Feuerreiter - Frank Rebitschek - E-Book

Feuerreiter E-Book

Frank Rebitschek

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Beschreibung

Das Verbrechen kommt mit der Post. Der Frau eines Mühlenbesitzers und Gitarristen wird die Hand ihres Mannes geschickt. Kommissar Helmut Bauch und sein Assistent Volker Spiegel können den neuesten Fall im Kyffhäuserkreis bald nicht mehr allein lösen und geraten selbst in Lebensgefahr. Die Spur führt weit über die Landesgrenzen hinaus.

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Für meine Söhne

Felix und Immo

Vorwort

Die Hohe Schrecke und das Unstruttal. Seit über zwanzig Jahren zieht es mich dorthin. Die Ermittlungen des Polizeihauptkommissars Helmut Bauch und seines Assistenten Volker Spiegel aus Nordhausen sind reine Fiktion. Ihre Fälle ereignen sich in einer realen Gegend, wenngleich nicht jeder Handlungsort tatsächlich existiert. Einheimische und Besucher dieses reizvollen Landstrichs in Nordthüringen werden das bald herausgefunden haben. Meine Kyffhäuserkrimis möchten darauf neugierig machen. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufälliger Natur. Die genannten Firmen sind am Ende des Buches unter Danksagungen berücksichtigt. Ich wünsche allen Lesern Vergnügen mit meinem Buch.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Auf dem Katzenberg

Roßleben

Der Fund

Pits Arbeitszimmer

Autos, Fische und Weihnachtsbäume

Konrad Reill

Im Untergrund

Narkolepsie

Der Safe

Bauch ist zurück

Visitenkarten

Erprobungsfahrzeug der NASA

Der Chip

Frau Buchholz

Die Fernbedienung

Anosmie

Bernd Kluge

Barbarossa

Schlaflabor

Der Dendrologe

Die Spinne

Der Angler

Erfurt

Pits Auto

Erwin Klöckner

Sigmund Freud

Hartwig Koll

Feuerreiter

Das Organigramm

Computer

Rosen

Ecki

Polenfahrt

Der Überfall

Weijherowo

Dieter Schütze

Der Unfall

Helios-Klinik

Rosenheim

Ole Ringeisen

Der singende Verkehrspolizist

Das Päckchen

Roberta

Mühlen

Die Urne

Bottendorf

Mühle Schillingstedt

Das Foto

Windräder

La Strada

Der Vater

Der Turm

Kresse

Die Befragung

DRK-Krankenhaus

Briefe

Die Besprechung

Flugplatz

Epilog auf der Bank

Danksagungen

Leseprobe

Auf dem Katzenberg

Der Katzenberg erhebt sich breit vor dem Südhang der Hohen Schrecke, ein Ausläufer des Höhenzuges, dem auf seinem Buckel ein Stück vom Wald nachgewachsen ist. Daneben liegt die Finne, ein weiterer bewaldeter Hügel. Wer hier oben wohnt, kann sich glücklich schätzen, denn er hat den Überblick. Er schaut über die Ebene bis weit ins Thüringer Becken hinein. Und er hat Wind, der, wenn er von Westen kommt, an der Hohen Schrecke entlang streicht und bisweilen große Geschwindigkeiten entfalten kann. Seit Jahrhunderten stand hier oben eine Windmühle. In alten Chroniken war sogar die Rede von mehreren Windmühlen. Es hieß, dort hätten vier Mühlen gestanden. Ein Durchreisender aus dem Mansfeldischen wollte im 18. Jahrhundert gar neun Mühlen gezählt haben. Damals hatte man den Rücken des Katzenbergs beinahe vollständig abgeholzt. Aus den Stämmen waren die Mühlen und die Holzhäuser der umliegenden Ortschaften gebaut worden. Der Rest verschwand als Grubenholz in den Stollen des Kalibergbaus. Später hatte der Wald sich seinen Berg zurückgeholt. Waren die Mühlen nicht mehr rentabel gewesen? Hatten sie miteinander zu sehr in Konkurrenz gelegen?

Der fruchtbare Boden des Thüringer Beckens ließ noch lange genügend Getreide gedeihen, so dass alle Müller der Gegend ihr Auskommen gehabt haben dürften. Man weiß es nicht.

Noch heute kann der Wanderer im Dickicht Reste ehemaliger Mühlen finden, Fundamente und vermoderte Balken. Unter dichtem Brombeergestrüpp soll auch ein Mühlstein liegen, wie die Jäger erzählen.

Aber eine Mühle gibt es noch, wenngleich sie fast zusammengefallen ist, umgeben von Wohngebäuden, Stallungen und drei alten Gewächshäusern, bei denen Scheiben fehlen. Außerdem gibt es einen Fischteich hier oben, künstlich angelegt, in dem sich seltsame Wesen tummeln. Große Fische mit Farbmustern, die man nicht in heimischen Tümpeln antrifft.

Der Besitzer dieses Fischteiches hat über die Wasserfläche ein Gitter gespannt, um Diebe und vor allem den Fischreiher fernzuhalten. Der versucht es trotzdem immer wieder. Kommt vom Wald herüber, umkreist mit kräftigen Flügelschlägen das Anwesen. Manchmal lässt er sich auf dem toten Ast der alten Eiche nieder, der wie eine bizarre Skulptur aus der belaubten Krone herausragt.

Doch seit zwei Wochen geht das nicht mehr, denn in der Eiche haben Krähen ihr Nest gebaut. Dieses zänkische, neugierige Volk würde ihn als Störenfried sofort attackieren und er hat keine Lust, sich mit ihnen anzulegen.

Trotzdem dreht er noch eine Weile kreisend seine Runden in der Luft. Die Anziehungskraft der Fische lässt ihn nicht los, auch wenn die meisten für seinen Hals viel zu dick sind. Es ist Frühling. Er hat Junge zu versorgen. Das Land ist gelb. Die Felder leuchten von blühendem Raps.

Auf dem Feldweg, der sich von der Hauptstraße bis zur Mühle hinauf schlängelt, nähert sich ein ebenfalls gelbes Auto. Der Fahrer biegt in den Hof ein, hält an und steigt aus. Er geht zur Tür des Hauses. Jemand öffnet ihm. Bald darauf fährt das Postauto wieder davon.

Auf der Höhe des kreisenden Reihers schwirrt und trillert eine Feldlerche. Plötzlich wird die Luft von einem markerschütternden Schrei zerrissen. Er kommt aus dem Haus. Die Tür wird aufgerissen und eine Frau stürzt ins Freie. Sie wirft sich über ein Holzgeländer, an dem früher Pferde angebunden wurden. Und sie schreit immer noch. Die Lerche verstummt und stürzt wie ein Stein ins Feld hinab. Der Reiher fliegt erschrocken davon und die Krähen flattern wild krächzend umher, fallen in das Geschrei der Frau ein, die schließlich auf der Bank an einem Gartentisch zusammenbricht, die Hände vor das Gesicht geschlagen. Allmählich geht das Schreien in ein Schluchzen über. Sie greift in die Tasche ihrer Schürze und holt ein Telefon heraus.

Roßleben

Dienstag, 14. April, 13:00Uhr

Das neue Haus des Kriminalkommissars Helmut Bauch war kleiner als das alte Elternhaus in Sömmerda. Nach dem Tod seiner Frau Hilde hatte er es dort nicht mehr ausgehalten und war in seinen Geburtsort zurückgekehrt. Auch die Wohnung, die sich im ersten Stock befand, war kleiner als im alten Haus. Dennoch gefiel es ihm hier besser.

