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Die Schwestern Isabella Steif und Charlotte Kantig ermitteln in ihrem nächsten Fall! Kaum ist man mal ein paar Wochen weg, ist nichts mehr wie es war. Das merken auch die Schwestern Isabella Steif und Charlotte Kantig, als sie aus dem Urlaub zurückkehren und in Oberherzholz schon die Bauarbeiten für eine neue Biogasanlage begonnen haben. Saubere Energie, die aber nicht alle am Ort begrüßen. Als dann das traditionelle Osterfeuer auch noch auf dem Baugelände stattfinden soll, liegen die Bauern endgültig im Clinch. Da scheint es wenig überraschend, dass das mühsam aufgeschichtete Holz schon lange vor Ostern in Flammen steht. Allerdings wird aus dem Feuer eine Leiche geborgen und plötzlich wird die Situation sehr ernst. Steif und Kantig stecken schon bald wieder mitten drin in einer Mordermittlung. Doch dieses Mal kommen sie fast auch nicht mehr raus … Entdecken Sie auch die weiteren Fälle von Steif und Kantig: - Band 1: Steif und Kantig - Band 2: Kühe, Konten und Komplotte - Band 3: Landluft und Leichenduft - Band 4: Hengste, Henker, Herbstlaub - Band 5: Felder, Feuer, Frühlingsluft - Band 6: Schnäpse, Schüsse, Scherereien - Band 7: Mondschein, Morde und Moneten - Band 8: Gärtner, Gauner, Gänseblümchen - Band 9: Dünen, Diebe, Dorfgeplänkel - Band 10: Printen, Plätzchen und Probleme - Band 11: Komplizen, Kappen, Karneval - Band 12: Halunken, Horror, Halloween - Band 13: Blüten, Birken, Bösewichter
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Die AutorinGisela Garnschröder ist 1949 in Herzebrock/Ostwestfalen geboren und aufgewachsen auf einem westfälischen Bauernhof. Sie erlangte die Hochschulreife und studierte Betriebswirtschaft. Nach dem Vordiplom entschied sie sich für eine Tätigkeit in einer Justizvollzugsanstalt. Immer war das Schreiben ihre Lieblingsbeschäftigung. Die berufliche Tätigkeit in der Justizvollzugsanstalt brachte den Anstoß zum Kriminalroman. Gisela Garnschröder wohnt in Ostwestfalen, ist verheiratet und hat Kinder und Enkelkinder. Sie ist Mitglied bei der Krimivereinigung Mörderische Schwestern, beim Syndikat und bei DeLiA.
Das Buch
Kaum ist man mal ein paar Wochen weg, ist nichts mehr wie es war. Das merken auch die Schwestern Isabella Steif und Charlotte Kantig, als sie aus dem Urlaub zurückkehren und in Oberherzholz schon die Bauarbeiten für eine neue Biogasanlage begonnen haben. Saubere Energie, die aber nicht alle am Ort begrüßen. Als dann das traditionelle Osterfeuer auch noch auf dem Baugelände stattfinden soll, liegen die Bauern endgültig im Clinch. Da scheint es wenig überraschend, dass das mühsam aufgeschichtete Holz schon lange vor Ostern in Flammen steht. Allerdings wird aus dem Feuer eine Leiche geborgen und plötzlich wird die Situation sehr ernst. Steif und Kantig stecken schon bald wieder mitten drin in einer Mordermittlung. Doch dieses Mal kommen sie fast auch nicht mehr raus…
Von Gisela Garnschröder sind bei Midnight erschienen:
In der Reihe Ein-Steif-und-Kantig-Krimi:Steif und KantigKühe, Konten und KomplotteLandluft und LeichenduftHengste, Henker, HerbstlaubFelder, Feuer, FrühlingsluftAußerdem:WinterdiebeWeiß wie Schnee, schwarz wie Ebenholz
Gisela Garnschröder
Felder, Feuer, Frühlingsluft
Ein neuer Fall für Steif und Kantig
Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de
Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Mai 2017 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat ISBN 978-3-95819-113-6 Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Das Flugzeug setzte kurz vor Mittag am letzten Februartag 2016 mit einem leichten Ruck auf der Rollbahn auf. Einige Reisende klatschten begeistert in die Hände, waren sie doch erleichtert, dass die Rückreise von Gran Canaria so glatt und ohne jegliche Wetterkapriolen in knapp vier Stunden Flug geschafft war.
Die Stewardess verkündete über Lautsprecher: »Meine Damen und Herren, wir sind soeben auf dem Flughafen Münster-Osnabrück gelandet. Bitte behalten Sie Ihre Sitzposition bei, und bleiben Sie angeschnallt sitzen, bis das Flugzeug seine Endposition erreicht hat!«
Wie auf Kommando, als hätten sie die Durchsage nicht gehört, entledigten sich die Passagiere ihrer Sitzgurte und begannen in den Fächern für das Handgepäck herumzusuchen.
Isabella Steif saß am Gang und fuhr den Mann neben sich empört an: »Drängeln Sie nicht so! Ich stehe erst auf, wenn die Maschine hält.«
Der Fremde warf ihr einen wütenden Blick zu, blieb aber halb aufgerichtet neben ihr stehen, denn auch seine Frau, die den Fensterplatz innehatte, drängte nun nach. Seufzend erhob Isabella sich, öffnete die Klappe über ihrem Kopf, nahm ihre Handtasche und eine Steppjacke heraus und quetschte sich in den Gang. Dort stand bereits ihre Schwester, Charlotte Kantig mit ihren Sachen, die an der anderen Seite des Ganges gesessen hatte, und wartete ungeduldig, dass sich endlich die Türen des Flugzeugs öffnen würden, um den engen Raum zu verlassen. Mittlerweile war das Flugzeug zum Stillstand gekommen und die sich im Gang drängelnden Menschen schoben sich weiter nach vorn, wo jetzt die Tür geöffnet wurde. Die Stewardessen verabschiedeten mit freundlichem Gesicht als Erstes zwei Rollstuhlfahrer, die vom Flughafenpersonal abgeholt wurden. Wenige Minuten später verließen auch Isabella und Charlotte den Flieger und warteten in der Gepäckausgabe auf ihre Koffer.
»Ob Ottokar schon da ist?«, fragte Isabella ihre Schwester. Charlotte nickte zuversichtlich und blickte durch die hohen Scheiben der Ankunftshalle suchend nach draußen. »Sehen kann ich ihn nicht, aber er ist bestimmt pünktlich!«
Ottokar Breit war Nachbar der beiden Frauen, die in Oberherzholz in der Wiesenstraße, in einer Siedlung am Rande des Städtchens, in einem Doppelhaus wohnten, von denen jede eine Hälfte besaß. Ottokar war genau wie die Schwestern im Ruhestand. Er hatte ein Faible für Charlotte, das weit über eine normale Nachbarschaft hinausging, was dazu führte, dass beide viel gemeinsam unternahmen und eine enge freundschaftliche Verbindung pflegten.
Charlotte war die Erste, die ihren Koffer vom Rollband holte und sich durch die Sperre nach draußen begab, wo Ottokar sie mit einer herzlichen Umarmung begrüßte. »Schön braun bist du geworden!« Er schnappte sich ihren Koffer und fragte: »Wo ist denn Isabella?«
»Drinnen, wo sonst? Mein Koffer war einer der ersten, die angerollt kamen.«
Sie mussten volle zehn Minuten warten, bis endlich Isabella erschien.
»Puh, ich hab schon gedacht, die hätten meinen Koffer vergessen!«, sagte sie und begrüßte Ottokar mit einem Händedruck. »Fein, dass du uns abholst, Ottokar. Dieser Zubringerbus hat uns auf der Hinfahrt durch sämtliche Dörfer im Münsterland kutschiert und fast drei Stunden gebraucht!«
Gut gelaunt stiegen die drei in Ottokars Mercedes und waren schon nach einer guten Stunde zu Hause.
Am Nachmittag trafen sich die Schwestern mit Ottokar zum Kaffeeplausch in Charlottes Esszimmer, zu dem Isabella auch ihren Bekannten Eberhard Looch einlud, der am Ende der Wiesenstraße wohnte.
