Scherenschnitte – Ein Kriminalroman - Horst Bieber - E-Book

Scherenschnitte – Ein Kriminalroman E-Book

Horst Bieber

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Uwe Helmbrecht, Verkaufsleiter bei der Firma Rittlinger Scheren, muss in letzter Zeit, auffallend viele Misserfolge hinnehmen. Die schönsten Aufträge gehen im letzten Moment verloren, obwohl er sich mit aller Kraft einsetzt. Und dann hört er in der Branche, dass er seine Firma verlassen will – was er gar nicht vorhat. Aber er ahnt, wer dahintersteckt: Holger Bornemann, einer der beiden Geschäftsführer, versucht offenbar alles, um ihn loszuwerden. Nur warum? Uwe schart seine Getreuen um sich und betreibt auf eigene Faust ein bisschen Werkspionage … und findet überraschende Dinge heraus: die Firma ist auf Grund von Bornemanns Geschäftspolitik auf dem absteigenden Ast, und Bornemann baut ihn zum Sündenbock für seine eigenen Fehler und Versäumnisse auf.
Uwe holt zum Gegenschlag aus. Doch bevor er sich richtig wehren kann, verhaftet ihn die Polizei: Mordverdacht. Die Indizien sind überwältigend. Und nun geht es nicht nur um seinen Job, sondern um seine Haut …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

Horst Bieber

 

 

Scherenschnitte

 

 

 

Ein Kriminalroman 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Neuausgabe

Copyright © by Authors

© Copyright dieser Lizenzausgabe by XEBAN-Verlag.

Verlag: Xeban-Verlag: Kerstin Peschel, Am Wald 67, 14656 Brieselang; [email protected]

Lizenzgeber: Edition Bärenklau / Jörg Martin Munsonius

www.editionbaerenklau.de

Cover: © Copyright by Claudia Westphal nach Motiven, 2024

Korrektorat: XEBAN-Verlag

Alle Personen und Taten, Firmen und Konstruktionen, selbst Stadt und Land sind frei erfunden. Nur die Umstände sollen an die Bundesrepublik erinnern.

 

Alle Rechte vorbehalten!

 

Das Copyright auf den Text oder andere Medien und Illustrationen und Bilder erlaubt es KIs/AIs und allen damit in Verbindung stehenden Firmen und menschlichen Personen, welche KIs/AIs bereitstellen, trainieren oder damit weitere Texte oder Textteile in der Art, dem Ausdruck oder als Nachahmung erstellen, zeitlich und räumlich unbegrenzt nicht, diesen Text oder auch nur Teile davon als Vorlage zu nutzen, und damit auch nicht allen Firmen und menschlichen Personen, welche KIs/AIs nutzen, diesen Text oder Teile daraus für ihre Texte zu verwenden, um daraus neue, eigene Texte im Stil des ursprünglichen Autors oder ähnlich zu generieren. Es haften alle Firmen und menschlichen Personen, die mit dieser menschlichen Roman-Vorlage einen neuen Text über eine KI/AI in der Art des ursprünglichen Autors erzeugen, sowie alle Firmen, menschlichen Personen , welche KIs/AIs bereitstellen, trainieren um damit weitere Texte oder Textteile in der Art, dem Ausdruck oder als Nachahmung zu erstellen; das Copyright für diesen Impressumstext sowie artverwandte Abwandlungen davon liegt zeitlich und räumlich unbegrenzt beim XEBAN-Verlag. Hiermit untersagen wir ausdrücklich die Nutzung unserer Texte nach §44b Urheberrechtsgesetz Absatz 2 Satz 1 und behalten uns dieses Recht selbst vor. 13.07.2023 

 

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

Scherenschnitte 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

Horst Bieber – sein Leben und Wirken 

 

Das Buch

 

 

 

Uwe Helmbrecht, Verkaufsleiter bei der Firma Rittlinger Scheren, muss in letzter Zeit, auffallend viele Misserfolge hinnehmen. Die schönsten Aufträge gehen im letzten Moment verloren, obwohl er sich mit aller Kraft einsetzt. Und dann hört er in der Branche, dass er seine Firma verlassen will – was er gar nicht vorhat. Aber er ahnt, wer dahintersteckt: Holger Bornemann, einer der beiden Geschäftsführer, versucht offenbar alles, um ihn loszuwerden. Nur warum? Uwe schart seine Getreuen um sich und betreibt auf eigene Faust ein bisschen Werkspionage … und findet überraschende Dinge heraus: die Firma ist auf Grund von Bornemanns Geschäftspolitik auf dem absteigenden Ast, und Bornemann baut ihn zum Sündenbock für seine eigenen Fehler und Versäumnisse auf.

Uwe holt zum Gegenschlag aus. Doch bevor er sich richtig wehren kann, verhaftet ihn die Polizei: Mordverdacht. Die Indizien sind überwältigend. Und nun geht es nicht nur um seinen Job, sondern um seine Haut …

 

 

***

Scherenschnitte

 

Ein Kriminalroman von Horst Bieber

 

 

Meinem Freund und Kollegen H. Sch. gewidmet.

 

 

A Faint Cold Fear Thrills Through My Veins

(William Shakespeare)

 

*

 

 

Das Haus war dunkel, kühl und fast beklemmend still; der schmächtige alte Mann lauschte einen Moment beunruhigt, bevor er sich wieder über den Briefbogen beugte. Die Feder seines Füllhalters kratzte widerspenstig.

»Lieber Freund, an unserer Schönen soll es nicht scheitern, ich schicke sie Dir gern. Sie ist zuverlässig, schnell, tüchtig und verschwiegen, sie ist aber auch im wahrsten Sinne des Wortes gewissenlos. Und das, mein Freund, vergiss bitte nie; ich habe es in einer schwachen Stunde einmal vergessen und teuer dafür bezahlt. Sie hat übrigens einen für Dich geeigneten Mann an der Hand, den sie mitbringen wird. An Deiner Stelle würde ich ihr diesen Brief zeigen; Du wirst schon begreifen, warum ich Dir das rate.

Unser letztes Geschäft war ein Fehler. Die Wölfe kommen näher, einer muss vom Schlitten, und zwar bald. Ich bin traurig und fürchte mich. Alles Gute, Dein Walter.«

Mit pedantischer Sorgfalt, die alle seine Bewegungen auszeichnete, schraubte er den Füllhalter zu, faltete den Bogen und schob ihn in den bereits adressierten und frankierten Umschlag, klebte ihn zu und legte ihn mitten auf die Schreibunterlage. Es reichte, wenn er ihn morgen auf der Fahrt ins Büro einwarf.

Eine altmodische Standuhr begann zu schlagen, er zählte bis zwölf und griff seufzend nach dem Stock. Das rechte Fußgelenk war dick bandagiert, und mühsam humpelte er zur Tür. Noch vor Monaten hatte er das große leere Haus als Schutzburg empfunden, inzwischen ängstigte es ihn, und seit dem unglücklichen Sturz vor drei Wochen überfiel ihn manchmal die panische Furcht, in einer riesigen Falle zu sitzen. Ächzend stieg er die lange, gerade Treppe hoch, der Knöchel schmerzte immer noch.

Die Gestalt zog sich zurück und wartete oben im Schatten, direkt neben der Treppe, flach atmend. Unter der scheußlichen Hexenmaske aus Gummi war es feuchtwarm.

Der alte Mann hatte die vorletzte Stufe erreicht. Plötzlich trat die Gestalt zwei Schritte vor, der Schreck lähmte den Mann für eine Sekunde, aber da hatte die Gestalt bereits beide Hände ausgestreckt und stieß ihn mit aller Kraft zurück. Dagegen hatte der Alte keine Chance. Mit einem erstickten Schrei stürzte er rückwärts die Treppe hinunter, sein Stock verklemmte sich in dem Geländer und splitterte, die beiden Teile rollten hinterher.

