Feuer in der Tooley Street - Anne Perry - E-Book

Feuer in der Tooley Street E-Book

Anne Perry

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Beschreibung

Die Suche nach dem perfekten Zeugen

1910: Ein Lagerhaus in den Londoner Hafendocks brennt. Ein Krimineller stirbt, der andere wird als sein Mörder verdächtigt. Die Freundin des Angeklagten, Jessie Beale, bittet Daniel Pitt um Hilfe und bringt ihn dazu, an die Unschuld ihres Freundes zu glauben. Der Fall scheint aussichtslos – es sei denn, Pitt schafft es, schnell einen Sachverständigen aufzutreiben, der vor der Jury glaubhaft bezeugen kann, dass es es sich bei der Ursache des Feuers nicht um Brandstiftung handelt. Pitts gute Freundin Miriam fford Croft weiß Rat: Sie wurde vom respekteinflößenden Forensiker Sir Barnabas Saltram ausgebildet, dessen Reputation genau auf solchen Zeugenaussagen beruht. Doch als Saltram sich bereit erklärt, den angeblichen Täter vor dem Galgen zu bewahren, setzt Daniel Pitt damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die fatale Folgen hat...

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Das Buch

1910: Ein Lagerhaus in den Londoner Hafendocks brennt. Ein Krimineller stirbt, der andere wird als sein Mörder verdächtigt. Die Freundin des Angeklagten, Jessie Beale, bittet Daniel Pitt um Hilfe und bringt ihn dazu, an die Unschuld ihres Freundes zu glauben. Der Fall scheint aussichtslos – es sei denn, Pitt schafft es, schnell einen Sachverständigen aufzutreiben, der vor der Jury glaubhaft bezeugen kann, dass es sich bei der Ursache des Feuers nicht um Brandstiftung handelt. Pitts gute Freundin Miriam fford Croft weiß Rat: Sie wurde vom Respekt einflößenden Forensiker Sir Barnabas Saltram ausgebildet, dessen Reputation genau auf solchen Zeugenaussagen beruht. Doch als Saltram sich bereit erklärt, den angeblichen Täter vor dem Galgen zu bewahren, setzt Daniel Pitt damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die fatale Folgen hat …

Die Autorin

Die Engländerin Anne Perry, 1938 in London geboren, verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Schon früh begann sie zu schreiben. Ihre historischen Kriminalromane, in denen sie das England des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts wiederauferstehen lässt, begeistern ein Millionenpublikum. Anne Perry lebt und schreibt in Schottland.

Feuer in der Tooley Street ist der dritte Roman um den jungen Anwalt Daniel Pitt. Sein erster Fall Todesurteil im Old Bailey erschien 2019, sein zweiter Fall Flucht an die Themse 2020 bei Heyne. In der Reihe um seinen Vater Thomas Pitt, Leiter des Staatsschutzes, sind zahlreiche Bücher im Heyne Verlag lieferbar.

ANNE PERRY

FEUERIN DERTOOLEYSTREET

Ein Daniel-Pitt-Roman

Aus dem Englischenvon K. Schatzhauser

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe One Fatal Flaw erschien 2019 bei Headline Publishing Group, London

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Vollständige deutsche Erstausgabe 04/2021

Copyright © 2019 by Anne Perry

Copyright © 2021 der deutschen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Uta Dahnke

Umschlaggestaltung:Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,unter Verwendung der Fotos von © Lyn Randle /Trevillion Images und © Heritage-Images /English Heritage / Historic England / akg-images

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-64-126751-3V002

www.heyne.de

KAPITEL 1

Sie saß Daniel am Tisch gegenüber. Tränen liefen ihr über die glatten Wangen. »Die verurteilen ihn zum Tode, nicht wahr?«, sagte sie mit belegter Stimme. »Sie sind Anwalt. Sie haben Mr. Blackwell vor dem sicheren Tod am Galgen bewahrt. Das sagen alle unten am Hafen.« Sie schniefte und schluckte. »Bestimmt können Sie den Leuten klarmachen, dass Rob es nicht getan hat. Bitte.«

Ein plötzlicher Schauer überlief Daniel. Dabei brannte an diesem späten Septembertag ein wärmendes Feuer im Kamin. Sie befanden sich in Daniels Büro in der Anwaltskanzlei fford Croft and Gibson. Da sie zu den angesehensten in London gehörte, verstand es sich von selbst, dass sie wie jede erstklassige Anwaltssozietät der Stadt ihre Räume in den altehrwürdigen Gebäuden von Lincoln’s Inn hatte, einer der vier Londoner Anwaltsinnungen. Im Grunde war Daniels Büro nicht viel größer als ein geräumiger Wandschrank, denn es war seine erste Anstellung nach dem Abschluss seines Studiums der Rechte in Cambridge.

Die junge Frau wartete.

»Was wird Mr. Adwell zur Last gelegt, Miss Beale?«, erkundigte sich Daniel. Bisher hatte sie ihm lediglich mitgeteilt, dass es sich um etwas Schwerwiegendes handelte und ein Lagerhaus im Frachthafen am südlichen Themseufer Londons dabei eine Rolle spielte.

»Er soll das Gebäude angesteckt haben«, gab sie leise und mit gesenktem Blick zur Antwort.

»Um was für ein Gebäude geht es da? Wirft man ihm vorsätzliche Brandstiftung vor?«

»Wäre es gut für ihn, wenn es nicht vorsätzlich war?« Sie hob den Blick und sah ihn mit einem Ausdruck aufkeimender Hoffnung an.

»Das weiß ich nicht.« Auf keinen Fall durfte er in ihr unberechtigte Erwartungen wecken. »Sie haben mir bisher nicht gesagt, um was für ein Gebäude es da genau geht, und auch nicht, welche Folgen das Feuer hatte.«

Wie sie da auf ihrem Stuhl kauerte, wirkte sie hilflos und sehr verängstigt.

»Miss Beale …«, sagte er betont liebenswürdig. »Ich kann nichts für Sie tun, solange ich nicht alles weiß. Wo genau war es? Um welche Zeit, tagsüber oder nachts? Und wie hoch ist der entstandene Schaden?«

Sie zog ihre schmalen Schultern noch weiter hoch. »Ein großer alter Warenspeicher an der Tooley Street, am Südufer der Themse, nahe der London Bridge. Gebrannt hat es in der Nacht. Vorgestern. Ich glaube, dass das ziemlich schlimm war, jedenfalls ist nicht viel übrig geblieben.«

Dann, vermutete Daniel, dürfte ein beträchtlicher finanzieller Schaden entstanden sein, je nachdem, welche Waren dort gelagert waren. »War Mr. Adwell dort als Nachtwächter beschäftigt?«

Sie schüttelte den Kopf, sodass die weichen Locken, die ihr Gesicht umgaben, in Bewegung gerieten. »Nein …«

»Und was hat er dann in der Nacht dort getan? Er war ja wohl an Ort und Stelle, nicht wahr? Sonst würde ihn die Polizei kaum verdächtigen.« Er überlegte, ob man den Mann bei einem fehlgeschlagenen Diebstahlsversuch erwischt hatte. »Ist Ihnen bekannt, ob sich sonst noch jemand dort aufgehalten hat?«

»Na klar, Paddy Jackson …«, sagte sie kaum hörbar.

»Wer ist das?«, fasste Daniel geduldig nach. »Und wieso ›na klar‹?«

»Wenn er nicht da gewesen wäre, hätte ihm das Feuer nichts getan.« Es klang leicht ungeduldig.

Mit einem Mal empfand Daniel die Atmosphäre als drückend, als gäbe es nicht genug Luft im Raum. Er atmete tief ein, doch das half nicht. »Und sind seine Verbrennungen … schwerwiegend?«

»O ja«, sagte sie und sah ihn dabei mit Tränen in den Augen an. »Er ist leider richtig verbrannt.«

Schlagartig ging Daniel die entsetzliche Wahrheit auf. Er erkannte, wovor sie Angst hatte, und auch der Grund dafür war ihm bewusst. »Heißt das, er ist im Feuer umgekommen?«

Sie holte tief Luft und nickte langsam, ohne den Blick von seinem Gesicht zu nehmen. Sie musste schlucken.

Daniel begriff, dass die Sache für ihn allein zu schwierig war. Um nichts falsch zu machen, musste er unbedingt Toby Kitteridge hinzuziehen. Der Kollege war einige Jahre älter als er und hatte deutlich mehr Erfahrung. Der von Jessie Beale angesprochene Fall Blackwell war Daniel nicht von der Kanzlei übertragen worden; er hatte ihn ganz im Gegenteil mehr oder weniger entgegen der ausdrücklichen anderslautenden Anweisung des Leiters der Anwaltssozietät, Marcus fford Croft, übernommen, weil er Roman Blackwell einen großen Gefallen schuldete – man konnte geradezu von einer Art Ehrenschuld sprechen. Und ohnehin hätte Blackwell, eine wegen Mordes angeklagte ziemlich zwielichtige Gestalt, einen anderen Anwalt gar nicht bezahlen können. Daniel hatte sich dessen ewige Freundschaft verdient, indem er gleichsam ein Kaninchen aus dem Hut zauberte, denn es war ihm gelungen zu beweisen, dass Blackwell die Tat unmöglich hätte begehen können. Zwar hatte fford Croft Daniel die Eigenmächtigkeit verziehen, vermutlich, weil er und Daniels Vater alte Freunde waren, doch ein zweites Mal würde er wohl kaum mit solcher Nachsicht rechnen dürfen.

Mit ängstlichem und zugleich hoffnungsvollem Blick wartete die Besucherin auf seine Antwort. Vermutlich gab es auch für sie keine andere Möglichkeit, Hilfe zu finden.