»Wieso waren eigentlich vorhin so viele Lkws auf der Münsterlandstraße?«, erkundigte sich Isabella. »Normalerweise ist dort gegen Mittag kaum Verkehr.«
»Das ist mir auch aufgefallen«, warf Charlotte ein. »Vollbeladen mit Schotter. Wird hier irgendwo eine Straße gebaut?«
»Straße?« Ottokar lachte, und Eberhard ergänzte: »Ein Biogasanlage. Dafür wird das Wäldchen hinter dem Sprokenbach zerschnitten und ein Schotterweg angelegt. Mit dem Bau der Anlage wurde letzte Woche bereits begonnen!«
»Muss denn da nicht die Bevölkerung informiert werden?« Isabella krauste unmutig die Stirn. »Ich habe weder im Rathaus noch sonst wo etwas davon gehört!«
»Wenn ihr natürlich vier Wochen untertaucht, kriegt ihr auch nichts mit!« Ottokar grinste, tat sich zum zweiten Mal ein Stück Kkuchen auf den Teller und wandte sich an Charlotte. »Dieser Kirschkuchen ist wirklich lecker!«
»Hat mir Louisa empfohlen«, sagte Charlotte, »aber demnächst backe ich wieder selbst!«
»Wie meintest du das, dass wir nichts mitkriegen?«, wandte sich Isabella an Ottokar. »Wir waren gerade mal vier Wochen weg!«
»Gleich Anfang Februar hat der Bürgermeister zu einem Infoabend zur Biogasanlage auf dem Hof Gerstland eingeladen. Die Anlage wird hinter dem Hof Schultherm in der Nähe der Windräder auf der Wiese des Hofes Gerstland gebaut.«
»Das ist ja zum Glück weit genug von uns entfernt«, stellte Charlotte sachlich fest.
»Aber der Verkehr auf der Münsterlandstraße wird stark anschwellen«, warf Eberhard ein. »Der Bürgermeister hat mitgeteilt, dass mehrere Städte bereits Verträge mit dem Betreiber der Anlage gemacht haben, um ihren Biomüll dort abzuladen.«
»Für unsere kleine Stadt ist das ein gutes Geschäft«, erklärte Ottokar. »Die Stadtwerke sind mit zwanzig Prozent an der Anlage beteiligt, und auch der Hof Schultherm hat einen Anteil von zehn Prozent erworben, zumindest hat der Bürgermeister das auf der Versammlung mitgeteilt. Roland Gerstland ist mit rund fünfzig Prozent Haupteigner, da die Anlage auf seinem Grundstück gebaut wird. Übrigens können auch Privatleute noch einzelne Anteile von der Stadt erwerben.«
»Du bist ja richtig gut informiert«, staunte Isabella.
»Wenn ihr nicht da seid, müssen Ottokar und ich doch aufpassen, dass hier in der Stadt alles mit rechten Dingen zugeht«, frotzelte Eberhard gut gelaunt. »Der Bürgermeister hat in der Versammlung all diese Fakten erläutert und hinzugefügt, dass der Strom der Anlage den Stadtwerken zufließt, genau wie der Strom aus den Windrädern.«
»Sicher ein gutes Geschäft für alle Seiten«, resümierte Charlotte und verteilte den letzten Kaffee.
»Trotzdem finde ich, etwas mehr Vorlaufzeit für solche Dinge wäre wünschenswert«, sagte Isabella. »Müssen denn nicht alle Gewerke öffentlich ausgeschrieben werden?«
»Klar«, gab Ottokar zurück. »Soviel ich weiß, hat eine Baufirma aus Herford den Zuschlag gekriegt.«
»Das ging aber schnell!«, stellte Charlotte grinsend fest.
Isabella krauste die Stirn. »Aber es müssen doch so viele Dinge beachtet werden!«, sagte sie. »Was ist, wenn der Sprokenbach durch ein Leck in der Anlage verunreinigt wird?«
Eberhard grinste. »Genau das habe ich unseren Bürgermeister auch gefragt. Er hat sofort abgewunken und gesagt, so etwas könne gar nicht passieren, weil die Anlage nach neuestem Standard gebaut wird.«
»Warten wir es ab«, meinte Isabella. »Ich bin gespannt, was die Umweltschützer sagen. Der Sprokenbach speist den Baggersee bei Schultherm. Die Angler werden ordentlich Theater machen, wenn da was passiert.«
»Die örtlichen Umweltschützer sind mit einem Schmankerl bedient worden. Die Stadt zahlt ihnen ab sofort wieder die Krötenzäune, die demnächst für die Laichwanderungen aufgestellt werden.«
»Und damit haben sie sich zufriedengegeben?«
»Scheint so!« Eberhard grinste. »Zumindest gab es keine Widerstände gegen die Anlage, und in der letzten Woche wurde bereits mit dem Bau der Zufahrt begonnen.«
Sie saßen noch eine gute Stunde zusammen, plauderten über die Neuigkeiten der Stadt, und die Frauen holten ihre Handys heraus und zeigten die vielen Fotos, die sie auf den Kanaren geschossen hatten. Es war schon dunkel, als sich die Herren verabschiedeten und Isabella und Charlotte gemeinsam den Tisch abräumten. »Ich bin hundemüde!«, sagte Isabella gähnend und war schon nach wenigen Minuten verschwunden.
Am nächsten Tag schlief Charlotte bis spät in den Morgen hinein. Als sie kurz nach zehn Uhr den Rollladen an ihrem Schlafzimmerfenster hochzog, wurde sie von einer hellen Sonne begrüßt, die den blauen Himmel verzauberte. Gähnend und sich reckend verschwand sie im Bad und saß schon eine Stunde später am Frühstückstisch. Bei Kaffee und Toast, den sie noch vor dem Urlaub gekauft und eingefroren hatte. Kurz nach ein Uhr mittags machte sie sich auf zum Hofladen, um ihre Vorräte wieder aufzufüllen. Sie hatte sich warm angezogen, denn trotz des blauen Himmels war es bitterkalt draußen, und die Heizung ihres Autos kam für die kurze Strecke nur mäßig auf Touren.
So kurz nach Mittag war der Laden leer, und Charlotte hatte Muße, sich alles gründlich anzusehen. Angelika Kottenbaak, Bäuerin und Besitzerin des Hofladens, stand hinten im Laden und packte gebündelte Möhren aus einem Korb ins Regal. Bei Charlottes Eintritt sah sie überrascht auf. »Frau Kantig, gut sehen Sie aus! Wie war’s auf den Kanaren?«
Charlotte lachte. »Herrlich und ganz warm!«
Angelika seufzte. »Da möchte ich auch mal hin, so für eine Woche mal etwas anderes sehen, das wär schön!«
»Ein Woche ist zu wenig«, warf Charlotte ein, »da lohnt sich der Flug ja gar nicht!«
Angelika schüttelte den Kopf. »Mehr als eine Woche halte ich das nicht woanders aus. Hermann und ich sind doch jedes Jahr ein paar Tage auf Föhr, da überlege ich schon täglich, ob denn hier im Laden alles läuft, und bin ganz unruhig.«
Charlotte wusste nichts darauf zu antworten, zeigte stattdessen auf die Möhren und sagte: »Von den Möhren nehme ich einen Bund, und Kartoffeln brauche ich auch.«
In diesem Moment kam eine junge Frau mit einer Kiste durch die Hintertür und ging zu einem der Gemüseregale. Sie grüßte knapp und packte mehrere Schächtelchen mit Pilzen in das Regal.
»Oh, haben Sie eine neue Verkäuferin?«, fragte Charlotte.
Frau Kottenbaak lachte. »Das ist meine Nichte Juli März. Sie hilft mir heute ein wenig aus!«
»Sind die Pilze aus Ihrer Pilzstation?«, fragte Charlotte, als die junge Frau fertig war und im hinteren Teil des Ladens verschwand.
»Ja, es sind die ersten in diesem Frühjahr. Möchten Sie ein Schächtelchen?«
»Klar, ich liebe Champignons!«, sagte Charlotte, zahlte und verließ anschließend vollbepackt den Laden.