Das Erdgeschoss könnte er irgendwann vermieten, womöglich auch den kleinen Laden, der seit Jahren leer stand. Ganz früher hatte dort ein alter Kolonialwarenhändler seine Kunden versorgt. Als Kind hatte Helmut Bauch den kleinen, alten Mann mit dem steifen Bein manchmal nach der Schule besucht. Der kletterte dann immer auf einen Schemel und fischte für die Kinder Bonbons aus einem der riesigen Gläser, die auf dem Ladentisch standen.

Aber das war schon lange her und schon vor der Wende war der alte Mann gestorben. Später hatte dort eine Textilreinigung ihr Unterkommen gefunden. Vielleicht waren auch die Kindheitserinnerungen ein Grund dafür, dass der Kriminalkommissar in seiner Geburtsstadt ausgerechnet dieses Haus gekauft hatte. Der Keller war geräumig. Auch hier würde er seinem alten Hobby, dem Schreinern von Stühlen nachgehen können.

Doch bisher spürte er keinen Antrieb für derlei Beschäftigungen. Nur die Clivia und den Denkerstuhl hatte er mit in die Wohnung hinauf genommen. Vor allem für den Stuhl, der sein ganzer Stolz war, hatte er ein komfortables Plätzchen gefunden. Das Haus aus den zwanziger Jahren besaß einen kleinen Erker. Von dort konnte man in Richtung Osten sehen, wo die alten Bergbauhalden lagen. Diesem Platz war die Morgensonne gewiss.

Also stand hier fortan der Denkerstuhl, dass selbst erschaffene Instrument der Meditation und stummer Ermittlungsgehilfe in schwierigen Fällen, mit Halterung für eine Bierdose und installierter Leselampe. Eigentlich war der Stuhl das erste Möbelstück überhaupt, das seinen Platz im neuen Haus gefunden hatte.

Zahlreiche Umzugskartons standen noch immer in den Etagen obwohl er bis zwei Uhr nachts nichts anderes getan hatte, als auszupacken und einzuräumen. Jetzt machte sich Müdigkeit bemerkbar, obwohl er einen starken Kaffee getrunken hatte. Was sich darin noch befand, konnte warten.

Wie auch immer. Alles hat seine Zeit.

Genüsslich ließ sich Helmut Bauch in seinem Stuhl nieder und freute sich auf eine kleine Mittagspause.

Die Couch, auf der Hilde abends vor dem Fernseher einschlief, war auf dem Sperrmüll gelandet, wie so vieles aus ihrem gemeinsamen Haushalt, dem der Eltern und sogar der Großeltern. Immer neue Überbleibsel der Vergangenheit hatte das alte Haus ausgespuckt. Möbel und Gegenstände, an die sich Helmut Bauch gar nicht mehr erinnern konnte. Hildes Katzen hatte dankenswerter Weise die Nachbarin zu sich genommen. Es hatte keinen Abschiedsschmerz gegeben. Wahrscheinlich ahnten die Katzen schon lange ihr Schicksal. Katzen können das. Für eine Clivia muss ich kein Futter beim Aldi kaufen. Der neue Kühlschrank war noch nicht da, aber ein paar Bierdosen standen herum. Prost, neues Zuhause!

Das Telefon klingelte. Immerhin funktionierte das schon. Wollte Tochter Elke wissen, ob er gut in seinem Haus angekommen war? Nach dem letzten Besuch im Emsland hatten sie nur selten miteinander telefoniert.

Sein Chef, Polizeidirektor Kehrer von der Landespolizeiinspektion Nordhausen war dran.

»Helmut, ich weiß, dass du Umzugsurlaub hast und alle Rechte einer verbeamteten Privatperson genießt. Trotzdem brauche ich dich. Am besten gleich. Wie immer drängt es. Eine ganz schräge Geschichte und du bist geographisch näher dran als ich. Die Frau des Müllers vom Katzenberg hat uns angerufen. Sie war völlig durcheinander. Redete etwas von ihrem verschollenen Mann, den man ihr mit der Post geschickt hat. Ein Streifenwagen ist schon unterwegs. Ich habe auch den Kollegen Spiegel losgeschickt. Der Katzenberg liegt am Südhang der Hohen Schrecke.«

»Kenne ich«, unterbrach Bauch ihn: »Diese halbverfallene Mühle, in der so ein Spinner hausen soll? Ich fahre sofort los.«

Er klemmte die angefangene Bierdose in die Halterung des Stuhls. Na also, das war's dann, dachte er. Holt mich Kehrer tatsächlich wegen einer außergewöhnlichen Situation oder ist das nur eine seiner üblichen, cholerischen Attacken? Wenn ich ihn nicht schon so lange kennen würde, hätte ich langsam Zweifel an der Zuverlässigkeit seines Nervenkostüms.

Wie auch immer. Irgendwas wird schon dran sein.

Der Fund

13:30 Uhr

Auf der Landstraße verflüchtigte sich bald sein Ärger. Der Frühling war in vollem Gange. Jedenfalls schien das im Moment so. Haufenwolken, die sich in der Ferne hinter dem Kyffhäuser auftürmten, erinnerten daran, dass das Wetter jederzeit umschlagen konnte. April. Die Obstbäume blühten. Er ließ das Fenster herunter. Kein Sondersignal. Spiegel und die Streife werden schon da sein. Was war so Außergewöhnliches geschehen, dass sie ihn aus dem Urlaub holten? Der Geruch der blühenden Rapsfelder drang herein. Raps über Raps.

Das Land ist gelb. Nachwachsender Rohstoff. Wir sollen die Felder abtanken. Ob mein Auto das Zeug verträgt, was sie daraus machen werden? Irgendwann gibt es keinen Kartoffelacker mehr. Dann bekommen wir die Erdäpfel von Übersee.

Hinter Wiehe fuhr er die Serpentinen zum Kamm der Hohen Schrecke hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Auch hier Rapsfelder soweit das Auge reichte. Noch zwei Ortschaften musste er durchfahren. Hinter Bachra sah er bereits von weitem die Mühlenruine auf dem Katzenberg. Die Rundumleuchten der Polizeifahrzeuge blinkten herüber. Na also, sie sind bereits da. Drei Fahrzeuge.

Dann wird auch Jantzen, der Leiter der Spurensicherung, bereits bei der Arbeit sein.

Eine traumhafte Lage hier oben, dachte Bauch, je näher er dem Anwesen kam. Warum haben sie die Mühle so verfallen lassen? Eigentlich ist dieser Standort viel attraktiver als der von Geros Mühlencafé.

Er erreichte den Hof. Die Szenerie, die sich bot, könnte man beinahe eine Idylle nennen, wenn nicht die Polizeifahrzeuge da wären. Zwei Katzen lagen in der Sonne unter den Fenstern auf einer Bank. Hühner liefen herum und pickten. Ein Hahn stand auf der Regentonne und krähte, als wolle er den Ankömmling begrüßen.

Volker Spiegel nahm bei einer Frau von vielleicht fünfzig Jahren an einem Gartentisch deren Aussage auf. Jantzen war vermutlich im Haus. Einer der Streifenpolizisten lehnte an der Hauswand und telefonierte. Spiegel saß mit dem Rücken zu Helmut Bauch. Die Frau hob den Kopf, als er näher trat. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet, aber sie wirkte trotzdem gefasst. Spiegel drehte sich um und stand auf. Er schaute überrascht und wirkte nicht begeistert.