»Dieser Adwell steht also unter Mordanklage?«, sagte Daniel schließlich.

Jessie biss sich auf die Lippe und nickte.

»Was hatte er denn zu nächtlicher Stunde dort zu suchen? Und wer ist, oder war, Paddy Jackson?«

»Einer von den Jackson-Söhnen. Das ist er immer noch. Die Leute glauben bestimmt nicht, dass er bloß deshalb nicht mehr zur Familie gehört, weil er tot ist.«

Daniel begann zu verstehen. »Aha, Paddy ist also tot, und Rob Adwell gibt man die Schuld daran?«

»Ja.« Sie schluckte erneut.

»Und ist das Feuer zufällig entstanden, oder hat dieser Paddy es gelegt? Oder jemand anders?« Er bemühte sich, den Zweifel aus seiner Stimme herauszuhalten.

Sie überlegte einen Augenblick. »Das könnte ohne Weiteres ein Unfall gewesen sein, aber vielleicht hat Paddy auch Feuer gemacht und sich dabei so ungeschickt angestellt, dass er sich selbst den Weg nach draußen versperrt hat. Vielleicht hat es sich auch schneller ausgebreitet, als er dachte?«

»Sie haben wohl schon mehrere Feuer gesehen?« Daniel bemühte sich, die Frage beiläufig und nicht sarkastisch klingen zu lassen.

»Nein«, gab sie zurück. »Ich habe richtig Schiss vor Feuer, aber ich habe Leute darüber reden hören. Unten am Hafen hat es schon ein paarmal gebrannt. Manchmal ist das eben von selber so gekommen und manchmal nicht.«

»Und diesmal?«

»Ich weiß es nicht.« Sie breitete mit einer hilflosen Geste die Hände aus, sah ihm ins Gesicht und ließ sie dann schnell wieder sinken. »Also gut! Paddy hat das Feuer wohl absichtlich gemacht und sich dabei sozusagen ins Knie geschossen. Rob konnte sich aus dem Gebäude retten und er nicht. Aber da kann Rob doch nichts dafür, oder?«

»Vielleicht – vielleicht auch nicht. Wenn zwei Menschen ein Verbrechen begehen, denn genau das ist Brandstiftung, ob in einem Lagerhaus oder sonst wo, und einer der beiden dabei umkommt, besteht durchaus die Möglichkeit, dass man dem anderen die Schuld an dessen Tod gibt.« Daniel sah, wie sich Jessies Gesicht verdüsterte, als sie die Tragweite seiner Worte begriff.

»Na ja … dann ist es aber doch gut, dass die beiden nicht zusammen was verbrochen haben. Die hätten nie im Leben was zusammen gemacht. Rob und die Brüder Jackson konnten sich nicht riechen.«

Unwillkürlich fragte sich Daniel, ob sie sich das aus den Fingern gesogen hatte. Die ganze Angelegenheit erschien ihm äußerst undurchsichtig. Ganz offensichtlich war die junge Frau bereit, sich mit allem, was ihr zu Gebote stand, für den Mann einzusetzen, den sie wohl liebte.

»Ich werde Mr. Adwell aufsuchen«, teilte er ihr mit. »Anschließend werde ich mich bei der Polizei nach dem Stand der Ermittlungen erkundigen und danach, was man dort über das Feuer weiß, beispielsweise darüber, wie es dazu gekommen ist. Vor allem muss ich wissen, wessen man Mr. Adwell beschuldigt. Sie brauchen nichts mehr zu sagen …«

Der Anflug eines schüchternen Lächelns trat auf ihre Züge. Sie wirkte sympathisch, und obwohl sie nicht eigentlich hübsch war, lenkte ihr Gesicht mit dem etwas zu großen Mund und den hohen Wangenknochen, die an eine Katze denken ließen, die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich. »Ab sofort sage ich nichts mehr«, versprach sie. »Ich habe Geld, um Sie zu bezahlen … wenn auch nicht viel … vielleicht später.« Das Lächeln, das jetzt auf ihre Züge trat, erhellte ihr ganzes Gesicht, ließ es weniger hart wirken und brachte ihre Augen zum Leuchten.

Mit einem knappen »Alles zu seiner Zeit!« schnitt er ihr das Wort ab. »Lassen Sie mich erst einmal feststellen, ob ich überhaupt etwas tun kann.« Er stand auf, und sie erhob sich langsam, wobei sie mit ihrer in einem Handschuh steckenden kleinen Kinderhand ihr Täschchen umklammerte. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren fühlte er sich ihr gegenüber geradezu unendlich alt.

Ihre Anschrift hatte sie ihm bereits genannt, sodass er keine weiteren Fragen stellen musste.

Impney, der Bürovorsteher, wartete schon im Vorraum. Nach einem kurzen Blick auf Daniel geleitete er die Besucherin zum Ausgang.

Gleich darauf klopfte Daniel an die Bürotür seines Kollegen Kitteridge und trat ein, als er glaubte, dieser habe ihn dazu aufgefordert.

Mit einem leichten Stirnrunzeln hob Kitteridge den Blick von seinen Schriftsätzen. »Was gibt es? Für den Fall, dass Sie sich langweilen sollten: Da drüben liegt ein ganzer Stapel Briefe, auf die Sie schon mal Antworten entwerfen können.« Bei diesen Worten sah er zu einem Tisch in einer Ecke des Raumes hinüber, der deutlich größer war als Daniels. Allerdings war Kitteridge nicht nur volle neun Jahre älter als er, sondern galt auch unbestritten als der Erfolg versprechendste Anwalt der ganzen Kanzlei. Mit über einem Meter achtzig war er größer als Daniel. Bei seiner schlaksigen Art, sich zu bewegen, die ihm durchaus bewusst war, hätte man glauben können, dass nicht alle seine Gliedmaßen gleichzeitig Impulse vom Gehirn bekamen. Die Befangenheit, mit der er auftrat, ließ nicht vermuten, welch herausragende Fähigkeiten er in seinem Beruf besaß. Daniel fühlte sich mitunter verpflichtet, als eine Art Beschützer seines Kollegen aufzutreten, wenn auch nicht in diesem Augenblick.

»Nein, vielen Dank. Ich habe soeben einen Fall übernommen … glaube ich.«

»Soll das heißen, Sie wissen es nicht?« Kitteridge hob die Brauen. Auch wenn er nicht sonderlich gut aussah, besaß sein Gesicht doch eine erstaunliche Ausdrucksfähigkeit.

»Viel zu verdienen gibt es an dem Fall nicht, wenn überhaupt etwas. Außerdem lässt sich nicht ausschließen, dass der Mann schuldig ist …«

Kitteridge stöhnte gequält auf. »Pitt, Sie sind zu nichts zu gebrauchen! Trotzdem habe ich die Hoffnung nicht ganz aufgegeben, dass Sie eines Tages den Dreh noch rauskriegen. Wir …«

»Ich möchte mir die Sache näher ansehen«, fiel ihm Daniel ins Wort. »Sobald ich mehr weiß, würde ich gern Ihre Meinung dazu hören.«

»Worum geht es eigentlich? Einfacher Diebstahl? Kneipenschlägerei? So was schaffen Sie auch ohne mich. Warum lassen Sie denn den Kopf hängen? Jeder von uns verliert gelegentlich einen Prozess …«

Daniel unterbrach ihn erneut. »Das ist es nicht. Aber fford Croft würde nie zulassen, dass ich den Fall allein bearbeite. Es geht um Brandstiftung und Mord.«

»Was?« Mit weit aufgerissenen Augen fuhr Kitteridge von seinem Stuhl hoch.

»Ja. Brandstiftung und Mord«, wiederholte Daniel übertrieben geduldig.

»Und wieso zum Teufel sind die Leute mit dieser üblen Geschichte zu Ihnen gegangen? Hat es auf die eine oder andere Weise mit Ihrem Vater zu tun?«

Daniel war wie vor den Kopf geschlagen. »Wenn zwei Halunken am Themsehafen einen Warenspeicher ausrauben wollen und dabei irgendwie ein Feuer entsteht, in dem einer von ihnen umkommt, hat das mit seinem Aufgabenbereich nichts zu tun.« Sein Vater, Sir Thomas Pitt, stand an der Spitze des Staatsschutzes, einer zur Terrorismusbekämpfung ins Leben gerufenen Abteilung des Geheimdienstes, die sich in erster Linie mit Spionage, Landesverrat, Anarchie und anderen Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beschäftigte. Als Familienmensch war Daniel stolz auf seinen Vater, und er vergaß nie, dass er ihm seine Anstellung in der Kanzlei fford Croft and Gibson verdankte. Allerdings hatte er auch einen brillanten Studienabschluss an der Universität Cambridge gemacht, und so ärgerte ihn jede Anspielung darauf, dass er seine Position dem Einfluss seiner Familie zu verdanken habe. Der Vater seines Kollegen Kitteridge bekleidete als, wie man hörte, ziemlich strenger Leiter einer privaten Jungenschule gleichfalls eine herausgehobene Position, doch reichte sein Einfluss längst nicht so weit wie der Thomas Pitts.

An Daniels Gesichtsausdruck erkannte Kitteridge wohl, dass er mit seinem letzten Satz einen empfindlichen Nerv getroffen hatte. Diesen Fehler hatte er bereits zuvor begangen. Er würde sich dafür nicht entschuldigen, ihn wohl aber nicht so bald wieder machen. »Und wie haben Sie von der Sache erfahren?«, erkundigte er sich.