Sie stand fröstelnd trotz ihrer dicken Jacke hinter ihrem Auto und verstaute die Lebensmittel in ihrem Kofferraum, als eine Frau mit dem Fahrrad kam. Die Frau stellte ihr Rad direkt neben Charlottes Auto ab und fragte: »Ist der Laden auf?«
Charlotte sah auf und nickte. »Ja, gehen Sie nur hinein. Frau Kottenbaak ist da!«
»Komisch. Sonst war doch immer zu!«, murmelte die Frau und ging zur Ladentür. Charlotte sah ihr nach. Sie war mindestens achtzig Jahre alt, trug feste, warme Stiefel und einen dicken braunen Wollmantel mit dazu passenden Handschuhen und einer ebenso braunen Strickmütze, unter der schlohweißes Haar hervorquoll. Charlotte hatte die Frau noch nie gesehen. Nachdenklich fuhr sie nach Hause und verstaute ihren Einkauf.
Am Nachmittag hatte Charlotte einen Friseurtermin. Es war schon nach siebzehn Uhr als sie sich mit einem zufriedenen Lächeln von der Friseurin verabschiedete und ihr ein Trinkgeld in die Hand drückte.
Endlich hatte ihr Haar wieder den brünetten glänzenden Ton, den sie gewohnt war. In Gran Canaria war sie zwar beim Friseur gewesen, hatte aber dort auf das Färben verzichtet, weil sie sich nicht sicher war, ob man den Farbton so perfekt hinkriegen würde, wie sie es von ihrer Friseurin daheim gewohnt war.
Als sie den Salon verließ, prasselte ein heftiger Regenschauer hernieder, und sie flüchtete ins rettende Auto, um sich ihre neue Frisur nicht zu verderben. Eigentlich hatte sich Charlotte vorgenommen, einen Abstecher zum Sprokenbach zu machen, um zu sehen, wo genau die Biogasanlage gebaut wurde, aber weil es wie aus Eimern schüttete, änderte sie ihre Meinung und machte sich gleich auf den Heimweg. Sie fuhr bedingt durch den heftigen Regen fast im Schritttempo durch die Stadt zur Münsterlandstraße, denn die Wischer konnten kaum die Frontscheibe freihalten, und die Sicht war äußerst schlecht. Als sie auf der Münsterlandstraße kurz vor der Einfahrt in die Wiesenstraße war, stoppte der Regen, und Sekunden später blinzelte die Märzsonne durch die Wolken. Kurz entschlossen wendete Charlotte und fuhr zurück, um nun doch ihre Idee in die Tat umzusetzen.
An der schmalen Straße, die zu den Höfen Schultherm und Gerstland führte, stand ein Wegekreuz in einer kleinen Kapelle, die der alte Schultherm vor vielen Jahren gebaut hatte. Charlotte blinkte und wollte in den Weg einfahren, als sie in der Kapelle eine Gestalt wahrnahm. Ob da jemand vor dem Regen Schutz gesucht hatte? Oder war das einer der Rowdys, die schon mehrfach Kreuze und Kapellen in der Umgebung beschädigt hatten?
Charlotte stoppte, setzte zurück, parkte das Auto direkt neben der Kapelle, wo eine Bank zum Sitzen einlud, und stieg aus. Neben der Bank, fast verdeckt von einem immergrünen Strauch, stand ein Damenfahrrad.
Der Innenraum, der nach vorne offenen Kapelle, wurde nur durch ein etwa einen Meter hohes geschmiedetes Gitter begrenzt, über das man allerdings relativ mühelos hinwegsteigen konnte. Die eingearbeitete Tür war in der Regel verschlossen. Jetzt war sie halb geöffnet, und eine Frau in einem braunen Mantel stand darin und sprach leise murmelnd ein Gebet. Auf dem Altar vor dem geschnitzten Holzkreuz brannten vier Kerzen.
Obwohl die Frau ihr den Rücken zudrehte, erkannte Charlotte an ihrer Kleidung gleich die alte Frau, die sie am Mittag beim Hofladen getroffen hatte.
Charlotte blieb hinter dem Gitter stehen und räusperte sich, denn die Frau war so in ihr Gebet vertieft, dass sie ihre Anwesenheit bisher nicht bemerkt hatte.
Das Murmeln erstarb augenblicklich, und die Alte drehte sich nach Charlotte um. »Was machen Sie hier?«, fragte sie mit leicht krächzender Stimme.
»Ich wollte nur sehen, ob alles in Ordnung ist«, erklärte Charlotte.
»Was soll denn hier nicht in Ordnung sein?«, fuhr die Frau verärgert auf. »Ich habe sauber gemacht und die Kerzen angezündet, wie immer, wenn ich hier bin!«
»Ach, wohnen Sie hier in der Nähe?«
»Ich habe doch schon gesagt, dass ich hier die Kerzen angezündet habe«, sagte die Frau, ohne auf Charlottes Frage einzugehen. »Lassen Sie mich allein. Ich muss beten. Es gibt bald ein großes Unglück! Ein Feuer wird alles vernichten!«
»Ein Feuer?« Charlotte erschien die alte Frau ziemlich verwirrt.
»Ja, es wird brennen! Lichterloh! Dann wird jemand sterben! Und ein Kind wird weinen!«, verkündete sie jetzt mit lauter, schriller Stimme. »Beten Sie! Nur beten kann jetzt noch helfen! Das liegt alles an diesem Teufelszeug, mit dem sich die heutige Jugend herumschlägt!«
»Meinen Sie das Internet?«
»In-ter-net?« Sie starrte Charlotte an und sprach das Wort ganz lang gezogen aus. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden! Ich meine dieses Ding da oben, das sich immer dreht!« Sie zeigte mit ihrer Hand gen Westen, wo am Himmel immer wieder die Flügel der beiden Windräder auftauchten, die knapp einen Kilometer entfernt auf einer Anhöhe standen. »Sehen Sie doch! Dieses Teufelszeug meine ich! Und nun wollen sie auch noch Gas produzieren. Ein Unglück ist das, ein großes Unglück! Aber auf mich hört ja niemand!«
Charlotte zog sich fröstelnd zusammen. »Sie sollten heimfahren. Es ist kalt, und der Regen hat aufgehört. Haben Sie es weit? Ich könnte Sie fahren.«
»Nein, danke. Ich fahre allein!«, erklärte die Frau mit Bestimmtheit.
»Starrsinnig ist sie auch noch«, dachte Charlotte und ging langsam zum Auto zurück. Während sie hinterm Steuer Platz nahm, verließ die Frau die Kapelle, verschloss die Gittertür und holte ihr Fahrrad.
Erst als die alte Dame aufgestiegen und in der Straße eingebogen war, die zum Hof Schultherm führte, startete Charlotte ihren Wagen. Langsam folgte sie der Frau, die erstaunlich schnell war. Plötzlich bog sie hinter einem Wäldchen in einen Feldweg ein und war nicht mehr zu sehen. Charlotte wendete und fuhr nach Hause. Sie musste unbedingt mit Isabella sprechen, vielleicht wusste die Schwester, wer die alte Frau war. Erst als sie schon in ihre Garage fuhr, fiel ihr wieder ein, dass sie eigentlich den Standort der Biogasanlage herausfinden wollte. Nun, das musste bis zum nächsten Tag warten, denn am Abend war sie mit Ottokar zum Essen verabredet.
Ottokar hatte gekocht. Er war Tischlermeister und liebte das Bearbeiten von Holz, aber Kochen war sein absolutes Hobby. An diesem Abend verwöhnte er Charlotte mit Lachsschnitten in Sahnesoße auf Bandnudeln, dazu gab es Tomatensalat.
Beim Essen unterhielten sie sich angeregt über den Urlaub in Gran Canaria und die Touren, die Charlotte mit Isabella gemacht hatte.