»Kommissar Bauch, ich dachte, Sie sind im Urlaub.«

»Ja, das dachte ich auch, aber Polizeidirektor Kehrer war offenbar der Meinung, dass meine Anwesenheit hier vonnöten sein könnte. Keine Angst, ich will Ihnen den Fall nicht aus den Händen nehmen. Um was geht es?«

»Wir haben eine ziemlich unappetitliche Sache vor uns. Es wird am besten sein, wenn Sie sich im Haus selbst ein Bild machen. Ralf Jantzen ist im Wohnzimmer. Ich setze inzwischen die Vernehmung von Frau Hermann fort.«

Kommissar Bauch fühlte sich unbehaglich in dieser Situation. Was sollte er hier? Am liebsten wäre er wieder umgekehrt. Der junge Kollege würde das schon allein hinkriegen.

Natürlich fühlt Spiegel sich durch mein Auftauchen gestört. Aber dafür kann ich jetzt nichts.

Er ging ins Haus. Die blonde Friderike von der Spurensicherung kam ihm in weißem Overall entgegen und telefonierte mit der Rechtsmedizin in Jena. Jantzen kniete im Wohnzimmer auf dem Boden und fotografierte einen kleinen Styroporkasten, der unter dem Tisch lag. Einen halben Meter davon entfernt entdeckte Bauch eine menschliche Hand, die offenbar gegen die Schrankwand geprallt war. Daran klebten schwarze Blutreste. Der Kommissar brauchte einige Sekunden für den Anblick. Wie hatte Kehrer gesagt? Man hatte der Frau ihren Mann mit der Post geschickt. Und wo war der Rest?

Jantzen begrüßte den Kommissar mit den Worten:

»Hatte ich in dieser Form noch nicht«.

»Ich auch nicht. Deshalb hat mich der Chef wohl aus dem Urlaub geholt. Wie auch immer. Lag bei der Sendung ein Begleitschreiben?«

»Volker Spiegel hat es. Fingerspuren waren natürlich nirgends dabei, außer denen vom DHL-Mann und der Frau. Profis vermute ich. Interessant finde ich das hier.«

Er zeigte auf die Hand:

»Der oder die Täter haben den Ehering dran gelassen. Nach Raubmord sieht das nicht aus. Die Jenaer sind hoffentlich schon hierher unterwegs um das Körperteil in die Pathologie mitzunehmen. Vielleicht erzählt es noch eine Geschichte. Ich bleibe so lange hier und durchsuche mit Friderike das ganze Haus.«

Helmut Bauch trat wieder ins Freie. Spiegel saß allein am Tisch. Die Frau stand rauchend am Zaun des Grundstücks und blickte über die Felder. Bauch setzte sich zu ihm.

»Was haben Sie aus ihr herausbekommen?«

»Sie muss ihre Gedanken sortieren, sagt sie. Ich glaube, sie hat den ersten Schock überwunden. Erstaunlich schnell, wie ich finde. War nicht viel zu erfahren. Sind Sie jetzt wieder im Dienst, Kommissar?«

Bauch zuckte mit den Schultern: »Ehrlich gesagt, weiß ich das selbst nicht. Aber wenn ich mir diese obskure Situation vor Augen halte, dürfte ein Mann mehr für die Aufklärung ganz nützlich sein.«

Volker Spiegel schaute ihn skeptisch und beinahe misstrauisch an, aber Bauch entging nicht das verborgene Lächeln in seinen Mundwinkeln. Möglich dass dies an der Physiognomie des Rennfahrers lag, dem er so sehr glich; Mika Häkkinen.

»Oder sagen wir: der Alte kann es einfach nicht lassen«, meinte der Kommissar und diesmal lächelte Spiegel tatsächlich.

»Die paar restlichen Kartons kann ich auch noch nach Feierabend auspacken.«

Es waren nicht nur ein paar Kartons. Das wusste Bauch genau und Spiegel ahnte es.

»Also, was haben wir? Die Hand habe ich gesehen. Jantzen sagte, dabei lag ein Schreiben.«

Volker Spiegel blickte zu der Frau hinüber, die gerade mit einer Schüssel Korn aus dem Schuppen kam und es den Hühnern in ihren Napf schüttete. Er nahm das Schreiben aus seiner Mappe. Eigentlich war es kein Schreiben. Ein kleiner Zettel, mit Computer beschrieben. War laminiert worden; wahrscheinlich, damit er von der auslaufenden Körperflüssigkeit der Hand nicht durchtränkt wurde. Welch ungewöhnlicher Aufwand. Bauch nahm die Plastikkarte in die Hand. Nur wenige Worte standen darauf.

Verkaufe!

Noch lebt er.

Dir bleibt eine Woche Zeit.

Danach findest du ihn in einer Mühle.

Keine Unterschrift und kein Absender.

»Wenn überhaupt, kann nur die Frau etwas wissen«, meinte Bauch.

»Sie sagt, sie weiß nicht einmal, worum es gehen könnte.

Ihr Mann hat angeblich nie erwähnt, dass jemand ihn bedrängt habe, die alte Mühle zu verkaufen. Aber wenn man sich diesen Holzhaufen anguckt, kann doch nur ein Verrückter so etwas machen.«

Volker Spiegel rief die Frau noch einmal an den Tisch.

Sie trug einen mit Silberfäden durchwirkten, schwarzen Pullover, enge Jeans und blaue Gummipantoletten.

Sie wird Mitte fünfzig sein, dachte Bauch.

»Bitte nehmen Sie noch einmal Platz. Wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen?«

»Vor drei Tagen.«

»Also am Samstag. Wissen Sie wohin er gegangen oder gefahren sein könnte?«

»Sagte ich Ihnen doch schon. Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich ist er gefahren. Am Wochenende bleibt er oft weg. Jedenfalls steht sein Auto nicht mehr da.«

»Machte es Sie nicht stutzig, dass er ganz ohne Begründung wegblieb? Sie hätten ihn als vermisst melden können.«

Sie zuckte nur mit den Schultern und meinte:

»Was glauben Sie, wie oft ich das in den letzten Jahren schon hätte tun müssen? Irgendwann war er immer wieder da. Wenn er sich bei einer seiner Huren ausgetobt hatte. Meist fuhr er zu einem Auftritt oder zu mehreren. Ich habe das nie nachgeprüft. Konnte ich auch gar nicht, denn meist gab es ja für seine Konzerte nicht einmal Verträge.«

»Ihr Mann ist demnach Musiker?«, wollte Bauch wissen.

»Das auch. Man kennt ihn im Allgemeinen als den singenden Müller. Mühlen-Pit und seine Klampfe. Die hatte er diesmal allerdings nicht mitgenommen. Ich dachte schon, er wäre nun endgültig zu einer anderen Frau gezogen. Aber jetzt das da.«

Sie zeigte in Richtung des Hauses und fragte dann etwas kleinlaut.

»Kann das stimmen, was die da schreiben? Dass er noch am Leben ist. Ist das überhaupt möglich ohne Hand? Ich dachte, man verblutet doch.«

»Nicht, wenn die Wunde rechtzeitig versorgt, also abgebunden wird«, bemühte sich Bauch um eine Erklärung und fühlte selbst Unbehagen bei seinen Worten. Er dachte erneut an die laminierte Drohung und daran, dass der Ehering noch am Finger steckte. Würden sich solche Leute die Mühe einer fachgerechten Amputation machen? Unwahrscheinlich. Die Rechtsmedizin wird hoffentlich herausfinden, auf welche Weise die Hand abgetrennt wurde. Früher hatte man bei solchen Drohungen einen Finger oder auch schon mal ein Ohr geschickt. Welch kruder Geist schickt eine Hand per DHL?