Die Gestalt wartete eine Minute, bevor sie hinunterging, vorsichtig über die beiden obersten Stufen steigend, auf denen sie – mit Handschuhen – vorher die Spannstäbe des Läufers ein wenig gelockert hatte, nicht viel, gerade genug, um jetzt ein wenig ziehen zu können, sodass der rotschwarzkarierte Läufer auf zwei Stufen Falten warf, nicht auffällig, aber auch nicht zu übersehen. Der Mann war tot, zu einer grotesken Gliederpuppe geworden, und der Schreck hatte sein Gesicht zu einer fürchterlichen Grimasse verzerrt, fast so abstoßend wie die Maske, die der Gestalt auf der schweißnassen Haut klebte.

Ohne Eile ging die Gestalt in die Bibliothek. Die Schreibtischlampe brannte noch, als müsse sie eigens auf den Brief, genau in der Mitte der Unterlage hinweisen. Die Hexe las die Anschrift und grunzte, bevor sie den Brief einsteckte. Durch die Seitentür verließ sie unbemerkt das Haus und schloss ab. Auf dem Heimweg hielt die Gestalt einmal an, um Maske, Handschuhe und Schlüssel in eine fremde Mülltonne zu stopfen.

 

 

1. Kapitel

 

Bis zum Abflug hatte er noch vierzig Minuten Zeit, und deswegen beschloss er, es gleich hinter sich zu bringen. Die Telefonzellen links und rechts waren leer, zum Glück; denn Holger würde wahrscheinlich zu toben anfangen.

Nach dem dritten Läuten hob er ab und knurrte nur »Ja?« Eine unangenehme Eigenart, an die er sich nie gewöhnen konnte. »Holger? Hier ist Uwe.«

»Ah ja. Na, wie sieht’s aus?«

»Sense. Wir kriegen den Auftrag nicht.«

Am anderen Ende blieb es lange still. Er lehnte sich an das Glas und unterdrückte ein Gähnen, die beiden Tage waren heiß und anstrengend gewesen. In der Zelle stank es nach kaltem Schweiß.

»Und warum nicht?«

»Sie wollten von Anfang an nicht. Wie ich dir gestern …«

»Unsinn! Natürlich wollten sie.«

Heimlich holte er Luft. Mit Holger war er noch nie gut ausgekommen, aber wenn sein Chef diese Platte auflegte, verlor er leicht jede Beherrschung. »Nein, sie wollten nicht. Ich bin mit dem Preis bis zur unteren Grenze runtergegangen. Ich habe alle Termine so weit gedrückt, wie wir es vereinbart hatten. Plus Sonderleistungen.«

»Warum sollten sie nicht wollen?«

»Weil sie ein anderes Angebot auf dem Tisch hatten.«

»Von wem?«

»Ambrosiani.«

»Glaub ich nicht!« Glaub doch, was du willst, dachte er erbost und sagte nichts. Wenn sein lieber Boss ohnehin alles besser wusste, hätte er ja selbst verhandeln können. Ambrosiani wollte in der Bundesrepublik Fuß fassen, der Auftrag von Schneider & Sohn bot eine gute Gelegenheit dazu. Dafür würden die Italiener mit dem Preis in den Keller steigen. Schon am ersten Tag hatte er das unbestimmte Gefühl gehabt, dass Vater Schneider und Sohn Schneider von ihm nur erfahren wollten, was sie Ambrosiani abfordern konnten.

»Verdammte Scheiße! Wir brauchen den Auftrag unbedingt. Das hast du doch gewusst.«

»Moment mal«, verwahrte er sich, »wir haben gemeinsam die Untergrenze festgesetzt. Ich bin sogar bis zum Selbstkostenpreis gegangen, obwohl wir uns …«

»Ach, Quatsch. Um jeden Preis – das war die Marschroute.«

So viel unverschämte Verlogenheit verschlug ihm die Sprache, und bevor er sich fassen konnte, klickte es im Hörer. Wenn da draußen die beiden Polizisten nicht vorbeigeschlendert wären, hätte er vor Wut den unschuldigen Apparat demoliert.

Im Warteraum waren alle Stühle besetzt, er lehnte sich an die Wand und kaute noch immer an seiner Wut auf Holger. Seit Tagen hatte er ein schlechtes Gefühl gehabt, schon auf dem Herflug, und jetzt fiel ihm auch wieder ein, dass er sich beim Anblick der Werkshallen gewundert hatte. Das sah nicht so aus, als liefen die Geschäfte von Schneider & Sohn glänzend.

Die Schlange setzte sich in Bewegung, die Könner mogelten sich mit Ellbogen und höflicher Miene nach vorne. Der Airbus war bis auf den letzten Platz gefüllt, er musste lange auf seinen Gin-Tonic warten und ihn dann hinunterschütten, weil die Maschine schon den Sinkflug begonnen hatte. Er kochte noch immer, als er seinen Wagen aus der Garage holte, und hupte sinnlos, weil sich vor der Ausfahrt ein Stau gebildet hatte. Auf der Fahrt Richtung Mertingen musste er mehrere Male scharf bremsen; eine Radfahrerin zeigte ihm erbost das Zeichen für Arschloch, nachdem er ihr die Vorfahrt genommen hatte. Verschwitzt und nervös stoppte er endlich vor der Garage, hielt den Sender für den automatischen Türöffner ins Freie und fluchte erneut. Die saublöde Anlage wollte einfach nicht funktionieren; die Monteure der Lieferfirma behaupteten, es ließe sich kein Fehler finden, aber der Fehler existierte, gerade jetzt zum Beispiel.

Stöhnend wuchtete er die Tür hoch. Melanies Wagen stand nicht an seinem Platz, er würde also in ein leeres Haus kommen. Einen Moment starrte er grimmig in das Halbdunkel, dann zuckte er die Achseln. Besser allein als ein neuer Krach, und bei seiner Stinklaune war ein Streit so gut wie unvermeidlich.

Er duschte und zog sich um, mixte in der Küche den Helmbrecht-Special (viel Eis, viel Tonic, wenig Gin, Lemonenextrakt und Angostura) und strolchte auf nackten Füßen durch das Haus. Für seinen Geschmack war es zu groß und zu bombastisch, aber Melanie hatte darauf bestanden, und weil sie mehr als genug eigenes Geld besaß, hatte er es endlich gekauft. Den Nachmittag hatte sie am Schwimmbecken verbracht. Auf dem Tisch mit dem aufgespannten Sonnenschirm entdeckte er ein leeres Glas, Sonnenbrille und Nasenschützer. Die Handtücher waren halb von der Sonnenliege gerutscht, und ihren nassen Bikini hatte sie achtlos auf die Fliesen fallen lassen. Aufräumen und Ordnung waren noch nie Melanies Stärken gewesen.

Er angelte sich einen Stuhl heran und streckte alle viere von sich. Der Blick über den gepflegten Garten und die niedrige Hecke an den Wald, der gleich hinter der Grundstücksreihe begann, tröstete ihn immer wieder über dieses unsinnig teure und große Haus hinweg, in dem zwei Bewohner so gut aneinander vorbeileben konnten. Um zehn Uhr, als die brütende Hitze nachließ, setzte er sich an seinen Schreibtisch und diktierte den Bericht auf Band. Holgers Verdrehung der Tatsachen beunruhigte ihn doch etwas. Es war schon richtig, sie hätten den Auftrag gut gebrauchen können, aber es stimmte einfach nicht, dass sie ihn »um jeden Preis« hereinholen mussten. Bis Ende des Jahres war die Fertigung ausgelastet, und sie verhandelten über andere Projekte, die er für aussichtsreicher hielt, als er bei Schneider & Sohn je angenommen hatte.

Melanie kam spät in der Nacht zurück; er hörte ihren Wagen, dann die zukrachende Tür ihres Schlafzimmers und grinste. Aus einem unerfindlichen Grund reagierte sein geliebtes Weib ihre Wut immer an der unschuldigen Zimmertür ab, womit sie – da machte er sich keine Illusionen – auch ihn ärgern wollte, weil ein Stein bei diesem Lärm aufgewacht wäre.

 

Aber als er am nächsten Morgen um halb acht in die Küche trottete, huschte Melanie schon herum, hatte Kaffee gekocht und den Tisch gedeckt.

