Haldenblut - Frank Rebitschek - E-Book

Haldenblut E-Book

Frank Rebitschek

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Beschreibung

Zwischen dem Kyffhäuser und der Himmelsscheibe von Nebra geschehen seltsame Dinge. Menschen verschwinden spurlos, vor allem Wohnsitzlose, Prostituierte, Illegale und andere Schutzlose. Die im Dunkel sieht man nicht. Erst als eine Frauenleiche in der Unstrut angetrieben wird, bringt Kommissar Bauch aus Nordhausen gemeinsam mit seinem Kollegen Volker Spiegel Licht in die Sache. Das internationale Verbrechen breitet wie eine Fangschrecke die Arme längst auch im Kyffhäuserkreis aus. Hier taucht sie in Gestalt einer einzigen Person auf, die grausam und gleichzeitig genial zu Werke geht. Helmut Bauch muss sie zur Strecke bringen. So nahe ist ihm noch nie ein Täter gekommen. Er muss kämpfen; um den Frieden in seinem Heimatkreis und um seinen eigenen.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Unstrut

Roßleben

In der Wohnung

UTV

Sandy Schliff

Frau Brenner

Berti Kross

Denkerstuhl I

Die Armbanduhr

Monika

Im Gebüsch

Martina Leisegang

Görlitz

Brenners Vernehmung

Casino

Der Stick

Vermisstenakte

Die Spur

Kalifornien

Bernd Kluge

Schleuse Schönewerda

Straußfurt

Spiegel ist zurück

Die Profilerin

Pornokino

Käthe

Kerstin Leisegang

Injektion

Hohe Schrecke

Der Code

Langenroda

Die Einladung

Entschlüsselt

Der Inder

Die Landkarte

Bankschließfach

CREDO

Bern

Dr. Hoffman

Shenja

Schlangenfarm Schladen

Kölleda

SOKO V

Die Entdeckung

Das Fahrrad

Pro Halde

Der Schlosser

Wendelstein

Die Waage

Die Halde

Der Stausee

Das Haldengrab

Der Chef

Denkerstuhl II

Das Gemälde

Dr. Bergers Bericht

Der Name

Ines

Die Entscheidung

Flugplatz

Letzte Einsatzbesprechung

Die Falle schnappt zu

Die letzte Sitzung

Café Bauchgefühl

Danksagungen gehen an

Leseprobe

Vorwort

Alle Geschehnisse im Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlich lebenden Personen sind rein zufälliger Natur.

Auch nach diesem schwierigen Fall werden Kommissar Helmut Bauch und sein Assistent Volker Spiegel weiterhin im Kyffhäuserkreis und dem schönen Unstruttal ermitteln.

Frank Rebitschek, verbesserte 2. Auflage, 2018

Unstrut

Der Sommer steht hoch. Anfang August hatte man bereits große Flächen der Felder abgeerntet. Noch nie zuvor war das so früh im Jahr geschehen. Die langbeinigen Jäger stehen zwischen den Stoppeln und spähen nach Mäusen, die nach dem frühen Schnitt des Getreides nur noch wenig Schutz finden. Der Fluss, das Hauptjagdrevier der Reiher, hat sich in eine grüne Brühe verwandelt. Algen vernebeln dem Jäger den Blick. Nur ab und zu ein schlanker Fischrücken an der Oberfläche der Unstrut. Barsche sonnen sich und verschwinden, sobald ein Schatten auf die Wasseroberfläche fällt. Einen der Reiher lockt es trotzdem.

Seit Jahrhunderten hat der alte Fluss Fische für die Reiher und die Menschen hergegeben. Ausgenommen jene Zeit, als eine stetig wachsende Industrie am Ufer keine Rücksicht mehr auf das Wasser nahm und ihre Gifte hinein entließ. Da blieben den Reihern oft nur die Mäuse und das an der Oberfläche treibende Aas.

Heute aber waltet der Sommer mit aller Kraft und der Reiher schwingt sich hinauf, breitet seine Schwingen aus und sucht den algengrünen Fluss nach Freßbarem ab. Er fliegt den großen Bogen und schwenkt hinter Artern ein, überfliegt die Schleuse Schönewerda. Da sitzen Angler.

Paddler bereiten sich auf ihre nächste Etappe vor. Also weiter.

Überall nur Jungfische an der Oberfläche, die eine Landung und ein Zustoßen nicht lohnen. Weiterfliegen flussabwärts. Da, endlich ein Fisch; ein riesiger, seltsamer Fisch, wie ihn der Reiher noch nie sah. Viel zu groß für einen Reiherschnabel. Unmöglich, solch ein Exemplar zu packen. Auch hat er sich bereits in einem Netz verfangen. Dennoch fliegt der Reiher über ihn hinweg und landet auf dem Ast einer Weide. Der merkwürdige Fisch treibt seitwärts liegend an der Oberfläche heran. Dann, kurz bevor er die Weide erreicht hat, gerät er an einem Pfahl in einen Strudel und verschwindet in der Tiefe.

Der Reiher streicht ab und fliegt zurück zu den Feldern und den Mäusen.

Roßleben

Samstag, 16. August, 8:00 Uhr

Das Jahr hatte seinen Zenit längst überschritten. Die Brombeeren, schwer und überreif, trockneten bereits zusammen. Kommissar Helmut Bauch hatte es sich nach Jahren wieder angewöhnt zu frühstücken, jedenfalls am Wochenende. In diesem Monat gab es nicht viel zu tun. Verbrechensarme Zeit, dachte er und strich sich genüsslich die erste Brombeermarmelade des Jahres auf sein Brötchen.

Sommerloch auch bei der Polizei. Die schweren Verbrechen passierten in diesen Tagen woanders; in den großen Städten und in den Urlaubsgebieten. Villen, die es sich lohnen würde auszurauben, weil ihre reichen Besitzer den Sommer in der Toskana oder der Karibik verbringen, gab es hier ebenfalls nur wenige.

Um unseren schönen Landstrich als Urlaubsgebiet bekannt zu machen, bräuchte man ein spezielles Reisebüro, dachte er. Zwar haben die Rad- und Bootswanderer das Unstruttal für sich entdeckt und beim Bauernkriegspanorama Frankenhausen und bei der Himmelsscheibe von Nebra klingeln die Kassen. Aber die Einnahmen der anderen Kommunen bleiben gering.

Er saß an seinem kleinen, selbstgebauten Küchentisch und lauschte auf das Läuten der Kirchenglocken. Heute fand in St. Andreas eine Hochzeit statt. Die Sonne schien herein.

Sie wanderte bereits von der stillgelegten Halde des ehemaligen Bergwerks hinüber zum Hügel mit dem Wendelstein.

Den Stuhl auf dem er saß, hatte er ebenfalls selbst gebaut. Seit zwanzig Jahren saß er nur auf selbstgebauten Stühlen. Die waren allesamt in Sömmerda entstanden, in der Kellerwerkstatt im Haus der Eltern, das sie dreißig Jahre lang bewohnt hatten. Als Hilde an ihrer schrecklichen Krankheit gestorben war, hielt er es dort nicht mehr aus. Tochter Elke hatte kein Interesse an dem Haus und so verkaufte er und zog nach Roßleben. Hier war er geboren worden und die ersten Jahre zur Schule gegangen. Hier wollte er bis zu seinem Lebensabend bleiben.

Im Keller standen immer noch Umzugskartons, die er nicht ausgepackt hatte. Während der Ermittlungen am letzten Fall war er nicht dazu gekommen und mittlerweile fragte er sich, ob es sich überhaupt noch lohnen würde. In drei Jahren spätestens würde er in Pension gehen. Alles, was er zum Leben brauchte, war vorhanden. Wie wenig doch ein alter Polizeihauptkommissar zum Leben braucht, besonders wenn er als Leiter der Mordkommission immer noch dem Tod hinterherrennt und nicht zur Ruhe kommt.