»Frau Hermann, Sie sind die Einzige, die uns im Moment helfen kann. Bitte denken Sie gut nach. Jeder noch so kleine Hinweis kann uns weiter bringen.«

»Wie ich Ihren Kollegen schon sagte, ich habe nicht die kleinste Ahnung, was man von mir will.

Ich könnte diesen Erpressern ja nicht einmal eine Antwort geben.«

»Irgendwo im Haus muss es eine Spur geben, vielleicht ein früheres Kaufangebot oder eine ähnliche Drohung. Der oder die Erpresser sind offenbar niemals auf den Gedanken gekommen, dass Ihr Mann nicht mit Ihnen über einen eventuellen Handel gesprochen hat.«

»Hat er auch nicht«, erwiderte die Frau trotzig.

»Was die Sache für uns erschwert und für Sie gefährlich macht.«

»Ja, Kommissar«, meinte Volker Spiegel seufzend: »dann werden wir wohl das gesamte Anwesen durchsuchen müssen. Für das Außengelände brauchen wir unbedingt Verstärkung. In Kürze treffen weitere Kollegen aus Erfurt ein.«

Und zu der Frau gewandt:

»Sie sollten uns zuerst das Arbeitszimmer Ihres Mannes zeigen und danach alle weiteren Räume.«

»Arbeitszimmer. Wenn Sie diese Räuberhöhle so nennen wollen. Gehen wir rein.«

Pits Arbeitszimmer

14:15 Uhr

Im Korridor zog sie ihre Gummischuhe aus und schlüpfte in Pantoffeln. Spiegel fand, sie tat das in ungewöhnlicher Ruhe. Beide folgten ihr in einen schmalen Gang.

»Da hinten ist die Tür zum indischen Zimmer«, sagte Frau Hermann. Spiegel und Bauch blickten sich fragend an.

»Er hat es immer so genannt, weil es am Ende des Ganges liegt.«

Ein Witzbold, dachte Bauch. Sie standen vor einer Glastür, durch deren Scheibe das staatstragende Symbol eines Adlers schimmerte, der auf der Brust das Emblem mit Hammer, Sichel und Ährenkranz trug.

»Wie auch immer«, stieß Bauch unlustig hervor und drückte die Klinke herunter. Das Einzige, was dem Raum einen Anschein von Arbeitszimmer gab, waren Bücherregale, die drei Wände bedeckten und oben von einem breiten Brett abgeschlossen wurden, auf dem aufgereiht gut ein Dutzend verstaubter Schreibmaschinen standen.

»Genau das, was sich Ermittler und Spurensucher wünschen«, seufzte Spiegel: „Hier können wir alles und nichts finden. Arbeit für Wochen und wahrscheinlich zum größten Teil vergeblich.«

»Irgendwo in diesem Chaos oder an einem anderen Ort dieses Gehöfts muss und wird es einen Hinweis auf diese ominöse Drohung geben, eine Vorgeschichte, eine Vorerpressung, Briefe, Computerdateien. Spiegel, bitte holen Sie Jantzen und seine Kollegin, damit die sich den Laden hier ansehen.«

Unter dem Fenster stand ein Sofa mit Bettzeug, lose zugeklappt, als wollte sich der Schläfer später noch einmal hineinlegen. Außerdem gab es einen alten Fernseher auf einem Schrank mit Gläsern und Flaschen und zwei Gitarren, die in ihren Halterungen steckten. Daneben nahm sich der kleine Schreibtisch mit der Glasplatte beinahe unscheinbar aus. In einem Bilderrahmen an der Wand darüber sah man ein lachendes Männergesicht mit schwarzem Vollbart und weißer Müllermütze. Jetzt erinnerte sich Kommissar Bauch.

Diesen Müller hatte er einmal auf dem Stadtfest in Wiehe erlebt. Liedermacher mit folkloristischem Einschlag. Manches war ein bisschen schwermütig gewesen. In einem CD-Regal steckte seine Musik. Würde die etwas über den Mann verraten?

»Frau Hermann, wann haben Sie dieses Zimmer zum letzten Mal betreten? «

»Gestern Abend. Wollte nachsehen, ob er inzwischen hier gewesen ist. Aber das Bett war so, wie Sie es sehen. Ich habe seine Sachen nicht angerührt. Das mache ich schon lange nicht mehr. Sein Bett ist sein Bett. Wir schlafen seit Jahren nicht mehr zusammen. Leben so nebeneinander her.«

»Fassen Sie bitte in diesem Zimmer weiterhin nichts an. Wir müssen auch alle anderen Räume im Haus untersuchen. Welche könnten für uns von besonderem Interesse sein?«

»Das Studio im Keller, wo er seine Musik aufnimmt.«

Sie gingen nach unten. Hier standen Mikrofone, ein kleines Mischpult, vor allem aber säumten weitere Reihen mit Büchern die Wände.

»Ja, mein lieber Kollege«, sagte Bauch zu Ralf Jantzen: »da kommt etwas auf uns zu. Schätze mal so 2000 Bände?«

»4000«, meldete sich Frau Hermann: »Jedenfalls hat Pit das behauptet.«

»Wir dürfen davon ausgehen, dass in jedem von diesen Schmökern sich ein Brief oder ein Zettel verbergen könnte. Ich hoffe, die Spurensicherung hat eine Kompanie von Praktikanten, die sich an solch einer Aufgabe ihre Sporen verdienen wollen.«

Bauch zeigte auf den Computer:

»Nehmen Sie den unbedingt mit. Und Sie, Frau Hermann, begleiten uns bitte noch einmal nach draußen, derweil sich unsere Kollegen hier umsehen. Ich habe noch ein paar Fragen.«

Autos, Fische, Weihnachtsbäume

Sie gingen wieder zum Gartentisch. Die Sonne wärmte und verstärkte den Duft von Blumen, Gräsern und Raps.

»Haben Sie seit dem letzten Ausbleiben Ihres Mannes das gesamte Gelände nach ihm abgesucht?«

»Das mache ich schon lange nicht mehr. Warum sollte ich? Das Auto ist weg.«

Bauch nickte. Warum sollte sie auch, wenn sie es nicht wollte. Aber wir werden nicht darum herumkommen, dieses ganze Grundstück zu durchsuchen. Sein Blick fiel auf die Gewächshäuser.

»Betreiben Sie hier eine Gärtnerei?«

»Mein Vater hat bis zur Wende auf unserem Grundstück Pflänzlinge gezogen und verkauft. Das hat sich dann nicht mehr gerechnet. Kurz nach dem Konkurs ist er gestorben. Jetzt stehen darin Pits Oldtimer, an denen er ständig herumschraubt.«

»Ich möchte einen Blick hinein werfen.«

Sie öffnete eine rostige Tür zum ersten Gewächshaus. Helmut Bauch und auch Volker Spiegel trauten ihren Augen kaum. Dort standen in Reihe die Zeugen der ehemaligen sozialistischen Autoindustrie. Der Kommissar fühlte sich an seine Jugend erinnert.

»Die haben damals unser Straßenbild bestimmt«, erklärte er: »Wartburg 311, Škoda-Oktavia, Lada, Saporoshez, Moskwitsch; auch Rostquietsch genannt. Wer diesen Kfz-Park angelegt hat, muss etwas von der Materie verstanden haben.