»Guten Morgen, Liebster.«

»Guten Morgen, Melanie.« Während des zeremoniellen Morgenkusses schnupperte er ein neues Parfüm, sehr süß, sehr schwer – schwül, wie er fand. Es passte nicht zu ihr.

Sie frühstückten stumm, und er beobachtete sie hinter seiner Zeitung unauffällig. Melanie war 40 Jahre alt, was sie mit großer Geschicklichkeit und noch größerer Dreistigkeit leugnete, auch leugnen konnte: mittelgroß und überschlank, mit geschmeidigen Bewegungen, die für flüchtige Bekannte überdeckten, dass sie nicht stillsitzen konnte. Die aschblonden, glatten Haare fielen ihr bis auf die Schultern; er hatte gelernt, ihre Stimmungen aus den Handbewegungen abzulesen, mit denen sie die Haare aus dem Gesicht strich. Ihre schmalen, länglichen Augen standen etwas zu weit auseinander und waren eigentlich hellgrau, wirkten aber völlig farblos. Deswegen schminkte sie ihre Augenpartie sorgfältig, blau-silber, den Lidstrich mit äußerster Präzision dunkelbraun nachgezogen. Um zu bräunen, lag sie sommers stundenlang nackt am Swimmingpool. Im Herbst und Winter absolvierte sie ein kompliziertes Programm auf der Sonnenliege neben der Sauna im Keller. Im März, vor oder nach ihrem Winterurlaub, quälte sie sich vierzehn Tage auf einer Schönheitsfarm an der Côte d’Azur.

»Noch Kaffee, Liebster?«

»Gerne.«

An sich hätte sie ein eigenwilliges Gesicht haben können. Aber sie verwendete viel Zeit darauf, wie ein perfektes Modell auszusehen, halb sportlich, halb sexy, und in dieser Reihe von Titelbild-Schönheiten erschien sie ihm so auffällig wie ein Wassertropfen im Rhein. Vor zwei Jahren hatte sie zum ersten Mal ihren Busen liften lassen; es war eine perfekte Chirurgenarbeit geworden, sodass sie wieder in hautengen Hemdchen herumlaufen konnte. Er hätte sie gern etwas weniger perfekt und dafür etwas liebevoller gehabt, aber diesen Wunsch hatte er zum letzten Mal vor sechs Jahren ausgesprochen, und kurz danach bezogen sie getrennte Schlafzimmer. Heimlich seufzte er. Ihr langer weißer Morgenmantel war so dünn, dass sie auch gleich nackt hätte herumlaufen können.

»Vergiss nicht, dass wir heute Abend bei Holger eingeladen sind. Punkt sieben Uhr.«

»Nein.« Er seufzte wieder, diesmal laut. »Das wird ein Vergnügen, bei dieser Affenhitze.«

»Dala hat gestern noch einmal angerufen. Entweder Badesachen oder dünne Sporthose und kurzärmeliges Hemd. Wer mit Krawatte aufkreuzt, wird nicht reingelassen.«

»Na, wenigstens etwas.« Danach vertiefte er sich in die Zeitung; sie rauchte und rührte zwischendurch lustlos in ihrem Müslibrei. Sie fragte nicht, wie es in München abgelaufen war, und er erkundigte sich nicht, wo sie gestern Abend gewesen war.

Punkt acht Uhr setzte er seinen Wagen aus der Garage. Bis zur Firma im Norden der Stadt brauchte er normalerweise fünfzehn Minuten, und die Viertelstunde, die er später als die Mehrzahl der 250 Mitarbeiter sein Zimmer betrat, zählte er bewusst zu seinen Privilegien als Abteilungsleiter. Schließlich durfte er nur davon träumen, Punkt 16.30 Uhr das Gebäude zu verlassen. Im Gegenteil, ungestört und konzentriert konnte er erst nach dem allgemeinen Büroschluss arbeiten.

Er legte Engelchen die Kassette auf den Schreibtisch und schüttelte nur leicht den Kopf, als sie einen fragenden Blick auf Erika warf. Erika, zwanzig Jahre jung, fleißig, flink und flott auf der Schreibmaschine, zählte zu den lebhaften Gemütern, die pausenlos plappern mussten. Man konnte ihr einfach nicht böse sein, man durfte ihr nur keine Sachen zum Tippen geben, die vertraulich behandelt werden sollten. Sie schwärmte für ihren Chef und löcherte Engelchen zwei, dreimal pro Tag, ob der Chef sie wohl auch leiden möge. Ihr fester Freund arbeitete als Spitzendreher in der Halle II und träumte davon, einmal als Libero beim 1. FC zu spielen.

Nach einer dreiviertel Stunde kam Engelchen in sein Zimmer, schloss die gepolsterte Tür sorgfältig hinter sich und fragte direkt: »Was ist los, Chef? Kriegen Sie Ärger wegen Schneider & Sohn?«

»Ich fürchte, ja.«

»Behauptet der schöne Holger jetzt, Sie hätten den Auftrag um jeden Preis an Land ziehen müssen?«

»Jetzt – ja.« Auf Engelchen konnte er sich verlassen. Martha Engel, seit Ewigkeiten Engelchen gerufen, hatte die Fünfzig ebenso endgültig überschritten wie ihr Idealgewicht. Seitdem färbte sie ihre grauen Haare nicht mehr. Zu Anfang waren sie nicht gut miteinander ausgekommen. Er stammte aus Schleswig–Holstein, war an der dänischen Grenze aufgewachsen und konnte sich mit ihrer rheinischen Frohnatur nur schwer anfreunden. Doch sein erster Eindruck, sie nehme alles auf die leichte Schulter, täuschte gewaltig. Engelchen wurde unglaublich laut, unfreundlich und fies, wenn ihr etwas nicht in den Kram passte. Seit ihrem ersten Krach, bei dem er den Kürzeren zog, hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel.

»Ich hab schon so was läuten gehört«, murmelte sie. »Der schöne Holger ist in letzter Zeit sehr nervös. Wissen Sie, wer das Feuerchen unter seinem Arsch angezündet hat?«

Über das Bild musste er schmunzeln: »Keine Ahnung.«

»Schade. Passen Sie bloß auf, der Kerl ist so vertrauenswürdig wie ein Dreißigmarkschein.«

 

Daran musste er denken, als er sich im Sitzungszimmer auf seinen angestammten Platz setzte. Mit den meisten Kollegen vertrug er sich gut, sie waren alle zehn Jahre oder länger bei Rittlinger Scheren und hatten gemeinsam die Firma hochgebracht. Selbstverständlich gab es die üblichen Schwierigkeiten; die Herstellung verlangte immer spätere Termine, als der Verkauf zubilligen wollte; die Konstruktion geriet sich mit der Kalkulation regelmäßig in die Wolle; die Finanzabteilung war mit allen unzufrieden. Einige Ehrgeizige veranstalteten regelrechte Hahnenkämpfe, aber die Mehrheit absolvierte nur ihre Beschimpfungsrituale und einigte sich dann schnell und gütlich. Nur Holger Bornemann, der schöne Holger, und Werner Danckus, die beiden Geschäftsführer, fielen aus dem Rahmen. Danckus war ein verkniffen schweigsamer, sehr penibler und entscheidungsscheuer Endfünfziger, der an Magengeschwüren zu leiden und die Monate bis zu seinem Ruhestand zu zählen schien. Seine weißen Haare, zu einem akkuraten Mittelscheitel gekämmt, waren dünn geworden.

Nicht hineingefunden hatten sich die vier Neuen, die seit wenigen Jahren die von Holger Bornemann durchgeboxten Forschungsabteilungen leiteten. Irgendwie verstanden sie es nicht, den Hochmut der Theoretiker gegenüber den Praktikern zu unterdrücken, und obwohl es allgemein hieß, sie leisteten gute Arbeit, waren sie mit den anderen nie warm geworden. Kein Zufall, dass sie sich gern separierten oder, wie jetzt, am unteren Ende des Tisches stumm nebeneinander hockten. Vom Geschäft begriffen sie jedenfalls nichts, in puncto Geld hatten sie alle schon atemberaubende Unkenntnis offenbart. Seit die ersten in ihren Labors entwickelten Patente angemeldet und verkauft worden waren, verbesserte sich die Stimmung ihnen gegenüber etwas, wozu auch beigetragen hatte, dass Holger inzwischen die Kunst beherrschte, Subventionen, Fördermittel und Programmbeihilfen aus allen möglichen, staatlichen und halbstaatlichen Töpfen heranzuschaffen – eine Fähigkeit, die Danckus mit demonstrativer Verachtung strafte.

