SOKO Winckelmann - Frank Rebitschek - E-Book

SOKO Winckelmann E-Book

Frank Rebitschek

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Beschreibung

Wenige Kilometer voneinander entfernt werden bei Langenroda zwei Leichen gefunden, eine junge Ägypterin und ein nach Schätzen suchender Rentner. Die Spur führt über Berlin, Kroatien und Venedig bis in den Irak. Die Himmelsscheibe von Nebra, der Vater der Archäologie Johann Joachim Winckelmann und rätselhafte Spuren im Feld geben erste Hinweise. Nahe der Wasserburg von Heldrungen verbirgt sich ein Geheimnis, das sogar Europol auf den Plan ruft. Kommissar Helmut Bauch blickt im Kyffhäuserkreis erneut in das Mördergesicht der internationalen Kriminalität und trifft einen alten Bekannten.

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Für meinen Zeichenlehrer Peter Sandig

Inhalt

Vorwort

Prolog

Die Beerdigung

Baghdad

Einsatz

Ankunft am Hafen.

Echidna Ababneh

Der Traum

Die Bombe

Elke

Zweiter Einsatz

Das Frühstück

Carlo

Theater

Abfahrt nach Mosul

Konstantin

Ende der Fahrt

Polterabend

Boris

Polizeiruf

Auf der Brücke

Der Abflug

Moosbett

Straßensperre

Der erste Arbeitstag

Das Kopftuch

Friedrich Wilhelm Hübner

Schären

Pakistan

Spurensicherung

Das Zimmer

Dr. Barth

Tilman Kosic

Der Anrufer

Rechtsmedizin

Denkerstuhl

Evis Anruf

Das Wrack

Rosskur

Morgendliche Vernehmung

Die Karte

Fahndungserfolg

Testamentsuche

Der Einbrecher

Der Sohn

Sitzung

Berlin

Archäologisches Institut

Bunsenstraße

Tilman Kosic

Der Mitschnitt

Utsira

Der Antiquar

Das Terrarium

Denkerstuhl

Teichweg

Jugendhilfehaus

Zuwachsbohrer

Hermsdorfer Kreuz

Die Mumie

Lagebesprechung

Krone

Der Brand

Klappe zu

Festnahme

Nachgedanken

Das Testament

Müllmänner

EUROPOL

Der Erbe

Café Bauchgefühl

Nachwort

Danksagungen

Vorwort

Seit über zwanzig Jahren zieht es mich in das Land unter dem Kyffhäuserdenkmal und in das Unstruttal. Hier entstanden die Ideen zu meinen Krimis. Auch in herrlicher Landschaft kann das Verbrechen zu Hause sein. Polizeihauptkommissar Helmut Bauch und sein Assistent Volker Spiegel aus Nordhausen sind ihm auf der Spur. Die Gegend ist real, wenngleich nicht jeder Handlungsort tatsächlich existiert. Einheimische und Besucher dieses reizvollen Landstrichs in Nordthüringen werden das bald herausgefunden haben. Meine Kyffhäuserkrimis möchten auf Land und Leute neugierig machen. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufälliger Natur. Genannte Firmen sind am Ende des Buches unter Danksagungen berücksichtigt. Ich wünsche allen Lesern Vergnügen mit diesem vierten Buch der Reihe Kyffhäuserkrimis.

Prolog

Der Herbst kündigt sich in diesem Jahr unerwartet früh mit einem starken Sturm an. Auf der Hohen Schrecke wirft er Bäume um, die ihm seit Jahrzehnten getrotzt hatten. Grüne Blätter wurden abgerissen und Äste flogen durch die Luft.

Das kleine Dorf Langenroda liegt im Windschatten des Höhenzuges. Dort ist es ruhiger. In der Höhe kämpft der Reiher gegen die Sturmböen an und sucht einen ruhigen Ort zur Landung. Am Eingang zum Wald liegt ein kleiner, fast eingetrockneter Teich. Wenn die Sommer sehr heiß waren, hatten die Dorfbewohner früher dort gebadet. Dicht daneben gibt es noch einen verwilderten Fußballplatz. Die Kinder, die hier spielten, haben inzwischen selbst Kinder, die entweder im Fernsehen die Spiele schauen oder zu einem größeren Trainingsplatz fahren. Aber hier herrscht keine Ruhe. Gerade kommt der Linienbus und hält auf der Wendeschleife. Der Fahrer steigt aus und macht Pause.

Der Reiher fliegt weiter über das Dorf. Zwei Kolkraben haben sich hinter dem Turm der Kirche St. Georg in einen Baum geflüchtet. Diese Gesellschaft meidet er und fliegt zum gegenüberliegenden Hang. Hier ist das Feld längst abgemäht worden und er kann auf die eine oder andere Maus hoffen.

Bevor der Sturm nicht nachlässt, bleibt ein Flug über den Kamm gefährlich. Er landet und legt die Flügel zusammen.

Weiter unten im Unstruttal leuchtet es blau zwischen den Wolkenfetzen. Das Unwetter wird nicht mehr lange anhalten.

Plötzlich bemerkt er, dass er nicht allein auf dem Feld ist. Weiter oben steht am Waldrand ein weißer Reiher, eine Reiherfrau. Die Weißen tauchen immer häufiger hier auf. Sie kommen von weit her.

Aber da gibt es noch jemanden auf dem Feld. Zwischen den beiden Vögeln schleppt sich ein alter Mann mit einer Eisenstange ab. Was tut der da? Schritt für Schritt bewegt er sich in gerader Linie voran. Der Wind pfeift durch die Gartenzäune am unteren Feldrand und bläst der Reiherdame unters Gefieder.

Plötzlich zerreißt ein scharfer Knall die Luft und ein Blitz leuchtet in der Mitte des Feldes. Der Mensch schreit auf und stürzt zu Boden. Die Reiher ergreifen die Flucht. Der Graue fliegt zurück zum Wald und der Weiße in Richtung der Unstrut, wo über dem Tal gerade die Sonne durchbricht.

Die Beerdigung

Rossleben, Freitag, 14. September, 15:30 Uhr

Alle Sachen waren gepackt. Die Wiege hatte er in eine Decke eingeschlagen und auf der Rückbank verstaut. Der weiße Smoking, den Sekretärin Monika für ihn aufgearbeitet hatte, hing in einem Kleidersack. Tanken würde er irgendwo unterwegs während der Nachtfahrt ins Emsland. Innerhalb eines Jahres hatten Polizeihauptkommissar Helmut Bauch und sein Team von der Landespolizeiinspektion Nordhausen drei außergewöhnliche Fälle gelöst. In drei Jahren sollte er in Pension gehen und hatte früher nie für möglich gehalten, dass sich über dem eher verschlafenen Landkreis zwischen Kyffhäuser und Himmelsscheibe von Nebra derartig düstere Wolken des Verbrechens zusammenbrauen könnten. Dreiunddreißig Dienstjahre und dann solch ein Abspann. Die Zeiten haben sich geändert. Zwar waren die Fälle abgeschlossen, doch bei ihm hatten sie Spuren hinterlassen wie Narben auf seiner Seele. Dazu kam die Gewissheit, dass ein Hauptverdächtiger nicht gefasst worden war.

Damit sollte jetzt Schluss sein; wenigstens für die Dauer dieser Reise wollte er die Erinnerungen ausblenden. Seine Tochter heiratete und hatte ihn zur Feier eingeladen. Elkes später Eintritt in den Stand der Ehe.

Einige hundert Kilometer entfernt, an der holländischen Grenze sollte das Ganze auf einem Schiff in der Nordsee stattfinden. Einfacher wäre es ihm lieber gewesen. Stärker bewegte ihn jedoch der Bräutigam, dem er dort begegnen würde. Niemals vorher hatte Elke sich für ältere Herren interessiert und dann so einer… fast genauso alt wie er selbst.