»War Ihr Mann vom Fach?«, fragte er und bemerkte zu spät, dass er in der Vergangenheitsform gesprochen hatte. Der Frau war das nicht entgangen. Sie drehte ihm ruckartig das Gesicht zu, ehe sie antwortete:

»Er hatte mal eine Lehre als Kfz-Mechaniker im Automobilwerk Ludwigsfelde gemacht, die dann aber abgebrochen. Er ist ein Bastler, der genauso gut ein altes Auto wieder zum Laufen bringen kann, wie eine kaputte Waschmaschine. Er hat die berühmten goldenen Hände.«

Beinahe trotzig betont sie die Präsensform, dachte Bauch. Sie klammert sich an die Hoffnung, dass ihr Mann die Verstümmelung überlebt haben könnte.

»Aber diese goldenen Hände hatte er nicht nur in technischen Dingen«, sagte sie. »Auch diese waghalsige und teure Fischzucht ist ihm gelungen. Hat richtig Gewinn abgeworfen.«

»Eine Fischzucht?«, fragte Spiegel ungläubig: »Hier oben auf dem Berg?«

»Pit hatte herausgefunden, dass es hier eine Stelle gab, die nie austrocknete. Er hatte in den Untergrund bohren lassen und eine Tonschicht entdeckt, die das Wasser am Ablaufen hinderte. Sofort besorgte er sich einen kleinen Bagger und hob die Grube aus. Kommen Sie mit. Ich zeige es Ihnen.«

Staunend betrachteten Helmut Bauch und Volker Spiegel einen etwa 10 mal 15 m großen Fischteich, der von einem Eisengitter überdeckt wurde. Über einen Steg konnte man in die Mitte des Teiches gehen.

Im Wasser tummelten sich merkwürdige bunte Riesenfische und auch kleinere dazwischen.

»Sind das nicht diese asiatischen Luxusfische, die so sündhaft teuer sind?«

»Kois, genau die. Der da«, sie zeigte auf ein weiß schimmerndes Riesenexemplar mit leuchtend orangeroten Flecken: »Der hat ungefähr den Wert eines Kleinwagens.«

»Und Sie versorgen die Tiere, wenn Ihr Mann nicht da ist?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Was soll ich sonst tun? Schließlich lebe ich auch davon. Wir hatten einmal einen Russlanddeutschen als Pfleger eingestellt. Den hatte uns das Arbeitsamt geschickt. Der Mann hatte sich einen Koi als Silvesterkarpfen für seine Familie beiseite gefischt. Kostenpunkt so um die 14.000 Euro. Mein Mann hatte ihn sofort gefeuert und auf Schadensersatz verklagt. Aber der Kerl besaß ja nichts. Und der Fisch war weg.«

Bauch wunderte sich erneut über die kurze, derbe Ausdrucksweise der Frau.

»Hatte Ihr Mann Feinde?«

Sie zuckte abermals mit den Schultern.

»Natürlich wird jemand, der so begabt ist, beneidet. Da wird viel Gift verspritzt. Und wie ich Ihnen sagte: Pit hat goldene Hände.«

Sie unterbrach ihre Rede und schloss kurz die Augen.

Plötzlich wird ihr bewusst, dass ein Teil dieses Goldes nun in einer Styroporschachtel liegt, dachte Spiegel.

Die Frau fing sich schnell wieder:

»Das betraf natürlich auch Frauenkörper. Klar, dass sich die Ehemänner über solche Begabung nicht freuten. Da wird ihm schon manch einer den Tod gewünscht haben. Auch dieser russische Karpfendieb hatte meinem Mann nach dem Rauswurf heftig gedroht und was die Autohändler anbelangt, lief das auch nicht ohne Probleme ab. Davon, worum es ging, habe ich keinen blassen Schimmer. Manchmal ging es im Gewächshaus sehr laut zu. Da haben sie nicht immer nur gefeiert.«

»Frau Hermann, wir brauchen Unterlagen, jeden möglichen Zettel über die Geschäfte Ihres Mannes, Telefonverzeichnisse, Adressbücher. Alles, was Hinweise geben kann. Und so Leid es mir für Sie tut; wir brauchen auch die Namen und Telefonnummern der Frauen, mit denen er Sie betrogen hat.«

»Habe ich nicht.«

Ihre Augenlider zwinkerten, als würde sie in grelles Sonnenlicht blicken. Es liegt etwas Ruckartiges, Nervöses in ihrem Wesen, dachte Bauch. Könnte eine Auswirkung des Schocks sein.

»Das glaube ich Ihnen ehrlich gesagt nicht. Springen Sie über Ihren Schatten. Sie erschweren uns sonst die Suche nach dem Entführer oder mutmaßlichen Mörder Ihres Mannes.«

Die Frau hob den Deckel einer Kiste an und nahm mit einer Schaufel Trockenfutter heraus. Vom Steg streute sie die Körner in weitem Bogen ins Wasser.

Mit durchdringender Stimme rief sie herüber:

»Ich habe über das Leben meines Mannes niemals Buch geführt. Aber ein paar Namen weiß ich natürlich. Ich schreibe sie Ihnen auf. Wenn es überhaupt Unterlagen über Pits Geschäfte gibt, müssen Sie seine Buden umkrempeln.«

Abermals überraschte Helmut Bauch die Kälte in den Worten der Frau. Sie stand auf dem Steg, als hätte sie nicht zwei Stunden zuvor die Hand ihres Mannes mit der Post bekommen.

»Ja, das werden wir tun. Und wie verhält es sich mit der Mühle? Haben Sie dort auch einmal nachgeschaut?«

»Probieren Sie es doch selbst. Das Ding ist bei einem Gewitter zusammengestürzt.«

Hinter den Büschen standen nur noch die traurigen Reste einer alten Bockwindmühle. Ein Wunder, dass sie noch nicht umgefallen war. Zwei der Flügel lagen am Boden. Von den anderen beiden ragten noch die Träger in den Himmel. Nur wenige von den Brettern, die seit Jahrhunderten den Wind aufgefangen hatten, hingen daran. Der Rest lag verstreut im Gelände. Das Dach war eingestürzt; das Holz des mächtigen Kastens durch Feuchtigkeit beinahe schwarz gefärbt. Wie mochte es im Innern aussehen?

»Ich klettere da nicht rein«, sagte Frau Hermann: »Keiner weiß, wann das verdammte Ding endgültig umkippt.«

»Unsere Kollegen werden das untersuchen. Warum hat Ihr Mann die Mühle eigentlich nicht restaurieren lassen. Ich nehme an, die ist sehr alt.«

»1704. Hören Sie bloß damit auf. Natürlich hatte er die Idee. Aber dann kamen diese Leute vom Denkmalschutz und wie Pit so ist, hatte er sich gleich mit denen angelegt. Das Wort Auflagen löst bei ihm sofort Aggressionen aus.«

Als sie zum Haus zurückgingen, sah Bauch wie sich eine Karawane von Polizeifahrzeugen auf dem Feldweg näherte; Verstärkung, die Jantzen aus Erfurt angefordert hatte.

Frau Hermann blieb unvermittelt stehen und zeigte in Richtung des Waldes, wo kleine Tannenbäume artig in Reih und Glied standen und bis an den Waldrand reichten.

»Die Weihnachtsbaumplantage dort gehört auch zu seinen Geschäften. Da wächst still das Geld heran, sagte er immer. Dafür besaß er keine Genehmigung, weil die Fläche zum Landschaftsschutzgebiet gehört. Aber natürlich hat er sich darüber hinweg gesetzt. Das war so sein Prinzip: Tatsachen schaffen. Er war der festen Überzeugung, dass er mit den Konsequenzen jederzeit klarkommen würde. Und so war es dann auch, jedenfalls meistens. Auch der Bau des Hauses fand ohne Genehmigung statt.