»Guten Tag, meine Damen und Herren«, eröffnete Holger die Sitzung wie immer laut, energisch und eine Spur arrogant. »Ich darf Ihnen zuerst Dieter Ritter vorstellen. Herr Ritter hat gerade seinen Wehrdienst abgeleistet und will vor seinem Maschinenbaustudium bei uns ein Praktikum absolvieren.« Der hochaufgeschossene junge Mann erhob sich, verbeugte sich linkisch und wurde rot, als die anderen zur Begrüßung auf den Tisch klopften.

Bei uns, dachte er amüsiert. Holger stellte gern die Verhältnisse klar. Rittlinger Scheren war ein Familienbetrieb gewesen, als die Firma tatsächlich noch Papier und Stoffscheren herstellte, gegründet von August Ritter und Hermann Lingen vor mehr als hundert Jahren. Vom Handwerk verstanden Ritter und Lingen bestimmt eine Menge, vom Geschäftlichen weniger. Das Unternehmen krebste vor sich hin, die Familien wuchsen mit biblischer Fruchtbarkeit, und die Firmenchronik zum 100. Geburtstag stellte keck fest, dass am Ende des Zweiten Weltkriegs die Zahl der Miteigentümer die Zahl der Beschäftigten überstieg. Mitte der fünfziger Jahre hatten die Familien, wahrscheinlich auf Druck der Banken, die komplizierten Besitzverhältnisse geordnet und sich von der Leitung zurückgezogen. Seitdem gab es zwei Geschäftsführer, die sich von den Ritters, Lingens und wie sie alle heißen mochten, nicht hereinreden ließen. Ob der junge Ritter Holgers Unverschämtheit mitgekriegt hatte?

Eine knappe Stunde hakten sie die übliche Tagesordnung ab. Dann richtete sich Holger auf: »Das waren sozusagen die guten Nachrichten. Nun die schlechten. Wir bekommen den Auftrag von Schneider & Sohn nicht.«

Alle Köpfe drehten sich zu Helmbrecht.

»Ich habe zwei Tage mit Schneider senior und Schneider junior verhandelt«, begann er ruhig. »Beide haben mich von der ersten Minute an hingehalten. Sie waren nicht an einem Abschluss interessiert, sondern wollten nur drei Dinge erfahren. Erstens, bis zu welchem Preis wir heruntergehen würden. Zweitens, wie unsere Termine und Serviceleistungen aussehen. Drittens, und das finde ich besonders bemerkenswert, kamen sie immer wieder auf die Fragen zurück, welche Toleranzen wir bei welchem Profilschnitt garantieren, wie hoch das Material aufgeheizt werden muss und wie viel Zeit zwischen Schnitt und Verschweißen oder Verkleben wir veranschlagen.«

»Ambrosiani.« Das war Jolles von der Marktforschung. Er hatte eine Stimme wie ein verrostetes Dampfhorn.

»Wie bitte?« Holger gab sich keine Mühe, seinen Ärger zu verbergen.

»Das sind Ambrosianis Sorgen.«

»Könnten Sie das näher erklären?«

»Aber gern!« Jolles dröhnte ungerührt. »CK 106 ist bei Normaltemperatur so spröde und hart, dass es splittert, wenn Sie versuchen, ein Profil reinzuschneiden. Deswegen heizt unsere Schere die Platte auf und schneidet erst dann. Aber wenn man 106 auf ideale Schnitt-Temperatur erwärmt, dehnt es sich aus und beginnt zu arbeiten. Diese Ausdehnungen und diese Spannungen müssen sehr genau gemessen werden, ein Rechner steuert danach die Schere, die Heizung und die Kühlanlage.«

»Das ist alles bekannt.«

Wenn Jolles reden wollte, hinderte ihn auch ein Holger nicht daran. »Wir haben den Trick heraus, nur soweit abzukühlen, dass der Kleber gerade schön haftet, und dann das andere Stück, ebenfalls noch warm, so zu schneiden und zu verkleben, dass sich beim Abkühlen beide Teile gegensinnig entspannen, also schön zusammenpappen, aber zum Schluss nicht unter Spannung stehen.«

»Was hat das mit Ambrosiani …«

»Das können die Spaghettis noch nicht. Die Schere und die Scherensteuerung sind vergleichsweise simpel, aber die Elektronik und die Messsonden haben’s in sich. Können Sie sich nicht mehr erinnern, welchen Ärger wir mit Hagman’s Processors hatten?«

»Was für einen Ärger?«, wollte jemand wissen.

»Na, die Sonden und Temperaturfühler und die Rechner dazu stehen auf der Sperrliste, Cocom, verstehen Sie? Gilt als strategisches Material, kriegswichtig oder so. Die Amis möchten es am liebsten überhaupt nicht ins Ausland liefern.«

»Na schön«, übernahm Holger wieder die Regie. »Ambrosiani kann das alles nicht. Warum haben wir dann den Auftrag nicht gekriegt?«

Helmbrecht lächelte schmal: »Weil die Italiener eine Methode und eine Maschine anbieten, die zwar sehr viel mehr Schnittzeit braucht, aber auch nur die Hälfte unserer Schere kostet.«

»So ist es!« Jolles grollte, dass die Tassen auf dem Tisch leise zitterten. »Schneider Vater ist ein Geizkragen, Schneider Sohn noch feucht hinter den Ohren. Sie investieren billig und produzieren teuer. Mit Ambrosiani sind sie gut bedient.«

Holger schwieg eine Minute, die Stirn gerunzelt. Ihm lag noch etwas auf der Zunge, aber dann schluckte er es herunter und ging zum nächsten Punkt über. Die Fähigkeit, seine Laune zu verbergen, beherrschte er perfekt – wenn er wollte.

Kurz vor seinem Zimmer zupfte jemand an seinem Ärmel. »Hast du einen Moment Zeit, Uwe?«

Er schmunzelte breit. Christine Marbach war eine Frau nach seinem Geschmack, patent, witzig und resolut. Aus ihren 43 Jahren machte sie kein Hehl; sie hatte Fältchen um die dunkelbraunen Augen, die mehr vom Lachen als vom Alter herrührten, ein energisches Kinn und Grübchen, wenn sie ihren großen Mund vergnügt verzog. Nur zu gern fuhr sie mit beiden Händen durch ihre kupferroten Haare, um ihrer Verzweiflung über die menschliche Begriffsstutzigkeit Ausdruck zu geben. Die Sommersprossen auf ihrer Nase leuchteten dann im selben Rotton.

»Für dich immer«, gelobte er feierlich.