Seit dem Einzug vor einem halben Jahr hatte er auch sein altes Hobby, die Möbelschreinerei nicht wieder aufgenommen. Zwar standen die Maschinen im Keller bereit, aber das Werkzeug hatte er bis auf einen Hammer, eine Zange und einen Schraubenzieher noch nicht ausgepackt. Er war noch immer nicht angekommen. Das lag auch an dem Fall aus dem Frühjahr, den er dringend vergessen wollte, was ihm immer noch nicht gelang.

Die Frühstücksruhe währte nur kurz. Selbst um diese frühe Uhrzeit rief sein Chef Balduin Kehrer an:

»Helmut, ein schönes Wochenende zu wünschen verbietet sich von selbst. Aber wir haben nun mal Ausnahmejobs. Was du nie wolltest, ist Wirklichkeit geworden: Eine Leiche vor deiner Haustür. Na, nicht direkt. Ein paar hundert Meter weiter. Muss irgendwo bei einem Park an einer blauen Brücke. Muss in der letzten Nacht dort angetrieben sein.«

»Ich kümmere mich darum; weiß, wo das ist.«

Das Auto kann ich stehen lassen. Der Weg zu Fuß ist kürzer, dachte er, eilte die Treppe hinunter und lief zum Park der ehemaligen Klosterschule unweit seines Hauses. Die Verbrecher nehmen inzwischen Rücksicht auf mein fortschreitendes Alter und verkürzen mir die Wege zum Tatort. Hoffentlich finde ich nicht eines Tages eine Leiche in meinem Keller. Spätestens dann werde ich mit dieser Arbeit aufhören. Unterwegs zog eine Menschenmenge an ihm vorbei.

Die wollen garantiert nicht zu der Hochzeitsfeier, dachte er, als er die merkwürdig dekorierten Leute sah. Sie gehörten zu einer Protestbewegung, die seit Wochen die Gegend in Aufregung versetzte.

Eigentlich waren es zwei Gruppen von Protestierern, was die Lage im Unstruttal noch angespannter werden ließ. Es ging um die seit Jahren stillgelegte Halde, die er von seinem Erkerfenster aus sehen konnte. Eines Tages war in der Presse die Meldung aufgetaucht, dass ein chinesischer Investor den Abbau des Kalis reaktivieren wolle. Die Wellen schlugen hoch. Sofort bildeten sich zwei Lager. Die einen wollten, dass alles so bliebe, wie eine deutsche Recycling-Firma es vorantrieb. Die Halde sollte wieder Natur werden, was Helmut Bauch mit gemischten Gefühlen beurteilte. Schließlich hätte es den Riesenhügel ohne den Eingriff des Menschen in die Natur gar nicht gegeben. Aber wenn sie etwas Ansehnliches draus machten?

Wie auch immer.

Die andere Gruppe erhoffte sich von der Wiederbelebung des Bergbaus Arbeitsplätze. Einige von denen waren noch vor Jahren in die Grube eingefahren und hatten jetzt ihre alten Helme aus dem Schrank geholt. Vor allem die Kopfbedeckungen waren es, wodurch sich die Parteien unterschieden. Helme trugen die Einen und seltsame Filzhüte mit Moos auf der Krempe die Anderen. Die hatten außerdem grüne Bändchen am Oberarm und zogen lärmend in ihrem seltsamen Aufzug an ihm vorbei. Wer hatte sich das ausgedacht? Ist wohl kaum auf unserem Mist gewachsen.

Wahrscheinlich hatte jemand einen Kostümbildner beauftragt und vermutlich gut bezahlt.

Waren das die Russen oder die Amerikaner gewesen? Roßlebener ganz sicher nicht. Nach wenigen Minuten hatte er den Park durchquert und die Blaue Brücke erreicht.

Das Bergungskommando der Feuerwehr war von der gegenüberliegenden Seite des Flusses herangefahren, wo sich die Gartenkolonie und der Ruderklub befanden. Die Kollegen von der Streife empfingen ihn auf der Brücke. Die war erst nach der Wende gebaut worden und hatte wegen des Anstrichs ihren Namen bekommen. Polizeimeister Wolf aus Artern zeigte nach unten. Dort bot sich ein bizarres Bild. Das Auffinden von Leichen ist nie eine schöne Angelegenheit. Immerhin war ein Mensch zu Tode gekommen, meist auf gewaltsame und ziemlich unappetitliche Weise.

Was Bauch hier sah, erinnerte ihn an ein Gemälde, so schrecklich der Anblick auch war. Das lag vor allem an den Seerosen. Große, dunkelgrüne Blätter und rosarote Blüten. In diesen hatte sich der Leichnam verfangen. Eine Frau in einem schwarzen, lackledernen Body und Netzstrumpfhosen, deren Kopf sich unter Wasser befand. Merkwürdig still war es am Fluss. Nur aus der Ferne drangen die Trillerpfeifen der Protestierer vom Marktplatz herüber. Die Unstrut gluckerte unschuldig unter der Brücke hindurch. Ein Kollege fotografierte. Manche Leute malen solche Bilder in Öl, dachte Bauch und ging zur Bergungsmannschaft.

»Ihr könnt sie vorsichtig rausholen, aber nicht in den Sarg legen, bevor die Spurensicherung da ist.«

Hoffentlich kommt Ralf Jantzen bald.

Die Sonne brannte schon wieder vom Himmel. Er ging wieder auf die Brücke. Wo war die Frau ins Wasser geraten? Hatte man sie hineingeworfen? Der Kleidung nach könnte man eine Prostituierte vermuten. Wir sollten nach derartigen Etablissements flussaufwärts suchen. Gibt es solche in Artern? Gibt es sicherlich. Mit dem Rotlichtmilieu hatte er bis jetzt wenig zu tun gehabt. Wäre der erste Mord aus dieser Szene in seinem Revier, wenn es denn ein Mord war.

Endlich traf am anderen Ufer der Wagen der Spurensicherung ein. Er ging hinüber und staunte nicht wenig als nicht Jantzen, sondern Friderike Hauser, genannt die blonde Friderike ausstieg, seine fast immer fröhliche, junge Assistentin.

»Ralf ist nach Greifswald zur Beerdigung seiner Mutter gefahren. Das hier schaffen wir auch allein.«

Sie hatte zwei junge Kollegen dabei, die gerade in ihre weißen Overalls schlüpften. Gemeinsam gingen sie zu der Leiche, die inzwischen am Ufer lag.

»Wie es aussieht, eine Prostituierte«, erklärte Bauch. Friderike bückte sich und drehte den Kopf der Frau zu sich. Plötzlich schrak sie zurück, sprang auf und stand zitternd davor.

Helmut Bauch schaute sie besorgt an. War die junge Frau diesem Job ohne ihren Chef doch nicht gewachsen?

»Gibt es ein Problem?«, fragte er.