»Seine Freundin war vorhin hier. Ich werde mir das einmal näher ansehen. Außer dem, was Sie mir aufhalsen wollen, habe ich im Augenblick nichts zu tun.« Daniel wies zu dem Papierstapel auf dem Tisch hinüber. »Ich sag Ihnen dann Bescheid.«

»Aber bitte unbedingt, bevor Sie sich entscheiden, den Fall zu übernehmen. Versprechen Sie mir das?«

Daniel hob zum Abschied grüßend die Hand und verließ den Raum.

Er ging zu Fuß zur nächsten Hauptstraße, wo es ihm wenige Minuten später gelang, eine Kraftdroschke anzuhalten. Ihm gefielen die auffälligen schwarzen Autos sehr, die man 1907, drei Jahre zuvor, in ganz London eingeführt hatte. Dank ihrer Bauweise war der Fahrer vollständig von seinen Fahrgästen und dem Gepäck auf der Plattform links neben ihm getrennt. In Daniels Augen verkörperten diese Fahrzeuge ein neues Zeitalter voller Veränderungen. Gewiss, in der Stadt gab es nach wie vor zahlreiche Pferdedroschken, aber es war unübersehbar, dass sich alles änderte – nicht nur auf dem Gebiet des Straßenverkehrs, sondern auch in der Mode, den Künsten und der Medizin. Neue Ideen und neue Erfindungen aller Art kamen auf. Ganz besonders begeisterte sich Daniel für Fortschritte auf dem Gebiet der Rechtsmedizin, denn sie machten es möglich, Verbrechern auf die Spur zu kommen und ihre Taten vor Gericht zu beweisen. Feuerwaffen gab es seit Jahrhunderten und Messer noch viel länger; das Feuer war sogar älter als die Menschheit! Doch wissenschaftliche Erkenntnisse im Zusammenhang mit all dem waren neu, und ebenso neu war die Einsicht, warum jemand etwas tat, und wie man, ausgehend von einer Handlungsweise, Rückschlüsse darauf ziehen konnte, was jemanden dazu veranlasst hatte. Das Ganze versprach allerlei Möglichkeiten, auf die noch zehn Jahre zuvor niemand im Traum verfallen wäre.

Die Droschke brachte ihn ans südliche Themseufer.

Er war so tief in Gedanken versunken, dass er nicht einmal gemerkt hatte, über welche Brücke sie gefahren waren. Jetzt hielt der Fahrer vor einer Polizeiwache an. Nachdem Daniel ihn entlohnt hatte, wobei er nicht mit Trinkgeld sparte, erstieg er die flachen Stufen des Gebäudes. In der Wachstube nannte er dem Beamten seinen Namen und seinen Wunsch, mit dem für den Fall des Schadensfeuers im Lagerhaus an der Tooley Street Zuständigen zu sprechen.

»Sehr wohl, Sir. Gewiss, Sir. Ich denke, dass er in etwa einer halben Stunde zurück sein wird«, teilte ihm der Mann belustigt lächelnd mit, wobei seine Augen Daniel förmlich anstrahlten.

»Ich bin Mr. Adwells Anwalt«, informierte ihn Daniel. »Könnte ich vielleicht in der Zwischenzeit mit dem Inhaftierten sprechen?«

»Wahrscheinlich, Sir, aber dazu muss ich erst die Genehmigung von Inspector Quarles einholen.«

»Sie haben doch soeben gesagt, dass er nicht hier ist«, gab Daniel zurück. Ob er versuchen sollte, ein wenig Druck auszuüben, auf die Gefahr hin, sich den Mann zum Feind zu machen? Wenn er diese Hinhaltetaktik einfach hinnahm, würde man ihn für einen Schwächling halten. Kitteridge hätte gewusst, wie man sich in so einer Situation zu verhalten hatte. Jedenfalls nahm Daniel das an. Es ärgerte ihn, dass er so wenig von dem wusste, was zu seinem Beruf gehörte. Bisweilen kam es ihm vor, als sei er in jeder Hinsicht ein Anfänger.

Seiner Schätzung nach war der diensthabende Beamte etwa so alt wie Kitteridge, höchstens Mitte dreißig. »Vermutlich haben Sie schon das ein oder andere Feuer gesehen«, sagte Daniel, um eine Unterhaltung anzuknüpfen. »Ich muss zugeben, dass das bei mir nicht der Fall ist.«

»Irgendwann werden Sie auch Gelegenheit dazu haben, Sir«, gab der Mann zurück.

»War es schlimm?«, erkundigte sich Daniel, bemüht, Interesse zu zeigen. Die Polizeiwache lag ganz in der Nähe der Brandstelle. Bestimmt hatten die Männer darüber gesprochen.

»Das kann man wohl sagen.« Der Beamte verzog das Gesicht. »Wenn es irgendwo brennt, entsteht meist vor allem Rauchgas. Allein das kann einen Menschen schneller umbringen, als man glauben würde«, fuhr er fort. »Doch da hat es lichterloh gebrannt. Trockenes Holz brennt wie Zunder. Da war sicher auch eine Menge Whisky gelagert, und wie der brennt, können Sie sich ja wohl vorstellen.«

Daniel nickte bestätigend. »Ja, unbedingt. Und wie hat man es dann gelöscht? Es ist doch erstaunlich, dass das Feuer nicht auf die Nachbargebäude übergegriffen hat … Oder haben die auch etwas abbekommen?« Daniel gab sich keine Mühe, seine aufrichtige Bewunderung für die Männer der Feuerwehr zu unterdrücken. »Die Leute müssen ja unvorstellbar mutig sein, wenn sie da reingehen, um das Feuer zu löschen.« Seine Gedanken jagten sich. »Das hat man in der Nacht doch sicher wer weiß wie weit sehen können? Haben Sie etwas davon mitbekommen?«

»Ich war erst später an Ort und Stelle«, räumte der Beamte zögernd ein.

Daniel tat so, als sei er beeindruckt. »Haben Sie den Mann gleich dort festgenommen?«

Der Beamte sah selbstzufrieden drein und straffte die Schultern. »Ja, das habe ich. Sie hätten dabei sein sollen, es war richtig dramatisch.«

»Ich würde gern sagen, dass ich mir das denken kann«, gab Daniel zurück, »aber das stimmt nicht. Ich habe nie ein richtiges Großfeuer gesehen, bei dem ein ganzes Lagerhaus in Schutt und Asche sinkt. Da muss man ja von Glück sagen, dass der Mann lebend davongekommen ist!«

»Das wird ihm aber nichts nützen. Der andere hat es nämlich nicht geschafft, armer Kerl. Meiner Ansicht nach ist das Mord. Was meinen Sie?«

»Wahrscheinlich«, stimmte ihm Daniel zu. »Das wird sich zeigen. Wer hat den Alarm ausgelöst?«

»Was?«

»Wer hat die Feuerwehr gerufen?«

»Keine Ahnung. Warum wollen Sie das wissen?«

»Nur so ein Gedanke.«

»Glauben Sie etwa, dass es Adwell selbst war? Aber das würde keine Rolle spielen. Falls er das Feuer gelegt und sich, als es richtig brannte, davongemacht hat, wäre es auch dann Mord, wenn er die Feuerwehr gerufen hätte.«

Dagegen ließ sich nichts sagen. Daniel dankte dem Mann, setzte sich und wartete auf Quarles.

Dieser kehrte früher zurück, als der Diensthabende gesagt hatte. Als er hereinkam, teilte ihm der Mann auf seinen fragenden Blick hin mit, dass der Besucher auf ihn wartete. Quarles war die Art Mensch, die man auf der Straße nicht wiedererkennen würde, wozu vielleicht auch sein zwar gut geschnittener, aber ziemlich mitgenommener Regenmantel beitrug. Er begrüßte Daniel mit einem Lächeln, das sein Gesicht vollständig veränderte, und streckte ihm die Hand hin. »Quarles. Guten Tag. Was kann ich für Sie tun? Mein Kollege hat gesagt, dass Sie Anwalt sind. Ist das richtig?«

Daniel erhob sich und schüttelte dem Mann die Hand. »Ja. Daniel Pitt von der Kanzlei fford Croft and Gibson, Lincolns Inn Fields.«

»Von denen habe ich schon gehört. Was zum Kuckuck führt Sie in unsere verlassene Gegend?«

»Ich vertrete Robert Adwell, den man im Zusammenhang mit dem Großbrand an der Tooley Street festgenommen hat.«

»Adwell. Allen Ernstes?« Quarles hatte eine volltönende tiefe und angenehme Stimme. Er verbarg seine Neugier in keiner Weise.

Daniel wusste nicht recht, wie er sich dem Mann gegenüber verhalten sollte. Er hatte sich auf einen Kampf eingestellt und merkte jetzt, dass es nichts zu kämpfen gab. »Ich möchte mir lediglich einen Überblick verschaffen. Ich weiß nur äußerst wenig über den Fall und hatte mit Adwell noch keinen Kontakt. Sie haben ihn ja wohl mehr oder weniger unverzüglich festgenommen …« Daniel sprach die Frage nicht aus, die in diesen Worten lag.

»Die Sache sieht ziemlich eindeutig aus«, gab Quarles zur Antwort. »Kommen Sie doch mit nach oben. Ich brauche unbedingt eine heiße Tasse Tee. Draußen ist es nasskalt, ein richtig unangenehmes Wetter.« Noch während er sprach, erstieg er die Treppe zum Obergeschoss, wohin ihm Daniel bereitwillig folgte.

In Quarles’ unaufgeräumt wirkendem Büro nahm Daniel ihm gegenüber am Schreibtisch Platz, auf dem sich ein unübersichtliches Durcheinander von Bildern, Briefen und allerlei Notizen befand, die er allerdings nicht lesen konnte, da die Schrift für ihn auf dem Kopf stand.