»Aha. Na, dann wollen wir das mal testen.«

Doch in seinem Zimmer wurde sie ernst, faltete beide Hände über den Knien und erkundigte sich: »Hast du Ärger mit Holger?«

»Ich?« Vor Erstaunen fiel ihm der Unterkiefer herunter. »Wie kommst du denn darauf?«

»Ich dachte nur – wegen Schneider & Sohn – na ja. Heute Morgen ist die Fritzen bei mir gewesen, um zu beichten.« Marianne Fritzen – er erinnerte sich, Sachbearbeiterin in der Personalabteilung. Ein hübscher Feger mit langen Beinen und kurzen Röckchen. »Sie hat vor zwei Wochen wieder mal einen neuen Supermann kennengelernt. Großes Auto, kleines Hirn, dicke Brieftasche – sage ich, sie sieht das wohl anders. Jedenfalls konnte sie morgens nicht spät genug kommen und abends nicht früh genug gehen. Gestern ist mir das sauer aufgestoßen, sie musste bleiben, um nachzuarbeiten, es wurde wohl recht spät – na, wie auch immer, so gegen zwanzig Uhr kommt der schöne Holger zu ihr ins Zimmer geschlichen und raunzt sie an, er müsse mal an das Gerät, sie solle eine Pause machen. Natürlich gehorcht sie, er setzt sich ans Terminal und lässt sich was ausdrucken.«

»Ja, und?«

»Deine Personalakte.«

»Was?«

»Ja, die Fritzen schwört, dass sie deinen Namen auf dem Schirm gelesen hat. Und die typischen Rubriken aus dem Personalaktensatz. Dann legte der Drucker los, und sie verzog sich lieber, bevor Holger sie bemerkte. Behauptet sie.«

»Merkwürdig!« Verständnislos starrte er sie an. Warum sollte sich ein Geschäftsführer abends spät den Datensatz seines Verkaufsleiters ausdrucken lassen? Sie zuckte die Achseln: »Ich wollt’s dir nur gesagt haben.«

»Danke, ja, aber ich kann mir darauf keinen Reim machen.«

»Ich auch nicht. Das habe ich auch der Fritzen gesagt. Worauf sie ganz komisch wurde und eine noch verrücktere Geschichte erzählte. Vor drei oder vier Wochen habe sich ein Ausländer an sie herangemacht. Einer von der großzügigen Sorte, also ganz nach ihrem Geschmack, aber der habe nichts von ihr gewollt, wenigstens nichts – na, du verstehst schon, aber ausgefragt habe er sie. Nach Strich und Faden. Über das Geschäft, die Scheren und dann über bestimmte Mitarbeiter. Und ganz besonders habe er sich für dich interessiert.«

»Ach, Blödsinn«, schnappte er. »Die Fritzen spinnt doch.«

»Na ja«, stimmte sie halbherzig zu. »Sie hat schon eine blühende Phantasie. Aber ich weiß nicht …« Den Rest des Satzes ließ sie in der Luft hängen, und er betrachtete sie geistesabwesend. Vor gut einem Jahr hätte es zwischen ihnen fast gefunkt. Die Halle auf der Hannover-Messe war heiß, laut und so stickig, dass er kaum Luft bekam und fürchtete, jede Sekunde würde sein Kopf zerspringen. Den beiden Franzosen schien es dagegen prächtig zu gehen. Stundenlang hatten sie sich nach allen Einzelheiten erkundigt; sein Französisch war mäßig, Christine hatte ausgeholfen, und danach waren sie fluchtartig aus der Halle gestürzt und ins Hotel gerast. Nach drei Whiskys lockerte sich der Ring um seine Stirn, den vierten tranken sie auf ihrem Zimmer, und wenn dann nicht das Telefon geklingelt und die anderen Mitarbeiter vom Stand sich beschwert hätten, wäre er geblieben. Wie auf Verabredung erwähnten sie die Stunden nie mehr, aber behandelten sich seitdem als alte Freunde.

Ihr Gesicht wurde ernst, fast abweisend, während ihr Blick abirrte, und einen Moment hatte er den Eindruck, als ränge sie mit sich, ob sie ihm etwas anvertrauen sollte. Doch dann klingelte das Telefon, sie atmete erleichtert durch und sprang mit einem fröhlichen »Bis dann!« auf.

 

Den restlichen Vormittag diktierte er Briefe auf Band. Für den Verkauf kam es in erster Linie darauf an, die Firmen zu finden, die an einer Schere interessiert sein könnten – wobei »Schere« ein irreführendes Wort war. Papier- und Stoffscheren stellten sie schon lange nicht mehr her; die Maschinen zur Fabrikation von medizinisch-chirurgischen Scheren hatten sie vor sechs Jahren verkauft; im Moment überlegten sie, ob sie wegen der steigenden Hobbynachfrage die Produktion von Handscheren für Kunststoff aufnehmen sollten. Aber in der Regel waren ihre »Scheren« zimmergroße Maschinen, in der größten Ausführung über zweihundert Tonnen schwere Monster, die Edelstahlbleche von vierzig Millimeter Dicke und zwanzig Meter Breite in weniger als dreißig Sekunden zerteilten. Auf Rollen glitt das Blech unter einen Bogen, von dem sich hydraulische Stempel herabsenkten. Sie pressten das Blech fest auf die Unterlage. Blitzende Messerräder fraßen sich von links und rechts durch den Stahl wie geschärfte Fleischermesser durch ein zartes Steak, hin und zurück, die Stempel lösten sich, das abgeschnittene Teil lief auf Rollen weiter, während auf der anderen Seite das Großblech schon in die neue Schnittposition geschoben wurde. Sie schnitten Stahl, Eisen, Kupfer, Aluminium, Zink und Zinn, gerade, schräg oder mit Profil, sie bogen beim Schnitt die Bleche oder knickten sie, verarbeiteten dickes und dünnes, großes und kleines Gut. Andere Scheren bewegten das zu schneidende Material, sodass Rund- oder Parabelschnitte entstanden. Schnittkanten wurden gefräst, geglättet oder aufgeraut. In den letzten Jahren waren Scheren für Kunststoff hinzugekommen; sie hatten bereits die ersten Modelle für keramische Werkstoffe, glasfaserverstärkte Kunststoffe und kristalline Platten ausgeliefert; sie experimentierten mit exotischen Verbindungen.

Der schöne Holger betonte immer wieder, die Ära der Blechscheren neige sich dem Ende zu, was die meisten, wenn auch widerwillig, anerkannten. Aber dass ausgerechnet Rittlinger Scheren jetzt mit Laser oder Hochfrequenz oder Ultraschall Versuchsreihen laufen hatten, dass in einer Abteilung Schnitttechniken für Mikrochipsilizium und Germanium erprobt wurden, erschien der Mehrheit doch etwas übertrieben. Stillstand konnten sie sich auf Dauer nicht leisten, okay, aber mit so viel Eifer und Macht auf neue Märkte zu drängen, das hielten viele für eine Marotte, mit der Holger nur seine Dynamik beweisen wolle. Laut sprach das allerdings keiner aus.

Jolles von der Marktforschung, trotz seines kumpelhaften Gedröhns ein scharfsinniger Mann, fasste ihre Aufgabe so zusammen: »Wir erfüllen uns einen Kinderwunsch, nämlich etwas kaputtzumachen. Es ist ein ewiger Wettlauf zwischen diesen Erwachsenen, die was Neues erfinden, und uns Kindern, die wir es trotzdem ordentlich kleinkriegen.«

Das ließ Ernst vermissen, war aber eine kluge Beschreibung ihrer Situation. Bevor ein neuer Werkstoff einsatzreif war, mussten sie das entsprechende Schnittgerät parat haben. Deswegen war »Marktforschung« auch eine sanft euphemistische Umschreibung: Jolles und seine Leute hatten ihre Nasen in vielen Labors- und Entwicklungsabteilungen stecken, nicht immer zur Freude der so Ausspionierten.

Kurz vor Mittag schaute Bodo Sighart, der Leiter der Konstruktion, herein. »Schneider & Sohn lässt mir keine Ruhe, Herr Helmbrecht. Sind Sie sicher, dass die bei Ambrosiani bestellen wollen?«

»Ganz sicher.«

»Es hat also nichts mit der Verkürzung der Schere zu tun?«

»Nein, das ist gar nicht zur Sprache gekommen. Warum fragen Sie?«

»Wegen des schönen Holgers.«

»Das verstehe ich nicht, Herr Sighart.«

»Bornemann blockt ab, wo er nur kann. Wenn’s nach ihm ginge, würden wir nur ein Standardmodell bauen, ohne Variationen und Modifikationen. Kundenwünsche gibt’s für ihn nicht.«

Nachdenklich schaute er den langen Blondschopf an. Sighart war ein exzellenter Konstrukteur, aber auch ein Hitzkopf, und man durfte seine Worte nicht zum vollen Nennwert nehmen, besonders dann nicht, wenn er sich in seiner Ehre als Techniker angegriffen fühlte.

»Gibt es dafür Hinweise?«, fühlte er endlich vor.