Wie auch immer. Ist nicht meine Hochzeit.

Bevor er die Wohnung abschloss, blieb er noch einen Moment im Erker des Wohnzimmers stehen und schaute zur Halde hinüber. Auf die Büsche des künstlichen Hügels dort fiel bereits die Nachmittagssonne, aber gleichzeitig rüttelte ein Sturm an seinen Fensterrahmen. Um 16:00 Uhr sollte die Beerdigung auf dem Roßlebener Friedhof stattfinden. Der Kriminalkommissar stand in seiner alten Uniform, die seit den Jahren bei der Schutzpolizei im Schrank hing, am Fenster. Mit dem Wechsel zu K benötigte er sie nicht mehr. Fortan trug er Zivil. Eigentlich hatte er sie nie wieder anziehen wollen, aber für diesen Anlass machte er eine Ausnahme. Monika hatte Knöpfe versetzen müssen. Im Gegensatz zu damals, machte sein Körper dem Namen Bauch nun alle Ehre. Heute trug er das gute Stück für seinen alten Schulfreund und Kollegen Bernd Kluge. Der ehemalige Leiter der Hundestaffel hatte sich im vergangenen Monat das Leben genommen.

Damit endete eine Freundschaft, die über vierzig Jahre gehalten hatte und einst in der Schule in Roßleben begann. Während der ersten Monate nach der Wende hatten sie gemeinsam in den neuen Uniformen Dienst getan. Er schloss die Wohnung ab und ging zur Garage hinunter. Das kleine Stück bis zum Friedhof in der Ernst-Thälmann-Straße hätte er auch zu Fuß zurücklegen können, aber er wollte nicht in der alten Uniform durch den Ort laufen. Einige Anwohner wussten immer noch nicht, dass er bei der Polizei arbeitete und von ihm aus sollte das so bleiben. Geredet und getratscht wurde genug. Eine Beisetzung unter Teilnahme von Uniformierten würde ohnehin im Ort und in der ganzen Umgebung für Gesprächsstoff sorgen. Sie hatten sich in der Dienststelle auf diese Form geeinigt. Uniformträger kamen in Uniform. Dienstwaffen waren nicht am Gürtel, sondern verdeckt zu tragen. Bernd Kluge würde das gefallen, war die überwiegende Meinung gewesen. Manchmal untersagten die Angehörigen eines im Dienst verstorbenen Kollegen die Anwesenheit von Uniformen auf dem Friedhof. Das Problem bestand hier nicht. Auf Anfrage hatte dessen Bruder die Entscheidung ausdrücklich begrüßt. Bauch wunderte sich darüber nicht. Er hatte den älteren Heinz-Eberhardt noch in der Schule kennengelernt. Der war zur Offiziersschule der NVA nach Löbau gegangen und später als Politoffizier bis zum Major befördert worden. Nach der Wende war auch für ihn Schluss gewesen. Zwangsruhestand.

Er stellte das Auto auf dem Parkplatz des Friedhofs ab, wo sich bereits mehrere Fahrzeuge aneinanderreihten, darunter drei Mannschaftswagen.

Sieht aus wie Großeinsatz Friedhof, dachte er.

Die eigentliche Trauerfeier sollte im engen Kreis der Familie in der Leichenhalle stattfinden. Helmut Bauch wusste nicht, wieviel Anhang dazu gehörte. Er betrat das Gelände und begegnete bereits am Tor seinem ehemaligen Chef Balduin Kehrer, der neben einem Aschenbecher stand und rauchte. Er war in Zivil gekommen. Vor zwei Monaten hatte er endgültig den Dienst quittieren müssen. Binnen weniger Wochen hatte die Krankheit, die sein Gedächtnis aufzehrte, ihn schwer gezeichnet. Bauch konnte nur mit Mühe sein Erschrecken verbergen.

»Grüß dich Helmut!«

»Balduin! Schön, dass du gekommen bist.«

Er verkniff sich die Frage nach dem Wie geht es dir?

»Das bin ich unserem alten Freund schuldig. Man hat mich gefragt, ob ich die Trauerrede halte, aber das mache ich besser nicht, bevor ich sinnloses Zeug stammele. Außerdem will ich die Vögel nicht stören. Einen schönen Friedhof habt ihr. Muss ich mir mal überlegen…«

Bauch nickte. Kein Vogel ließ sich auf dem Friedhof hören.

Nur ein paar Spatzen tschilpten auf dem Parkplatz. Es war September. Ermutigend drückte er Kehrers Schulter.

»Da vorn links geht es zur Grabstelle. Die Kollegen sind schon da. Komme gleich nach.«

Nicht nur die Kollegen der Dienststelle hatten sich versammelt, sondern auch die Mitglieder der Jagdgemeinschaft und des Schützenvereins, allesamt in Uniform. Sogar die ganze Hundestaffel war nahezu vollständig angetreten und das, obwohl auf Friedhöfen Hundeverbot galt. Eva Naef, die neue Leiterin hatte die Ausnahmeregelung erwirken können. Polizeihunde können sich benehmen, hatte sie versichert. Die Leichenspürhunde sind wahrscheinlich zu Hause geblieben, kam es Bauch plötzlich in den Sinn.

Für die Jäger hatte es diese Ausnahme nicht gegeben. Sie standen im Spalier aufgereiht, als gelte es nicht, einem liebenswerten, alkoholkranken Polizeimeister die letzte Ehre zu erweisen, sondern dem gefallenen General irgendeiner Fantasiearmee. Bauch gesellte sich zu Volker Spiegel und Ralf Jantzen, die in Zivil gekommen waren. Sein Assistent und der Leiter der Spurensicherung würden während seines Urlaubs die Stellung halten. Außerdem waren noch die übrigen Kollegen der K da. Der kommissarische Dienststellenleiter Dieter Schütze trat zu ihnen. Er werde die Trauerrede halten, sagte er und erklärte:

»Ein Pfarrer wäre für den Atheisten Kluge nicht in Frage gekommen.

Die Jäger werden auf den Hörnern blasen. Der Bruder, dieser NVA-Major, verlangte, dass sie Ich hatt´ einen Kameraden spielen.

»Scheiße!«, entfuhr es Bauch. »Kann man denn diese Wendehälse immer noch nicht aufhalten? Auf die gleiche Melodie mussten wir doch damals das Hans-Beimler-Lied singen. Vor Madrid auf Barrikaden und so weiter.«

»Beruhige dich. Hier singt keiner.«

»Sie kommen!«

Die Türen der Feierhalle wurden geöffnet und der Sarg herausgetragen; dahinter folgten die Familienangehörigen. Sofort fiel Bauch in der ersten Reihe die große Gestalt des Majors in Paradeuniform auf. Er traute seinen Augen nicht. Kluges Bruder hatte sich mit all seinen Ehrenzeichen der Vergangenheit dekoriert: Orden, Schützenschnur und Qualispange.

Ist das eigentlich noch erlaubt? Ich werde ihm unbedingt aus dem Weg gehen. Womöglich redet der Typ mich noch mit „Genosse Bauch“ an.

Neben ihm gingen eine Frau und ein großer aufgeschwemmter junger Mann. Bernd hatte einmal von seiner ersten Frau erzählt und erwähnt, dass aus der Ehe ein Sohn hervorgegangen sei, zu dem er aber keinerlei Beziehungen pflegte. Bei dieser Dame könnte es sich um die Ex-Frau handeln. Besagter Sohn müsste etwas jünger als Elke sein. Das könnte auf den jungen Mann zutreffen, obwohl dessen Alter schwer zu bestimmen war. Der trug eine schwere Lederkluft.