Der Tee wurde in Emaillebechern gebracht. Er war heiß, sehr stark und für Daniels Geschmack zu sehr gesüßt.

Mit Wohlbehagen nahm Quarles den ersten Schluck. »Ich kann Ihnen nur zur Vorsicht raten, die Sache hat ihre Tücken. Sicher, man muss den armen Teufel verteidigen; Sie sollten aber nichts übereilen. Rob Adwell ist kein schlechter Kerl, aber er drückt sich vor der Arbeit, wo er kann, und sucht gern Streit. Außerdem ist er nachtragend. Das halte ich übrigens für sein größtes Problem.«

Daniel stellte den Becher ab, er war ihm zu heiß. »Er hatte Streit mit dem anderen, wie heißt er noch, Paddy Jackson?«

Quarles lächelte. »Mit den Brüdern Jackson. Ich bin allerdings nicht sicher, ob es sich um Brüder oder Vettern handelt. Auch Adwell hat Brüder, wenn es auch eher Brüder im Geiste als richtige Geschwister sind.«

»Und die haben miteinander gestritten?«, erkundigte sich Daniel. Die Sache sah undurchsichtiger aus, als Jessie Beale sie hingestellt hatte. War sie in all das eingeweiht? Oder war sie unschuldiger, als er angenommen hatte? Er versuchte zu überlegen, ob er jemals so sehr verliebt gewesen war, dass er Dinge nicht mitbekommen hatte, die anderen offen vor Augen lagen. Ja, vielleicht ein oder zwei Mal. Er verscheuchte die Erinnerungen, für immer, wie er hoffte. »Wissen Sie etwas über Adwells Freundin Jessie Beale?«, fragte er.

Quarles holte tief Luft, atmete dann bedächtig aus und sah Daniel mit einem warmen, freundlichen Lächeln an. »Ach, ist es das? War die bei Ihnen und hat Ihnen ihre Darstellung vorgetragen?« Er schien etwas hinzufügen zu wollen, schluckte es aber hinunter.

Daniel fragte sich, was das sein mochte. Er hatte das Gefühl, dass ihm da gerade etwas Wichtiges entgangen war, ohne dass er es erkannt hatte. Er wusste nicht recht, was er Quarles antworten sollte. Es ging ihm darum, als Gegenleistung für eine aufrichtige Antwort etwas von ihm zu erfahren, was ihn weiterbrachte.

»Ja. Ich habe ihr versprochen, Mr. Adwell aufzusuchen, nichts weiter. Liegt der Fall nicht so klar und einfach, wie es den Anschein hat? Zwei junge Männer planen einen Raubzug, stoßen dabei eine brennende Petroleumlampe um, oder ihnen fällt ein entzündetes Streichholz aus der Hand, wodurch ohne jede Absicht ein Feuer entsteht, das sich rasch ausbreitet. Einem von ihnen gelingt es, zu entkommen, dem anderen nicht.«

»Nein«, sagte Quarles mit trübseligem Lächeln. »Auf keinen Fall hätten die beiden etwas gemeinsam unternommen. Sie gehörten unterschiedlichen Cliquen an. Man könnte auch Banden sagen, das trifft es wohl besser. Die Mitglieder von Adwells Bande haben möglicherweise von Zeit zu Zeit gewechselt, während Jacksons Bande ausschließlich aus Familienangehörigen besteht, sodass ihre Zusammensetzung mehr oder weniger gleichbleibend war. Wir wissen weder, was die beiden in dem Lagerhaus wollten, noch kennen wir die Brandursache. Den Aussagen der Feuerwehrleute zufolge könnte das Feuer in einem der Erdgeschossräume entstanden sein, in dem sich außer leicht brennbaren Waren auch allerlei Gerümpel sowie Papier und Kerzen befanden.« Er zuckte leicht die Achseln. »Aber natürlich muss der Mann verteidigt werden, und ich wünsche Ihnen viel Glück dabei.«

Daniel fühlte sich mutlos. Ganz offensichtlich lag der Fall keineswegs so einfach, wie ihn Jessie Beale geschildert hatte. Aber wenn sie Adwell liebte, sah sie die Dinge vielleicht so, wie sie sie sehen wollte und das auch musste, um weiterhin an ihn glauben zu können. »Vielen Dank«, sagte er. »Ich …«

Er verstummte, weil ihm nichts Rechtes einfiel.

Er folgte Quarles nach unten zu der Haftzelle, in der ein junger Mann mit gesenktem Kopf auf einer Bank saß und auf seine ineinander verschränkten Hände blickte. Er hob ihn nicht einmal, als Quarles’ Schatten auf den Boden vor ihm fiel.

»Adwell«, sagte der Polizeibeamte in ruhigem Ton, »Miss Beale hat einen Rechtsanwalt beauftragt, Sie vor Gericht zu vertreten. Er ist hier und würde gern mit Ihnen sprechen.«

Der Angesprochene hob den Kopf ein wenig und sah erst Quarles und dann Daniel an, unsicher, was er von der Situation halten sollte. Er erhob sich schwerfällig, als seien seine Glieder steif. Mit finsterer Miene schüttelte er den Kopf und sagte zu Daniel gewandt: »Ich kann Sie nicht bezahlen. Sicher will Jessie mir … helfen, aber dabei kommt bestimmt nichts raus.«

Daniel merkte, dass Quarles gegangen war, damit er ungestört mit Adwell reden konnte. »Weil Sie nicht der Brandstifter sind?«, fragte er leise.

Er sah keinen Zorn in Adwells Zügen und hörte auch keinen in seiner Stimme. Was mochte der Grund dafür sein? Empfand er nichts oder war er benommen, verängstigt und traute Daniel verständlicherweise nicht? »Wissen Sie, auf welche Weise das Feuer entstanden ist?«, unternahm er einen neuen Versuch.

»Wir haben uns gestritten«, gab Adwell zur Antwort. »Dabei muss wohl einer von uns die Laterne umgestoßen haben.«

»Was wollten Sie denn da?«, fuhr Daniel fort. »Soweit ich gehört habe, haben Sie nicht auf bestem Fuß miteinander gestanden.«

»Das stimmt.« Adwell sah beiseite. »Wir wussten, dass es sich lohnen würde, da was rauszuholen. Weil wir gehört hatten, dass andere das auch vorhatten, wollten wir vor denen da sein.«

Daniel war sich nicht sicher, ob er das glauben sollte, doch war das im Augenblick unerheblich. Entscheidend war, dass die beiden dort widerrechtlich eingedrungen waren und dabei einen Großbrand verursacht hatten. Das war auf jeden Fall eine Straftat, und obendrein hatten sie auch noch eine weitere geplant. »Aber Sie sind mit heiler Haut davongekommen, und Paddy Jackson ist tot«, hielt er ihm vor. Er versuchte sich eine Meinung über den Mann zu bilden, doch bisher hatte er an ihm nichts als Angst und Verwirrung bemerkt, die jeden Augenblick in Verzweiflung umschlagen konnten. »Ich werde mir die Sache genauer ansehen«, versprach er. »Ich komme wieder, sobald ich mehr in Erfahrung gebracht habe. Machen Sie bis dahin keine weiteren Aussagen.«

»Ich hab kein Geld, jedenfalls reicht es auf keinen Fall für einen Anwalt.« Adwells Stimme wirkte gequält, und sein Gesicht spiegelte diese Empfindung.

Daniel hatte ein schlechtes Gewissen, weil er nicht wusste, auf welche Weise er Adwell würde helfen können. Der junge Mann hatte zugegeben, dass er mit dem im Feuer Umgekommenen eine Straftat geplant hatte. Ob es absichtlich gelegt worden oder zufällig entstanden war, spielte für die Beurteilung der Situation lediglich insofern eine Rolle, als Adwell dem Galgen nur dann entkommen konnte, wenn sich beweisen ließ, dass er kein Brandstifter war.

»Machen Sie sich einstweilen keine Sorgen«, sagte Daniel mit mehr Zuversicht, als er empfand. »Wir wollen sehen, was sich tun lässt.«

Er wandte sich ab, ging hinaus und die Treppe empor zur Wachstube, wo ihn Inspektor Quarles mit den Worten empfing: »Hoffentlich haben Sie sich da nicht übernommen, junger Mann.« Kopfschüttelnd fügte er hinzu: »Es dürfte das Beste sein, wenn Sie auch mit unserem Polizeiarzt Dr. Appleby sprechen. Vermutlich finden Sie ihn im Leichenschauhaus. Da hat er sein Dienstzimmer.«

»Ja, vielen Dank. Das werde ich tun«, gab Daniel zurück.

Als Daniel in Applebys Dienstzimmer eintrat, wollte dieser, ein freundlich wirkender Mann mit einem dichten Haarschopf, gerade Feierabend machen. Daniel fiel auf, dass sich seine rote Weste nicht schließen ließ, was keineswegs daran lag, dass ihr einige Knöpfe fehlten.

»Ach ja«, sagte Appleby, als Daniel den Grund seines Kommens erklärt hatte. »Eine üble Sache, mein Junge. Wirklich ziemlich übel. Armer Kerl, dieser Jackson. Das einzig Gute daran ist, dass er vielleicht nicht viel davon mitbekommen hat.«

»Wieso?«, fragte Daniel. Gab es da möglicherweise einen Hoffnungsschimmer? Er richtete den Blick auf das gemütlich wirkende Mondgesicht Applebys, der ihn mit seinen stahlblauen Augen unverwandt ansah. Daniel begriff, dass das noch nicht alles war, der Mann es ihm aber erst sagen würde, wenn er danach fragte. »Ist er rasch gestorben, vielleicht an Rauchgasvergiftung? Zu ersticken muss schrecklich sein …«

»Das kann man wohl sagen.« Ein Schauer schien Appleby bei diesen Worten zu überlaufen. »Aber er hatte so gut wie kein Rauchgas in der Lunge. Soll ich es Ihnen zeigen? Können Sie den Anblick ertragen?«

»Ich glaube es Ihnen auch so«, sagte Daniel rasch. »Ich weiß noch nicht, ob unsere Kanzlei den Fall übernimmt. Ich muss das erst mit meinen Vorgesetzten besprechen.«

»Kann ich mir denken.« Diesmal unterdrückte Appleby sein Lächeln nicht.