Plötzlich fiel Charlotte die alte Frau wieder ein, und sie berichtete von ihrer Begegnung beim Hofladen und am Wegkreuz und erklärte zum Abschluss: »Ich habe die Frau noch nie gesehen. Sie muss mindestens achtzig sein und fährt Fahrrad wie ein junges Mädchen!«
Ottokar lachte. »Das ist Trine Schultherm. Die Schwester vom alten Schultherm, Sie ist schon über neunzig, genau weiß ich es nicht, aber so ein- oder zweiundneunzig mindestens.«
»Woher weißt du das?«
»Vor einigen Jahren war ich mit unserem Gesellen dort auf dem Hof und habe Wandschränke eingebaut. Da war die alte Dame gerade zu Besuch und hat es mir gesagt. Sie ist die Schwester von Bernhard Schultherm.«
»Ach ja, der alte Schultherm hat ja auch eine Bärengesundheit und ist schon fünfundachtzig«, sagte Charlotte. »Komisch, dass ich seine Schwester nie gesehen habe.«
»Sie wohnt in Münster.«
»Deshalb hat sie gesagt, dass sie immer, wenn sie hier ist, die Kapelle pflegt!«
»Und sie macht alles mit dem Fahrrad!« Ottokar grinste. »Sie kann sich mit Isabella zusammentun, die ist ja auch ganz vernarrt ins Fahrradfahren!«
»Aber von Münster kommt sie doch sicher mit dem Bus, oder?«
»Keine Ahnung, vielleicht wird sie auch von einem Familienmitglied abgeholt.«
Gemeinsam räumten sie nach dem Essen das Geschirr in die Spülmaschine. »Das Essen war spitze. Ich revanchier mich demnächst.« Charlotte lächelte. »Viel zu gut! Jetzt bin ich richtig voll!«
»Was hältst du von einem kleinen Verdauungsspaziergang? Der Mond scheint so wunderbar!«
»Oh ja, ich liebe Spaziergänge im Dunkeln!«
Kurz darauf wanderten sie bei hellem Mondschein und sternenklarem Himmel dick vermummt Arm in Arm durch die stille Siedlung.
Charlotte erwachte gegen neun Uhr am nächsten Morgen, ging hinunter in die Küche und setzte Kaffee auf. Als sie die Zeitung aus dem Briefkasten holte, sah sie eine Tüte mit Brötchen vor der Tür liegen und lächelte.
Isabella war eine echte Frühaufsteherin und fuhr oft schon um halb sieben zum Bäcker. Charlotte nahm sich vor, gleich nach dem Frühstück zu ihr hinüberzugehen. Doch als sie eine halbe Stunde später dort klingelte, meldete Isabella sich nicht. Charlotte ging wieder hinein und durchforschte den Kalender ihres Smartphones.
Sie und ihre Schwester betätigten sich ehrenamtlich als Stadtführerinnen in Oberherzholz und trugen ihre Termine immer im Kalender ein, damit jede wusste, mit welcher Gruppe die andere unterwegs war. Aber so kurz nach dem Urlaub und noch dazu Anfang März war, wie Charlotte vermutet hatte, nichts eingetragen. Dann war Isabella sicher mit ihren Nordic-Walking-Freundinnen unterwegs, dachte Charlotte und fuhr erst einmal ins Hallenbad, denn von allen Urlaubsunternehmungen vermisste sie am meisten das Eintauchen ins Wasser. Was für Isabella das Radfahren war, war für Charlotte das Schwimmen. Regelmäßig fuhr sie jede Woche mindestens einmal, manchmal gar zweimal ins Bad, und im Sommer besuchte sie oft den Baggersee, der hinter dem Gehöft Schultherm lag, weil das Schwimmen im See für sie pure Freiheit bedeutete.
Nachdem sie eine gute Stunde lang ihre Runden gezogen hatte, setzte sie endlich in die Tat um, was sie sich schon am Tag zuvor vorgenommen hatte, und suchte den Weg zur Baustelle der Biogasanlage. Langsam fuhr sie von der Münsterlandstraße ab und folgte dem Wirtschaftsweg zum Gehöft Schultherm, fuhr an der Hofanlage vorbei zum Baggersee und folgte der Straße weiter bis zu einem Wäldchen. Sie glaubte schon, sich verfahren zu haben, als sie den Schotterweg endlich fand, der quer durch das Wäldchen führte. Etliche Bäume waren extra dafür abgeholzt worden. Langsam und vorsichtig lenkte Charlotte das Auto über die Schottersteine und befand sich plötzlich auf einer großen freien Fläche, auf der rechts drei Bauwagen nebeneinanderstanden. In der Mitte ragte ein riesiger Kran auf, und ein Schaufelbagger war dabei, Gräben auszuheben. Ein Lkw stand seitlich neben dem Bagger und lud mit großem Gepolter Steine ab, wahrscheinlich um den Platz rundum für weitere Fahrzeuge zu befestigen. Im selben Moment sah Charlotte im Rückspiegel hinter sich einen weiteren Lkw kommen, wich etwas zur Seite auf die Grasnarbe aus und ließ den Lastwagen passieren. Dann wendete sie und fuhr langsam nach Hause zurück.
Es war Mittag, als sie dort eintraf. Nach einem kurzen Imbiss legte sie sich für ein kleines Schläfchen auf die Couch. Dann ging sie erneut zu Isabella hinüber, und diesmal hatte sie Glück.
Im Jogginganzug mit einem riesigen Turban um den Kopf erschien die Schwester an der Tür. »Komm schnell rein, mir wird sonst kalt«, sagte sie. »Ich habe gerade geduscht.«
»Wo warst du denn den ganzen Morgen?«
»Mit Eberhard zum Nordic Walking!«
»Fünf Stunden?«
Isabella lachte. »So verrückt bin ich nun auch nicht!«, sagte sie. »Drei Stunden sind wir gelaufen, und danach haben wir gemeinsam gekocht und uns über Gran Canaria unterhalten. Eberhard fliegt im Mai mit seiner Tochter hin.«
»Ach, ist sie nicht verheiratet?«
»Doch. Aber ihr Mann kann aus beruflichen Gründen nicht mit. Da fährt sie halt mit ihrem Vater«, sagte Isabella und schlug vor: »Das wäre doch für dich auch schön, wenn du mit Thomas und Marita gemeinsam in Urlaub fliegen würdest.«
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, sagte Charlotte nachdenklich. Ihr Sohn und die Schwiegertochter wohnten und arbeiteten in München. Sie waren häufig zu Besuch, und auch Charlotte fuhr regelmäßig für ein paar Tage zu ihnen. Obwohl sie zu beiden ein sehr gutes Verhältnis hatte, war ein gemeinsamer Urlaub ihr nie in den Sinn gekommen, und sie war sich sicher, dass es ihrem Sohn nicht gefallen würde.
»Frag die Kinder doch einfach mal«, sagte Isabella, die sehr an ihrem Neffen hing und auch seine Frau Marita ins Herz geschlossen hatte, weil ihr eigene Kinder versagt geblieben waren. »Warum bist du eigentlich gekommen. Gibt es was Neues?«
»Ich wollte dich fragen, ob du die Trine Schultherm kennst? Ottokar hat mir gesagt, dass sie über neunzig ist.«
»Ist das die Alte mit dem braunen Mantel, die noch so flott Fahrrad fährt?« Isabella war mittlerweile in die Küche vorausgegangen und fuhr fort: »Du trinkst doch auch einen Kaffee, oder?«
»Ja, gerne.« Charlotte runzelte die Stirn. »Woher kennst du die Trine?«
»Ich kenne sie nicht, aber heute Morgen bin ich mit Eberhard rund um das Gestüt gewandert. Da saß sie plötzlich mitten im Wald auf einem Baumstamm und hielt Selbstgespräche. Eberhard hat mir gesagt, dass es Trine Schultherm ist.«
»Ich habe sie an der Kapelle gesehen, da hat sie gebetet. Zumindest hörte es sich so an.« Charlotte setzte sich auf die Eckbank und sah Isabella zu, die nun Tassen und Teller aus dem Schrank holte und den Tisch deckte. »Sie hat etwas von einem Feuer erzählt und davon, dass irgendjemand sterben würde! Ich glaube, sie ist ein bisschen verwirrt.«
»Vielleicht hat sie das zweite Gesicht und kann hellsehen!«, warf Isabella ein und setzte einen Apfelkuchen auf den Tisch.