Ein schwarzer, mit Nieten besetzter Mantel fiel bis über die Knie herab. Darunter blitzten schwarze Stiefel, klobig und mit Metall beschlagen. Sein Gesicht war kalkweiß und die Lippen schwarz geschminkt. In der Nase und in den Ohren steckten Ringe. Trauerbekleidung der besonderen Art. Das galt auch für die mutmaßliche Mutter. Die hatte ihre Lippen zwar nicht schwarz, aber dafür grellrot geschminkt. Über ihrem vorstehenden Bauch trug sie ein schwarz-weißes Hawaiihemd. Was beiden eigen war und sie als Mutter und Sohn erkennen ließ, waren ein kurzer über den Kragen quellender Hals und ein enormes vorgeschobenes Kinn. Bauch konnte sich seinen alten Freund unmöglich neben diesen Menschen vorstellen. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.

Jäger und Polizisten trugen den Sarg vorbei. Die Jäger hatten an die Krempe ihrer Hüte Bruch gesteckt. Bauch sah einen Kranz mit der Aufschrift Weidmanns Ruh. Bernd Kluge war beides gewesen; Polizist und Jäger und so wurde er auch zu Grabe getragen. Dann kam das Unvermeidliche: Ich hatt einen Kameraden.

Bauch schielte zu den Hunden. Ich wäre nicht böse, wenn jetzt einer von denen zu heulen anfinge.

Aber nichts dergleichen passierte. Der Dienstellenleiter hielt seine Rede. Der Sarg wurde hinabgelassen. Kaum hatte er den mit Reisig ausgelegten Boden erreicht, als irgendwo ein Handy ertönte. Sofort entstand Unruhe bei den Beamten. Dieter Schütze kam.

»Einsatz, Helmut. Aber nicht für dich. Du hast Urlaub. Fahre in Ruhe zu deiner Tochter.«

Spiegel und Jantzen waren schon losgerannt. Andere Kollegen folgten ihnen eilig. Die übriggebliebene Trauergemeinde rückte zusammen. Einer der Jäger sprach ein paar Worte. Bauch sah Kehrer mit geschlossenen Augen vor einer Eibe stehen, neben ihm eine resolut wirkende Frau mit Namensschild an der Bluse. Offenbar eine Betreuerin.

Den Angehörigen zu kondolieren, brachte er nicht über sich. Unauffällig stahl er sich davon und ging zum Parkplatz. In der Ferne hörte er noch einmal die Jagdhornbläser: Jagd vorbei! Halali!

Ruhe in Frieden, Bernd. Deine Hunde sind in guten Händen.

Baghdad

ein Jahr zuvor, im September, 18:00 Uhr

Der Flieger aus Berlin war wegen starker Sandstürme mit einer halben Stunde Verspätung am International Airport gelandet. Jasper Westinghaus fand vor dem Hauptgebäude nur ein Taxi.

Was man hier so als Taxi fahren lässt, dachte er wenig begeistert beim Anblick des verbeulten Toyota-Pickups mit dem Taxischild. Einen Moment zögerte er, ob er einsteigen sollte, aber er hatte keine Auswahl und immerhin standen zwei bewaffnete Uniformierte neben dem Fahrzeug und der Tafel mit der Aufschrift Taxi; auf Arabisch und Latein. Dank Echidnas Hilfe konnte er auch das Arabische lesen, obwohl ihm die Schriftsprache immer noch schwerfiel. Sprechen konnte er durch ihr gemeinsames, intensives Training besser, doch reichte sein Wortschatz auch da nicht weit. Entschlossen ging er zum Taxi und fragte den Fahrer in der Landessprache nach dem Kulturministerium. Der sprang sofort bereitwillig auf, ergriff seinen Rucksack und warf ihn auf die Ladefläche. Jasper sah die große, festgeschraubte Holzplatte mit den Löchern in der Mitte. Klar, darauf hatten sie im Kampf ihre Kanone angeschraubt. Im Fernsehen oft genug gesehen. Und sie werden es wieder tun, wenn nötig.

»Haifa Street! Okay!«, rief der Fahrer und forderte ihn zum Einsteigen auf.

Bis zur Haifa Street war es nicht weit. Der Fahrer arbeitete sich mit Hupen und lauten Beschimpfungen durch die weniger von Fahrzeugen, als von Menschen verstopften Straßen. Rushhour in Bagdad. Er erzählte seinem Fahrgast irgendetwas in lautem Redeschwall, von dem der nicht einmal die Hälfte verstand. Anscheinend ging es um die Politik und die USA; in diesem Land immer noch das Dauerthema. Ergeben brummte er und nickte, ohne Ahnung, welcher Ansicht er zustimmte.

Nach einer Viertelstunde hatten sie das Gebäude des Ministeriums erreicht. Dort würde er sich hoffentlich auf Englisch verständigen können. Über die Botschaft war er angemeldet worden. Der Fahrer nahm gern Euro als Bezahlung. Mit dieser Fuhre hat der vielleicht ein Monatsgehalt verdient, vermutete Jasper und ergriff seinen Rucksack. Er dankte und verbeugte sich. Bei einem Blick zurück sah er, wie der Taxifahrer lautstark telefonierte.

Er wird seiner Frau von der erfolgreichen Fuhre berichten.

Das Gebäude war frisch renoviert worden. An den Betonpfosten rechts und links neben dem Eingang prangten zwei vergoldete Stierköpfe. Davor stand ein Sicherheitsbeamter mit Maschinenpistole und trat ihm sofort in den Weg. Er verlangte einen Passierschein.

Jasper zog die Einladung des Ministeriums und seinen Presseausweis hervor. Minutenlang studierte der Mann die Dokumente.

Konnte der die überhaupt lesen? Er trug einen Schnurrbart und ähnelte damit wie mindestens zwanzig andere Männer, die Jasper auf dem Weg bis hier gesehen hatte, dem früheren Machthaber Saddam Hussein. Nach einer Weile griff er zum Sprechfunkgerät und gab die Papiere zurück.

»Wait! Mister!«

Bald darauf öffnete sich die Tür und ein anderer Mann in langem, weißem Gewand und einem schwarzen Vollbart winkte ihn ins Gebäude. Er führte ihn zu einem Büro in der ersten Etage. Auf dem Schild an der Tür stand unter den arabischen Buchstaben:

Direktorate General of Antiquities.

Als er eingetreten war, erhob sich ein schlanker, junger Mann mit gepflegtem Kinnbart, Anzug und Krawatte von seinem Schreibtisch und begrüßte den Ankömmling.

»Welcome, Mister Westinghouse!«

Der Mitarbeiter der Generaldirektion stellte sich als Dr. Laith Sharif vor und hatte ihn schon erwartet. Die Reise war durch Intervention des Auswärtigen Amtes möglich geworden. Deshalb behandelten die Behörden in Bagdad den Vorgang mit besonderem Respekt. Es hieß, der Journalist aus Deutschland wolle sich ein Bild vom augenblicklichen Stand der Plünderungen antiker Kunstschätze im ehemaligen Kriegsgebiet machen.

Dabei ging es angeblich um illegalen Handel und Fälschungen im großen Stil. Die irakischen Behörden waren mit derartigen Untersuchungen entweder überfordert oder hatten aus anderen Gründen kein Interesse daran, dass die Taten der Räuber öffentlich gemacht wurden. Damit ließ sich immer noch gut verdienen. Offiziell sprachen sie allerdings eine andere Sprache.