»Und was war dann die Todesursache?«, fragte Daniel.

»Jemand hat ihm mit ziemlicher Wucht den Schädel eingeschlagen. Das dürfte irgendein stumpfer Gegenstand gewesen sein wie beispielsweise ein kräftiger Knüppel.« Er fuhr sich mit der Hand an den Hinterkopf und wies auf eine Stelle etwa auf halber Höhe des Knochens.

»Und gibt es weitere Verletzungen?«, wollte Daniel wissen, bemüht, sich das Geschehen vorzustellen. »Hat es eine Schlägerei gegeben? Einen Hinterhalt? War es ein Unfall? Wo hat man ihn gefunden?«

»Im Erdgeschoss des Lagerhauses an der Tooley Street.«

Appleby kniff die Lippen zusammen. »Haben Sie sich da mal am Fuß der Treppe umgesehen? Sie waren doch sicher schon an Ort und Stelle?«

»Nein …« Daniels Gedanken überschlugen sich. Was hatte er nicht bedacht? Sicher gab es die Treppe nicht mehr, die Jackson möglicherweise heruntergefallen war. Allem Anschein nach war das Feuer im Erdgeschoss ausgebrochen und hatte sich nach oben gefressen. Appleby zuckte die Achseln. »Natürlich sind die polizeilichen Ermittlungen noch nicht abgeschlossen. Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn man dort noch etwas findet.«

Daniel dankte ihm und ging. Er konnte sich nur allzu gut vorstellen, dass außer ihm niemand bereit sein würde, den Fall Adwell zu übernehmen. Die einzige Möglichkeit der Verteidigung bestand darin, auf Unfall zu plädieren und den geplanten Raubzug zu verschweigen. Außer dem Angeklagten selbst gab es niemanden, der diesen Punkt ansprechen könnte.

Damit stellte sich Daniel die Frage, ob er die Verteidigung übernehmen sollte. Da die Anklage auf vorsätzlichen Mord lauten würde, worauf die Todesstrafe stand, könnte er Adwell nur mittelbar als Assistent Kitteridges vertreten, denn er selbst hatte für die Alleinvertretung solcher Fälle noch keine Zulassung. Würde sich Kitteridge darauf einlassen? Ganz davon abgesehen, war es unerlässlich, dass ihnen der Leiter der Kanzlei die Übernahme des Falles gestattete. War das angesichts der Mittellosigkeit des Mandanten wahrscheinlich? Auf jeden Fall würde er Kitteridge fragen müssen, bevor er damit zu fford Croft ging. Er nahm sich vor, das am nächsten Tag gleich als Erstes zu tun.

Den ganzen Abend lang dachte Daniel über den Fall nach.

Um das in Ruhe tun zu können, aß er in seiner kleinen Wohnung statt, wie sonst häufig, mit guten Freunden in einem der Gasthäuser der näheren Umgebung. Er unterhielt sich gern mit Menschen aus dem Geschäftsviertel der Stadt über dies und jenes und hörte sich am liebsten die Meinung von solchen an, die einen anderen Beruf ausübten als er selbst. Aber an diesem Abend brauchte er Zeit, um in Ruhe zu überlegen, wie er sich im Fall Adwell entscheiden sollte.

Seit August hatte er ausschließlich langweiligen Papierkram für Kitteridge erledigt und keinen eigenen Fall zu bearbeiten gehabt. Das einzig Gute daran war, dass er dabei vieles in der Praxis anzuwenden gelernt hatte, was ihm bis dahin nur theoretisch bekannt gewesen war. Einen Fall zu verstehen war für ihn gleichbedeutend damit, sich die Zusammenhänge einzuprägen.

Doch trotz des ausgezeichneten Auflaufs aus Hackfleisch und Kartoffelbrei, den ihm Mrs. Portiscale, seine Wirtin, aufgetischt hatte, lieferte ihm der einsam und schweigend in seiner Wohnung verbrachte Abend keine wirkliche Lösung.

In den Träumen der Nacht ragten die geschwärzten Ruinen des Lagerhauses dräuend vor ihm auf, und er erwachte davon, dass er sich von den Laken gefangen fühlte, die sich ihm um Arme und Beine gewickelt hatten.

In der Kanzlei traf er kurz nach halb neun ein. Wie so oft war Kitteridge vor ihm da.

»Nun?«, fragte der. »Was können Sie mir über Ihren Brandstifterfall sagen?« Im Unterschied zu vielen anderen hochgewachsenen Männern wirkte er in keiner Weise elegant, sondern eher linkisch, er schien überwiegend aus Knien und Ellbogen zu bestehen. Anmut war eine Gabe der Natur, die sie nicht jedem gönnte. Meist war Kitteridge ernst, was Daniel bedauerte, denn er besaß durchaus einen Sinn für das Absurde, der das Leben mitunter deutlich erleichterte. Wenn Kitteridge lächelte, war es, als scheine die Sonne, aber jetzt lächelte er nicht. »Nun? Stehen sie doch nicht so herum! Wie ist es gegangen?«

»Die Sache ist deutlich übler, als Miss Beale sie mir geschildert hat«, erläuterte Daniel, während er Kitteridge in dessen Büro folgte und sich ihm gegenübersetzte.

Kitteridge verdrehte die Augen. »Ist sie das nicht immer? Und worin besteht das Übel?«

»Adwell und Jackson wollten im Lagerhaus einen Raub ausführen. Adwell behauptet, sie seien in Streit geraten. Irgendwie hat dann einer der beiden eine brennende Petroleumlampe umgestoßen, woraufhin ein Feuer ausgebrochen ist. Dummerweise war das ganze Erdgeschoss mit leicht entzündlichen Dingen geradezu vollgestopft. Abgesehen von einigen Schrammen und blauen Flecken, hat sich Adwell unbeschadet retten können, während Jackson in der Flammenhölle verbrannt ist. Der Polizeiarzt vermutet, dass Adwell dem Mann einen heftigen Schlag versetzt und ihn dann seinem Schicksal überlassen hat. Es besteht Grund zu der Annahme, dass dieser Schlag tödlich war und Adwell sich in der Hoffnung davongemacht hat, das Feuer werde alle Spuren und damit alle Beweismittel vernichten.«

Kitteridge sah Daniel mit weit aufgerissenen Augen an. »Und womit wollen Sie ihn dann in drei Teufels Namen verteidigen?«

»Damit, dass er die ihm vorgeworfene Tat nicht begangen hat und das Ganze ein Unfall war. Übrigens hat er gesagt, dass er und Jackson die Absicht hatten, etwas Bestimmtes aus dem Lagerhaus zu entwenden, womit sie anderen zuvorkommen wollten, die das ebenfalls planten. Ich frage mich, ob nicht noch ein Dritter dort war. Der könnte die Tat begangen haben, die man Adwell vorwirft.«

Kitteridge verbarg sein Gesicht in den Händen. »Sie sind einfach unglaublich«, sagte er. »Ganz und gar …«

»Es könnte doch ohne Weiteres so gewesen sein! Immerhin ist es nicht ausgeschlossen, dass jemand auch Adwell an den Kragen wollte.«

Kitteridge sah ihn an. »In dem Fall wäre das dem oder denen gelungen, und zwar gründlich!«

»Noch ist nicht aller Tage Abend«, gab Daniel störrisch zurück. »Wir könnten den Fall gewinnen!«

»Wir?« Wieder verdrehte Kitteridge die Augen. Daniel wartete.

»Na gut, von mir aus«, sagte Kitteridge mit einem tiefen Seufzer. »Man soll Versprechen halten.«

»Vielen Dank.«

Kitteridge warf Daniel einen Blick zu, der Bände sprach.

KAPITEL 2

Miriam fford Croft, die Tochter des Inhabers und Leiters der Anwaltssozietät, befand sich allein in dem Labor, das ihr der Vater im Keller des von ihnen gemeinsam bewohnten Hauses mit äußerster Großzügigkeit hatte einrichten lassen. Dort fehlte es an nichts, es war mit den neuesten Errungenschaften auf dem Gebiet der Rechtsmedizin ausgerüstet. Von Zeit zu Zeit hatte sie ein schlechtes Gewissen wegen der beträchtlichen Summen, die der Vater für all das aufgewendet hatte. Für sein einziges Kind, das mit zehn Jahren die Mutter verloren hatte, hätte er alles getan, was sich mit dem Einsatz von Geld, Zeit oder Arbeitskraft erreichen ließ, doch die Erfüllung ihres Herzenswunsches, nämlich als Ärztin tätig sein zu können, stand nicht in seiner Macht. Dem standen Unwissenheit, Sorge um die eigene Zukunft oder Angst vor den Katastrophen im Wege, die sich die Männerwelt für den Fall ausmalte, dass man Frauen nicht nur das Studium eines für sie so unpassenden Fachs gestattete, sondern obendrein auch noch die praktische Anwendung der erlernten Fähigkeiten. Man war der festen Überzeugung, dass in einem solchen Fall nicht nur die Leistungen und Maßstäbe drastisch zurückgehen würden, sondern darüber hinaus das ganze Gleichgewicht der Gesellschaft ins Wanken geriete. Allein die Tatsache, dass es zu einem solchen Studium gehörte, Leichen zu sezieren, betrachtete man nicht nur als unpassend für das weibliche Geschlecht, sondern geradezu als widernatürlich. Kurz: Derlei war nichts für Frauen.