»Hast du etwa schon gebacken?«, wunderte sich Charlotte, die letzten Worte von Isabella ignorierend.
»Klar, heute Morgen, als du noch selig im Schlummer lagst!«
»Wer schläft, sündigt nicht!« Charlotte lachte. »Übrigens danke für die Brötchen, dafür mach ich uns morgen das Mittagessen.«
»Das ist ein Wort«, sagte Isabella und verteilte den letzten Kaffee. »Was hat die Trine denn sonst noch gesagt?«
»Sie war der Meinung, dass die Windräder und auch die Biogasanlage Teufelswerk wären und Unglück brächten und dass ein Kind weinen würde!«
»Als wir sie gesehen haben, hat sie immer wieder die Hände zum Himmel gereckt und irgendetwas gemurmelt, was wir nicht verstanden haben, weil wir noch zu weit weg waren«, erklärte Isabella nun. »Sie hat uns wohl anfangs gar nicht kommen sehen, denn plötzlich starrte sie uns an und war ganz still! Auch als wir an ihr vorbeigingen, hat sie keinen Piep von sich gegeben.«
»Ein merkwürdige alte Frau!«
Isabella lachte. »Wahrscheinlich behaupten die Leute das von uns auch. Schließlich sind wir beide über sechzig!«
»Schon, aber bis ich neunzig werde, dauert es noch etwas!«, erklärte Charlotte lakonisch.
»Dreiundsechzig ist auch alt!«, antwortete Isabella bestimmt.
»Ich weiß!« Charlotte grinste. »Im Gegensatz zu mir fängt bei dir das Leben ja grad erst an. Auch wenn du nur Fahrrad fährst und keinen heißen Ofen!«
»Wie bitte?« Isabella sah ihre Schwester verständnislos an.
»Kennst du das Lied von Udo Jürgens nicht?« Charlotte begann zu singen: »Mit sechsundsechzig Jahren, da hat man Spaß daran …«
»Hör auf, sofort!«, fauchte Isabella. »Es ist ja grausig, wie du singst! Außerdem habe ich weder Ambitionen, ein Motorrad zu fahren, noch, wie eine Verrückte mit röhrendem Motor durch die Gegend zu düsen, um die Leute zu erschrecken!«
Charlotte lachte, hielt aber nun wohlweislich den Mund, denn wenn es um ihr Alter ging, war mit Isabella nicht zu spaßen, obwohl sie mit ihrer schlanken, sportlichen Figur wesentlich jünger wirkte, als sie war.
Schnell stand Charlotte auf, setzte ihr Geschirr auf die Spüle und sagte: »Ich muss weg. Danke für den Kuchen! Morgen Mittag bei mir!« Mit einem kurzen Winken, ohne Isabella noch zu Wort kommen zu lassen, verließ sie die Küche.
»Was hast du es plötzlich so eilig?«, fragte Isabella und folgte ihr.
»Ich muss noch was erledigen, und du solltest jetzt endlich deine Haare trocknen, sonst erkältest du dich noch!«
Isabella fasste nach ihrem Turban und nickte. »Bis morgen!«
Isabella räumte das Geschirr in die Spülmaschine und ging ins Bad, um ihr Haar zu föhnen. Danach setzte sie sich ins Wohnzimmer und begann zu lesen. Sie hatte sich vor dem Urlaub einen Roman gekauft und vergessen, das Buch in den Koffer zu tun. Doch irgendwie konnte sie sich nicht richtig auf den Inhalt konzentrieren. Sie las nur zwei Kapitel, stand auf, reckte und streckte sich und zog sich für eine Radtour um.
Sie fuhr langsam durch die schmalen Bauernstraßen rund um Oberherzholz. Es war ein kalter Tag von Temperaturen unter zehn Grad, doch Isabella hatte sich warm eingepackt, trug zudem eine warme Mütze und dicke Handschuhe. Irgendwann landete sie auf der Münsterlandstraße und wollte nach Hause fahren, als sie Trine Schultherm an einem Bushäuschen sitzen sah. Isabella hielt an und stellte ihr Rad neben dem der Neunzigjährigen ab.
»Guten Tag«, grüßte sie freundlich. »Warten Sie auf den Bus?«
»Ich ruhe nur ein wenig aus. Setzen Sie sich doch!«, sagte Frau Schultherm und wies auf den Platz neben sich. »Haben Sie sich auch die Baustelle angesehen?«
»Nein, ich bin nur durch die Gegend geradelt«, gab Isabella zur Antwort und wunderte sich, dass die Greisin, die am Morgen, so einen verwirrten Eindruck gemacht hatte, nun absolut klar und verständig wirkte.
»Sie müssen mal hinfahren«, sagte die Frau. »Den schönen Wald haben sie zerschnitten und all die Bäume abgesägt. Eine Schande ist das! Es blutet mir das Herz, wenn ich das sehe.«
»Irgendwie müssen die Lastwagen die Baustelle doch erreichen«, warf Isabella ein.
»Ach, der ganze Bau ist ein Desaster! Teufelswerk! Irgendwann kommt jemand und macht dort ein Feuer, und dann gibt es ein großes Unglück.« Sie hob theatralisch die Hände und wies zum Himmel. »Der Herrgott wird sie strafen, und die Unschuldigen werden leiden!«
»Sie müssen nicht so schwarz sehen«, beschwichtigte Isabella die Frau, die sich mittlerweile richtig in Rage geredet hatte. »Die erneuerbaren Energien sind doch wirklich gut für die Umwelt! Dort wird der Biomüll verwertet, das ist doch auch eine gute Sache, und außerdem wird dabei Strom erzeugt.«
»Gute Sache?« Die Greisin spuckte erregt auf die Erde. »So ein Blödsinn! Früher gab es so etwas nicht, da kam der Grünabfall auf den Kompost! Und überhaupt, was ist gegen einen Kamin mit richtigem Holz einzuwenden? Da weiß man wenigstens, was man hat! Und den Strom haben früher die großen Kraftwerke geliefert.«
Trine Schultherm stand auf, zog die Mütze tief ins Gesicht, kramte gestrickte Wollhandschuhe aus der Manteltasche und ging zu ihrem Rad. »Wenn sie den ersten Toten finden, werden sie vielleicht vernünftig, aber ich glaube, die Menschen lernen es nie!«
»Einen Toten?« Isabella sah die Frau erstaunt an.
»Ja. Es wird brennen, und dann stirbt jemand! Sie werden es erleben«, sagte sie mit beschwörender Stimme. »Ich bin dann wahrscheinlich gar nicht mehr da!«
»Sie? Was meinen Sie damit!«
»Meine Stunde ist bald da. Es lohnt sich nicht, in einer Welt zu leben, die so verrückt ist wie diese.«
»So etwas sollten Sie nicht sagen. Sie sind noch so fit für Ihr Alter, da lohnt es sich immer, den Frühling zu genießen!«, widersprach Isabella. »Jetzt wird es doch jeden Tag schöner, und alles wird grün!«
Trine Schultherm nahm ihr Rad und antwortete bestimmt: »Ja, der Frühling war immer sehr schön!« Sie blickte zum Himmel und wirkte, als wäre der Frühling für sie in diesem Jahr unerreichbar weit weg. Ohne Isabella noch einmal anzusehen, stieg sie auf ihr Rad und fuhr davon.
Isabella sah ihr nach und wusste nicht, was sie davon halten sollte. Was hatte die Frau mit ihrem letzten Satz gemeint? Sie blieb noch einen Moment nachdenklich sitzen, dann entschloss sie sich kurzerhand, doch noch zur Baustelle zu fahren. Es war sechzehn Uhr dreißig, da würden die Bauarbeiter sicher Feierabend haben, und sie konnte sich ungestört alles ansehen.