»Nehmen Sie doch Platz. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise. Wir unterstützen Sie mit all uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bei Ihrem Vorhaben. Aber Sie werden verstehen, dass uns vor allem daran gelegen ist, die geraubten Kunstschätze wieder zurück zu bekommen, wenn sie einmal außer Landes geraten sind. Ihr Außenminister Steinmeier hat schon einen guten Anfang gemacht, als er uns die Axt des Königs Schulgi zurückgab. Der Göttliche Schulgi, der starke Mann, König von Ur und König von Sumer und Akkad. Der bedeutet uns sehr viel. Galt er doch als einer der Väter des Rechtsstaates. Denn wir sind ein Rechtsstaat, auch wenn man uns das in der Welt mancherorts nicht glaubt. Und wir möchten unsere Schätze in der Zukunft nicht über Gerichte bei Auktionen in Deutschland einklagen müssen. Deshalb hoffen wir auf Ihre Arbeit.«

Der Mann hatte in reinstem, akademischem Englisch gesprochen und Westinghaus fühlte sich einen Augenblick lang überrumpelt.

Natürlich wusste auch er von der Rückgabe der legendären Streitaxt, die bei einem Kölner Kunsthändler gefunden worden war, hatte aber das Thema an dieser Stelle nicht erwartet.

»Sie entschuldigen bitte, Mister Sharif. Aber ich bin kein Botschafter und habe keinerlei Entscheidungsgewalt.«

»Das ist uns bekannt. Wir erwarten nur, dass Sie auch in unserem Interesse gewissenhaft Ihre Arbeit erledigen. Nur deshalb erhalten Sie unsere Unterstützung. Sie bekommen Morgen einen Wagen samt Fahrer, der Sie bis Mosul bringen wird. Ebenso steht das Begleitfahrzeug bereit.«

»Ein Begleitfahrzeug?«

Der Mann lächelte und strich sich über den Bart, während er sich im Sessel zurücklehnte. Offensichtlich genoss er seine Position.

»Wir lassen Sie nicht ohne militärischen Geleitschutz durch das Land fahren. Offiziell ist der Krieg zwar vorbei, aber deshalb herrscht längst nicht überall Frieden. Die Abfahrt ist für morgen Nachmittag geplant. Hoffentlich trifft bis dahin Ihr Kollege auch ein.«

»Mister Brüggen ist noch nicht da?«

Er schüttelte den Kopf.

»Wir haben auch keinerlei Informationen erhalten. Vielleicht klärt sich ja alles noch auf.«

Er reichte ihm einen zusammengefalteten Bogen über den Tisch.

»Ich soll Ihnen im Auftrag der Direktion diese Karte mit den Ausgrabungsstellen übergeben. Außerdem nehmen Sie bitte diesen Passierschein an sich. Sie werden ihn an den zahlreichen Checkpoints in unserem Land benötigen. Im Haus haben wir für Sie ein Gästezimmer reserviert. Bitte verlassen Sie das Gebäude in Ihrem eigenen Interesse nicht eigenmächtig. Essen bekommen Sie im Café im Erdgeschoss. Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt.«

Jasper bedankte sich. Die Ratschläge nervten. Er war kein zartbesaiteter Westeuropäer. Hatte schließlich schon in Ägypten und in Syrien unter Lebensgefahr Kunstraub dokumentiert. Der Mensch mit dem langen Bart brachte ihn auf sein Zimmer. Erleichtert sah er, dass es sich um ein Standard-Hotelzimmer mit Dusche und Klimaanlage handelte. Beides funktionierte. Sogar einen breiten Schreibtisch gab es. Er stellte den Rucksack ab und entledigte sich seiner durchgeschwitzten Kleidung. Zuerst versuchte er seinen belgischen Kollegen zu erreichen, aber das Handy war ausgeschaltet.

Dann rief er in Berlin an. Echidna war sofort am Apparat.

»Bist du gut angekommen?«

»Ich schon, aber er ist nicht da. Er wollte schon gestern hier sein. Bis jetzt gibt es von ihm keine Nachricht. Das ist nicht typisch für Jaques Brüggen. Wir wollten morgen fahren.«

»Warte ab. Pass gut auf dich auf und gehe nicht aus dem Haus. Baghdad ist immer noch gefährlich und nicht nur Baghdad.«

Er versprach es und ging in die Dusche.

Echidna hat bestimmt Recht, aber ich kann nicht arbeiten wenn ich mich mit Angst umgebe.

Später saß er am Schreibtisch und ordnete seine Reiseunterlagen. Er breitete die mitgebrachte Karte aus: The Archaeological Map of Iraq, herausgegeben von der Generaldirektion für Antiquitäten. Er sah das Impressum am unteren Rand. Gedruckt in Baghdad 1967. Eine nette Geste der Direktion, aber nach zwei Kriegen und den Zerstörungen und Plünderungen dürfte die kaum noch aktuell sein. Eine ähnliche Karte jüngeren Datums hatte er auch im Gepäck und legte sie daneben. Er sah auf die Uhr. Noch früh am Abend. Kein Gedanke an Einschlafen. Auf der alten Karte hatten sie die damaligen Grabungsstellen mit den ungefähren Datierungen der Funde durch Zahlen gekennzeichnet. Er übertrug die wichtigsten in seine Karte. Die Einzeichnungen könnten eines Tages als Anhaltspunkte für vergleichende Analysen dienen. Die Umgebung von Mosul, dem Ort wohin er morgen fahren wollte, war gespickt mit Symbolen für die altbabylonischen, hassitischen und assyrischen Kulturepochen. Auf Grund der hohen Dichte hatte man dort das Museum eingerichtet.

Was nach der Einnahme der Stadt durch die Terroristen davon noch übrig war, wusste kaum jemand und wurde nur bruchstückhaft dokumentiert.

Bruchstückhaft, wie treffend.

Er zeichnete weiter. Den Abgleich der alten Angaben mit dem neuesten Stand und deren Überprüfung müsste eine ganze Armee von Archäologen vornehmen, die kein Land der Welt besaß. Auch die UNESCO-Welterbe Kommission war da machtlos.

Jasper Westinghaus wollte auf seiner Reise die Situation dokumentieren und schon vor Ort jede Information per Satellit nach Berlin schicken, wo Echi sie dann aufnehmen und weiterleiten sollte. Das schwerste Stück und teuerste seines Gepäcks war der Fully-Rugged Outdoor-Notebook, spritzwasserfest und vor allem sicher gegen umherfliegenden Wüstensand.

Als nächstes überprüfte er seine Fotoausrüstung, die er in doppelter Ausführung mitführte. Eine große Hochleistungskamera und eine kompakte Miniausführung mit extrem hoher Speicherkapazität. Er nahm einen Netzadapter aus der Tasche, der an die Hotelsteckdose passte und steckte das erste Gerät zum Aufladen an. Dann legte er sich ins Bett. Der Akku würde sich melden, wenn er voll war. Kaum hatte er den Kopf nach hinten gelegt, als er schon eingeschlafen war.

Einsatz

Langenroda, 18:10 Uhr

Die Kollegen warteten auf dem Parkplatz. Schütze informierte sie über die Lage.

»Auf einem Acker bei Langenroda wurde eine männliche Leiche gefunden. Der Notarzt hatte Zweifel an einer natürlichen Todesursache. Er meinte, die Kriminalpolizei sollte sich die Sache anschauen, bevor der Rettungsdienst den Mann abtransportiert. Kollege Spiegel, Sie fahren sofort dorthin und nehmen Kollegen Jantzen mit. Nehmen Sie den Fall auf. Diejenigen, die noch Dienst haben, einsteigen und Abfahrt Richtung Nordhausen. Den Anderen wünsche ich schon mal ein schönes Wochenende. Ich danke Ihnen, dass Sie unserem Kollegen so zahlreich die letzte Ehre erwiesen haben.«

»Wir nehmen mein Auto«, schlug Spiegel vor und Jantzen nickte. Er schien noch sichtlich bewegt von der Beerdigung.