Da ihr Vater an diesem Stand der Dinge nichts ändern konnte, war Miriam genötigt, sich auf dem Gebiet der Medizin mit der Theorie zu begnügen und sich in der Praxis mit Chemie zu beschäftigen. Das galt als akzeptabel, weil man dabei nicht mit Menschen in Berührung kam und von dieser Beschäftigung keine Gefahr für die zarten Gefühle einer Frau ausging. Selbstverständlich konnten Frauen Kinder austragen und zur Welt bringen, als Hebamme tätig sein und alle damit zusammenhängenden Tätigkeiten ausüben. Sie konnten Kranke pflegen und sogar Leichen waschen sowie den bei diesen Verrichtungen anfallenden Schmutz und Unrat wegschaffen. Für all das reichten ihre Fähigkeiten und ihre Nervenstärke völlig aus, aber an der für andere Dinge nötigen geistigen Ausdauer fehlte es ihnen nun einmal.

Sie setzte den Schüttelkolben, in dem sie verschiedene Substanzen vermischt hatte, auf den Labortisch. War das Experiment wichtig? Würde sie damit irgendetwas ändern, verbessern oder verschlechtern? Würde überhaupt jemand hinsehen? Wahrscheinlich nicht.

»Verdammt!«, stieß sie hervor. Es war Zeit für eine Pause. Fluchen gehörte sich zwar für eine Dame nicht, aber es erleichterte sie, jedenfalls ein oder zwei Augenblicke lang. Sie hatte einen Wasserkessel im Labor, mit dem sie hätte Tee kochen können, doch es war besser, Chemikalien nicht mit Lebensmitteln oder Getränken zusammenzubringen. Von der Frage der Sicherheit ganz abgesehen, kam es einem auch nur dann wie eine richtige Pause vor, wenn man das Labor verließ.

Für gewöhnlich betrieb sie ihre Wissenschaft mit Begeisterung, aber in letzter Zeit war ihr aufgefallen, dass ihre Konzentration nachließ, und es fiel ihr immer schwerer, dagegen anzukämpfen.

Hatte sie wirklich kämpfen gedacht? Das klang nach großer Anstrengung, und das meinte sie bestimmt nicht.

Sie zog die Tür hinter sich zu, schloss sie ab und ging nach oben in die Wohnung. Gerade als sie die Küche erreicht hatte, hörte sie die Türglocke. Sich darum zu kümmern war Aufgabe des Butlers Membury. Wer mochte das sein? Bestimmt kein Bekannter ihres Vaters, denn die würden voraussetzen, dass er um diese Vormittagsstunde nicht zu Hause war. Die Köchin kam erst am Nachmittag, und das Mädchen war oben in den Schlafräumen beschäftigt.

Sie ließ Wasser in den Kessel laufen und setzte ihn auf den Herd.

Die Küchentür öffnete sich, und der Butler kam herein. »Es tut mir leid, so hereinzuplatzen, Miss Miriam«, sagte er in entschuldigendem Ton. Sie war den vierzig zu nahe, als dass ihr diese Anrede gefallen hätte, aber er kannte sie seit ihrer frühen Kindheit und würde sie immer mit Vornamen anreden. Zwar war er, genau genommen, ein Dienstbote, aber in Wirklichkeit ein guter Freund. Er hatte all ihre Kämpfe, ihre Niederlagen und ihre Erfolge aufmerksam mitverfolgt.

»Was gibt es?«, sagte sie mit einem Lächeln. »Sie stören nicht.«

»Mr. Pitt wünscht Sie zu sprechen. Ich habe ihm gesagt, dass Sie zu tun haben, aber er hat mich gebeten, wenigstens nachzufragen.«

»Daniel?« Sie merkte, wie sie errötete. Sie erinnerte sich lebhaft an die beiden Prozesse, in denen sie mit ihm zusammengearbeitet hatte. Obwohl die Fälle schwierig gewesen waren und mitunter ausweglos erschienen, hatte er sich ihnen mit größtem Eifer gewidmet. Bei diesen Gelegenheiten hatte sie sich lebendiger gefühlt als irgendwann zuvor. Endlich einmal war gefragt gewesen, worauf es in der Rechtsmedizin ankam, denn sie lieferte im günstigsten Fall Tatsachenbeweise, wo es sich um Leidenschaften und Gewalttätigkeit handelte, die verschiedensten Motive, gute wie verwerfliche. Dabei ging es nicht nur um die Wahrheit, wie sie die Naturwissenschaft lieferte, sondern auch um Ereignisse im Leben von Menschen, die von den aufgrund dieser Ergebnisse gefällten Entscheidungen geschützt oder ins Unglück gestürzt wurden. Damals war sie Daniel von großem Nutzen gewesen. Sie musste Membury antworten. »Vielleicht hat er wieder einen Fall. Ich mache ohnehin gerade eine Pause.«

»Sehr wohl, Miss Miriam.« Er lächelte, ohne sie dabei anzusehen, und verließ den Raum, um Daniel mitzuteilen, dass er willkommen sei.

Wenige Augenblicke später hörte sie seine Schritte im Gang. Da er vor der Tür stehen blieb, rief sie: »Nur herein. Ich mache gerade eine Teepause. Möchten Sie auch eine Tasse?«

Wie er da mit seiner natürlichen Anmut, die ihn so sehr von seinem Kollegen Kitteridge unterschied, im Türrahmen stand, sah er genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Eine Strähne seiner rötlich angehauchten Haare fiel ihm in die leicht gerunzelte Stirn.

Wie immer lud sie Membury ein, mit ihnen gemeinsam eine Tasse Tee zu trinken, und wie immer lehnte er höflich ab. »Nein, vielen Dank, Miss Miriam.« Seiner Auffassung nach wäre es für einen Butler ungehörig gewesen, sich zur Herrin des Hauses zu setzen, als stünden sie gesellschaftlich auf einer Stufe. Doch freute ihn die Aufforderung unübersehbar, es war ein kleines wohltuendes Ritual.

Daniel nahm Miriams Einladung an, trat in die Küche und setzte sich an den Tisch, als sei er das nicht anders gewohnt. Vielleicht kamen ihm flüchtige Erinnerungen an die gerade einen Monat zurückliegenden Tage, an denen sie des Öfteren in einem Haus auf der Kanalinsel Alderney miteinander am Tisch gesessen hatten. Damals war es darum gegangen, einen äußerst verwickelten Fall zu lösen. Seither hatte sie Daniel nicht gesehen.

Einen Augenblick lang herrschte ein unbehagliches Schweigen. So gut sie einander als bewährte Kampfgefährten in schwierigen Prozessen auf mancherlei Weise kannten, waren sie sich auf gesellschaftlicher Ebene nie begegnet. Ihr Vater war Daniels Arbeitgeber, und sein Vater, Leiter der Abteilung Staatsschutz, hatte in unauffälliger Weise mehr Macht, als sich die meisten Leute klarmachten.

Sie schob den Kessel auf das Kochfeld und stellte zwei Tassen mit Untertassen auf den Tisch. »Ich nehme an, dass Sie einen rechtsmedizinisch interessanten Fall haben?«, brach sie das Schweigen. Als sie die Bejahung in seinen Augen erkannte, stieg eine leichte Röte in ihre Wangen.

»Ich glaube schon«, gab er zurück. »Jedenfalls habe ich ihn übernommen. Wenn ich es recht bedenke, ist mir gar nichts anderes übrig geblieben. Mr. fford Croft hat gesagt, es würde mir guttun, daraus zu lernen, wie man mit Anstand verliert.« Mit dem Anflug eines Lächelns zuckte er kaum wahrnehmbar die Achseln.

Einen Augenblick lang war sie sprachlos, doch dann sagte sie sich, dass das ihrem Vater ähnlichsah. Er hatte eine ausgesprochen eigenwillige Art, junge Anwälte in ihr Metier einzuführen. Während er damit bisher bei den Tüchtigeren geradezu verblüffende Erfolge erzielt hatte, war es für die anderen in der Tat eine harte Schule. Dabei blieb die Frage offen, ob das an ihrer mangelnden Eignung für ihren Beruf lag oder ob sie ihm zu wenig Interesse entgegenbrachten. Daniel Pitt, das wusste sie, hatte er in erster Linie eingestellt, um seinem alten Freund Sir Thomas Pitt einen Gefallen zu tun, aber sie hatte auch mitbekommen, dass er Daniel immer mehr zu schätzen wusste, je besser er ihn kennenlernte, auch wenn ihn dieser mitunter zur Verzweiflung trieb.

»Ach, findet er, dass Sie lernen müssen, wie man mit Anstand verliert?«, fragte sie. »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen dabei helfen kann, obwohl ich genau das immer wieder selbst tue – allerdings nicht besonders gut.«

Weil sie fürchtete, dass das zu sehr nach Selbstmitleid klang, denn es gehörte sich nicht, Enttäuschungen vor sich her zu tragen, fuhr sie rasch fort: »Worin besteht die Beziehung dieses Falles zur Rechtsmedizin?«

»Feuer«, sagte er einfach und sah sie dabei an. »Ein Lagerhaus am Hafen ist abgebrannt, während sich zwei Männer darin befanden. Einer ist tot, der andere konnte sich mit einigen Schrammen und blauen Flecken retten.«

Ihr war bewusst, dass er sie aufmerksam ansah und auf eine Antwort wartete, obwohl er keine genauen Angaben gemacht hatte. »Und jetzt legt man ihm den Tod des anderen zur Last?«, fragte sie.