»Hinweise? Belege habe ich, massenhaft.«

Er zögerte; Sighart blickte ihm fest in die Augen: »Soll ich Ihnen meinen Ordner zeigen?«

So beginnen Verschwörungen, schoss ihm durch den Kopf, als er vorschlug: »Das bleibt unter uns?«

»Selbstverständlich.« Sighart sprang auf. »Bin gleich wieder da.«

›Massenhafte‹ Belege waren es nun gerade nicht, aber Engelchen kopierte für ihn knapp fünfzig Seiten, die drei Fehlentscheidungen des schönen Holgers dokumentierten, und schnappte sich zum Schluss unaufgefordert den Ordner, um ihn zu Sighart zurückzubringen.

Hinterher erkundigte sie sich offen: »Sammeln Sie Munition für einen Angriff oder zur Verteidigung?«

»Ich weiß noch nicht, Engelchen. Wahrscheinlich eher zur Abwehr.«

»Halten Sie man bloß die Augen offen!«

 

Engelchens Warnung ging ihm nicht aus dem Kopf. Er saß mit Rike in der Kantine und beobachtete Christine Marbach, die ihm den Rücken zukehrte und sich drei Tische weiter eifrig mit einem Mann unterhielt, den er nicht kannte.

»Hören Sie mir eigentlich zu, Herr Helmbrecht?«

»Entschuldigung, Rike«, sagte er schuldbewusst. Alle Welt nannte sie Rike, weil ihr vollständiger Name Friderike van der Brügge so lang war, dass sie selbst großzügig anzubieten pflegte, es bei Rike zu belassen.

»Ja, ja, ich merkte schon immer, dass Sie nur Augen für Frau Marbach haben«, neckte sie, und er stimmte schnell zu, um seine Verlegenheit zu überspielen: »Sie verweigern sich ja dem freien Markt.«

Rike lachte fröhlich. Sie lachte überhaupt gern, aber schwieg auch eisern, was vielen erst sehr spät auffiel. Einem Flirt war sie nie abgeneigt, hielt sich jedoch streng an die Devise »Never in the office«, was ihr viele Männer verübelten. Vor zweieinhalb Jahren hatte sie bei Rittlinger Scheren angefangen und knapp vier Monate für Helmbrecht gearbeitet – sogar mit Engelchen hatte sie sich glänzend verstanden –, bis sie wegen ihrer exzellenten EDV-Kenntnisse in eine andere Abteilung wechselte; seit einem Jahr führte sie die gesamte Registratur und Ablage. Sie war groß und kräftig, aber ihre krausen, fast schwarzen Haare, die dunklen Augen und die dunkle Hautfarbe erinnerten an eine Südländerin, was sie damit erklärte, irgendwann müsse ein Zigeuner den Familienstammbaum gekreuzt haben. Einige der abgewiesenen Freier nannten sie daher auch die Zigeunerin, was so abschätzig gemeint war, wie es klang.

»Sie haben doch etwas auf dem Herzen?«

»Sieht man mir das so deutlich an?« Er mochte sie und war davon überzeugt, dass auch sie für ihn Sympathie aufbrachte, und deshalb berichtete er, leise seufzend, von dem Fiasko mit Schneider & Sohn. Sie stocherte in ihrer Salatplatte herum und schaute ihn ab und zu prüfend an. »Ich möchte wissen, wie oft uns so etwas passiert ist. Wie viele Kontakte haben wir hergestellt, wie lange wurde verhandelt, warum hat dann die Konkurrenz den Zugschlag bekommen?«

Übertrieben sorgfältig legte sie den abgenagten Olivenkern auf den Tellerrand. Das Problem war nicht neu, auf dem Verkauf hackten alle gerne herum, wenn es nicht so lief wie gewünscht. Aber Termine, Preise und technische Sonderwünsche des Kunden konnte er nicht allein entscheiden, und wenn aus einem dieser Gründe ein Geschäft platzte, begann das Schwarze-Peter-Spiel: Wem ließ sich die Schuld in die Schuhe schieben?

»Sie wollen sich absichern?«

»Sagen wir so – im Fall der Fälle Argumente parat haben.« Mehr musste er ihr nicht erklären. Rittlinger Scheren stellten schließlich keine Massenartikel her, die durch mehr Werbung oder Rabatte für den Großhandel abgesetzt werden konnten; sie bauten für sehr spezielle Zwecke sehr spezielle Maschinen, und wenn jeder zehnte angebahnte Kontakt zu einem Abschluss führte, war das eine hervorragende Quote.

Rike konnte einem Mann sehr direkt in die Augen sehen: »Geht in Ordnung, Herr Helmbrecht.«

»Danke, Rike.«

»Keine Ursache.«

»Dann ist da noch etwas. Sie kennen doch die Fritzen, Marianne Fritzen?« Mit gedämpfter Stimme berichtete er, was die Fritzen mit Holger Bornemann erlebt haben wollte, und Rike musterte ihn aus schmalen Augen. Die EDV war ihr Reich, und sie schätzte es gar nicht, wenn andere daran herumspielten. »Können Sie sich das erklären, Rike?«

Nach einer langen Bedenkpause sagte sie gedehnt: »Nein, einen Sinn ergibt das nicht. Nein, das nicht.«

»Sie erfahren doch eine Menge aus den anderen Abteilungen?«

»Unvermeidlich«, stimmte sie trocken zu und grinste.

»Ist Ihnen schon mal zu Ohren gekommen, dass Mitarbeiter von fremden Leuten ausgehorcht werden? Über andere Angestellte, aber auch über geschäftliche Dinge?«

Darauf atmete sie tief durch: »Ja, so was habe ich läuten gehört. Aus verschiedenen Quellen.«

»Haben Sie eine Ahnung, wer dahintersteckt?«

»Nein, ich weiß nichts.«

»Aber Sie vermuten doch etwas?«

»Sicher – die Geschäftsleitung.« Sie konnte ihre Augenbrauen drohend zusammenziehen. »Und wenn mich nicht alles täuscht – aber ich werde leugnen, jemals so was angedeutet zu haben –, ist zwischen Holger Bornemann und Werner Danckus der Krieg ausgebrochen.«

Überrascht blinzelte er, aber mehr wollte oder konnte sie nicht sagen, sondern schob rasch ihren Stuhl zurück und lief mit einem flüchtigen »Bis dann!« aus der jetzt fast leeren Kantine.

 

Bis zum Dienstschluss hatte er gut zu tun. Um halb fünf bummerte Engelchen gegen die Tür, beide Hände beladen mit einem zerschrammten Blechtablett, auf dem seine Abendration stand – Tee, Rechaud, Sahne, Zucker, Zitrone und ein massiver Henkelbecher.

»Schönes Wochenende, Chef.«

»Ebenso, danke, Engelchen. Trocknen Sie nicht aus bei dieser Hitze.«

Mit der CK 106-Schere waren sie zu spät auf den Markt gegangen; die Konkurrenz hatte nicht geschlafen und neun Monate früher ein Modell angeboten, das nach übereinstimmender Meinung der Techniker nicht so gut war wie ihre Maschine, aber eben zur Verfügung stand, als alle Welt den neuen Faserverbundstoff CK 106 entdeckte. Jolles hatte rechtzeitig darauf hingewiesen, dass sich da ein neuer Markt auftat, und auch er hatte, nachdem er von mehreren Firmen auf CK 106 angesprochen worden war, drei ausführliche Memoranden an die Geschäftsleitung gerichtet. An den Durchschlägen der beiden letzten Schreiben hefteten Zettelchen mit Engelchens Krakelschrift: Entgegen dem normalen Dienstweg hatte er zusätzliche Kopien direkt an die Abteilung Konstruktion und Forschung geschickt.

Die Verspätung erklärte, warum sie jetzt bei Firmen wie Schneider & Sohn strampeln mussten.