»Das ist keine Prostituierte. Ich kenne diese Frau. Das ist Maryloo. Mit bürgerlichem Namen Marie-Luise Kraft. Wir sind…«

Friderike schluchzte plötzlich auf und drehte sich weg. Ihr ganzer Körper schüttelte sich. Unsicher stand Bauch daneben und überlegte. Schließlich winkte er einen ihrer Kollegen heran. Roland Klabund gehörte erst seit kurzem zum Team von Ralf Jantzen. Die beiden hatten sich angeblich während der Ausbildung kennengelernt und Jantzen hatte ihn geholt, weil Klabund in der Nähe seiner alten Eltern arbeiten wollte. Die wohnten in Sondershausen. Der Vater war dement und auch die Mutter häufig krank. Mit dem jungen Mann hatte Helmut Bauch bisher kein Wort gewechselt, ihn nur ein paarmal in der Dienststelle gesehen. Ihm war nur dessen riesiger, eiförmiger Schädel aufgefallen; eine kurzgeschorenen Frisur, die mit ihren überlangen Koteletten bis auf die Kinnladen reichte. Einen englischen Butler würde der filmreif abgeben. Er war höchsten 1,75 Meter groß, wodurch er etwas unproportioniert wirkte. Das zweite Merkmal des Kollegen waren seine Sweatshirts mit Kapuze, die er in wechselnden Farben und Ausführungen trug, selbst bei der größten Hitze.

Klabund blickte irritiert auf Friderike und zögerte. Bauch machte eine beschwichtigende Handbewegung und sagte:

»Bitte veranlassen Sie das Notwendige. Rechtsmedizin, Leichenwagen und so weiter. Ich brauche so schnell es geht den Todeszeitpunkt und die Todesursache. Man soll mich anrufen, von mir aus Tag und Nacht. Um Ihre Kollegin kümmere ich mich.«

Friderike drehte sich abrupt um und wischte sich die Tränen ab.

»Ich bitte um Entschuldigung, Kommissar Bauch. Dies ist mein erster Einsatz als Leiterin der Spusi und schon mache ich schlapp. Aber das konnte ich nicht ahnen.«

»Da machen Sie sich mal keine Gedanken. Sie waren also mit der Toten bekannt?«

Friderike kamen die Tränen erneut und sie nickte stumm und mit zusammengepressten Lippen. Plötzlich stieß sie hervor:

»Wir waren Freundinnen!... Warum? Warum das?«

Sie schüttelte sich, warf die Arme in die Luft und Bauch packte sie bei den Schultern.

»Wir gehen mal ein Stück von hier weg. Ihr Kollege wird das Erforderliche erledigen.«

Unweit der Brücke befanden sich die Bootsschuppen des traditionsreichen Roßlebener Ruderklubs. Neben alten, übereinandergestapelten Kanus gab es eine Bank.

Die kleinen Boote waren offenbar schon länger nicht mehr zum Einsatz gekommen, denn eine grünliche Patina von eingetrockneten Algen bedeckte die Plastikrümpfe. Vor allem aber versperrten sie den Blick auf den Fundort der Leiche.

Die Sonne hatte den Platz bei der Bank aufgeheizt und Friderike krempelte das Oberteil ihres Overalls herunter. Aus ihren Jeans zog sie ein Taschentuch hervor. Bauch wartete.

»Was können Sie mir über die Tote sagen?«, fragte er schließlich.

»Wir haben uns beim Joggen kennengelernt. Ich bin Mitglied im Förderverein unseres historischen Parks Hohenrode. Dort laufe ich regelmäßig und bin eines Tages Maryloo begegnet. Sie trainierte dort auch, aber anders als ich. Sie wollte als Ironwoman am Ironman auf Hawaii teilnehmen.«

»An was? Bitte genauer.«

»Ist das härteste Triathlon der Welt. 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42 Kilometer laufen.«

Das ist ja grauenhaft!

»Wollten Sie da etwa auch mitmachen?«

Friderike schüttelte heftig den Kopf.

»Dafür fehlt mir die Kondition. Vor allem fahre ich nicht gern Fahrrad. Bald trafen wir uns regelmäßig. Sie erzählte mir, dass sie im Park vor allem deshalb trainiere, weil ihr die alten Bäume Kraft gäben. Ich habe sie einmal beobachtet, als sie sich an eine Zeder wie in einem Gebet gelehnt hatte.

Wir haben uns dann auch auf einen Kaffee getroffen. Das erste Mal im Café Bauchgefühl.«

Den Namen des Cafés hatte Bauch von Volker Spiegel schon gehört und damals gedacht, dass das ein Witz sei. Offenbar gab es ein solches Café in Nordhausen tatsächlich. Ich komme hier zu wenig rum, dachte er.

»Was können Sie mir über die Tote sagen?«, fragte Bauch vorsichtig.

»Wir haben uns im Park kennengelernt. Aber das sagte ich ja schon. Sie erzählte immer von ihrem Sport und dass sie die Kondition für ihren Beruf als Journalistin braucht. Enthüllungsjournalistin, sagte sie einmal, als sie erfuhr, dass ich bei der Polizei arbeite. Da ermitteln wir also beide, meinte sie. Als ich mehr wissen wollte, wehrte sie ab.

Vielleicht brauche ich später mal deine Hilfe, sagte sie bei unserem letzten Treffen. Aber dafür ist es jetzt zu spät.«

Friderike rollten erneut die Tränen über die Wangen.

»War das alles, was Sie erfahren konnten? Ich meine, bei so einem Gespräch von Frau zu Frau wird doch bestimmt mehr ausgetauscht. Sie wissen, dass ich nicht aus Neugierde frage. Ich meine die merkwürdige Verkleidung der Toten, die doch sehr an eine Prostituierte erinnert.«

»Maryloo hat mir mal gestanden, dass sie auf…« Friderike schluckte: »Dass sie auf harten Sex steht. Leder und so. Irgendwie passte das ja auch zu ihrem harten Training und ihrem Traum vom Marathon. Aber im Innern war sie sehr sensibel, war sie ganz weich.«

Bauch schaute die junge Frau zweifelnd von der Seite an. Sie schnäuzte sich noch einmal, sprang plötzlich auf und sagte mit fester Stimme:

»Wir müssen sofort da hinfahren.«

»Wohin?«

»In ihre Wohnung und zwar schnell. Da muss es passiert sein und dort muss es Spuren geben. In Nordhausen. Ich weiß, wo das ist.«

Bauch glaubte nicht richtig zu hören.

»In Nordhausen? Wenn sie dort ermordet wurde, haben der oder die Täter die Leiche über 50 Kilometer bis an die Unstrut transportiert? Wir wissen noch nicht genau, wo sie ins Wasser gelangt ist? Aber warum das? Hätten sie doch genauso gut in einer der vollgelaufenen Kiesgruben bei Nordhausen versenken können. Wie auch immer. Fahren wir los. Sind Sie sicher, dass Sie das verkraften?«

»Ganz sicher. Das bin ich Maryloo schuldig. August-Bebelplatz 34.«

Helmut Bauch rief Kehrer an, damit der sofort ein Team dorthin schickte. Friderike zog den Reißverschluss ihres Overalls hoch bis unter den Hals.

»Gehen Sie vor bis zum Haupteingang Klosterschule. Ich hole nur mein Auto. Bis der Leichenwagen und die Rechtsmedizin eintreffen, werden Ihre Kollegen hier das Notwendige erledigen.«

In der Wohnung

A 38 nach Nordhausen, 9:10 Uhr

Unterwegs nutzte Bauch die Zeit für weitere Fragen.

»War Ihre Freundin verheiratet? Lebte sie allein oder mit jemandem zusammen?«

»Maryloo hatte einen Freund und das schon seit Jahren. War fast so etwas wie eine feste Beziehung. Wenn er nicht verheiratet gewesen wäre.«

»Wusste die Ehefrau etwas von dieser Beziehung?«

»Das wird Wolf, genau heißt er Wolfgang, kaum über sechs Jahre verheimlicht haben. Ich glaube, das wussten sogar seine Kinder.«

»Sie haben sich also allesamt arrangiert. Wie auch immer. Friderike, Ihnen ist klar, dass wir diesen Dauerfremdgeher als Nächsten aufsuchen müssen. Nennen Sie mir seinen vollen Namen und wenn Sie es wissen, seine Anschrift.«

»Wolfgang Brenner. Wo er wohnt, weiß ich nicht, aber wo er arbeitet. Er ist der Chefredakteur bei Unstrut TV.«

Helmut Bauch wäre in diesem Moment auch in die Bremse gegangen, wenn sich nicht zwei Trucker vor ihm ein Rennen geliefert hätten. Er pfiff durch die Zähne.

