu fahren und dort allein seine düstere Stimmung zu ersaufen. Fast vier Stunden hatte er im Präsidium Akten gelesen, dazu kam er untertags selten, weil er immer wieder unterbrochen und gestört wurde. Er las langsam, träumte zwischendurch zum Fenster in den dunklen Hof des Präsidiums hinaus und versuchte, sich in jene Fälle hineinzufinden, die seine Leute beschäftigten. Gute Leute und schlechte Beamte, die einen konnten Berichte schreiben, die anderen würden es nie mehr lernen. Die guten waren ihm dankbar, wenn er sich so unbefangen wie gründlich über Aussagen, Protokolle, Berichte und Dokumente hermachte, auf der Suche nach Haken, Widersprüchen, Hinweisen, Ungereimtheiten, die ihnen schon nicht mehr auffielen, weil sie zu tief in dem Fall steckten. Die guten Leute murrten auch nicht, wenn sie morgens die Akten auf ihren Schreibtischen fanden und obenauf den Zettel mir Anweisungen, was sie noch zu klären hatten, mit wem sie noch sprechen sollten, was er nicht verstanden hatte. Die schlechten empfanden es als Kontrolle, und bei ihnen meinte er es auch so. Die siezte er auch noch nach Jahren; früher hatte er sich bemüht, sie in andere Kommissariate abzuschieben; das gelang ihm freilich immer seltener.

Verdammt, er rauchte zu viel. Seine Kehle kratzte.

Als er draußen ein Auto vorfahren hörte, schnaufte er erleichtert. Konzek saß am Empfang und las eine Zeitung, Jäger hatte es nicht an einem Ort gehalten, er stromerte durch die Firma und kontrollierte alles noch einmal, zum zweiten- und dritten Mal.

Die Frau kam mit langen, energischen Schritten in die Halle marschiert, und Sartorius hielt unwillkürlich den Atem an. Hübsche Frauen gab es viele, aber da näherte sich eine wirkliche Schönheit. Groß, schlank, sportlich und attraktiv zugleich, sexy wäre ein zu billiges Wort für das, was sie ausstrahlte. Ein schmales Gesicht mit einem verheißungsvoll großen Mund, dunkle, blitzende Augen, braune Haare, die rötlich schimmerten, wie Kastanien, zu kunstvoller Unordnung hochgekämmt. Sie trug ein knöchellanges, dunkelgelbes Kleid aus einem dünnen Stoff mit einem tiefen Ausschnitt, sie konnte es sich leisten, auf einen BH zu verzichten. Das etwas dunklere Cape hatte sie sich nur über die Schultern geworfen. Kein Zweifel, Jäger hatte sie von einer Party weggeholt, sie war perfekt geschminkt. Und noch mehr als ihr Aussehen beeindruckte ihn sofort ihr Selbstbewusstsein. Sie war schön, nicht im landläufigen Sinne, sondern auf ungewöhnliche, unvergessliche Art. Und sie war intelligent und hart, sie entschied, wer sich ihr nähern durfte, sie verschenkte keine Freundlichkeit.

Konzek war aufgestanden, als sie hereinkam, und bei ihrem flüchtigen »Guten Abend, Herr Konzek«, schmolz selbst der Eisengraue dahin. Seine Verbeugung war nicht tief, aber er verbeugte sich. Sartorius seufzte und verwünschte seine Müdigkeit.

»Guten Abend, mein Name ist Angela Wintrich.«

»Guten Abend«, antwortete er leise, »Sartorius, Kriminalpolizei.«

»Tut mir leid, dass ich nicht früher kommen konnte. Aber ich musste von Astenberg hereinfahren. Jäger hat mir am Telefon gesagt, dass Cordes ermordet worden ist?«

Viel konnte er ihr nicht berichten, sie hörte aufmerksam zu und blickte ihn zwischendurch immer wieder zweifelnd an. Zum Schluss schüttelte sie nur den Kopf und murmelte: »Das verstehe, wer will.«

»Ich brauche noch einige Auskünfte über Cordes …«

»Selbstverständlich, einen Moment bitte.« Sie ging zu Konzek und redete eindringlich auf ihn ein; der Eisengraue sah sie höflich an und schien nachher zuzustimmen. Aber als sie auf Sartorius zusteuerte, bemerkte er einen wütenden Zug in ihrem Gesicht. »Gehen wir in mein Zimmer?«

»Gerne.«

Auf dem Schildchen neben der Tür im zweiten Stock stand »Geschäftsführerin«. Sie sperrte mit unnötiger Heftigkeit auf, bemerkte aber trotz ihres Zornes, dass es ihm nicht entgangen war. Unerwartet lächelte sie: »Natürlich bin ich sauer, Herr Sartorius, die ganzen Scherereien bleiben nämlich an mir hängen.«

Ihr Zimmer war groß und erschreckend ordentlich. Selbst die Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch schienen akkurat Kante auf Kante ausgerichtet, und das Cape, das sie nachlässig auf einen Stuhl warf, störte das Bild der Perfektion.