»Ich hole nur meinen Koffer aus dem Bus.«

Zwei Minuten später überquerten sie die Unstrut und Spiegels roter Toyota mit dem Aufkleber

ERPROBUNGSFAHRZEUG DER NASA jagte auf der schnurgeraden Straße in Richtung Wiehe. Der Kirchturm kam näher. Die Straße war frei, auch die nächste Landstraße.

Volker Spiegel spürte einen starken Seitenwind und fuhr langsamer.

»Wird langsam Herbst«, meinte Jantzen.

Vor Donndorf bogen sie nach Langenroda ab. Jantzen telefonierte mit der Streife und ließ sich die genaue Lage beschreiben. Vor dem Ort fuhren sie nach links in einen ansteigenden Feldweg. Unten wand sich die Dorfstraße mit den anliegenden Häusern und Gehöften durch das Tal. Das Polizeifahrzeug und der Krankenwagen kamen in Sichtweite. Die Kollegen schlugen gerade Eisenstangen in den Boden und befestigten daran das Absperrband, das im Wind knatterte. Spiegel bremste am Wegrand und sie stapften durch die feuchte Erde zum Fundort. Der Streifenpolizist aus Artern kam ihnen entgegen.

»Ein alter Mann. Er liegt dort.«

Der Arzt stand innerhalb des Absperrbandes.

»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Spiegel.

Der Beamte winkte den Mann heran, der einen Hund an der Leine hielt und unter einem Baum am Feldrand saß.

»In wie vielen Fällen werden Leichen von Spaziergängern mit Hund gefunden?«, fragte er Jantzen.

»Ich halte das für eine verfälschte Wahrnehmung, durch Filme und Krimis verstärkt. Obwohl die Auffindungssituation zugegebenermaßen den Personenkreis auf einsame Spaziergänger eingrenzt.«

»Wer von denen geht heute noch ohne Hund in den Wald?«

Der Mann, der die Polizei verständigt hatte, stellte sich vor.

»Mein Name ist Huber.«

Er war korpulent und trug einen Schnauzer. Die Frage, ob er aus der Gegend kam erübrigte sich, als Spiegel den bayerischen Dialekt hörte. Herr Huber stammte aus Rosenheim und hatte sich vor einem halben Jahr ein Haus in Kelbra gekauft. Angeblich stammten seine Vorfahren aus der Gegend. Regelmäßig unternahm er mit seinem Hund Erkundungen im Umkreis. Nein, den Toten hatte er nie zuvor gesehen und er hatte auch nichts angefasst. Spiegel ließ sich seine Personalien geben und ging zur Fundstelle. Jantzen war schon dort und sprach mit dem Arzt, einem Einmeterneunzig großen Mann.

»Mein Name ist Dr. Kolleck vom Notdienst. Ich hatte Ihren Chef angerufen, weil mir die Situation verdächtig vorkam. Schauen Sie bitte.«

Der Tote lag bereits auf einer Trage vor dem bereitstehenden Krankenwagen.

Der hat es gerade so durch die Ackererde bis hierher geschafft, dachte Spiegel. Hoffentlich kommen die auch wieder raus; sonst muss ihnen ein Traktor aus dem Dorf helfen. Er wandte sich wieder dem Arzt zu.

»Ich tippte zuerst auf Herzversagen. Immerhin haben wir es hier mit einem sehr alten Mann zu tun. Laut Ausweis 85 Jahre. Was der im September auf diesem Feld zu suchen hatte, müssen Sie herausfinden.

Dort liegt ein Gerät, mit dem er sich zu schaffen machte. Ich gehe davon aus, dass Sie als technisch geschulte Personen wissen, was das ist.«

Jantzen betrachtete das Gerät, das auf den ersten Blick wie ein Rasenkantenschneider aussah, zwei Griffe wie ein Fahrradlenker hatte und am Fuß in einer runden Scheibe endete. Im Gegensatz zu einem Rasenmäher befanden sich am Gestänge ein Display und ein paar Kopfhörer.

»Ein Sondensuchgerät«, meinte er knapp.

»Damit suchen die kleinen Glücksritter nach verborgenen Schätzen in der Erde. Das reicht vom Kronenkorken der Nachkriegszeit bis zu römischen Münzen.«

»Das ist Ihr Feld«, erwiderte der Arzt. »Weshalb ich Sie angerufen habe, ist das hier.«

Er zeigte auf den Kopf des Toten und Spiegel zuckte kaum merklich zurück. Ohne Zweifel lag da vor ihm ein alter Mann, ein sehr alter Mann. Er wirkte nicht ungepflegt, hatte sich kurz vor seinem Tod offenbar noch einmal rasiert. Die Wangen waren eingefallen, aber das Gesicht wirkte verkrampft, wie bei einer im Schmerz entstandenen Momentaufnahme. Totenstarre nach Blitzeinschlag, dachte Spiegel instinktiv. Dr. Kolleck zeigte auf das für ihn wichtigste Detail: Die Ohren des Mannes waren schwarz wie Kohlen. Sofort griff Jantzen nach den Kopfhörern. Auch der Schaumgummi an den Rändern war schwarz verbrannt.

»Das kam mir ebenfalls merkwürdig vor. Möglicherweise geht die Todesursache auf dieses Gerät zurück. Bis hierher habe ich meine Arbeit getan. Dürfen wir den Toten jetzt abtransportieren?«

»Bringen Sie ihn bitte in die Rechtsmedizin nach Jena. Ich verständige dort Ihren Kollegen Dr. Berger.«

Volker Spiegel sah sich um. Irgendwie war die Situation absurd. Die späte Abendsonne beleuchtete das Tal mit spätsommerlichem Licht und schien einem alten Mann auf das Gesicht, dessen Tod ihn trotz seines Alters gewaltsam überrascht hatte. Gleichzeitig trieb der Sturm ein herabgefallenes Blatt darüber hinweg. War es ein Unfall oder steckte mehr dahinter? Die Rechtsmedizin würde das hoffentlich herausfinden. Er ging zum Feldrand und sah sich um. Ralf Jantzen nahm die Spuren auf und ärgerte sich über den Krankenwagen, der etliche davon zerfahren hatte. Viel ließ sich hier nicht mehr ermitteln.

Ankunft am Hafen.

Emden, Samstag, 15. September, 5:00 Uhr

Seewetterbericht Emden-Knock

Windrichtung NNW

Windgeschwindigkeit 60

Wellenhöhe 1,5

Wellenperiode 6

In der Frühe fuhr Helmut Bauch endlich am Tor zur Hafenanlage auf den Parkplatz. Der Wind fegte scharf über den freien Platz. Möwen taumelten in der Höhe und schrien ihr durchdringendes Lied vom Meer. Die Nachtfahrt war anstrengender gewesen als gedacht. Unterwegs eine Vollsperrung der Autobahn wegen eines schweren Verkehrsunfalls. Vor einer grauen Wolkenwand leuchtete wie eine weiße, vielstöckige Häuserfront das neu gebaute Schiff in der Morgensonne. Kai 3. Das sollte es also sein. Ein anderes war nirgends zu sehen. Bisher kannte der Kommissar Kreuzfahrtschiffe nur aus dem Fernsehen, aber da waren sie ihm nie so riesig vorgekommen. Wie konnten Menschen so etwas bauen? Wie groß würden sich daneben die ägyptischen Pyramiden ausnehmen, die er auch noch nicht gesehen hatte? Oder das Kyffhäuserdenkmal?

Und auf so einem Kasten sollte er nun eine Woche lang wohnen und durch die Nordsee bis nach Norwegen schippern. Eine Testfahrt sei es, hatte Elke am Telefon gesagt und nur die Hochzeitsgäste durften exklusiv daran teilnehmen. Konstantin, ihr zukünftiger Ehemann gehörte zur Chefetage der Werft.