»Ausgerechnet diese Leute?«

Die ständige Behinderung der Polizeiarbeit durch die unverschämten Leute des privaten Fernsehsenders UTV in den zurückliegenden Jahren war noch nicht vergessen. Vor allem der Gedanke an deren Starmoderatorin Sandy Schliff mit der schrillen Frisur ließ Bauchs Blutdruck steigen, aber er beruhigte sich sofort. Hier bot sich endlich die Gelegenheit diesen sensationslüsternen Fernsehleuten mal auf den Zahn zu fühlen.

Diesmal sind wir es, die ihnen einen Besuch abstatten.

»Und wo befindet sich der Fernsehsender?«

»In unmittelbarer Nähe. Ein Hochhaus weiter.«

»Das wird ja immer besser.«

Friderikes Kollegen meldeten sich. Die Leiche war unterwegs in die Rechtsmedizin nach Jena und sie selbst fuhren hinter ihnen ebenfalls in Richtung Nordhausen. Bauch beorderte sie zum August-Bebel-Platz. Jetzt ärgerte es ihn noch mehr, dass Jantzen, der Leiter der Spurensicherung, nicht im Dienst war. Auch dass sein Assistent Volker Spiegel sich immer noch in der Reha befand, machte die Arbeit nicht leichter, obwohl sie von Kollegen aus Erfurt und Sömmerda unterstützt wurden.

Bis zur Autobahnabfahrt Heringen/Nordhausen sprach Friderike kein Wort. Sie weinte nicht mehr, sondern presste nur immer wieder die Lippen fest zusammen. Dass sie persönlich in den Fall involviert war, gefiel ihm gar nicht. Er hatte ein schlechtes Gefühl.

Soetwas brachte meist Komplikationen mit sich. Sie hielten vor einem der Hochhäuser an dem großen Karree mit dem Parkplatz in der Mitte. Zwei Polizeifahrzeuge waren bereits vor Ort.

»Maryloo wohnte im obersten Stock.«

Wie sehr sich Bauchs Befürchtung bestätigen sollte, zeigte sich als sie die Wohnung der Toten erreicht hatten. Die Kollegen hatten die Tür bereits geöffnet. Auf den ersten Blick war zu sehen, dass jemand die Räume mit äußerster Brutalität durchsucht hatte; umgeworfene Schränke, herausgerissene Schubläden und überall verstreute Papiere. Friderike schrak zurück, als sie ins Schlafzimmer traten.

»Nein!«, schrie sie.

Die schwarzen Bezüge und ein paar Handschellen, vor allem eine Art Galgen über dem Kopfende ließen keinen Zweifel über den Zweck dieses Etablissements aufkommen.

»Warum haben Sie gesagt, dass Ihre Freundin keine Prostituierte war? Das sieht hier aber ganz danach aus.«

Friderike ging zum Bett und umklammerte eine Messingkugel auf dem metallenen Pfosten.

»Maryloo war keine Nutte. Das hier ist eine Inszenierung und gehört zu einem Spiel. So haben Wolf und sie es gemacht. Es hat ihn angeturnt, das Nuttenspiel. Er hat ihr sogar jedes Mal Geld dafür gegeben. Davon sind sie anschließend Essen gegangen, hat sie mir erzählt.«

Helmut Bauch fiel es schwer, ihr zu glauben, zumal sie gerade wieder einem Tränenausbruch nahe war. Eine Kollegin kann sie von jetzt an nicht mehr sein, entschied er. Seine nächsten Fragen waren nur noch Routine und sie spürte es.

»Haben Sie Herrn Brenner persönlich gekannt?«

»Bin ihm einmal begegnet. Ein widerlicher Typ. So ein Brutalo nach außen und wahrscheinlich ein Weichei. Was Maryloo an dem gefunden hatte, habe ich nie verstanden.«

Sie brach plötzlich ab. Bauch war nicht der hasserfüllte Ausdruck entgangen, der sich über ihr Gesicht gelegt hatte. Ein Verdacht kam spontan auf.

»Friderike, sagen Sie bitte ehrlich, in welcher Beziehung Sie genau zu der Toten standen. Das ist mir alles zu emotional aufgeladen. Ich verspreche Ihnen, dass Ihre Aussage diskret behandelt wird.«

Das Wort Aussage hatte endgültig die Verhältnisse geklärt und auch Friderike begriff es sofort.

»Ich bin also von jetzt an keine Ermittlerin mehr, sondern eine Zeugin, vielleicht sogar eine Tatverdächtige. Schon verstanden. Also gut: Ich habe Maryloo geliebt, wie ich noch nie zuvor einen Menschen geliebt habe; erst bewundert und dann geliebt. Aber sie wollte von meiner Liebe nichts wissen. Sie stand eben auf Männer und vor allem auf solche schrägen Typen. Eben Iron Woman. Jetzt haben Sie mein Coming out.«

Dieses Bekenntnis hatte für Helmut Bauch eine untergeordnete Bedeutung. Inwieweit das in dem Fall eine Rolle spielte, würde sich zeigen. Bis Jantzen kam, brauchten sie Verstärkung.

»Frau Kollegin Hauser, ich muss Sie jetzt leider beurlauben. Ich nehme an, das werden Sie verstehen. Mit Polizeidirektor Kehrer werde ich die weiteren Schritte abstimmen. Gehen Sie bitte nach Hause und halten Sie sich zu unserer Verfügung. Und wenn Ihnen noch Details einfallen, bitte sofort anrufen.«

Er legte ihr seine Hand auf die Schulter. Sie schaute ihn verzweifelt und gleichzeitig irgendwie erleichtert an.

UTV

10:45 Uhr

Die Studios des Senders befanden sich nur wenige Meter von Maryloos Wohnung entfernt in der obersten Etage des Nachbarhochhauses. Inzwischen waren Roland Klabund und sein Kollege eingetroffen und durchsuchten die Wohnung.

Bauch ging mit einem Streifenpolizisten zu den Fahrstühlen und ließ ihn unten warten, falls in der Zwischenzeit jemand das Haus verlassen wollte. Er fuhr nach oben.

Die Etage des Senders war verschlossen. An der Sprechanlage meldete sich eine Frauenstimme. Man drückte einen Summer. Beim Eintreten eilte ihm eine Sekretärin in blauem Hosenanzug entgegen. Er fragte nach dem Chef.

»Herr Brenner telefoniert gerade. Ich werde Sie ankündigen.«

Sie bat ihn ins Sekretariat.

»Möchten Sie einen Kaffee?«

»Nein danke.«

Auf einem Hocker neben dem Empfangstresen saß eine Frau mit kurzgeschorenen Haaren und einer starken, schwarzumrandeten Brille. Sie wischte mit dem Finger über ihr Smartphone und blickte nicht auf.

»Frau Schliff?«, fragte er verwundert. Nur wenig erinnerte an Sandy Schliff, die schrille Moderatorin des Senders mit den feuerroten Haaren und den langen Ohrclips. Alles nur Verkleidung, dachte er amüsiert. Sie schaute auf.