Als Isabella endlich den schmalen Weg gefunden hatte, der zur Baustelle führte, musste sie entsetzt feststellen, dass er mit dicken Schottersteinen belegt und mit dem Fahrrad kaum befahrbar war. Also schob sie ihr Rad, um die Reifen zu schonen, was sich als ziemlich schwer erwies. Kurzerhand stellte sie das Rad unter einem stacheligen immergrünen Strauch ab und ging zu Fuß weiter.
Der Weg war uneben, und nur in der festgefahrenen Furt, die die Spuren der schweren Lkws hinterlassen hatten, kam sie halbwegs gut vorn. Weit konnte es allerdings nicht mehr sein, denn durch die kahlen Äste der Bäume erkannte sie die Umrisse eines Baukrans.
Lange konnte sie die Fahrspur nicht nutzen, denn in diesem Moment kam ihr ein Kleinbus entgegen, dessen Fahrer mit erstaunlicher Geschwindigkeit den holprigen Weg nahm, was Isabella umso mehr wunderte, als sie sah, dass der Bus vollbesetzt war. Sicher waren das die Arbeiter, die nun Feierabend hatten, denn das Logo an der Seitentür verkündete den Namen der Baufirma. Gleich nach dem Bus kam ein Lkw, beladen mit einem Schaufelbagger, und danach folgten zwei Landrover. Dann war plötzlich Stille im Wald. Wenige Minuten später stand Isabella auf dem freien Platz gegenüber von einem riesigen Kran, dessen Greifarm sie bereits zuvor über den Baumwipfeln gesehen hatte.
Langsam ging sie auf den Kran zu, neben dem eine aus Brettern gezimmerte Wand aufragte. Isabella vermutete, dass es die Verschalung für die erste Wand der Vorgrube war, in der der Biomüll gesammelt wird. Wahrscheinlich sollte sie am nächsten Tag mit Beton gefüllt werden.
Noch während Isabella interessiert das Gelände betrachtete, begann es plötzlich aus heiterem Himmel heftig zu regnen. Isabella lief zu den Bauwagen hinüber und stellte sich neben die Tür des letzten Wagens, trotzdem wurde sie nass, denn dieser hatte kaum Dachüberstand, und es goss mittlerweile in Strömen.
Die Tür des Bauwagens klapperte und wurde nur durch ein offenes Vorhängeschloss festgehalten, das locker durch zwei zusätzlich angebrachte Ringe gehängt war, einer an der Tür und einer am Wagen.
Isabella hakte es an der Tür aus und stieg in den Wagen, um endlich ins Trockene zu kommen. Die Tür ließ sie weit auf und sah einen Moment in den strömenden Regen hinaus, erst dann blickte sie sich um.
Der Wagen schien den Bauarbeitern als Pausen- und Umkleideraum zu dienen. In der Mitte stand ein langer, schmaler Tisch und beidseitig davon ebenso lange, schmale Bänke. An der Seite war ein Regal, auf dem sich unten mehrere schmutzverkrustete Stiefel reihten und oben ordentlich aufgereiht die Sicherheitshelme lagerten. An dem Haken daneben hingen orangefarbene Wetterjacken in unterschiedlichen Größen. Ganz in der Ecke stand ein Elektroofen, der bei der momentanen Kühle sicher notwendig, aber nicht in Betrieb war.
Isabella trat an das kleine Fenster, das zur anderen Seite des Platzes lag und warf einen Blick auf den dahinterliegenden Wald. Ein Schatten im Gebüsch wirkte auf sie, als hielte ein Mensch sich dort verborgen. Die Gestalt rührte sich nicht, und Isabella kam zu dem Schluss, dass sie sich getäuscht haben musste. Unmöglich, dass sich jemand bei dem strömenden Regen dort versteckte, wo die Bäume keinerlei Schutz boten. Außerdem war die Baustelle verwaist und alle Arbeiter bereits zu Hause.
Langsam ließ der Regen nach. Isabella setzte sich auf eine Bank und blickte zur Tür, als diese plötzlich und unerwartet zuflog.
Isabella sprang auf, rief laut und drückte dagegen. Zu spät. Sie hörte noch ein metallenes Geräusch und dann davoneilende Schritte, die fast ganz von den Schottersteinen und dem rauschenden Regen verschluckt wurden.
»He! Hallo! Aufmachen! Sofort aufmachen!«, schrie sie und schlug mit den Fäusten gegen die Tür. Jetzt ließ sich die Tür nur noch einen Fingerbreit auseinanderdrücken. Isabella fühlte mit dem Zeigefinger nach dem Schloss. Es war eingeschnappt! Sie saß in der Falle! Sie rüttelte und rief erneut. Dann kramte sie ihr Handy aus der Tasche, um Charlotte anzurufen. Nur die rote Meldung »Akku leer« erschien, und dann war das Gerät tot.
Isabella wartete einen Moment und versuchte es noch einmal. Charlottes Nummer wurde angezeigt, dann wieder »Akku leer« und nichts mehr.
»Verdammt!«, fluchte Isabella laut vor sich hin. Sie klopfte wieder an die Tür und schrie laut um Hilfe. Keine Antwort, nur das Geräusch eines abfahrenden Autos. Isabella seufzte. Was sollte sie denn nun machen? Hier die Nacht verbringen, bis am nächsten Morgen die Arbeiter zurückkämen? Niemals!
Sie setzte sich auf die Bank und überlegte. Sie wusste nicht genau, wie lange sie so gesessen hatte, vielleicht eine Viertelstunde oder mehr, da schrak sie plötzlich auf. Irgendetwas war los da draußen! Ein lauter Motor erklang, er hörte sich an wie der Motor eines Baggers oder eines Traktors, zumindest war sich Isabella sicher, dass es das Geräusch eines Dieselmotors war, der da draußen so laut tuckerte.
Der schmale Türspalt gab nichts preis. Sosehr Isabella auch drückte und sich mit ihrem Körper dagegenwarf, die Tür blieb bis auf den winzigen Spalt verschlossen. Wütend trat sie mit dem Fuß zu, dass die Tür in den Angeln erbebte, aber sie hielt stand.
Erneut rief Isabella laut um Hilfe, doch ihr Geschrei ging im Dröhnen der Motoren unter. Es war so laut draußen, dass Isabella befürchtete, dort würden die bereits verschalten Mauern abgerissen, die sie zuvor gesehen hatte. Quietschen und Scheppern von Metall, dann sekundenlang Stille und danach ein so gewaltiges Dröhnen und Bersten, als seien riesige Steine auf den Kran gefallen. Oder war der Kran etwa umgestürzt?
Der Lärm war so laut, dass sie glaubte, man müsste es kilometerweit hören. Zu dumm, dass sie nichts sehen konnte! Wieder klopfte sie an die Tür und schrie um Hilfe, sobald es stiller war und nur noch das Geräusch des Motors an ihr Ohr drang. Das Fahrzeug fuhr an den Bauwagen vorbei, und das Geräusch wurde leiser. Nun war sich Isabella sicher, dass da jemand mit dem Traktor wegfuhr, auch wenn sie es nicht gesehen hatte.
»Der fährt weg!«, rief sie überrascht und wütend aus und schlug wieder gegen die Tür. Sie schrie laut, bis sie heiser war und das Geräusch des Traktors verklang. Erschöpft ließ sie sich auf die Bank fallen. Nach einigen Sekunden holte sie erneut das Handy aus der Tasche. Vielleicht war doch noch ein Rest Energie darin, der zu einem Anruf taugte. Fehlanzeige!
Mutlos saß Isabella auf der Bank und überlegte, was sie machen sollte. Das kleine Fenster gab zwar noch etwas Licht, aber ein Blick auf ihre Armbanduhr zeigte ihr, dass es schon achtzehn Uhr war. Es dämmerte bereits. Sie stand auf und betätigte den Schalter an der Tür. Nichts! Wahrscheinlich stellte der Bauleiter nach Feierabend den Strom ab.
Seufzend trat sie erneut ans Fenster und blickte hinaus. Der Schatten im Gebüsch war verschwunden. Sie hatte sich also nicht geirrt! Ob das die Person war, die sie eingeschlossen hatte? Es war müßig darüber nachzudenken, viel mehr musste sie überlegen, wie sie hier herauskam!