Die Geldstrafe von 10.000 Euro hatte er eingeplant und am Ende Recht behalten. Sie entschuldigen bitte, ich muss mich einen Augenblick hinlegen.«

Bauch nickte: »Halten Sie sich zu unserer Verfügung und informieren Sie mich, sobald Sie irgendein Zeichen vom Erpresser erhalten.«

Was hat dieser Mann eigentlich nicht unternommen, fragte Bauch sich und sah der Frau nach, die mit merkwürdig schleppenden Schritten ins Haus ging. Dabei warf sie den Kopf ruckartig nach hinten.

Die Frage nach potentiellen Feinden hat sich damit fast schon erübrigt. Wer weiß, welche Gegner der sich bei seinen Geschäften mit den Autos auf den Hals geladen hat. Woher stammen die Karren eigentlich? Ist Hehlerware dabei?

Jantzen stand vor dem Haus und rauchte.

»Die Rechtsmedizin von Jena schickt jemanden, der die Hand abholt«, sagte er. »Mit der Lounge dieses Pit werden wir allerdings etliche Tage beschäftigt sein.«

»Davon gehe ich aus«, erwiderte Bauch. »Die Durchsuchung des Areals rings um das Haus wird vermutlich noch länger dauern. Aber wir haben nicht so viel Zeit, wenn wir diesem Ultimatum Glauben schenken können. Finden Sie so schnell es geht die Fahrzeugbriefe von den Oldtimern. Aber vor allem finden Sie ein Schriftstück, das Aufschluss darüber gibt, was die Frau verkaufen soll. Worauf ist der Erpresser scharf? Das Haus ist keine besonders wertvolle Immobilie, eher schlampig hochgezogen.

Den Trümmerhaufen von Mühle wird ja wohl keiner ernstlich haben wollen. Die Fischzucht?«

»Die ist mindestens 200.000 Euro wert«, meinte Spiegel.

»Und wenn schon. Was wäre das für ein Plan? Da hätte ich eher verstanden, wenn jemand diese Karpfen geklaut hätte. Die ganze Herangehensweise passt nicht zu so einer massiven Drohung. Hätte man mit einer Nacht-und-Nebel-Aktion leichter haben können. Ein Zaun ist doch heute kein Hindernis mehr.«

»Was die Autos betrifft, handelt es sich um eine kuriose Sammlung, deren Wert ich nicht beurteilen kann. Kenne mich mit Ostkarossen nicht aus.«

Sie gingen noch einmal ins Gewächshaus.

»Bis auf den da«, Spiegel zeigte auf einen verrosteten Wartburg-Kombi, »sind die allesamt in gutem Zustand oder zumindest hat der Meister daran gearbeitet.«

Beide blickten ratlos auf die Fahrzeuge, die aufgebockt auf Balken standen. Bei den meisten fehlten die Räder, aber an den Achsen glänzte Fett, als wäre der Kfz-Meister gerade aus der Werkstatt gegangen. Hinter den Autos standen Regale mit Blumentöpfen und Pikierkisten. Plötzlich fiel Helmut Bauch dahinter eine glänzende schwarze Plane auf.

»Da steht noch etwas.«

Er drängte sich an der Wand des Gewächshauses nach hinten durch. Spiegel folgte ihm. Vor ihnen stand ein ungewöhnlich großer abgedeckter Pkw. Gemeinsam zogen sie die Plane zur Seite. Das Auto, das zum Vorschein kam, ließ Bauch nur ausrufen: »Ich glaube es nicht! Wann habe ich so ein Ding zum letzten Mal gesehen?«

Spiegel schüttelte irritiert den Kopf: »Ich habe so etwas noch nie gesehen.«

Die lange Schnauze, die chromglänzenden Felgen und die wuchtige Stoßstange erinnerte ihn an alte amerikanische Limousinen, wie sie noch auf Kuba herumfahren.

»Was steht hier vor uns, Kommissar? Eine Staatskarosse aus dem kalten Krieg?«

»Das ist auf jeden Fall richtig. Wir sehen einen Tatra, vermutlich aus den sechziger Jahren. Hergestellt in Ostrava, hieß früher Böhmisch-Ostrau.«

»Irgendwie erinnert mich das Design an einen Porsche, aber das kann man für Ostdeutschland ja wohl ausschließen.«

»Keineswegs. Dazu gibt es eine Geschichte die Sie nicht glauben werden. Vor dem Krieg lag der Ingenieur Hans Ledwinka aus Ostrau mit Ferdinand Porsche in einem Wettbewerb um das Design für einen Sportwagen. Die Nazis gaben dann Porsche den Zuschlag. Der Tatra ist sozusagen ein Relikt aus diesem Wettbewerb. Die kommunistischen Regierungen wussten die Wirkung dieses gewaltigen Fahrzeugs zu schätzen und nutzten es neben dem Tschaika aus der Sowjetunion als Regierungsfahrzeug. Einige von den Dingern rollten auch in der DDR herum. In diesem Moment frage ich mich, ob das Teil da eventuell das Objekt der Begierde sein könnte.«

»Kommissar, wie hoch schätzen Sie den Wert ein?«

»Ich verstehe nichts von Oldtimern. Aber dieses Auto, vor allem in dem Zustand, könnte einen Sammler aus Saudi-Arabien oder Fernost schon zu einer größeren Summe bewegen. Ob diese Tat allerdings das Abhacken einer Hand aufwiegt, wage ich zu bezweifeln. Der oder die Täter kommen nicht mit einer Anklage wegen Körperverletzung durch. Läuft auf schwerste Körperverletzung, Mordversuch, wenn nicht gar Mord hinaus. Und alles nur wegen eines solchen Blechhaufens?«

Bauch klopfte auf die Motorhaube. »Das machen doch nur Verrückte…aber denen begegnen wir ja immer öfter.«

Spiegel ging um das Fahrzeug herum.

»Ich mag gar nicht an den Benzinverbrauch denken. Aber wer heutzutage einen Hummer fährt, interessiert sich auch nicht für Spritpreise.«

»Spiegel, Ihnen ist hoffentlich klar, dass wir vor einem Dschungel an Ermittlungsrichtungen stehen. Die sollten wir sorgfältig untereinander auf eine Liste schreiben und abarbeiten. Wir beide schaffen das nicht allein. Morgen auf der Dienstbesprechung werden wir die Rollen verteilen. Kehrer weiß schon Bescheid. Diese Frau Hermann hat sich einen Augenblick hingelegt. Ist wohl erschöpft von dem Stress. Ich sehe mir derweil diese Weihnachtsbaumplantage an.«

Er ging zu einem Pfad, der zwischen den Reihen schulterhoher Bäume auf den Gipfel des Katzenbergs führte.