»Hallo Kommissar Bauch! Welche Überraschung!«

Sie vertiefte sich sofort wieder in das Display ihres Gerätes. Dann stand sie plötzlich auf und ging grußlos hinaus. Die Sekretärin ging ebenfalls hinaus und nahm einen Stapel Papier mit. An der Wand lief auf einem Flachbildschirm die aktuelle Sendung. Thema war gerade die Bürgerbewegung um die Halde in Roßleben. Bauch war sofort wieder genervt. Natürlich auch hier. Sowas lässt sich von den Privaten gut ausschlachten. Man zeigte die Schar der Demonstranten, vielleicht etwa 100 Leute, einige mit Helmen und Trillerpfeifen. Dann sah man Sandy Schliff im Interview mit einem ehemaligen Mitarbeiter der Kaligrube. Der war früher dort Elektriker gewesen. Ist damals mit einem Moped 30 km unter der Erde bis zu seinem Arbeitsplatz gefahren.

»Das waren schon harte Zeiten«, schloss der Mann seinen Bericht.

»Und Sie wollen die Härten jetzt wiederhaben? Demonstrieren Sie für ein hartes vergangenes Leben?«

Bauch schmunzelte. Er hatte die Reporterin unterschätzt. Der Elektriker wurde ärgerlich.

Er schüttelte den Kopf und schrie in den Lärm der Trillerpfeifen:

»Das verstehen Sie nicht. Damals waren wir noch wer. Hatten unseren Stolz. Bergmann sein, das galt etwas. Wenn ich mir heute mein Geld ohne Arbeit vom Amt hole, gilt das nichts. Aber davon habt ihr Journalisten ja sowieso keine Ahnung. Wenn die Chinesen den Betrieb noch einmal in Gang setzen und ordentlich bezahlen, fahre ich wieder ein.«

»Und was sagen Sie zu Ihren Protestgegnern, die eine Wiederinbetriebnahme des Bergwerks verhindern wollen, diese Umweltschützer?«

»Umweltschützer? Pah! Das ich nicht lache. Die mit den grünen Armbändern und den lächerlichen Hüten sind von außen aufgehetzt worden. Von den Amerikanern oder den Russen, die verhindern wollen, dass die Chinesen hier Fuß fassen. Unsereins macht sich auch so seine Gedanken über die Globalisierung.«

Er drehte sich um und ließ die Reporterin stehen. Womöglich hat er sogar Recht, dachte Bauch. Wir wissen längst nicht mehr, wer mit uns was spielt. Wie auch immer. Jedenfalls nervt mich der Lärm vor meiner Haustür.

Die Tür zum Chefzimmer öffnete sich und heraus kam ein Mann, den Bauch niemals für den Redakteur eines privaten Fernsehsenders gehalten hätte, eher für einen Möbelpacker oder Fleischermeister.

Nicht nur eine große, sondern auch eine breite Gestalt; im Gesicht eine dicke, von zahllosen feinen Äderchen durchzogene Nase und fleischige Lippen. Sein Kapitänshemd stopfte der vermutlich schon länger nicht mehr hinter den Gürtel. Verbargen sich darunter Fettmassen oder Muskeln? Jedenfalls begriff Bauch sofort Friderikes Abscheu gegen diesen Mann. Über den Ohren hingen an goldenen Kettchen zwei Hälften einer Brille.

»Sie wollten mich sprechen, Herr Kommissar?«, fragte Brenner mit verblüffend hoher Stimme.

»Gehen wir doch in mein Zimmer. Die Sendung läuft jetzt noch 45 Minuten weiter. In der Zwischenzeit können wir uns unterhalten.«

Unterhalten, wie nett er das sagt.

Er folgte dem Chefredakteur in sein Zimmer. Wie nicht anders zu erwarten, ließ der sich in einem riesigen, braunen Bürosessel neuester Ausführung nieder und bat Bauch gegenüber Platz zu nehmen. Die übrige Einrichtung des Zimmers war sparsam gehalten.

»Ich gebe Ihnen nicht die Hand. Die Sommergrippe hat mich erwischt.«

Er zog ein Tempo heraus und schnäuzte sich.

»Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs? Bringt uns die Polizei die Stories nun selbst ins Haus? Das spart Benzinkosten.«

Er kicherte unbeholfen.

»Entschuldigung, sollte ein Witz sein. Worum geht es?

Braucht die Polizei zum ersten Mal unsere Hilfe? Das wäre auch für uns ein erfreulicher Umstand. Ich hatte mir schon lange eine bessere Zusammenarbeit gewünscht.«

Helmut Bauch ging das Geplapper des dicken Mannes mit der hohen Stimme längst auf die Nerven.

Der redet zu schnell. Ist er nervös und ahnt etwas? Oder er redet immer so. Ich werde nie verstehen, wie diese Medienleute ticken.

»Ich kürze ab: Kennen Sie eine Frau Marie-Luise Kraft?«

Mit einem Schlag verschwand die Heiterkeit aus dem Gesicht des Redakteurs. Er knipste die beiden Hälften seiner Brille über dem Nasenrücken zusammen, was nicht sofort gelang.

»Warum das? Warum diese Frage?«

»Beantworten Sie sie doch einfach.«

»Ja, ich kenne sie. Was ist mit ihr?«

»Sie ist tot.«

Brenner wirkte wie versteinert. Er starrte auf einen Briefbeschwerer auf seinem Schreibtisch, ein kleiner Amboss aus Messing, und rührte sich nicht. Bauch wartete.

»Was heißt tot? Wo ist sie? Wo haben Sie sie gefunden?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wie gut kannten Sie die Frau?«

»Wir waren seit Jahren befreundet. Den Rest können Sie sich selbst denken.

Ich will da gar keinen Hehl draus machen. Sie werden es sowieso herausbekommen.«

»Wann haben Sie Frau Kraft zum letzten Mal gesehen?«

»Am Donnerstag.«

Und gleich darauf fügte er hinzu:

»Wie jeden Donnerstag. So machen wir es seit Jahren. Das ist unser Tag. Mein Gott, ich fasse es nicht.«

»Hatten Sie nur, sagen wir mal, eine persönliche, also körperliche Beziehung zu ihr? Immerhin war Frau Kraft Journalistin, eine Enthüllungsjournalistin, wie ich hörte. Das muss doch für einen Sender wie den Ihren von Interesse gewesen sein.«

»Sie wollen wissen, ob wir bloß gefickt haben.«

Bauch schnaufte. Die Unterhaltung gefiel ihm immer weniger.

»Wir haben uns geliebt, auf welche Weise geht keinen was an. Darin waren wir frei. Aber das hat nichts mit ihrem Tod zu tun.«

Warum stellt er selbst eine solche Verbindung her? Danach hatte ich ihn doch gar nicht gefragt.

Plötzlich rannen dem Mann die Tränen über die Wangen. Bauch ließ nicht locker:

»Gab es nichts von dem, was Ihre Freundin recherchierte, das Sie für Ihren Sender hätten verwenden können?«

»Ganz sicher gab es das, aber sie rückte nichts raus. Das war tabu und unsere Übereinkunft.«

Helmut Bauch mochte das nicht glauben. Ein Fernsehmacher, der freiwillig auf eine Story verzichtet? Er wartete, überzeugt, dass noch etwas kommen würde.

»Allerdings war sie seit ein paar Monaten an etwas dran, dass offenbar heiß war. Und da sagte sie mal, ich würde es als Erster erfahren, wenn sie Klarheit darüber habe. Seitdem hatte sie sich irgendwie verändert. Ich glaube, sie hatte sogar Angst, was nicht ihre Art war. Ich möchte fast behaupten, dass ihr Tod etwas mit dieser Arbeit zu tun hatte. Kommissar Bauch, mehr weiß ich wirklich nicht. Woran ist Sie denn gestorben?«

»Das wissen wir noch nicht.«

Brenner schien nachdenklich und sagte plötzlich:

»Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Die Sache geht mir zu nahe und ich bin erkältet.«

Er sah auf die Uhr.