Fröstelnd stand Helmut Bauch neben seinem Auto. Unterwegs hatte er sich umgezogen und die Uniform in den Koffer gepackt. Hätte er doch gleich den dicken Pullover genommen. Das Jeanshemd hielt den Wind kaum ab. In dem kleinen Wachhäuschen am Tor sah er niemanden.

Es gab eine Klingel. Eine Stimme meldete sich.

»Einen Augenblick bitte. Ich komme sofort.«

Plötzlich dachte er an ein Erlebnis aus seiner Zeit als Polizeischüler. Es war in jenem harten Winter 1978 gewesen. Die Rekruten wurden zum Einsatz in einen Tagebau abkommandiert. Dort mussten einige von ihnen die gefrorene Braunkohle aus den Eisenbahnwaggons hacken, damit sie über das Fließband zum Kraftwerk gelangte. Helmut Bauch war die Aufgabe zugefallen, zusammen mit Strafgefangenen Weichen und Gleise eisfrei zu halten. Zum ersten Mal stand er vor einem jener gewaltigen Bagger und starrte auf das Schaufelrad, das sich mit Dröhnen und Klirren in den gefrorenen Hang fraß. Ein Arbeiter hatte ihn angesprochen. Noch heute hörte er dessen Worte:

»Nicht anfrieren, Genosse! Die Maschine darf nicht stehen bleiben. Die Republik braucht Kohle.«

Dann hatte er auf den Bagger gezeigt:

»TAKRAF. Die größte bewegliche Metallk0nstruktion der Welt.«

Ob das heute noch zutraf? Er blickte wieder zum Schiff. Dieser Kasten würde wahrscheinlich den Rekord brechen. Ein Mann in der Uniform eines Sicherheitsdienstes näherte sich. Dessen kleine Gestalt mit den runden Schultern und den Trippelschritten ließ ihn sofort an den braven Soldaten Schwejk denken. Bauch holte seine Einladung und den beiliegenden Passierschein heraus. Der Wachmann betrachtete die Papiere und verlangte dazu Bauchs Ausweis. Der hielt ihm aus Gewohnheit seinen Dienstausweis entgegen und bemerkte seinen Irrtum zu spät. Wahrscheinlich hatte der Anblick der Uniform diesen Reflex ausgelöst. Dennoch bereute er die Wirkung nicht. Irgendwie war er immer im Dienst.

»Schon klar, Herr Polizeihauptkommissar. Sie gehören zur Hochzeitsgesellschaft. Man hat Sie mir angekündigt. Die Herrschaften schlafen noch. Das Auto können Sie dort stehen lassen. Ich bringe Sie zu Ihrer Kabine.«

Da war er wieder, dieser unverkennbare norddeutsche Akzent, den Jantzen auch beherrschte, ihn aber nur selten hören ließ. Dieser hier klang etwas weicher, vielleicht sogar holländisch. Schon möglich. Da drüben liegt ja die Grenze.

»Bitte warten Sie. Ich habe da etwas im Auto. Wenn Sie mir bitte beim Tragen helfen würden?«

Er zog die Wiege von der Rückbank.

»Wohl das Hochzeitsgeschenk? Früher gab’s das erst neun Monate nach der Hochzeit. Aber die Zeiten haben sich geändert…«

Jetzt kommt der mir noch katholisch. So alt ist er doch noch gar nicht. Wie auch immer.

»Früher war früher. Wenn Sie bitte mit anfassen würden.«

Zu zweit trugen sie Elkes Geschenk und das Gepäck zum Schiff. Wiege Nummer zwei, nachdem die Vorgängerin fünfzehn Jahre zuvor nicht gebraucht wurde. Damals hatte Elke durch diesen blödsinnigen Unfall ihr erstes Kind verloren. Er hatte den Besitzer des Autos, diesen jugendlichen Angeber gerichtlich belangen wollen, was zu einem jahrelangen Bruch zwischen Vater und Tochter geführt hatte. Die Wiege, die er für sie geschnitzt hatte, wollte sie nicht mehr. Dabei war dieser harte Satz gefallen:

Ich will in diesem Leben kein Kind mehr.

Erst als Hilde, seine Frau, starb, waren sie sich wieder begegnet und näher gekommen. Und nun sollte alles ganz anders werden. Er schleppte mit einem dicken Schwejk die neue Wiege durch die kalte Morgenluft zu einem ungeheuren Schiff, das ihm beinahe Angst machte. Oder war es die Ungewissheit vor dem, was ihn dort erwartete. Die Möwen schrien jetzt weiter oben und umkreisten den Schornstein, aus dem schwarze Rauchwolken aufstiegen, obwohl das Schiff noch fest vertäut lag.

Na klar. Der Kahn braucht Strom. Wie auch immer.

Durch eine breite Luke auf der Höhe der Kaimauer gelangten sie in das hell erleuchtete Innere des Schiffes. Sie stellten die Wiege neben einem Empfangsschalter ab.

»Wir befinden uns im Wirtschaftseingang. Hier werden alle Waren zur Versorgung angeliefert, Lebensmittel, Getränke, Wäsche und so weiter. Herr Polizeihauptkommissar, auch wenn Sie ein Staatsbediensteter sind, muss ich Sie bitten, sich der Sicherheitskontrolle unterziehen zu lassen.«

Ein weiterer Wachmann kam mit einem Metalldetektor heraus. Sofort stellte man die Frage nach der Dienstwaffe. Die hatte er glücklicherweise zu Hause gelassen. Die beiden Männer erklärten, dass für das Kreuzfahrtschiff während der Testfahrt die höchste Sicherheitsstufe galt. Auch sein Handy sollte er abgeben.

»Sie bekommen es bei der Abreise wieder. Ich gebe Ihnen jetzt eine Orientierungshilfe. Auf dieser Decksübersicht finden Sie alle die Hochzeit betreffenden Lokalitäten. Außerdem erhalten Sie jederzeit Auskünfte an der Rezeption. Dort steht unser Personal Ihnen hilfreich zur Seite.

Wie auch immer.

Er bedankte sich und war froh, als sie endlich zum Lift gingen, denn auch hier im Eingangsbereich fror er.

Man führte ihn zu einem großen Lastenaufzug und sie fuhren nach oben.

Als sich die Stahltüren wieder öffneten, stand er einer fremden Welt gegenüber. Gedämpftes Licht drang aus Messingstrahlern von den Decken, die Wände waren holzgetäfelt. Auf darin eingelassenen Monitoren wehten Palmen einer Südseeinsel im Wind.

Sie gingen durch endlose Flure mit bunten, bebilderten Teppichböden, bis ihm endlich die Tür zu seiner Kabine aufgeschlossen wurde. Das Wort Kabine trifft es nicht, dachte er. Vielmehr fühlte er sich an eine Hotelsuite erinnert. Die Wiege bugsierte er in eine Ecke hinter dem Kleiderschrank und legte wieder die Decke darüber. Er ließ sich auf das Doppelbett fallen ohne sich auszuziehen und war sofort eingeschlafen.

Echidna Ababneh

Baghdad, am nächsten Tag, 00:30 Uhr

Er wurde nicht durch das Ladegerät geweckt. Zuerst glaubte er, die Schüsse gehörten zu seinem wirren Traum, als er hochschreckte. Dann hörte er die Alarmsirenen. Unten auf der Haifa-Street musste irgendetwas passiert sein.