»Ich nehme an, Sie brauchen alle persönlichen Angaben zu Cordes.«

»Ja, bitte.«

Sie verschwand durch eine andere Tür, für Minuten herrschte eine ungewöhnliche Stille. Weil ein Aschenbecher auf dem Tisch stand, zündete er eine Zigarette an und überlegte, ob er sie um einen Kaffee bitten könnte. Sitzen und nichts tun – er spürte förmlich, wie sich sein Blutdruck senkte. Mit dem Gedanken war er noch nicht zu Ende, als sie aus dem Nebenzimmer rief: »Ich denke, gegen einen Kaffee haben Sie nichts einzuwenden.«

»Ich habe gerade überlegt, wie ich Sie darum bitten könnte, ohne unhöflich zu wirken.«

»Unnütze Sorgen, Herr Kommissar. Ich pflege in Kaffee zu baden.«

»Dann haben wir schon ein Laster gemeinsam.«

Ihr Lachen gefiel ihm. »Während der Kaffee durchläuft, kopiere ich eben die Unterlagen. Ich vermute, Sie wollen sie mitnehmen.«

»Das wäre eine große Hilfe.« Danach schmeckte die Zigarette besser, er drückte sie gerade aus, als sie erneut rief: »So, Sie dürfen tragen helfen.«

Die zweite Tür führte in das Sekretariat, neben dem eine kleine Kaffeeküche lag, aus der es verheißungsvoll duftete. Sie klapperte mit Tassen und Löffeln. »Zucker? Milch?«

»Danke, weder – noch.«

»Prima. Dann mal los.«

Er schaffte es, das Tablett auf ihrem Schreibtisch abzusetzen, ohne etwas umzustürzen oder zu verschütten. Und wenn er ehrlich war, bereitete nicht nur das Balancieren Mühe. Sie hatte getrunken, das konnte er riechen, aber viel intensiver empfand er ihr Parfüm und ihre Wärme. Ein schneller Blick streifte ihn, jede Wette, dass sie ihn durchschaute; der Funke war noch nicht übergesprungen, aber er knisterte. Sie brachte eine Hängemappe mit Cordes‘ Personalakte, die er dankbar aufschlug.

Cordes wohnte im Gazellenweg, ganz in der Nähe des Botanischen Gartens, zweiundsechzig  Jahre alt, Hilfsarbeiter, verheiratet, aber dauernd getrennt lebend – er sah hoch: »Was ist mit seiner Frau?«

»Das weiß kein Mensch. Sie ist schon vor vielen Jahren mit der Tochter spurlos verschwunden, Cordes wusste nicht einmal, ob sie noch lebte.«

»Auch das noch!« Seit sieben Jahren Nachtwächter bei der Alfachem, vorher Lagerarbeiter bis zu einem schweren Betriebsunfall, bei dem ihm mehrere Rippen und das Becken gebrochen waren, außerdem Kopfverletzungen und Muskelabrisse im linken Bein. Vierzehn Monate Krankenhaus und Rehaklinik, seitdem 80 Prozent erwerbsgemindert.

»Wir müssen unsere Quote erfüllen, Herr Sartorius.«

»Als Nachtwächter war er tauglich?«

»Doch, ja.« Der leichte Spott krauste ihre Nase. »Man musste allerdings ein paar Eigenarten beachten. Auch wenn man ihm etwas ganz langsam erklärte, kapierte er es nicht auf Anhieb. Dann lächelte er nur nett und tat gar nichts, in dem Punkt musste man aufpassen.«

»Aber sonst zuverlässig?«

»Hundertprozentig. Er funktionierte wie eine Maschine.«

»Mit Geistesgaben scheint er nicht gesegnet gewesen zu sein.«

»Nein. Er war schrullig, menschenscheu, ein Einzelgänger mit äußerst eingeschränktem Denkvermögen. Übrigens ein halber Analphabet, wenn er mit Behörden oder der Krankenkasse zu tun hatte, musste jemand aus der Personalabteilung für ihn den Schriftverkehr erledigen.«

»Hm. Wie steht’s mit Verwandten?« Sie zuckte die Schultern. »Wir müssen doch jemanden benachrichtigen.«

»Blättern Sie mal!« Ziemlich weit hinten war ein halbes Blatt abgeheftet. »Wenn mir was zustößt, bitte Frau Martha Gusche, Gazellenweg 48, Telefon 553814, benachrichtigen.« Das war sauber mit der Maschine getippt, auch das Datum, und der handschriftliche Krakel »Peter Cordes« enthüllte selbst dem Laien, unter welcher Schwäche Cordes gelitten hatte.

»Martha Gusche …«

»So viel wir wissen eine Frau, die in seinem Hause wohnt.«

»Heute ist es zu spät – Frau Wintrich, können Sie sich einen Menschen vorstellen, der Grund hatte, Cordes umzubringen?«

»Nein«, antwortete sie prompt, »Cordes hatte keine Feinde hier in der Firma. Ich glaube auch, die meisten Mitarbeiter haben ihn als ein Stück Einrichtung betrachtet – das soll nicht abwertend klingen, sondern beschreiben, wie wir ihn gesehen haben.«

»Im Moment spricht viel dafür, dass Cordes seinen Mörder selbst hereingelassen hat.

---ENDE DER LESEPROBE---