»Außerdem muss ich mich jetzt spritzen. Ich bin Diabetiker.«

Bauch erhob sich.

»Ich bräuchte noch eine DNA-Probe von Ihnen.«

Brenner zog die Stirn in Falten, aber Bauch beschwichtigte:

»Es genügt mir Ihr Papiertaschentuch. Unsere Kollegen sind da nicht empfindlich.«

Er zog eine Plastiktüte hervor und forderte ihn auf, das Taschentuch hineinzustecken.

»Sie werden natürlich Spuren von mir in ihrer Wohnung finden…«

»Davon ist auszugehen. Halten Sie sich bitte weiter zu unserer Verfügung und rufen Sie mich an, sobald Ihnen noch etwas einfällt. Außerdem muss ich mit Ihrer Moderatorin sprechen. Sandy Schliff oder wie sie heißt. Ich habe sie vorhin hier gesehen.«

»Das ist ihr Künstlername. Eigentlich heißt sie Sandra Schleiffer. Wir nennen sie auch Cassandra. Ich schreibe Ihnen drei Handynummern und die Adresse auf.«

Er zog einen Notizzettel unter dem Briefbeschwerer hervor.

Bauch bedankte sich, legte seine Visitenkarte auf den Tisch und ging, bevor er die Moderatorin aufsuchte, noch einmal zum Hochhaus des Mordopfers.

Klabund und sein Kollege waren unter den Schutzanzügen im Schweiße ihres Angesichts bei der Arbeit. In der obersten Etage des Plattenbaus herrschten Temperaturen von über dreißig Grad.

»Habt ihr etwas Verwertbares gefunden?«

Roland Klabund schüttelte den Kopf.

»Der hier war, hat ganze Arbeit geleistet und mitgenommen, was mitzunehmen war. Computer, externe Festplatten, wenn es überhaupt welche gab, Handy.«

Bauch sah die Schublade des Schreibtischs auf dem Boden liegen und stieg über die Berge von Papier. Die konnten sie unmöglich bereits durchgesehen haben.

»Heben Sie jeden Zettel auf und vermerken sie ihn. Irgendwo wird es einen Hinweis geben, mit wem das Opfer Kontakt hatte.«

Klabund nickte.

Warum der unter dem Overall sein verdammtes Sweatshirt nicht auszieht?

Helmut Bauch wollte gerade gehen, als ihm etwas einfiel. Plötzlich erinnerte er sich an einen lange zurückliegenden Fall, in dem jemand sein Testament versteckt hatte. Es hatte Wochen gedauert, bis ein Enkel durch Zufall das Papier fand.

Er trat an den Schreibtisch und befühlte im Hohlraum der Schublade die Tischplatte von unten.

»Na also.«

Dort war ein Briefumschlag angeklebt worden. Aus diesem zog er ein zusammengefaltetes Stück Papier hervor. Klabund riss sie Augen auf.

»Woher wussten Sie?...«

»Instinkt. Oder sagen wir Bauchgefühl. Ist kein so großartiges Versteck. Kommt gleich nach den Geldscheinen zwischen den Handtüchern im Kleiderschrank oder dem Wohnungsschlüssel unter der Fußmatte. Der Täter hatte offenbar doch nicht genügend Zeit gehabt.«

Das Papier zeigte eine handgezeichnete Landkarte des Kreises. Bauch steckte sie ein. Er musste schnellstens zu Sandy Schliff.

»Machen Sie weiter und achten Sie darauf, dass Sie nichts vergessen.«

Klabund versprach es, als sein Kollege rief:

»Hast du ihm das Büchlein gegeben?«

»Ach so ja, Entschuldigung. Fast hätte ich es vergessen.«

Helmut Bauch hatte Mühe sich zu beherrschen. Was für einen Ersatz hatte Jantzen da geschickt?

»Nein, Sie hätten nicht. Sie haben es vergessen.«

Wütend nahm er ein streichholzschachtelgroßes mit Hundertwasserdesign verziertes Büchlein entgegen. Es enthielt Namensabkürzungen und Telefonnummern. Das konnte ihnen weiterhelfen.

»Hat im Badezimmer in einem Schälchen mit Schmuck, Nagelfeile und Nagelschere gesteckt.«

Bauch reagierte nicht mehr auf die Bemerkung, sondern drehte sich um und verließ den Raum. Die Personalie dieses Kollegen musste mit Jantzen besprochen werden.

Sandy Schliff

12:00 Uhr

Die Moderatorin bewohnte eine Appartementwohnung in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs. Von hier aus wird sie die Dampfloks der Harzquerbahn pfeifen hören, aber auch das Quietschen der Straßenbahn, wenn sie am Bahnhofsplatz in die Kurve geht, dachte Helmut Bauch, als er vor dem Haus aus der Gründerzeit stand. Es gehörte zu den wenigen Gebäuden der Stadt, die von den mörderischen Bombardements vom April 1945 verschont geblieben waren. Auf dem Klingelschild gab es erwartungsgemäß keine Sandy Schliff, nur den Namen Schleiffer.

Klar, die will ihre Ruhe haben.

Er klingelte. Richtig getippt. Die Moderatorin erwartete ihn bereits. Sie wohnte in der obersten Etage, so wie sich auch die Studios ganz oben befanden. Dahinter verbirgt sich ein Prinzip. Menschen wie sie würden nie eine Erdgeschosswohnung beziehen. Wie auch immer. Der Summer ertönte. Langsam stieg er im Treppenhaus mit seinem kunstvollen, schmiedeeisernen Geländer nach oben. Der Bau hatte eine sorgsame Renovierung erfahren. Hier muss man sich eine Wohnung erstmal leisten können.

Ohne Neid dachte er an sein kleines Haus in Roßleben, dessen Renovierung bei seinem Budget noch einige Zeit dauern würde. Schnaufend erreichte er die oberste Etage. Sandy Schliff erwartete ihn in der Tür. War sie das überhaupt? Ohne diese Brille, die er schon im Studio gesehen hatte, hätte er sie nicht erkannt. Um den Kopf hatte sie ein Handtuch geschlungen und wohl gerade die Haare gewaschen. Der Jogginganzug enttäuschte ihn beinahe. Den wird hoffentlich nie ein Fernsehzuschauer zu Gesicht bekommen. In fetten Buchstaben stand darauf:

Das Leben ist zu kurz für Knäckebrot

Es war klar, hier hatte er es mit einer Frau Schleiffer und nicht mit Sandy Schliff zu tun. Der Blick auf ihre Pantoffeln bestätigte den Eindruck endgültig: Riesige Tigertatzen aus Plüsch. Soetwas hätte seine Tochter Elke in der Pubertät getragen.

Sie lehnte am Türrahmen und rauchte:

»Ich bitte um Entschuldigung für meinen Aufzug, aber Sie werden in Ihrem Beruf noch ganz andere Anblicke gewohnt sein. Kommen Sie bitte herein, Kommissar Bauch.«

Sie ging voran durch ein beeindruckendes, bürgerliches Heim. Früher hatte hier vielleicht eine Kaufmanns- oder eine Industriellenfamilie gewohnt. Dicke Teppiche bedeckten den Boden. An einer Wand hingen chinesische Rollbilder.