Eine Stunde las er konzentriert den firmeninternen Briefwechsel, weil Jolles und Sighart ihn heute Morgen auf eine Idee gebracht hatten, und zum Schluss rieb er sich nachdenklich die Stirn. Sie hätten sechs Monate vor der Konkurrenz auf dem Markt sein können, wenn der schöne Holger nicht gebremst hätte. Die Techniker hatten andere Messsonden und als Steuerungselektronik eine deutsche Entwicklung vorgeschlagen, nicht so elegant wie die amerikanischen Teile, aber nach ihrem Urteil genauso brauchbar. Und sehr viel reparaturfreundlicher. Doch Holger hatte auf Hagman’s Processors und Baltridge P&H bestanden, wodurch sie fast ein ganzes Jahr wegen der Lieferschwierigkeiten verloren hatten; die amerikanischen Firmen hatten außerdem wenig Interesse an dem Auftrag von Rittlinger Scheren bekundet, weil sie bis zur Halskrause mit der Forschung für das amerikanische Star-Wars-Programm eingedeckt waren. Kein Wunder, dass Holger jetzt der Arsch auf Grundeis ging, dachte er schadenfroh.

Er schnappte sich den dünnen Ordner »Entwicklung« und blätterte, bis er seine handschriftlichen Anmerkungen wiederfand. Mit der Titanschere war es nicht viel anders verlaufen. Holger hatte die Versuchsserie nach dem Sandwichverfahren abgebrochen, bei der die Titanplatte zwischen zwei andere Bleche eingespannt und spanfrei geschnitten wurde. Der für die Konstruktion zuständige Ingenieur hatte unter Protest gekündigt. Und in Japan funktionierte das System offenbar, auf dem schmalen Markt für Titanwerkzeuge hatten Rittlinger Scheren jedenfalls nichts mehr zu vermelden.

Ob Holger deswegen so nervös war? In der Konferenz hatte er allerdings nicht mehr behauptet, sie hätten den Auftrag von Schneider & Sohn um jeden Preis kriegen müssen … Schief grienend holte er sich einen leeren Ordner aus dem Vorzimmer und sortierte alle Schriftstücke hinein, die sich mit der Titan- und der CK 106-Schere befassten, dazu Sigharts Kopien und seine privaten Unterlagen. Man konnte nie wissen, und zu Hause war das Zeugs genauso sicher aufgehoben wie im Büro.

 

Selbst jetzt war die Hitze noch unerträglich. Obwohl er das Schiebedach weit aufgeschoben hatte, schwitzte er, als er vor der Garage bremste. Die Schließanlage des Garagentors führte eine neue Variante vor: Das Tor hob sich bis zur halben Höhe, und als er noch einmal den »Auf«-Knopf drückte, donnerte es plötzlich nach unten, dass er um den Rahmen fürchtete.

Fluchend und ächzend wuchtete er es von Hand hoch. Als Maschinenbauer verstand er nicht viel von Elektronik, aber doch genug, um diese beiden besserwisserischen Clowns in die Garage zu zerren und nach oben auf die Steuerungsanlage zu deuten: »Da, schauen Sie hin! Das sind unverkleidete, schwarze Ziegel. Können Sie sich vorstellen, wie heiß es da oben wird, wenn die Sonne den ganzen Tag auf die Ziegel geknallt hat?«

»Moderne Elektronik verkraftet Temperaturen von minus 50 bis plus 120-Grad, Herr Helmbrecht. Daran liegt’s nicht.« Aber woran es lag, hatten sie nicht herausgefunden. Flotte Sprüche und nichts im Kopf.

Melanie war schon fort; in der Diele fand er einen Zettel: »Dala hat angerufen, ich soll früher kommen. Badehose nicht vergessen!«

Auch das noch! Vor dem Duschen schloss er den Ordner in den kleinen Tresor ein, der sich im Bücherregal hinter einer harmlosen Fachtür befand. Er hatte ihn einbauen lassen, nachdem Melanie ihr eigenes Schlafzimmer bezogen hatte und zum ersten Mal allein in den Urlaub gefahren war. Bis jetzt wusste sie nichts davon, da war er ziemlich sicher; sein Arbeitszimmer kümmerte sie so wenig wie seine Arbeit. Und in puncto Privatsphäre hielt sie es wie er: Auch in ihrem Zimmer, Parterre neben dem Wohnraum, besaß sie ein Fach, das immer abgeschlossen war, dessen Inhalt er nicht kannte und auch gar nicht kennen wollte.

Vor Holgers Haus hatte er Mühe, einen Parkplatz zu finden, obwohl er sich nur eine halbe Stunde verspätet hatte. Die Haustür stand weit auf, niemand achtete auf ihn, und mühsam ein heiteres Gesicht aufsetzend mischte er sich unter die gut hundert Leute, die alle Zimmer, die Terrasse und den Garten belegt hatten. Holgers Partys waren berühmt oder auch berüchtigt ob ihrer Zwanglosigkeit. Das Krawattenverbot war unterschiedlich ausgedeutet worden. Wer es sich leisten konnte – oder es wenigstens glaubte, lief in Badehose oder Badeanzug herum; andere hatten sich wie er in Freizeithosen und Polohemden gezwängt. Er schenkte sich einen Whisky mit Soda ein, schlenderte ziellos umher, grüßte, wurde gegrüßt und vermied jede längere Unterhaltung. In einem Zimmer dudelte Tanzmusik, kaum zu hören hinter dem lauten Gerede und Gelächter; das einzige Paar nutzte den Tanz auch nur als Vorwand für eine heftige Umarmung. Man amüsierte sich prächtig, und er begann sich zu langweilen. Trotz des Durchzugs schien die Luft im Haus zu stehen; er schob sich auf die Terrasse und suchte sich einen stillen Platz, von dem aus er ungestört die Menge beobachten konnte.

»Na, Uwe, wie geht’s dir? Bist du nicht auch begeistert von dieser wunderbaren, stilvollen, vergnügten Party?«

Christine Marbach stieß ihn kräftig in die Seite und lachte leise. Bei ihrem Anblick hob sich seine Laune: »Bin ich. Vor allem, weil ich endlich mal Gelegenheit habe, dich im Bikini zu bewundern.«

Sie schielte an sich herunter; die dünne, hüftlange Leinenjacke war in der Tat nur ein Alibi. »Etwas knapp, das teure Stück.«

»Knapp ist relativ.«

»Du meinst, ich kann mir so viel Exhibitionismus leisten?«

»Noch mehr, liebe Christine.«

»Wunderschön. Dann wollen wir mal ein Glas unter vier Augen trinken – wenn du nichts dagegen hast.«

»Ich fiebere danach.« Wieder lachte sie und boxte ihm in die Rippen. Sie füllten ihre Gläser, aber so leicht war es nicht, ein ungestörtes Plätzchen zu finden; andere waren schon vor ihnen auf dieselbe Idee gekommen. Schließlich landeten sie im entferntesten Winkel des Gartens, zwinkerten sich zu und hoben die vollen Gläser.

»Dein Weib macht Furore, lieber Uwe.« Sie deutete zum Haus, auf eine große Gruppe, die sich um Holger und Melanie gebildet hatte.

»Anders wäre sie auch unglücklich.«

»Aber macht es dich glücklich?«

»Nein«, versetzte er trocken, »aber auch nicht unglücklich.«

»Soso«, meinte sie nachdenklich. »Wenn ich dich richtig verstehe, denkt sie dasselbe.«

»Anzunehmen.«

»Dann könntest du mich ja mal abends besuchen, privat.«

Damit überraschte sie ihn nun doch, er schluckte und wusste nicht, was er erwidern sollte.

»Verwundert, lieber Uwe?« Sie gluckste.

»Angenehm überrascht – sagen wir’s so.«

»Es freut mich, dass du dich noch für alte Frauen erwärmen kannst.«

»Alte Frauen ist gut!« Er lachte erheitert. »Melanie ist nur drei Jahre jünger als du.«

»Nein!«, staunte sie, und er grummelte vergnügt: »Doch. Der Rest ist harte Arbeit, strikter Hunger und teure Chemie.«

»Wirklich? Ich kann’s nicht glauben.«

»Wirklich!« Er stellte das Glas auf dem Rasen ab, schob die Jacke zur Seite und spannte beide Hände um ihre Taille: »Ich weiß schon gar nicht mehr, wie sich eine natürliche Frau anfühlt.«

»Oha! Bist du immer so eilig?«

»Nein, nicht immer, nur manchmal – wenn’s lohnt.«

»Etwas Geduld wirst du noch aufbringen müssen«, mahnte sie, bückte sich nach seinem Glas und kniff ihm ein Auge zu, schüttelte aber den Kopf, als er ihr folgen wollte.