»Verlassen Sie nicht das Gebäude«, hatte ihn Dr. Sharif gewarnt. Vermutlich hatte der sogar Recht. Das Geräusch der Sirenen verschwand. Er nahm die Kamera und öffnete das Fenster, konnte aber nichts erkennen. Die Schießerei musste sich außerhalb seines Blickwinkels hinter der Kreuzung ereignet haben. Der Akku meldete sich und er schloss das Fenster wieder. Schnell wechselte er die Geräte und legte sich wieder hin. Mit dem Einschlafen klappte es nicht mehr.

Er dachte an Echidna. Ursprünglich hatte sie ihn auf dieser Reise begleiten wollen, aber das konnte er ihr ausreden. Seit sie ein Paar waren, fühlte er sich für sie verantwortlich, was ihr gar nicht Recht war. Trotzdem fürchtete er um ihre Sicherheit. Ihr Leben hatte die junge Archäologin häufig genug riskiert und er war froh, als sie endlich den Job am Ägyptischen Museum in Berlin bekommen hatte. Den hatte sie ihrer großen Freundin Monica zu verdanken. Durch diese Frau war Jasper ihr zum ersten Mal begegnet.

Er hatte an einer Pressekonferenz mit der berühmten Archäologin in Berlin teilgenommen. Monica Hanna, die Kämpferin gegen die Ausplünderung der Altertümer ihres Heimatlandes. Keine dreißig Jahre alt war sie gewesen, als man ihr den Beacon Award verlieh, eine hohe Anerkennung für ihre mutige Arbeit. Eine junge Frau allein im Kampf gegen die Antikmafia; in den sozialen Netzen und in Talkshows präsent. Echidna war ihre Mitarbeiterin gewesen. In Kairo hatten sie sich kennengelernt. Als Monica an die Humboldt-Universität nach Berlin ging, war sie ihr gefolgt.

Zwischen ihm und Echidna war es nicht die Liebe auf den ersten Blick gewesen, wenngleich er von ihrer morgenländischen Schönheit von Anfang an gefangen war. Aber sie schien für ihn unerreichbar und nicht von dieser Welt. Außerdem verhielt sie sich gegenüber Journalisten stets misstrauisch und ließ es ihn spüren. Erst als er ihr bei Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache half, funkte es zwischen ihnen. Das war lange her, jedenfalls mit journalistischem Zeitmaß gemessen. Real hatten sie sich vor fünf Jahren kennengelernt und lebten seit drei Jahren in einer Wohnung in Berlin Neukölln. Und sie lebten nicht nur zusammen, sondern arbeiteten als Team. Ihr gemeinsames Ziel war die Rettung antiker Kunstschätze und ihre Zusammenarbeit glich einer Verschwörung. Spätestens nach den Recherchen auf den Ruinenfeldern von Palmyra waren sie ins Visier der Mafia geraten. Zum ersten Mal ahnten sie, in welcher Gefahr sie sich befanden. Beide wurden in den Netzen beschimpft, erhielten Drohanrufe und beleidigende E-Mails. Die Polizei war längst eingeschaltet worden. Weder Echidna, noch Jasper hatten auch nur einen Moment daran gedacht aufzuhören.

Auch bei dieser Reise war er sich der drohenden Gefahr bewusst, jedenfalls glaubte er das. Deshalb hatte er für alle Fälle eine kleine Lebensversicherung im Gepäck. Klein im wörtlichen Sinn: Tini; das kleinste und flachste Handy der Welt; wasserdicht und eine absolute technische Neuheit. Auf der Haut befestigt lud es sich allein durch die Körperwärme auf. Dadurch war die Arbeitsleistung nahezu unbegrenzt. Nicht viel größer als eine Streichholzschachtel. Das Modell war noch nicht im Handel, sondern gehörte zu einer Testreihe, die er als Wissenschaftsjournalist begleitete. Nur Echi besaß die Nummer und konnte sich über einen Knopfdruck sofort mit ihm verbinden. Das Gerät war streng geheim. Eine besondere Abschirmung hatte auch die Erkennung am Flughafen verhindert. Wofür das entwickelt wurde, wollte Jasper gar nicht wissen. Normalverbraucher benötigen soetwas nicht, aber für seine Zwecke war es ideal. Offiziell hatte er sein Smartphone dabei. Er stand auf und verschickte eine Nachricht an seinen Kollegen Jaques Brügge in Brüssel. Der sollte sich endlich melden.

Von draußen waren keine Schüsse mehr zu vernehmen. Stattdessen das Geräusch schwerer Motoren. Panzer? Wahrscheinlich alles möglich.

Er dachte wieder an Echi. Echidna Ababneh. Den Vornamen hatte er zuvor noch nie gehört. Umso mehr wunderte er sich über dessen Bedeutung: mythisches Ungeheuer und Tochter des Titan.

So wirkte sie gar nicht, eher wie eine sanfte Prinzessin. Dass sie anders war, erlebte er nicht nur im Bett. Deshalb nannte er sie in der Abkürzung Echi, nach dem australischen, eierlegenden Stacheligel gleichen Namens. Sie beherrschte zwei Kampfsportarten und hatte das einmal in Ägypten bewiesen. Ein Bauer, der morgens von seiner nächtlichen Raubgräberei heimkehrte, hatte sie mit dem Spaten angegriffen. Jasper hatte gar nicht so schnell eingreifen können, wie sie den Mann flachlegte. In diesem Punkt konnte sie für sich selbst sorgen, aber das beruhigte ihn angesichts der Gegner mit denen sie es zu tun hatten, keineswegs. Endlich schlief er wieder ein.

Der Traum

»Darf ich in Ihre Hostentasche pinkeln?«

Helmut Bauch erleichterte sich gerade an einer Eiche auf dem Kamm der Hohen Schrecke und fuhr herum. Der Mann im langen Mantel trat aus dem Unterholz und hielt eine Pistole in der Hand. Die Eiche rauschte gewaltig im Wind, schüttelte ihre Wipfel und plötzlich stieß aus diesen ein großer Vogel heraus, der wild krächzend um sich schlug. Der Mann schoß und der Fischreiher fiel tot zu Boden.

Der Kerl schon wieder. Warum verfolgt er mich?

»Commissario, ich hoffe, es geht Ihnen gut. Machen Sie ruhig ihre Hose wieder zu. Schauen Sie mal, wie friedlich die Landschaft da unten liegt. Sollte das nicht so bleiben? Und dann der hier. So ein dummer Vogel. Ist nicht mal schade um ihn. Man soll nicht stören.«

Er legte betont freundschaftlich seinen Arm um Bauchs Schultern. Der konnte sich nicht von der Stelle rühren. Er zeigte mit dem anderen Arm in Richtung Westen.

»Irgendwo da hinten liegt das Meer. Dort fahren die Schiffe, die großen und die kleinen. Dort werden sie auch gebaut. Ein paar hundert Kilometer entfernt, aber was heißt das schon. Liebe Menschen findet man immer, wenn man sie sucht und wenn sie noch leben. Und sie können auch von anderen gefunden werden. Da ist kein Weg zu weit.«

»Carlo, was wollen Sie von mir?«

»Oh, Sie erinnern sich an meinen Namen. Das ist immerhin ein gutes Zeichen. Ich glaube, Sie wissen worum es geht, Commissario. Ich möchte Sie nur an meine Warnung erinnern. Wir hatten vereinbart, dass der Fall für Sie persönlich abgeschlossen ist, ganz persönlich. Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie uns besser nicht noch einmal in die Quere kommen sollten. Auch im Interesse Ihrer jungen, schönen Tochter, die demnächst einen neureichen Gernegroß aus der Industrie heiratet. Unbedeutende, langweilige Leute, solange sie uns nicht in die Quere kommen. Sorgen Sie dafür, dass das so bleibt.«

Aus der Ebene näherte sich erneut ein Fischreiher. Er steuerte geradewegs auf die Männer zu. Offenbar gehörte die Eiche hinter ihnen zu den beliebten Rastplätzen. Der Mann zog erneut die Pistole hervor.