Sie kamen in eine Art Salon mit Stuckdecke und Kronleuchter. In der Mitte ein großer, runder Tisch. Es gab sogar einen Flügel. Aufgeklappt. Spielte die Frau Klavier? Bauch kam aus dem Staunen nicht heraus. Wo waren die anderen Menschen, die dieses mondäne Zuhause bewohnten?

Sandy schien seine Gedanken zu ahnen.

»Was Sie sehen, habe ich mir natürlich nicht selbst erwirtschaftet. Mein Vater war zu DDR-Zeiten im diplomatischen Dienst tätig und arbeitete gleichzeitig bei Koko, dieser Firma für kommerzielle Koordinierung, wie Sie sich vielleicht erinnern. Er hat sich noch vor der Wende aus dem Staub gemacht und meine Mutter und mich in Leipzig sitzen gelassen. Er ahnte, dass es mit dem Staat nicht lange weitergehen würde. Die Koko-Leute gehörten zu den bestinformierten Menschen in diesem System und sie haben ihr Wissen auch nach der Wende zu verwerten gewusst. So einer war mein Vater. Benedict Ezra Schleiffer. Ein großer Name, der natürlich so in der DDR nicht stehenbleiben konnte. Er nannte sich Professor Bernd Schleiffer. War natürlich nie Professor, sondern Geldmensch durch und durch. Hätte sich am liebsten auf seinen Scheinen gewälzt. Nach der Wende hat er die Rückübertragung seines Immobilienbesitzes erwirken können, wozu auch dieses Haus gehört.«

Sie drückte die Zigarette in einem Jugendstilaschenbecher aus, der aus einem Geflecht von Schlangenleibern bestand.

Warum wirkt die Frau so entspannt. Sie muss doch die Polizeifahrzeuge gesehen haben, als sie den Sender verließ. Hatte das nicht ihre journalistische Neugierde geweckt?

Bauch war froh, dass der Redefluss zum Stehen kam und wollte gerade seine erste Frage loswerden, als ein schwarz-weißes Kaninchen unter dem Flügel hervorgeschossen kam und bei Sandy auf den Schoß sprang.

»Das ist Bummi. Der wohnt schon zwei Jahre bei mir. Andere haben eine Katze, ich habe einen Hasen. Der scheißt keine Kötel auf den Teppich. Hat sich schnell an das Katzenklo gewöhnt.«

Sie streichelte zärtlich das Tier, das sich zwischen ihre Knie kuschelte.

»Darf ich annehmen, dass Ihnen diese Wohnung gehört?«

»Nicht nur die Wohnung sondern das ganze Haus. Als mein Vater vor fünf Jahren starb wurde mir alles überschrieben, auch ein Gebäude auf dem Bahnhofsgelände, das sich aber ohne eine Millioneninvestition nicht nutzen lässt.«

Die Frau zählt zu den wenigen reichen Einwohnern der Stadt. Warum lässt sie sich auf den bekloppten Job bei einem privaten Fernsehsender ein, der ihr vermutlich kaum ein anständiges Honorar zahlen kann für den Zirkus, den sie vor der Kamera veranstaltet.

»Frau Schleiffer, warum machen Sie das? Anders gefragt:

Wie sind Sie zu der Anstellung bei Herrn Brenner gekommen? Helfen Sie mir, die Zusammenhänge zu verstehen.«

Sandy nickte.

»Ich habe Tee gemacht. Möchten Sie auch eine Tasse? Bitte einen Moment Geduld.«

»Ja, gern.«

Bauch lehnte sich in dem Chippendale-Sessel zurück. Eigentlich keine Zeit für eine ruhige Teestunde. Aber er vermutete, dass die muntere Dame für ihn noch wichtige Informationen hatte. Plötzlich fühlte er sich, als befände er sich gar nicht in Nordhausen in der Nähe des Bahnhofs. Bis jetzt hatte er keine Dampflok pfeifen hören. Mindestens ein Zug müsste doch inzwischen gefahren sein. Sandy wird gute schallschluckende Fenster eingebaut haben. Sie kam mit dem Tablett herein.

»Nach dem Abgang meines Vaters von der sozialistischen Bühne gehörten Mama und ich zu den Aussätzigen. Meine Mutter fand in einem Krankensaal der Leipziger UNI-Klinik mit 22 Betten ihr Ende. Sie hat gottseidank nicht lange leiden müssen.«

Bauch hörte gespannt zu.

Ich muss mich zusammenreißen und mich nicht einwickeln lassen. Sie kann verdammt gut erzählen. Sollte ein Buch darüber schreiben.

»Hat sich Ihr Vater denn nach der Wende nie mehr gemeldet?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wäre für ihn zu gefährlich gewesen. Er wusste zu viel, vor allem über die Machenschaften des Regimes mit dem Westen. Erst Jahre später erfuhr ich, dass er unter einer anderen Identität in Bochum gelebt hatte. Von dort kam eines Tages ein Anwalt zu mir und dann setzte der warme Geldregen ein. Seltsamerweise konnte ich mich darüber nicht freuen. Klar, alle finanziellen Sorgen waren mit einem Schlag weg, aber Mama, die es am dringendsten gebraucht hätte, lebte nicht mehr. Ich nahm privaten Schauspielunterricht und habe es tatsächlich zu einem kleinen Engagement geschafft. In Parchim. Nette Leute. Minibühne. Hatte nach der Wende natürlich nicht lange durchgehalten. Dort habe ich Wolfgang Brenner kennengelernt. Als das Theater dichtmachte, gingen wir beide hierher nach Nordhausen. Bis die Renovierung des Hauses abgeschlossen war, wohnten wir am Bebel-Platz. Wir gründeten den Sender und machten so unser eigenes Theater. Mit unserer Beziehung war allerdings bald Schluss. Die Notzeiten und ein paar Träume hatten uns verbunden; für den Wohlstand war unsere Beziehung nicht gemacht. Dann begann die Fremdgeherei, Drogen, plötzlich wurde Wolfgang ganz dick. Konnte auch mit seinem Diabetes zusammenhängen. Aber wir haben die Arbeit fortgesetzt. Es lief sogar besser, als der emotionale Krampf raus war. Vor allem, als er ganz unerwartet geheiratet hatte. Wir waren damals alle überrascht.

Hing wohl mit dem ersten Kind zusammen, das die Frau von ihm erwartete. Außerdem war sie als Geschäftsinhaberin ganz gut aufgestellt. Soetwas zog Wolfgang immer besonders an. Ich habe mein Geld trotzdem in den Sender gesteckt und bis jetzt haben wir ganz schön was aufgebaut. Auch wenn unsere Arbeit der Polizei nicht immer gefällt.«

Wie schön sie umschreibt, was ihre Truppe uns in den letzten Jahren angetan hat. Wie auch immer. Jetzt ist es Zeit, den Schwatz über die Vergangenheit zu beenden.

Immer noch wirkte die Frau, als hätte sie nicht die geringste Ahnung, warum er gekommen war. Aber sie hatte auch nicht danach gefragt. Wollte sie Zeit gewinnen?

»Frau Schleiffer, haben Sie in den letzten zwei Stunden mit Herrn Brenner gesprochen?

»Unmittelbar bevor Sie kamen, bin ich mit ihm die morgige Sendung durchgegangen. Gleich danach habe ich noch einmal angerufen, aber Wolfgang ging nicht ans Telefon. Ich wollte ihm sagen, dass Ihre Kollegen vor dem Nachbarhochhaus stehen und er nachsehen solle. Ich habe heute frei und das ist selten genug. Diese Tage nehme ich Ernst. Aber vielleicht können Sie mir sagen, was der Polizeieinsatz bedeutet. Sind Sie deshalb hier?«

Bauch kam aus dem Staunen nicht heraus. Ahnte die wirklich nichts? Wenn ihre Ruhe gespielt war, galt äußerste Vorsicht. Höchste Zeit, zur Sache zu kommen.