Eine halbe Stunde vertrödelte er am Schwimmbecken, in dem sich seriöse Herren albern und alberne Mädchen damenhaft benahmen. Zwei Serviermädchen eröffneten das kalte Büfett, und vom Grillplatz zog der Geruch glühender Holzkohle und brutzelnder Steaks herüber. Trotz der vorgerückten Stunde war es noch immer unmenschlich heiß, und am fast dunklen Himmel ballten sich dicke Wolken, die verdächtig nach Gewitter aussahen. Der Champagner floss in Strömen, und weil er viel Zeit hatte, begann er zu rechnen. Holger liebte es großzügig, aber Dala Bornemann hatte ja auch genug mit in die Ehe gebracht.

Wie herbei gedacht stand sie plötzlich neben ihm. »Du bist so schweigsam, Uwe.« Er grinste und legte einen Arm um ihre Schultern, antwortete aber nicht. Dala sah genauso aus, wie sich ein Südländer eine Skandinavierin vorstellen mochte. Groß und kräftig, er musste sich jetzt recken, um wenigstens zwei Zentimeter Höhenunterschied herzustellen, weizenblond und blauäugig, eine Walküre, aber eine überaus ansehnliche und kurvenreiche Ausgabe, mit finnischen, schwedischen und russischen Vorfahren. Vielleicht war sie deswegen auch ein Sprachgenie; sie beherrschte sieben Sprachen perfekt und krönte alle mit demselben, leicht kehligen Akzent, der Assoziationen an frostklirrende Polartage unter der Mitternachtssonne wachrief.

»Lähmt dich die Hitze?«

»Die anderen machen Lärm genug.«

»Da hast du vollkommen recht.« Ihr Blick ruhte auf ihrem Ehemann Holger, der wie zufällig eine Hand auf Melanis Hüften gelegt hatte, während er eifrig mit einem großen, dicken Glatzkopf schwätzte, dem die Badehose weit unter dem Äquator hing. »Ich hab’s auch lieber ruhig und friedlich.«

Er brummelte etwas Unverständliches, worauf sie kicherte: »Vielleicht können wir einmal gemeinsam schweigen.« Ein listiges Blinzeln streifte ihn, bevor sie fortglitt; sie hatte einen königlichen Gang. Junge, Junge, dachte er amüsiert. Noch ein Angebot! Das musste an der Schwüle liegen!

Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er den Abend lieber allein verbracht, Füße hoch und ein Buch vor sich. Dieser Lärm ging ihm auf die Nerven, und am meisten hasste er es, wenn Leute meinten, sie müssten mit Gekreisch und Gelächter demonstrieren, wie wohl sie sich fühlten. Zwei Stunden hatte er sich als Frist gesetzt und merkte schon nach sechzig Minuten, dass ihm das Lächeln immer häufiger gefror.

Am Büfett stieß er mit einem kleinen, beleibten Mann zusammen, der ihm erfreut die Hand hinstreckte: »Herr Helmbrecht, das ist schön, dass ich Sie hier treffe.«

»Herr Reckel, guten Abend. Wie geht’s Ihnen?«

»Ach, wie soll’s sein. Irgendwie bin ich schon zu alt für solche Vergnügen.« Er seufzte melancholisch. »Artet in Arbeit aus, der Spaß.«

»Suchen wir uns ein ruhiges Plätzchen?«

»Das wollt ich Ihnen gerade vorschlagen.«

Sie landeten in der menschenleeren Küche und schwangen sich auf die Hocker an der Frühstückstheke. Die Fenster standen weit auf, und jetzt war auch ein leichter Zug spürbar.

»Zum Wohl, Herr Helmbrecht.«

»Danke.« Er mochte den alten Reckel gut leiden. Ihm und seinem Bruder Karl gehörte die Siegerländer Metallbau, Simebau abgekürzt, von der sie eine Menge Material bezogen, hauptsächlich Rollen und Gelenke. Otto und Karl Reckel, beide hoch in den Fünfzigern, waren begabte und geradezu verbissen fleißige Techniker, aber sauschlechte Geschäftsleute, die unbedingt einen starken Mann für Finanzen und Verkauf benötigten. Der einzige Erbe hatte sich ebenfalls als Tüftler entpuppt, der am Zeichenbrett brillierte, aber gegenüber Geld eine erstaunliche Hilflosigkeit an den Tag legte. Vater, Sohn und Onkel bildeten schon ein Trio, das die gesündeste Firma ruinieren konnte.

»Eigentlich ist es unfein«, begann Reckel unvermittelt.

»Was, Herr Reckel?«

»Als Gast zu versuchen, dem Gastgeber einen Mann abzuwerben – hm, ja, also, Herr Helmbrecht, Sie kennen mich ja, mit dem Diplomatischen ist’s bei mir nicht weit her, Süßholz raspeln kann ich auch nicht, und dass wir einen Mann fürs Geschäftliche brauchen, wissen Sie ja selbst, Sie wären schon der rechte Mann für uns.«

Unwillkürlich lachte er: »Das kommt aber verdammt plötzlich, Herr Reckel.«

»So?« Sein Gegenüber errötete sacht und rieb sich über die Stirn. »Ja, das wird wohl richtig sein. Ich hätt’ mich auch nicht so plötzlich – nun gut, ich vertrau darauf, dass wir uns so lange kennen und Sie mir’s nicht übelnehmen werden, wenn ich offen bin. Der Karl, der Hartmut und ich tun uns schwer mit fremden Menschen, und wenn Bornemann nicht erwähnt hätte, dass Sie auf dem Absprung sind, hätte …«

»Wie bitte? Was hat Holger Bornemann behauptet?«

Reckel wand sich regelrecht vor Verlegenheit. »Dass Sie Rittlinger Scheren verlassen wollen.«

»Das hat der schöne Holger behauptet?« Sein Ton fiel schärfer aus als beabsichtigt, und Otto Reckel wäre am liebsten unter den Hocker gekrochen. Mit beiden Händen umklammerte er das Glas, als müsse er sich daran festhalten; er wagte nicht mehr, Helmbrecht direkt anzuschauen. »Hat er, hat er wirklich!«, krächzte er und trank sofort einen viel zu großen Schluck, hustete und schnappte nach Luft. »Wir haben uns gestern unterhalten, erst über die nächste Lieferung, und dann so allgemein, na, Sie wissen schon, und da hat er beiläufig erwähnt, dass Sie auf dem Absprung sind.«

»Das darf doch nicht wahr sein!«, murmelte er entgeistert, aber nicht leise genug; Reckel richtete sich auf: »Stimmt das denn nicht?«

»Nein. Klipp und klar: Nein, Herr Reckel.«

Eine lange Minute herrschte ein ungemütliches Schweigen, bis Reckel, jetzt tiefrot, sich räusperte: »Entschuldigen Sie bitte, das ist mir schrecklich peinlich …«

»Kein Grund für Sie, sich zu entschuldigen, Herr Reckel«, unterbrach er ihn heftig. »Im Gegenteil, ich möchte mich bei Ihnen bedanken – ja, das ist die volle Wahrheit, ich danke Ihnen.«

»Und … und wofür?«

»Dass ich von Ihnen die Bestätigung eines alten Verdachts bekommen habe.«

Der alte Reckel mochte ungeschickt und linkisch sein, aber er war nicht auf den Kopf gefallen. »Bornemann?«, fragte er.

»Ja.« Mehr antwortete er nicht, sondern trank nachdenklich. Wie vielen Leuten hatte der schöne Holger ähnliche Andeutungen gemacht? Und dieser Vorwurf wegen Schneider & Sohn passte genau dazu: Ihm auf der einen Seite die Firma zu vermiesen und andererseits auf diese linke Tour dafür zu sorgen, dass er aus heiterem Himmel Angebote erhielt. Helmbrecht schnaufte jämmerlich, er lachte leise und sagte halblaut: »Bis jetzt habe ich noch nie daran gedacht, von Rittlinger Scheren wegzugehen.

---ENDE DER LESEPROBE---