»Ja. Aber das ist nicht alles. Der Tote hatte einen Schädelbruch.« Er schwieg.

»Oho, vorsätzlicher Mord? Womit begründet man das? Könnte es nicht ein Unfall gewesen sein? Der eine ist gestürzt, der andere hat vermutet, dass er tot war, und es nicht für sinnvoll gehalten, seine eigene Haut zu riskieren, indem er ihn nach draußen brachte?«

Daniel schüttelte trübselig den Kopf. »Dieser Gedanke ist mir noch gar nicht gekommen.«

»Macht nichts. Wenn es so gewesen wäre, hätte Ihnen der Tatverdächtige das bestimmt gesagt. Es wäre sicherlich nicht gut, ihm diesen Floh ins Ohr zu setzen. Gibt er es zu?«

»Nein!«, sagte Daniel rasch. »Er behauptet, er habe Jackson nicht geschlagen. Mir ist nicht klar, ob er sich nicht genau erinnert oder mir gegenüber mit seinen Äußerungen besonders zurückhaltend ist … Auf jeden Fall hat er große Angst.«

»Waren die beiden miteinander befreundet?«

Der Wasserkessel begann zu pfeifen. Sie wandte sich ab, um ihn vom Herd zu nehmen und den Tee aufzugießen.

Automatisch erhob sich Daniel, um ihr zur Hand zu gehen. Normalerweise wäre das sonderbar gewesen, aber sie hatten sich vor Kurzem als Verbündete in einem äußerst kniffligen Fall in jenem Haus auf Alderney mit größter Selbstverständlichkeit die Arbeit im Haushalt geteilt. Von den Anfangsmomenten abgesehen, hatte zwischen ihnen keinerlei Verlegenheit oder Befangenheit bestanden. Jetzt schien all das unendlich weit in der Vergangenheit zu liegen, in einer anderen Welt geschehen zu sein. Nun ja, jene winzige Kanalinsel war in der Tat eine andere Welt.

Während Miriam den Tee aufgoss, stellte er die Milch und eine Dose mit Ingwerkeksen auf den Tisch. Sie wusste, dass er sie gern aß.

»Nein, sie waren sich spinnefeind«, beantwortete er ihre Frage. »Ich muss noch eine Menge herausfinden …«

»Aber Sie halten ihn für unschuldig?« Sie war verwirrt. Er erklärte die Situation nicht sonderlich gut, was sie nicht von ihm kannte.

»Ich weiß nicht recht …« Er schien tatsächlich unsicher zu sein. »Ich hatte den Eindruck, dass es so sein könnte, aber es gibt bisher nichts, was dieses Gefühl bestätigen würde.« Er sah ihr offen in die Augen. »Eigentlich wollte ich den Fall nicht unbedingt übernehmen, nachdem mich Kitteridge auf einige Schwachpunkte hingewiesen hatte. Wir sind dann zu Ihrem Vater gegangen, um seine Meinung dazu zu hören.« Er fühlte sich bei der Erinnerung daran peinlich berührt; das ließ sich seinem Gesicht deutlich ansehen. »Irgendwie muss ich dann wohl gesagt haben, dass ich die Sache gern durchfechten würde, jedenfalls hat Ihr Vater das so aufgefasst. Er hat mir zu verstehen gegeben, dass ich verlieren, dabei aber eine Menge lernen würde. Dann hat er gesagt: ›Also los, junger Mann!‹« Mit schiefem Lächeln ergänzte Daniel: »Ich glaube, ich bin da mehr oder weniger über meine eigenen Füße gestolpert.«

»Man hat Sie dazu verlockt«, erklärte sie. Sie sprach aus Erfahrung. Ihr Vater hatte auch sie das eine oder andere Mal in eine solche Situation gebracht. Er machte dabei ein so unschuldiges Gesicht, dass man erst später merkte, auf welche Weise man dazu gebracht worden war, das genaue Gegenteil von dem zu tun, was man eigentlich hatte tun wollen. In jungen Jahren war er ein brillanter Strafverteidiger gewesen. Inzwischen war er über siebzig, und das begann man ihm anzumerken. In letzter Zeit war er vergesslich geworden, vor allem, was Namen anging. Sie hatte gelernt, ihm in solchen Fällen nicht offen zu soufflieren, um seine Schwäche nicht für andere erkennbar zu machen und ihn damit bloßzustellen.

»Ich weiß ja nicht mal, wonach ich suchen soll«, sagte Daniel. »Ich muss einfach auf gut Glück festzustellen versuchen, was wirklich geschehen ist. Der Polizeiinspektor, der den Fall bearbeitet, scheint ein tüchtiger Mann zu sein, und auch vom Polizeiarzt, einem Dr. Appleby, der die Leiche obduziert hat, habe ich den Eindruck, dass er ein vernünftiger Mensch ist, mit dem sich gut reden lässt. Allerdings habe ich den Eindruck, dass beide felsenfest von Adwells Schuld überzeugt sind. Noch schlimmer aber dürfte sein, dass man ihnen auf jeden Fall glauben wird, wenn sie sagen, dass es vorsätzlicher Mord war.« Sein Gesicht wirkte mit einem Mal angespannter, doch zugleich auch jünger. Dann sagte er, als sei ihm der Gedanke überraschend von irgendwoher zugeflogen: »Ihm droht der Galgen, nicht wahr?«

Nur äußerst ungern wollte sie ihm zustimmen, aber alles andere wäre unaufrichtig gewesen, und das würde ihn nur verletzen, ohne etwas zu bewirken. Während der gemeinsamen Arbeit am vorigen Fall, der noch nicht lange zurücklag, hatte sich zwischen ihnen ein ausgeprägtes gegenseitiges Vertrauen entwickelt. »Ja, und das ist entsetzlich«, stimmte sie zu.

Er schluckte. »Ob es eine Möglichkeit gibt zu beweisen, dass er nicht vorsätzlich gehandelt hat, sondern aus der Situation heraus, also im Affekt? In einem außer Kontrolle geratenen Streit könnte Jackson beispielsweise gestürzt sein, was zu dem Schädelbruch geführt hat.«

Sie schüttelte den Kopf. »Man wird die genaue Lage des Brandherdes feststellen. Inzwischen lässt sich eine ganze Menge herausbekommen, wenn man es darauf anlegt, und das werden die zuständigen Stellen bestimmt auch tun.«

»Aber können wir nicht ebenfalls etwas unternehmen?«

»Nicht, wenn er Jackson vorsätzlich umgebracht hat.« Auch hier war eine ehrliche Antwort nötig. Das war zwar schwierig, aber es wäre nicht nur Zeitverschwendung gewesen zu sagen, was er gern gehört hätte, es hätte auch der Aufrichtigkeit zwischen ihnen geschadet. Es fiel schwer, jemandem eine Wahrheit zu sagen, die ihn tief treffen würde, aber eine andere Möglichkeit gab es nicht.

»Genau das wissen wir nicht«, gab er zu bedenken. »Bisweilen liegt die Wahrheit nicht offen zutage.«

Sie wusste genau, was er meinte. Die Fälle, in denen sie zusammengearbeitet hatten, seine beiden einzigen großen, zu denen er mehr oder weniger zufällig gekommen war, hatten sich als äußerst verwickelt erwiesen. Anfänglich waren sie ihm unbedeutend und harmlos erschienen, hatten sich aber im Laufe der Zeit als äußerst weitreichend und schwerwiegend erwiesen. Aber hier hatten sie es wahrscheinlich mit etwas zu tun, was vermutlich genau das war, wonach es aussah: ein eindeutiger Fall von Brandstiftung und Mord. Solche Fälle waren meist banal und gingen schlecht aus. Warum sagte sie ihm das nicht einfach? Um seine Gefühle zu schonen? Das wäre freundlich, ja, geradezu gütig. Zugleich war es aber auch – ohne dass sie das beabsichtigt hätte – herablassend, so, als traue sie ihm nicht zu, die Wahrheit zu ertragen. Das würde ihm nicht recht sein. Sie gab sich Mühe zu lächeln. »Aber gewöhnlich ist man doch ziemlich nah dran. Immerhin hatten wir bei den vorigen Malen eine recht harte Nuss zu knacken. Finden Sie nicht auch, dass das reicht?«

Er erwiderte ihr Lächeln, und sie konnte sehen, dass ihn ihre Anspielung belustigte. »Die einfachen Sachen habe ich für mich behalten. Hatten Sie nicht auch einfache Aufgaben, von denen Sie mir nichts gesagt haben?«

Da sie seit der Alderney-Geschichte nicht mehr miteinander gesprochen hatten, war das vermutlich so. Bei den meisten Aufgaben, die man ihr übertragen hatte, war es um Chemie und nicht um Rechtsmedizin gegangen, und bei keiner hatte es einen erkennbaren Hinweis auf Straftaten gegeben, sodass lediglich ihre Geduld und nicht ihre Vorstellungskraft oder spezielle Fähigkeiten gefragt waren. »Ja«, gab sie zu. Sie hätte noch unendlich viel dazu sagen können, unterließ es aber. Das war nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

»Und was können wir tun?«, fragte er. Gleich darauf verbesserte er sich, wobei er leicht errötete. »Ich meine, was kann ich tun? Ich wollte mich Ihnen nicht aufdrängen …«

»Als Erstes könnten wir versuchen …«, begann sie, wobei sie das wir betonte, »… den besten Brandsachverständigen zu finden, dessen Gutachten so schnell kein Gericht anzweifelt.«

»Gibt es denn so jemanden?« Er schien zu überlegen, ob sie wirklich offen mit ihm sprach oder ihn lediglich seelisch aufrichten wollte.