»In welcher Beziehung standen Sie zu Frau Marie-Luise Kraft?«

Die Frage riss die Frau aus ihrer gespielten Gelassenheit. Sandy richtete sich auf. Das Kaninchen sprang von ihrem Schoß auf den Boden.

»Was ist mit ihr?«

»Wir haben sie tot aufgefunden?«

»Großer Gott. Mary… Was ist passiert?«

»Das wissen wir noch nicht. Noch einmal: in welcher Beziehung standen Sie zu ihr?«

»In letzter Zeit in einer ganz guten. Anfangs natürlich nicht, denn sie war eine der ersten mit denen Wolfgang mich betrogen hatte. Aber die Beziehung zwischen den Beiden hielt ja wohl länger, sogar nach seiner Hochzeit. Haben sich irgendwie alle arrangiert. Ich weiß, dass Mary an einer Geschichte dran war. Wolfgang deutete sowas an. Eine Powerfrau. Ich habe mal eine Sendung über ihr Training für Ironwoman gemacht. War für unser Team echt Stress. Die Frau ist innerhalb von 12 Stunden zweimal auf den Brocken gerannt und wieder runter. Wir hatten ein Team oben und eins an der Strecke. Unglaublich, was die geleistet hat. Aber nun das. Ich verstehe es nicht.«

Sie zündete sich eine neue Zigarette an.

»Trauen Sie Herrn Brenner einen Mord zu?«

Sie zog an der Zigarette und überlegte.

»Ich traue ihm so manches zu, vor allem Brutalität. Deshalb war es im Bett mit ihm manchmal unerträglich.

Aber einen Mord, wenn Sie eine geplante Tat meinen, halte ich für eher unwahrscheinlich. Fahrlässige Tötung, Totschlag im Affekt, Unfall. Ja, er war bei aller Cleverness immer auch etwas tölpelhaft.«

Das ist diese Frau garantiert nicht. Sie wird nicht nur die Geldgeberin bei UTV sein, sondern auch der heimliche Kopf der Firma. Die rothaarige Eminenz ist gleichzeitig das Aushängeschild des Senders. Von ihr sprachen die Leute im Landkreis, wenn sie von UTV redeten. Sie ist der Star. Wird sie das auch durchhalten, wenn sie den Sender eines Tages allein führen muss? Wie auch immer. Soll nicht meine Sorge sein.

Bauch ärgerte sich, dass sie noch keine Angabe über einen genauen Todeszeitpunkt hatten. Das machte eine Frage nach dem Alibi wackelig. Trotzdem versuchte er es.

»Frau Schleiffer, können Sie mir verbindlich sagen, wo Sie sich in der vergangenen Woche wann aufgehalten haben? Ich kann mir vorstellen, dass Ihr Beruf Ihnen einen turbulenten Tagesablauf beschert. Aber wo befanden Sie sich in der Zeit von Mittwoch, dem 13. August bis Freitag dem 15.? Besitzen Sie eine genaue Übersicht über Ihre Einsatzorte? Vielleicht anhand Ihres Terminkalenders?«

»So eine Übersicht könnte ich Ihnen tatsächlich zeigen, weil ich meine Arbeit beim Sender genauestens in meinem Computer abspeichere. Man kann ja nie wissen. Aber in diesem Fall ist die Sache verdammt einfach.

Ich bin am Mittwoch zu meiner Schwester nach Hamburg geflogen, der es gerade nicht gut geht. Freitag am späten Abend war ich wieder zu Hause.«

Bauch konnte nicht sagen warum, aber er fühlte Erleichterung darüber, dass diese Frau als Verdächtige ausschied, wenn das Alibi stimmte. Nicht weil er sie mochte, aber jede Einschränkung des Kreises der Verdächtigen bedeutete weniger Aufwand an Zeit und Kraft. Und ein Gefühl sagte ihm, dass sie alle davon noch reichlich benötigen würden. Er bedankte sich.

»Bleiben Sie bitte für uns erreichbar. Jetzt noch eine letzte Frage: Kennen Sie Frau Brenner und wenn ja, wo kann ich sie finden?«

»Angelika Brenner betreibt ein Kosmetikgeschäft in der Bahnhofstraße. Nicht weit von hier. Direkt neben der Destille Nordbrand.«

Er verabschiedete sich und ging wieder nach unten. Als er zum Auto ging, hörte er den Pfiff der Harzquerbahn. Er sah auf die Uhr. Sein Magen bestätigte die Mittagsstunde. Er wollte noch einmal zur Hochhauswohnung fahren. Das Geschäft der Frau Brenner lag am Weg. Hoffentlich war sie noch nicht ins Wochenende gegangen.

Frau Brenner

13:10 Uhr

Wolfgang Brenners Frau stand nicht hinter dem Ladentisch, kam aber sofort herbei als er nach ihr fragte. Er sah sich einer imposanten Erscheinung gegenüber. Die blonde Frau mochte gut einen Meter achtzig groß sein. Ihre langen Haare fielen auf die Schultern des weißen Arbeitskittels, unter dem sich ein beeindruckender Busen wölbte. Ebenso hervorstechend war die lange Nase, die zusammen mit den ebenmäßigen Lippen und den hochstehenden Wangenknochen dem Gesicht eine faszinierende Sinnlichkeit verlieh. In einem Nasenflügel glänzte eine silberne Perle. Eine Chefin, zweifellos, dachte Bauch beeindruckt. Die würde auch ohne Schminke auf den Lippen als Inhaberin eines Kosmetikgeschäfts durchgehen. Was trieb einen Typen wie den Brenner dazu, eine solche Frau jahrelang zu betrügen?

Wie auch immer.

Bauch zeigte seinen Dienstausweis vor. Gerade betraten neue Kunden den Laden.

»Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«, fragte er leise.

Frau Brenner stutzte und fragte schnell:

»Ist etwas passiert?«

Die Frage, so natürlich sie in dieser Situation war, überraschte in der Art wie sie gestellt wurde.

Täuschte ihn sein Gefühl oder hörte er für Bruchteile einer Sekunde soetwas wie Hoffnung heraus? Ich muss bald etwas essen, rief er seine Gedanken zur Ordnung. Die Frau bat ihn ohne eine Antwort abzuwarten in ihr Büro.

Das befand sich im Flügel eines alten Fabrikgebäudes, der an das Vorderhaus grenzte. Vor dem Fenster lagen eine ehemalige Laderampe und der asphaltierte Innenhof mit Müllcontainern. Dahinter sah Bauch die beiden Schornsteine der Nordhäuser Distellery, inzwischen soetwas wie ein neues Wahrzeichen der Stadt. Schornsteine in der Form von Flaschen warben für den Nordhäuser Korn, der schon vor der Wende eine in Ost und West beachtete Marke gewesen war.

Frau Brenner ließ sich in ihrem Chefsessel nieder und Bauch nahm ihr gegenüber Platz. Die Schornsteine hatte sie genau hinter sich. Auch Parfüm hat etwas mit Alkohol zu tun, war der kurze Gedanke, ehe er sich wieder auf seine Arbeit besann.

»Frau Brenner, der Grund meines Kommens ist eine Frau, mit der Ihr Mann offenbar seit Jahren eine Beziehung hatte.«

Sie zündete sich eine Zigarette an, offensichtlich bemüht unbeeindruckt zu erscheinen.

»Und was ist mit der Frau? Ich weiß von ihr. Das haben Wolfgang und ich untereinander geklärt.«

»Sie ist tot.«