Blitzartig kam ihr die Idee! Sie trat ans Fenster und maß es mit dem Arm aus. Ob sie da durchkommen würde? Natürlich kam sie da durch! Schließlich war sie schlank und sportlich! Allerdings lag das Fenster etwas hoch, und der Sims begann an ihrer Schulter. Kurzerhand rückte Isabella die Bank unter das Fenster, ging an das Regal, holte sich einen der Stiefel und schlug damit gegen die Scheibe. Es klirrte, aber das Glas hielt stand.
Sie trat auf der Bank ein Stück zur Seite, damit keine umherfliegenden Scherben sie verletzen konnten, und schlug noch einmal zu, diesmal wesentlich fester, und schon hatte die Scheibe einen Riss. Mutig versuchte Isabella es noch einmal, und mit einem Knall barst die Scheibe auseinander, dass die Stücke durch die Gegend flogen. Ein großes Loch war entstanden, und die feuchte, kühle Luft von draußen erschien Isabella wie ein Wink in die Freiheit. Hastig fegte sie die Scherben von der Bank und im Wagen mit dem Stiefel zusammen und schob sie unter den Tisch, um nicht versehentlich hineinzutreten.
Das Ganze hatte länger gedauert, als sie gedacht hatte, und mittlerweile war es fast ganz dunkel. Jetzt musste sie genau hinsehen, ob auch alle Scherbenreste weg waren. Sie stellte sich vor das Fenster und fühlte vorsichtig mit der Hand, wo noch Stücke des Glases festsaßen und klopfte sie dann mit dem Absatz des Stiefels nacheinander weg. Es dauerte eine Weile, bis sie fertig war.
Aufatmend holte sie eine der Wetterjacken und legte sie unten über den Fenstersims. Da das Fenster ziemlich hoch lag, musste sie mit den Beinen voran hinausklettern, was sich als äußerst schwierig darstellte. Mehrmals probierte sie es zuerst mit dem rechten Bein, dann mit dem linken, aber es klappte einfach nicht, weil das Fenster so schmal war, dass sie das andere Bein nicht nachziehen konnte. Also musste sie beide Beine gleichzeitig hindurchstecken und dann vorsichtig mit dem Oberkörper nachrutschen. Aber wie sollte sie das anstellen, wo das Fenster doch so hoch lag? Oder sollte sie einfach kopfüber hinausrutschen? Sie entschied sich dagegen. Womöglich landete sie mit dem Kopf auf den Schottersteinen oder auf irgendeinem Gegenstand, den sie nicht sehen konnte.
Wenn es doch nur nicht so dunkel wäre!
Isabella fluchte leise vor sich hin. Sie sah verzweifelt hinaus. Der Wald hinter dem Fenster wirkte nun noch dunkler und unheimlicher als zuvor, doch der Himmel war wieder klar, und die ersten Sterne funkelten schon.
Sie tastete sich in den Wagen zurück, immer bedacht, ja nicht in die Scherben zu treten, und lehnte sich nachdenklich an den Tisch. In diesem Moment gab ihr Handy einen Ton von sich, und sie holte es hastig aus der Tasche. Es war schon wieder dunkel, aber es hatte jemand angerufen. Sie drückte die Annahmetaste, ein kurzes Aufleuchten, und wieder erschien die Meldung »Akku leer«.
Verzweifelt steckte sie es wieder ein und setzte sich auf die Bank. Ein eisiger Wind drang durch das Fenster zu ihr herein, und ihr war plötzlich trotz ihrer warmen Jacke kalt, was sie zuvor in ihrer Hektik gar nicht bemerkt hatte. Sie stand auf und arbeitete sich langsam mit den Händen an der Wand entlang zu den Wetterjacken der Arbeiter vor, nahm eine herunter und schlüpfte hinein. Ihre Augen hatten sich jetzt an die Dunkelheit gewöhnt, und sie konnte die Umrisse des Fensters gut gegen den etwas helleren Nachthimmel erkennen, und auch die Formen von Tisch und Bank waren, wenn auch nur schwach, ziemlich gut auszumachen.
Isabella nahm gleich mehrere Wetterjacken vom Haken und legte sie über den Tisch, auch das leuchtende Orange der Jacken war in der Dunkelheit deutlich auszumachen. Isabella setzte sich wieder hin und starrte zum Fenster. Wie sollte sie da nur herauskommen? Sie musste es kopfüber versuchen.
Doch gerade als sie sich wieder zum Fenster vorgearbeitet hatte, fiel ihr eine andere Lösung ein. Sie würde zwei Bänke übereinanderstapeln, dann könnte sie sich auf die obere setzen und die Beine gleichzeitig durch das Fenster stecken.
Allerdings gestaltete sich ihre Idee als äußerst schwierig in der Dunkelheit. Zum Glück war die Bank nicht so schwer, denn der Wagen war eng, und sie musste sie erst auf den Tisch legen und dann von der anderen Seite auf die Bank unter dem Fenster setzen. Mit einem Wisch schob sie die Wetterjacken wieder vom Tisch und wuchtete die Bank mit der Sitzfläche nach unten darauf. Es knirschte unter ihren Füßen, denn sie war in die Scherben getreten. Tief atmend von der Anstrengung und auch vor Schreck lehnte sie sich mit klopfendem Herzen an den Tisch.
»Puh, das ist wirklich keine Arbeit für alte Frauen«, murmelte sie seufzend und sich selbst ein wenig auf die Schippe nehmend.
Nach einigen Minuten des Ausruhens zog sie die Bank bis an den Rand des Tisches und ließ sie polternd auf die Erde fallen, dass der ganze Wagen bebte. Isabella war einen Schritt zurückgetreten und schrak zusammen, obwohl sie den Lärm selbst verursacht hatte. Nun musste sie nur noch die Bank auf die andere stellen, die schon unterm Fenster stand. Sie schwitzte von der Arbeit, und ihre Arme zitterten, deshalb zog sie die Wetterjacke wieder aus, und setzte sich erst einmal hin. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie, wenn beide Bänke übereinandergestapelt waren, unter der Decke des Wagens nicht mehr stehen konnte. Egal! Es musste einfach gehen! Sie wollte hier raus!
Das Knirschen unter ihren Füßen merkte sie fast gar nicht mehr, so aufgeregt war sie, beinahe am Ziel zu sein.
Sie setzte die Bank auf die andere, fasste an den Fenstersims, den sie mit einer Wetterjacke geschützt hatte, und zog sich hoch. Nun saß sie direkt mit dem Kopf unter dem Dach des Bauwagens mit den Beinen nach vorn. Sie hielt sich seitlich am Rahmen fest, schwang ihre Beine auf die Bank.
Isabella hielt inne und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, damit die Bank nicht umkippte, denn sie wackelte mächtig.
Das Fenster war immer noch etwa dreißig Zentimeter höher als ihr wackeliger Sitz, dennoch versuchte sie mit Schwung die Beine hindurchzustecken. Es klappte! Vorsichtig drehte sie ihren Körper herum, sodass sie mit der Brust nach unten kam und sich mit den Händen an der Bank abstützen konnte. Gerade als sie sich hochrecken wollte, stürzte die Bank mit Gepolter unter ihr weg, und sie versuchte verzweifelt sich am Fensterrahmen festzuhalten.
Allerdings hing sie zu tief herunter und hätte fast das Gleichgewicht verloren, denn nur ihre Oberschenkel lagen auf dem Fenstersims, und die Füße waren draußen. Im letzten Moment drehte sie sich etwas, griff mit der linken Hand nach oben an den Rahmen, schrie vor Schmerz auf, verlor gänzlich den Halt und stürzte ab. Sie prallte mit der linken Schulter heftig an die Bank, die genau unter ihr stand, landete hart auf dem Boden und blieb benommen liegen.