Manchmal war er für sie mühelos zu durchschauen, während sie bei anderen Gelegenheiten, wie sie sich eingestehen musste, nicht dahinterkam, was er empfand oder dachte.

»Durchaus«, fiel sie ihm ins Wort. »Das Gutachten der besten Vertreter des Fachs gilt meist mehr oder weniger als unangreifbar. Einer von ihnen ist Sir Barnabas Saltram. Es hat sich oft gezeigt, dass er mit seiner Einschätzung der Brandursache recht hatte, und zwar so eindeutig, dass kaum jemand etwas dagegen vorgebracht hat.« Während sie das sagte, kamen ihr Erinnerungen an eine Zeit, die zwanzig Jahre zurücklag. Damals war sie eine begeisterte junge Studentin gewesen. Innerlich erschauerte sie bei dem Gedanken daran, wie töricht und einfältig sie damals gewesen war.

Barnabas Saltram, zu jener Zeit noch nicht Sir, hatte am Anfang seiner Karriere gestanden und sich als Dozent dazu herabgelassen, einige handverlesene hochbegabte Studenten in sein bereits zu jener Zeit weithin berühmtes Fachwissen einzuweihen. Nach einem prüfenden Blick über die Gruppe hatte er erklärt, Frauen zu unterrichten sei Zeitverschwendung. Sie würden heiraten, Kinder bekommen und zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens ihre wissenschaftliche Bildung, auf welchem Gebiet auch immer sie diese erworben hätten, in der Praxis anwenden. Zugleich ließ er durchblicken, dass sie ohnehin unfähig seien, sonderlich viel zu lernen. Für dieses geringe Niveau würde genügen, was ihnen ein beliebiger wissenschaftlicher Assistent beibringen konnte.

Sie merkte, wie ihr bei der Erinnerung an diese Szene das Blut ins Gesicht stieg. Was Heirat und Kinder anging, hatte sich der Mann geirrt, aber in keiner Weise im Hinblick darauf, dass sie nie eine Möglichkeit haben würde, ihren Ehrgeiz zu befriedigen und das Gelernte in die Praxis umzusetzen. Wenn er diese Einschätzung jetzt von sich gäbe, könnte sie ihm das Beispiel der brillanten Nobelpreisträgerin Marie Curie entgegenhalten! Allerdings hätte er sie in dem Fall nach einem kurzen Augenblick der Überraschung auf den himmelweiten Unterschied zwischen einer Marie Curie und einer Miriam fford Croft hingewiesen. Sie würde sich von dieser Äußerung förmlich zerschmettert fühlen, was haargenau seiner Absicht entsprochen hätte.

Daniel wartete und sah sie verwirrt an.

Sie erläuterte: »Wir brauchen unbedingt jemanden von diesem Kaliber, der die Beweismittel für uns auswertet. Nur dann können wir einschätzen, was wirklich geschehen ist und wie unsere Aussichten stehen.« Sie nahm einen kleinen Schluck Tee und gleich darauf einen zweiten. »Sobald Sie das wissen, könnten Sie, darauf gestützt, dass er mit seiner Einschätzung recht hat, eine Verteidigungsstrategie aufbauen, die alle Fakten einbezieht.«

Daniel sah sie trübselig an. »Adwell hat kein Geld. Ich habe den Fall übernommen, um … nun ja, um daraus zu lernen. Ganz davon abgesehen, ist so etwas deutlich interessanter als das Umschichten von Akten in der Kanzlei. So jemand wie dieser Saltram verlangt vermutlich ein Vermögen als Honorar, und außerdem würde ihm der Fall kaum Ruhm eintragen: Zwei kleine Ganoven geraten in einem Lagerhaus miteinander in Streit und setzen es in Brand, unter Umständen unabsichtlich. Einer der beiden kommt mit ein paar Kratzern davon, während der andere verbrennt. So etwas geschieht wahrscheinlich öfter, als wir denken.«

»Und was ist mit dem Schädelbruch? Das muss ebenso geklärt werden wie die Frage, wo sich die beiden aufgehalten haben, als das Feuer ausbrach. Nach Möglichkeit sollten wir auch die Brandursache feststellen. War es ein Unfall, Brandstiftung, oder gibt es keine eindeutige Lösung?« Während sie sprach, überlegte sie, wie es sich einrichten ließe, Saltram nicht hinzuzuziehen. Nichts wäre ihr lieber als die Möglichkeit, eine Begegnung mit ihm zu vermeiden und ihn um nichts bitten zu müssen.

Andererseits stand das Leben eines Menschen auf dem Spiel. Es zu retten war Daniels ganzes Bestreben, und daran wollte sie ihn auf keinen Fall hindern. Alles andere war zu widerlich und zu bitter. Am besten dachte man gar nicht daran, so, wie es ihr über die Jahre hinweg gelungen war … mehr oder weniger.

Daniel versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen. Manchmal wünschte sie, er wäre weniger scharfsichtig und einfühlsam, so wichtig diese Eigenschaften für seinen Beruf auch waren. Selbst gute Freunde, auf deren Meinung man besonders großen Wert legte, mussten, wie sie fand, dem anderen seine Privatsphäre lassen.

»Wenn Sie mir seine Adresse geben, gehe ich hin und versuche festzustellen, ob er mir helfen kann«, sagte Daniel. »Und … sofern es Ihnen nichts ausmacht, eine Art Empfehlungsschreiben oder Einführungsbrief …« Er verstummte.

»Vielleicht sollte ich mich besser selbst mit ihm in Verbindung setzen«, sagte sie, »sonst könnte es sein, dass Sie ihn gar nicht erst zu sehen bekommen.« Sie überlegte, auf welche Weise sich das bewerkstelligen ließe, ohne dass ihre Gefühle ihr dabei in die Quere kämen. Auf keinen Fall durfte sie Daniel mit dieser alten Geschichte belasten. Er musste dem Mann unbedingt unvoreingenommen und unbefangen gegenübertreten können, weil davon unter Umständen das Leben seines Mandanten abhing. Ganz davon abgesehen, würde es sie und ihn auf alle Zeiten quälen, wenn sie eine Möglichkeit – und sei sie noch so gering – ausließen, die Wahrheit zu finden. In dem Fall wäre ihrer beider Selbstsicherheit wie auch das gegenseitige Vertrauen gefährdet. Eine Lüge war wie ein Schimmelpilz, sie breitete sich immer weiter aus, bis alles vermoderte und verfaulte.

Daniel erhob keine Einwände. Seine Züge entspannten sich, und er dankte ihr mit einem warmen Lächeln.

Sie sah beiseite. Auf keinen Fall sollte er merken, welch großes Opfer sie da bringen musste. »Jetzt sagen Sie mir, was Sie über das Feuer wissen. Einfach alles, was Sie mir über den Toten sagen können«, forderte sie ihn auf. »Und auch, was Ihnen Adwell über die näheren Umstände der ganzen Geschichte gesagt hat. Den Zustand der Leiche brauchen Sie mir nicht zu beschreiben, da ich annehme, dass Ihnen die Einzelheiten, die Saltram wissen will, nicht aufgefallen sind.«

Da der Tee kalt geworden war, machte sich Miriam nach Daniels Weggang eine frische Kanne. Ihr war durchaus bewusst, dass das lediglich ein Vorwand war, denn eigentlich wollte sie keinen Tee trinken, aber die damit verbundene mechanische Tätigkeit beruhigte sie. Mitunter fiel es leichter, über etwas nachzudenken oder, falls das besser war, das Denken aufzuschieben, wenn die Hände beschäftigt waren. Was war nur über sie gekommen, dass sie Daniel versprochen hatte, sie werde Barnabas Saltram bitten, im öffentlichen Interesse ohne oder höchstens gegen eine Art symbolisches Honorar tätig zu werden? Sie konnte sich nur allzu gut vorstellen, was er dazu sagen würde, und vor allem, auf welche Weise. Sie hörte förmlich die Ungläubigkeit in seiner Stimme und sah sein höhnisches Lächeln vor sich.

In jungen Jahren war der nicht sonderlich gut aussehende hochgewachsene, schlanke Mann eine stets makellos gekleidete elegante Erscheinung gewesen. Er dürfte jetzt um die Mitte fünfzig sein, womit er sich wohl auf dem Höhepunkt seiner Karriere befand. Als sie ihn vor einem oder zwei Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, waren ihr in seinem leicht gewellten dunklen Haar, das nach wie vor voll und dicht war, silbrige Fäden aufgefallen, die ihm, wie sie zugeben musste, gut zu Gesicht standen.

Am liebsten wäre es ihr, wenn er sich nicht an sie erinnern könnte. Schließlich lag das Ganze zwanzig Jahre zurück …

Sie zwang sich, nicht mehr an ihn zu denken. Es war lächerlich. Niemand war zu Schaden gekommen. Es gab nichts, woran man sich hätte erinnern müssen. Sie war erwachsen und musste sich dementsprechend verhalten!

Aber sie erinnerte sich. An alles, jede Einzelheit! Ob er das wohl vergessen hatte? Wahrscheinlich. Inzwischen war er eine Berühmtheit, der beste Rechtsmediziner des Landes, wenn nicht gar der ganzen Welt.

Nein, musste sie sich eingestehen. Er hatte es mit Sicherheit nicht vergessen. Das hatte sie an seinem Gesicht und in seinen Augen gesehen, als ein wohlmeinender Mensch sie ihm in Madrid vorgestellt hatte.