Wird der den jetzt auch abknallen?

»Keine Angst, Commissario. Den lassen wir noch eine Weile leben und Sie auch. Aber damit meine Warnung nicht nur aus Worten besteht, gebe ich Ihnen ein Andenken mit.«

Bauch war immer noch nicht in der Lage, sich zu bewegen.

Der Mann schob ihm seine Pistole in die Hosentasche. Panik machte sich breit.

»Keine Angst. Es wird ein bisschen wehtun, aber Sie werden nicht davon sterben. Ich ziele genau. In Ihrem Alter benötigt man gewisse Dinge nicht mehr.«

Bauch wollte schreien, öffnete den Mund, aber kein Ton kam heraus. Dann fiel der Schuss.

»Nein!«, schrie er endlich.

Seine Stimme hallte metallisch in der Kabine des Kreuzfahrtschiffes nach. Der Albtraum war vorbei.

Die Bombe

Nordhausen, Landespolizeiinspektion, Samstag, 15. September, 13:30 Uhr

Ein Anruf von nebenan. Die Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe hatten die Polizei gerufen. Eine Laptoptasche war an der Endhaltestelle Ilfeld Neanderklinik gefunden worden. Ein unvorsichtiger Kollege hatte das Gepäckstück geöffnet und fallen gelassen, als er darin Drähte und merkwürdige Geräte entdeckte. Sofort waren die Haltestelle gesperrt und der Bahnverkehr gestoppt worden. Spezialisten der Einheit für Unbekannte Spreng- und Brandvorrichtungen USBV aus Erfurt schätzten die Tasche als ungefährlich ein. Die Nordhäuser Spurensicherung sollte den Fund dennoch weiter untersuchen. Diese Aufgabe fiel Roland Kla-bund zu, der Samstagsdienst hatte. Missmutig machte er sich auf den Weg nach Ilfeld. Hätten die Kollegen das Ding nicht gleich sprengen können?

Sie hatten den Laptop in einem Geräteschuppen abgestellt, wo ihn ein Polizist bewachte. Klabund packte die Tasche in den Kofferraum und fuhr zurück ins Labor. Er hatte rechtzeitig Feierabend machen wollen, denn sein kranker, depressiver Vater wartete in Sondershausen auf ihn.

Die Spezialisten hatten den Inhalt der Tasche schon einmal herausgenommen und nach der Untersuchung wieder zurückgestopft. Was sollte er da noch entdecken. Mögliche Spuren waren vernichtet, wenn es welche gab. Beschäftigungstherapie für einen Kollegen, dem man nichts Besseres zutraut, dachte er wütend und sortierte die Drähte auf dem Schreibtisch. Er fand eine Batterie, zusammengebundene Silvesterknaller, einen lächerlichen Zünder aus einer geknackten Taschenlampenbirne. Sowas haben wir schon in der Schulzeit gebastelt. Das Ganze war an einen elektrischen Kurzzeitwecker angeschlossen worden, aber an den falschen Kontakten angelötet. Die Kollegen haben Recht. Das Ding wäre nie und nimmer hochgegangen und wenn, dann hätte es keinen großen Schaden angerichtet. Er nahm von allen Teilen Fingerspuren. Der Bastler hatte ohne Handschuhe gearbeitet; wahrscheinlich hoffte er, dass mit der Explosion sowieso alle Abdrücke verschwinden. Zwei Stunden brachte Roland Klabund damit zu und durchsuchte noch die Datenbanken. Der Bombenbauer war darin nicht erfasst. Nachdem er alle Ergebnisse ins Protokoll eingetragen hatte, kam Volker Spiegel. Was wollte der jetzt noch?

»Gerade kam ein Erpresserschreiben rein, dass mit großer Wahrscheinlichkeit zu dem Bombenfund von Ilfeld gehört.«

Er legte einen Umschlag auf den Tisch.

»Untersuche den auf Spuren, Druckerpapier, Tinte… Na du weißt schon.«

Spiegels Telefon meldete sich.

»Wir kommen sofort.«

Und zu Klabund:

»Wir haben eine neue Leiche, ganz in der Nähe vom Fundort der Ersten. Ich fahre mit Ralf und Friderike hin. Mach du das hier fertig. Ausgerechnet jetzt hat Bauch Urlaub.«

Er eilte hinaus.

Soviel zum Thema Feierabend. Er öffnete den Umschlag und las das Schreiben:

An die HSB

Beenden Sie den kapitalistischen Preiswucher bei der Harzquerbahn!

Ihre Fahrpreise sind unsozial und familienfeindlich!

Unsere Eisenbahn ist kulturelles Allgemeingut und darf nicht privat veräußert werden!

Ich fordere Sie auf, Ihre profitgierigen Preise zurück zu nehmen, sonst wird die nächste Bombe hochgehen!

Die wird stärker sein als die Erste!

Für soziale Gerechtigkeit bei der Eisenbahn!

Die Zugfahrer

Die Welt wird immer verrückter, dachte er. Dann telefonierte er und sagte seinem Vater, dass er erst in der Nacht nach Hause kommen würde.

Er schaltete die Lampe über seinem Arbeitstisch wieder ein und begann missmutig mit der Untersuchung.

Elke

An Bord, Samstag, 15. September, 9:30 Uhr

Es hatte geklopft. Er ging zur Tür. Plötzlich stand Elke vor ihm; im Bademantel, ein Handtuch um den Kopf geschlungen. Ihr Bauch wölbte sich unter dem Stoff. Er nahm sie schweigend in die Arme und spürte ihren schweren Atem.

»Danke, dass du gekommen bist«, hauchte sie. Sie roch nach Shampoo.

»Wie war deine Fahrt?«

»Lang. Komm rein.«

Er zog sie mit sich. Sie saßen auf der Bettkante. Hinter ihnen stand unter der Wolldecke die Wiege. Elke konnte sie nicht sehen. Sie schielte zu dem Kleidersack am Schrank, unter dem sich der Smoking befand. Den würde sie noch früh genug zu sehen bekommen.

»Geht es dir gut? Geht es euch gut?«

»Bestens. Mach dir keine Sorgen. Wir haben sogar einen Arzt an Bord und einen vollständigen, funktionsbereiten OP. Ist eben eine Testfahrt, bei der alles funktionieren muss.«

»Den müssen wir aber hoffentlich nicht testen. Elke, klär mich mal über den aktuellen Zeitplan auf. Die standesamtliche Trauung hat demnach in der vergangenen Woche schon an Land stattgefunden.«

»Im historischen Rathaus in Leer. War auch schön, aber doch nur eine Formalität. Wir haben uns zusammenschreiben lassen.«

Bauch holte tief Luft. Den Ausdruck kannte er noch aus seiner Jugend. Solchen respektlosen Umgang mit der Eheschließung hatte eine Gesellschaft hervorgebracht, in der man sich genauso problemlos scheiden lassen konnte. Es gab keine Anwälte, die aus einem komplizierten, langwierigen Rosenkrieg Kapital herausschlagen konnten. Wenn Kinder aus Ehen hervorgingen, gab es zinslose Kredite bis zu 5000 Mark. Ab dem dritten Kind brauchten die nicht mehr zurückgezahlt werden. Abkindern nannte man das damals. Demografische Förderung à la Sozialismus. Aber warum verwendet sie das Wort heute noch?

»Die eigentliche Trauung machen wir morgen hier auf dem Schiff. Der Kapitän wird sie vornehmen. So wie früher.«

Bauch wusste nicht, welches Früher sie meinte und fragte: Hat das eine juristische Bedeutung?«