Mit schnellen Schritten stapfte Helmut Bauch nach oben. Obwohl er schwer atmete, bremste er nicht. Er wollte endlich ganz oben sein und von dort herabschauen. Er überlegte. Ein Tatort war das möglicherweise nicht, was unterhalb der Weihnachtsbäume lag, aber vielleicht der Anfang davon. Von hier aus verliefen die Spuren in verschiedene Richtungen. Eine von diesen würde zu dem Vermissten und zu den Erpressern führen. Dass hier nicht nur ein Täter am Werke gewesen war, davon war er inzwischen überzeugt. Am oberen Ende der Plantage stieß er unerwartet auf eine Bank; nicht einfach nur eine Sitzgelegenheit mit einem über zwei Pfosten genagelten Brett. Ein sorgsam aus Birkenstangen zusammengefügtes Sitzgerät mit Rücken- und Armlehnen, was den Kommissar sofort beeindruckte. Jede natürliche Krümmung der Hölzer hatte der Erbauer perfekt in die Linienführung der Lehnen eingepasst. Das Ganze war so geschickt zusammengefügt, als hätte die Natur ihr Holz einzig für diese Bank produziert. Hatte die auch der Mühlen-Pit gebaut? Vermutlich. Bewunderung und beinahe Sympathie erfassten Helmut Bauch, als hätte ihm ein Seelenverwandter ein Zeichen gesandt. Wo befand sich der jetzt ohne seine Hand? Gitarre wird er nie wieder spielen. Können wir ihn noch retten? Wie sie aussah, hatte die Bank bereits ein oder zwei Jahre hier oben gestanden. Auf der Rückenlehne siedelten graue und orangefarbene Flechten. Helmut Bauch setzte sich. Er lehnte sich an und blickte über die Ebene.

Ein königlicher Platz. Ich hätte mir eine ähnliche Bank hierher gesetzt.

Unten auf der Straße kam der Kran des THW herauf. Wie oft mochte Mühlen-Pit hier oben gesessen haben? Hat der hier gegrübelt, neue Coups ausgeheckt oder sich Lieder ausgedacht. Hat er womöglich hier Gitarre gespielt? Mit der rechten Hand berührte Bauch einen Gegenstand, der mit Draht befestigt an der Armlehne hing. Ein metallener Aschenbecher, der ihn aus seinen Betrachtungen riss. Das Gefäß ließ sich herausziehen und der Kommissar entleerte den Inhalt in einen Plastikbeutel. Zigarettenkippen, zerknüllte Papiertaschentücher. An einem klebte Lippenstift. Stammte der von der Ehefrau? Die war vorhin nicht geschminkt gewesen. Jantzen wird es herausfinden. Es lohnt sich immer, zuerst ganz nach oben zu gehen, dachte Helmut Bauch befriedigt und stapfte zwischen den Baumreihen wieder nach unten.

Der große Kran des THW konnte mit seinem Ausleger nicht bis an die Mühle heranfahren. Sie mussten die Büsche davor erst beseitigen.

Bauch sah, wie ein kleiner Fiat neben der Regentonne hielt. Eine schlanke, kleine Frau stieg aus. Sie sah sich um und ging zielsicher auf den Kommissar zu.

»Comissario Helmut Bauch?«, fragte sie: »Eine Kollegin Friderike Bäumer von der Spurensicherung Nordhausen hat mich angerufen. Mein Name ist Roberta Landi. Ich komme von der Gerichtsmedizin aus Jena.

Diese Friderike sagte mir, dass ich hier eine Hand abholen soll. Darum habe ich nur das kleine Auto genommen und den Leichenwagen in Jena gelassen.«

Bauch stutzte, ehe er zu einer Antwort fähig war. Die Frau hatte ihn überrumpelt, nicht nur durch ihre witzige Ansprache. Einen Akzent hatte sie keinen, aber dem Namen nach und auch wegen des Autos vermutete er eine Italienerin.

Arbeiten die inzwischen auch bei unseren Behörden?

»Vielen Dank, dass Sie so schnell gekommen sind. Es ist so, wie Sie sagen. Eigentlich hätten Sie auch ein Motorrad nehmen können. Unbekannte Leute haben uns die Hand eines Menschen geschickt und wir möchten natürlich so schnell es geht etwas darüber wissen. Das heißt: Gehört sie zu dem Vermissten? Wie ist sie abgetrennt worden? Wann ist das geschehen? Sie kennen ja wahrscheinlich den Fragenkatalog eines Ermittlers.«

Während er sprach, konnte er seinen Blick nicht von dem Gesicht der Frau wenden. Sie hatte schwarze Haare, eine schwarze Brille hinter der schwarze Pupillen auf ihn schauten. Ihre Nase war schlank und darunter ließen sich kleine Barthärchen nicht übersehen.

»Das Objekt liegt noch im Wohnzimmer. Unser Spurensicherer hat es wahrscheinlich wieder in die Verpackung zurückgelegt. Geben Sie mir bitte sofort Bescheid, sobald Sie sich ein Bild über die Geschichte dieses Körperteils machen können.«

»Bene. Commissario, so machen wir es.«

Er sah ihr nach, als sie ins Haus ging. Gehen kann man das nicht nennen, dachte er. Sie tänzelt fast. Trägt diese eingerissenen Jeans, die ja wohl genau so über den Ladentisch gegangen sind. Dazu diese Lederjacke. Und so hochhackige Schuhe, wahrscheinlich aus Mailand. Eigentlich geht sie wie auf dem Laufsteg. Und so etwas bei der Rechtsmedizin?

Wie auch immer.

Hinter ihm brauste Lärm auf. Die THW-Leute bahnten mit aller Macht dem Kran einen Weg zur Mühlenruine.

Er wollte gerade dorthin gehen, als Frau Hermann in den Hof trat.

»Haben Sie schon ausgeschlafen?«, fragte er etwas spöttisch, aber sie reagierte nicht darauf.

»Das Wort ausgeschlafen kenne ich schon seit zwanzig Jahren nicht mehr. Ich habe eine Krankheit, die man Narkolepsie nennt. Das ist ein Leben zwischen Wachsein und Schlaf und keines von beiden richtig. Meist wache ich nach 3-4 Stunden wieder auf und kann dann genauso lange nicht einschlafen, ganz egal, ob am Tag oder in der Nacht. Aber dann überkommt mich plötzlich die Müdigkeit und ich kann auf der Stelle einschlafen.«

Sie stand nah vor ihm und sprach leise, als wollte sie ihre Worte vor der übrigen Welt verbergen. Bauch beobachtete, wie sich die Pupillen der Frau weiteten und wieder zusammenzogen.

»Ich habe Ihnen gesagt, dass ich nicht weiß, wann Pit weggefahren ist.

Ich könnte Ihnen genauso gut erzählen, dass er gegen 3:00 Uhr Besuch von einer schlanken, blonden Dame mit knallrot geschminkten Lippen bekam und mit ihr dann fortgefahren ist. Aber ich weiß nicht ob das stimmt.«

»Was meinen Sie damit?«

»Die Narkolepsie beschert mir manchmal Halluzinationen. Gehört zum Krankheitsbild, hat der Arzt gesagt. Damit muss ich leben. Aber genau deshalb hat meine Aussage für Sie keinen Wert. Die Geschichte einer Verrückten. Da könnte ich genauso gut erzählen, dass heute Morgen ein riesiger Frosch im Teich gesessen hat, der nur dank des Gitters nicht heraus konnte. Den habe ich nämlich auch gesehen.«

Die Bewegungen ihrer Pupillen waren in ein Flackern übergegangen.

»Das wollte ich Ihnen nur schnell sagen. Die Arbeiter haben mich geweckt. Aber nun muss ich mich noch einmal für mindestens zwei Stunden hinlegen. Danach bin ich wieder für Sie da. Ich gehe nach oben ins Gästezimmer. Dann können Ihre Kollegen in aller Ruhe auch das Schlafzimmer durchsuchen.«

»Bevor Sie wieder verschwinden. Eine Frage noch: Wo finde ich diesen Mann, der einen Koi zu Silvester verspeist hat?«

»Er heißt Konrad Reill. Stammt aus Kasachstan. Russlanddeutsche nennt man diese Leute wohl jetzt. Er wohnt unten in Ostramondra. Um diese Zeit sitzt er wahrscheinlich im Gasthaus Zur Perle und wenn nicht, wird man Ihnen dort sagen, wo der Kerl wohnt.«

Ehe Bauch etwas erwidern konnte, war die Frau wieder im Haus verschwunden. Sie schwankt beim Gehen, dachte er und überlegte.