Irgendwann, sie wusste nicht, ob eine Stunde oder fünf Minuten vergangen waren, kam sie wieder zu Bewusstsein und versuchte sich vorsichtig aufzurichten. Ihre linke Hand schmerzte stark bis nach oben in die Schulter hinein, und sie spürte das warme Fließen ihres Blutes. Ganz langsam richtete sie sich etwas auf, bis sie saß, und tastete vorsichtig mit der rechten Hand die Innenfläche ihrer linken ab. Ein Glassplitter, den sie wohl am Fensterrahmen nicht sauber entfernt hatte, war deutlich zu spüren. Sie fasste danach, zog ihn mit einem Ruck heraus, und spürte gleichzeitig, dass das Blut stärker floss. Trotzdem brachte die Entfernung des Glasstückes eine gewisse Erleichterung, wenn auch der Schmerz blieb und die Schulter sich kaum bewegen ließ.
»Scheiße!«, sprach sie laut vor sich hin und hätte am liebsten geheult vor Schmerz und Enttäuschung, aber auch so trieb ihr der Schmerz die Tränen in die Augen. Sie fühlte mit der rechten Hand, die zum Glück unversehrt war, in ihre Jackentasche, holte das Handy und eine Packung Papiertaschentücher heraus und ließ sie in ihren Schoß plumpsen. Mit etwas Mühe gelang es ihr, die Papiertücher zu entnehmen und in die verletzte Hand zu pressen. Dann fummelte sie den Schal von ihrem Hals und wickelte ihn fest darum.
Erschöpft hielt sie inne. Der Schmerz war so enorm, dass er ihr die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Wahrscheinlich hatte sie sich überall mit Blut besudelt, aber in der Dunkelheit war es unmöglich, mehr als nur schwache Umrisse zu erkennen. Eine dunkle Wolke hatte sich vor den Mond geschoben, die Sterne von zuvor waren verschwunden, und urplötzlich prasselte heftiger Regen auf das Dach des Bauwagens. Isabella lehnte mit dem Rücken an der Bank, die sie unter das Fenster geschoben hatte, und saß auf der anderen Bank, die verkehrt herum mit der Sitzfläche auf den Boden gekracht war. Zum Glück, denn so war Isabella ziemlich sicher, dass sie nicht mit den Glasscherben in Berührung kam. Mit der rechten Hand tastete sie nach ihrem Handy und legte es auf den Tisch. Dann rutschte sie zur Seite und fühlte nach den Bankbeinen, um nicht darüber zu stolpern, hielt sich mit der rechten Hand am Tisch fest, zog sich hoch und tastete sich um den Tisch herum.
Die Wetterjacken lagen auf der anderen Seite des Raumes und waren wegen ihrer orange-roten Leuchtfarbe trotz der Dunkelheit zu erkennen. Vorsichtig bückte Isabella sich, hob sie auf und hängte sich eine über. Zwei andere legte sie auf den Boden und setzte sich darauf, das Regal mit den Stiefeln im Rücken.
Eine weitere Jacke legte sie über ihre Beine, denn es war empfindlich kühl, und sie hatte sich damit abgefunden, dass sie bis zum Morgen, wenn die Bauarbeiter zurückkamen, hier ausharren musste. Benommen legte sie sich nun zurück. Der Schmerz in der Hand hatte sich durch ihre Bewegungen noch verstärkt, aber die linke Schulter, die sie sich an der Bank geprellt hatte, ließ sich noch bewegen, und sie hoffte, dass nichts gebrochen war. Sie schloss die Augen und lauschte dem Regen, der unermüdlich auf das Dach des Bauwagens herunterprasselte.
Während Isabella ihre Radtour machte, stand Charlotte mit Blumenerde, Dünger, Primeln, Hornveilchen und verschiedenfarbigen Stiefmütterchen im vollbepackten Einkaufswagen an der Kasse des Gartencenters. Es war zwar erst Anfang März, aber nach der langen Abwesenheit dürstete Charlotte nach Farben in ihrem Garten. Als sie wieder zu Hause war, streifte sie ihre alte Latzhose über Jeans und Weste, stieg in die Gummistiefel und machte sich ans Werk.
Als Erstes bepflanzte sie mehrere Schalen und Töpfe, die sie den Winter über auf einem Regal in der Garage verwahrte. Sie wählte dazu Stiefmütterchen und Hornveilchen, weil sie ihr robust genug erschienen, auch leichte Frühjahrsfröste zu überstehen. Die Primeln und Osterglocken setzte sie direkt neben die Terrasse, damit der Garten zu Ostern wenigstens etwas Farbe hatte, denn die Ostertage fielen auf die letzte Märzwoche, und bis dahin würde es im Garten noch ziemlich trist aussehen.
Charlotte war so vertieft in die Arbeit, dass sie weder merkte, wie die Zeit verging, noch, was um sie herum geschah, selbst das leise Brummen der Lkws auf der Münsterlandstraße ging ungehört an ihr vorbei.
Es war siebzehn Uhr, als sie endlich fertig war und feststellte, dass sie noch mehrere Blumen verschiedener Sorten übrig hatte. Kurz entschlossen nahm sie die Platte mit den restlichen Pflänzchen und ging ums Haus herum zu Isabella hinüber und klingelte. Wieder einmal war die Schwester unterwegs.
Charlotte stellte die Blumen vor die Tür und kehrte in den Garten zurück. Sie platzierte die Töpfe auf der Terrasse, setzte einen in den Schubkarren, brachte ihn nach vorn und stellte ihn neben der Haustür auf. Gerade als sie den Besen holte, um die Terrasse zu fegen, kam ein heftiger Schauer nieder und befeuchtete die frisch gesetzten Pflanzen. Zufrieden stand Charlotte auf dem Besen gestützt auf ihrer überdachten Terrasse und betrachtete den strömenden Regen.
Etwa ein Stunde später, es dunkelte bereits, stand Charlotte frisch geduscht vor ihrem Kleiderschrank und suchte sich die passenden Sachen für einen Theaterabend zusammen. Ottokar hatte Karten für das Wolfgang-Borchert-Theater besorgt und wollte mit ihr um kurz vor sieben nach Münster fahren. Es wurde das Stück »Frau Meier muss weg« gespielt, und Charlotte, als ehemalige Grundschullehrerin, freute sich schon auf die Aufführung, in der es um eine umstrittene Lehrerin ging.
Als Ottokar sie abholte standen die Blumen immer noch vor Isabellas Haustür. »Komisch, Isabella ist immer noch nicht zurück!«, wunderte sich Charlotte, die zuvor extra durch Isabellas kleines Garagenfenster gelugt, und festgestellt hatte, dass Isabellas Auto drin war. »Normalerweise kommt sie immer bei Hellem nach Hause zurück, wenn sie das Fahrrad nimmt.«
»Ruf sie doch an«, riet Ottokar, der mit seinen dichten grauen Haaren in seinem Anzug wieder einmal blendend aussah.
»Hab ich schon. Sie geht nicht an ihr Handy. Ich hab auf die Mailbox gesprochen.«
»Mach dir keine Gedanken, ich vermute, sie ist bei Eberhard, und die beiden machen sich einen schönen Abend, genau wie wir!«
Charlotte lächelte. »Sicher hast du recht. Lass uns fahren.«
Es war kurz nach Mitternacht, als Charlotte und Ottokar von Münster zurückkamen. »Ein tolles Stück mit einem fantastischen Ensemble. Danke für den wunderbaren Abend«, sagte Charlotte beim Aussteigen und fügte hinzu: »Sieh mal, die Blumen stehen immer noch da. Isabella scheint wirklich nicht zu Hause zu sein. Langsam mache ich mir Sorgen.«
»Sie wird bei Eberhard übernachten.«
»Möglich, aber ich kann es mir ehrlich gesagt nicht vorstellen.« Charlotte zückte ihr Handy. »Ich ruf ihn an.«
»Charlotte, es ist nach Mitternacht«, mahnte Ottokar mit gerunzelter Stirn. »Isabella ist erwachsen«,
Doch Charlotte hatte schon Eberhards Nummer gewählt. Es dauerte eine Weile, bis sich Eberhard Looch total verschlafen meldete. »Was gibt’s denn?«
»Ist Isabella bei dir?«
»Isabella? Nein! Wie kommst du denn darauf?«
»War sie heute Nachmittag denn bei dir?«
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