So unwahrscheinlich es klingt, warum sollte sie das vorspielen? Wenn es stimmt, was sie sagt wird es einen Arzt geben, der diese Krankheit und ihre Auswirkungen bestätigen kann; ganz abgesehen von dem flackernden Blick. Den kann schwerlich jemand willkürlich erzeugen. Was hat dieses Ehepaar für ein Leben geführt? Sie, die Kranke und weitgehend arbeitsunfähige Frau, er der umtriebige, jüngere Wilde? Wie es aussieht, ist sie die Erbin des Grundstücks. Hatte er sie geheiratet, weil er hier oben Raum zum Verwirklichen seiner Ideen und Spinnereien bekam?

Wie auch immer. Die Zeugin schläft jetzt. Wenn sie aufwacht, werde ich vielleicht noch etwas erfahren. Ehe die Leute den Kran aufgebaut haben, sollte ich zu diesem Karpfendieb fahren.

Konrad Reill

15:30 Uhr

Die Perle war eine Eckkneipe gegenüber einem Bestattungsinstitut. Daneben befand sich eine Tischlerwerkstatt. Das Äußere der Kneipe hatte keinerlei Ähnlichkeit mit irgendetwas, das an eine Perle erinnern konnte. Der Putz blätterte ab. Zwei von sechs Fensterläden fehlten. Über dem Eingang wurde eine Biersorte aus Apolda beworben. In den Fenstern klebten die Marken der Spielautomaten. Als Helmut Bauch die Stufen zur Tür betreten wollte, kam ihm ein schnauzbärtiger Mann in abgewetzter Arbeitskleidung entgegen. Er schwankte und schien den Kommissar gar nicht zu bemerken. Auf die Frage, ob er Konrad Reill sei, schüttelte er nur den Kopf, zeigte ins Innere der Kneipe und torkelte weiter.

Bauch trat in den Innenraum. Es war nicht schwer, Konrad Reill zu finden, denn er war der einzige Gast im Lokal und hing am Tresen. Dennoch wandte sich Bauch, um sicher zu gehen zuerst an die Bedienung, eine füllige Frau mit fettigen, schwarzen Haaren, die ihr ins Gesicht fielen. Neben ihrer Nase hatte sich ein kaperngroßes Gewächs in die Haut eingenistet.

Ich würde mir sowas wegmachen lassen, dachte Bauch und fragte sich gleichzeitig, ob die Kasse das überhaupt bezahlt.

Ehe Bauch etwas sagen konnte, fragte die Frau: »Was wünschen Sie?«

Spontan antwortete er: »Ein kleines Bier.«

Schließlich bin ich noch im Urlaub.

Als er es bekommen hatte, fragte er nach Konrad Reill. Sie machte nur eine Kopfbewegung in Richtung des Mannes am anderen Ende der Theke.

»Der sitzt hier«, meldete sich prompt eine knarrende, gutturale Stimme. »Warum wird nach dem gefragt. Sind Sie von der Polizei?«

»Bin ich. Können wir uns einen kurzen Augenblick unterhalten? «

Der Mann brummte etwas Unverständliches und Bauch fragte, ob sie sich an einen der Tische setzen könnten. »Kommen Sie bitte. Ich habe nur ein paar Fragen.«

Der Mann folgte ihm ohne Widerspruch. War etwa 60 Jahre alt. Ein riesiger Schädel mit aschblonden Haaren, kaum sichtbaren Augenbrauen, unrasierten Wangen und wie Bauch feststellen musste, nachdem sie das Gespräch begonnen hatten, nur noch wenigen Zähnen im Mund.

»Ich habe mir schon so etwas gedacht«, sagte Konrad Reill: »Seit die Polizeiautos auf den Berg gefahren sind, dachte ich mir sofort: Da hat es ihm endlich einer besorgt. Ist er tot, dieser Wahnsinnige?«

»Das wissen wir noch nicht, Herr Reill. Aber wir wissen, dass es zwischen ihnen Differenzen gegeben hat. Vor allem wegen eines Fisches.«

Der Mann bestellte einen Wodka und fragte, ob Bauch auch einen wolle. Der lehnte ab.

»Dieser lächerliche Koi. Die Schuppen zu entfernen war eine Plackerei. Und geschmeckt hat das Vieh auch nicht. Ich habe das wie ein Trinkgeld für meine Schufterei auf dem Berg genommen. Sonst war die Bezahlung ja nicht so rosig. Da oben weht manchmal ein Wind, der einem fast die Kleider vom Leib reißt. Da füttern Sie mal Karpfen und verscheuchen gleichzeitig die Fischreiher. Mühlen-Pit war ja kaum zu Hause. Der hatte noch ganz andere Baustellen.«

»Herr Reill, ganz unter uns. Haben Sie ihn nach Ihrer Entlassung bedroht?«

Reill stürzte den Wodka hinunter.

»Ja, das habe ich. Weil ich es bescheuert fand, wegen eines blödsinnigen Fisches solch ein Theater zu machen. Zugegeben, ich habe ihm eine Drohung geschickt. Sie werden sie finden, wenn Sie sie nicht schon gefunden haben.«

»Eine Morddrohung?«

»Ja, was man so in der Wut rauslässt. War aber nicht ernst gemeint. Ich habe ihm nichts getan. Wenn er jetzt tot ist, hat das jemand anderes gemacht. Der Scheißkerl hatte ja genug Feinde. Ich habe die Polizeiautos nicht gezählt, die seit heute Vormittag hinaufgefahren sind, aber es waren wohl mehr als drei.«

»Herr Reill, wo haben Sie sich in den letzten drei Tagen aufgehalten. Versuchen Sie sich, so gut es geht zu erinnern.«

Reill nahm einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas, wischte sich den Schaum von den Lippen und sagte mit einem Grinsen zur Bedienung:

»Da gibt es nicht viel zu erinnern. Hier war ich. Hier und zu Hause, was drei Häuser weiter ist. Meine Frau kann das ebenso bezeugen wie Hanni.«

»Das stimmt, Herr Kommissar. Konrad ist unser Dauergast. Manchmal holt ihn seine Frau ab, wenn er es nicht mehr alleine schafft.«

»Besitzen Sie ein Auto?«

Prompt kam die Antwort:

»Pah! Den Lappen hat man mir schon vor Jahren weggenommen. Und meine Frau hat keine Fahrerlaubnis. Wir fahren mit dem Bus, wenn wir mal zum Arzt, zum Arbeitsamt oder zur Post müssen.«

Helmut Bauch griff das Stichwort dankbar auf und tat erstaunt:

»Es gibt keine Post im Ort?«

»Unsere haben Sie vor zehn Jahren zugemacht.«

Die Möglichkeit, mit diesem Mann einen mutmaßlichen Täter zu entlarven, sank rapide. Dennoch wollte Helmut Bauch die Sache zu Ende bringen:

»Herr Reill, trotzdem möchte ich mich bei Ihnen zu Hause einmal umsehen.«

Der Mann zog genervt die Augenbrauen hoch:

»Wenn es unbedingt sein muss. Aber mein Bier darf ich noch austrinken…«

Bauch nickte freundlich.

»Hanni, ich komme gleich wieder«, rief Reill beim Hinausgehen.