Firma Anton Sauerwald - Dorothee Haentjes-Holländer - E-Book

Firma Anton Sauerwald E-Book

Dorothee Haentjes-Holländer

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Beschreibung

Am 1. April 1896 schließt der noch nicht ganz dreißigjährige Anton Sauerwald zum ersten Mal sein Geschäft in der Kölner Breite Straße auf. Er hat einen Musikalienhandel eröffnet, in dem er zunächst Noten, Streichinstrumente und Zubehör verkauft. Für ihn ist es ein besonderes Wagnis. Denn seit seinem achtzehnten Lebensjahr ist Anton Sauerwald blind. Im Gründungsjahr ist das Unternehmen noch klein und in beengten Räumen untergebracht. Bis in die 1920er-Jahre aber wird sich Anton Sauerwalds Geschäft zu einem der größten Pianomagazine auf dem Kölner Prachtboulevard Hohenzollernring entwickelt haben. "Firma Anton Sauerwald" ist die Geschichte eines Mannes, der sich durch seine körperliche Einschränkung nicht entmutigen lässt, sondern seinen Lebenstraum verwirklicht. Darüber hinaus spiegeln sich in der Biographie und Unternehmensgeschichte die kulturellen Entwicklungen Westfalens im ausgehenden 19. Jahrhundert sowie der rheinischen Metropole Köln bis in die 1930er-Jahre. Nicht zuletzt berichtet das Buch über die Blütezeit der deutschen Klavierindustrie sowie ihren Abschwung durch das Aufkommen des Radios.

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Inhalt

Teil I: 1866 – 1907

1. Der Kaufmannssohn

2. Die Erblindung

3. Von Nuttlar nach Bochum

4. Der Wendepunkt

5. Musikalienhändler in Köln

6. Nach vorn blicken

7. Königlich rumänischer Hoflieferant

Teil II: 1907 – 1931

8. Der Umzug

9. Hohenzollernring 20

10. Moderne Welt!

11. In Zeiten des Krieges

12. Aufblühen und Inflation

13. Alles auf Anfang!

14. Hohenzollernring 76

15. Im Strudel der Weltwirtschaftskrise

16. Der Verkauf der Immobilien Hohenzollernring 76 und Friesenwall 81 – ein Husarenstück!

17. Epilog der Geschichte und ein persönliches Nachwort

Anhang:

Bibliographie

Anmerkungen

Bildnachweis

Personenregister

A. SAUERWALD

Teil I

1866 – 1907

1. Der Kaufmannssohn

Hochsauerland, 6. Oktober 1866: In Nuttlar, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Meschede, kommt im Haus des Kaufmanns und Fabrikanten Carl Sauerwald der Knabe Anton zur Welt. Er ist das erste Kind seiner Eltern Carl und Anna Sauerwald geborene Schneider. Die Freude ist groß. Denn Anton ist der erhoffte Stammhalter des jungen Paares. Von seinem ersten Atemzug an ist der Lebensweg des kleinen Anton vorgezeichnet. Seine Eltern gehen fest davon aus, dass er später einmal in die Fußstapfen seines Vaters treten wird. Auf dieses Ziel hin wird er erzogen werden, und Anton selbst wird es mit wachsendem Verstand mehr und mehr verinnerlichen.

Die Bachstraße in Nuttlar mit Anton Sauerwalds Elternhaus

Carl Sauerwald

Anna Sauerwald

Josef Sauerwald, Gründer der Firma Josef Sauerwald

Seit vier Jahren, seit 1862 also, leitet Antons Vater Carl das in Nuttlar ansässige Familienunternehmen „Josef Sauerwald Söhne” in der zweiten Generation. Sein älterer Bruder August ist sein Kompagnon. Das Einvernehmen der Brüder ist gut. In den letzten Jahren haben sie das vom Vater Josef Sauerwald übernommene Unternehmen beträchtlich erweitern können. Die Brüder Carl und August Sauerwald leben in großbürgerlichem Wohlstand. Ihre drei Schwestern – Maria Anna, genannt Jenny, Friederike und Lisette, die als Töchter mitsamt ihren Nachkommen für die Nachfolge im Unternehmen ausscheiden – sind jeweils zur Heirat vom Vater Josef Sauerwald ausbezahlt worden.

Neben dem noch kleinen Anton soll eines Tages auch der erstgeborene Sohn von August in das Geschäft einsteigen. Allerdings wurde gerade vier Wochen vor Antons Geburt Augusts Ehefrau Bertha geborene Aßmuth von einer Tochter entbunden. Damit ist Anton aus der Linie der Söhne von Josef Sauerwald der erste männliche Enkel des Firmengründers. Erst vier Jahre später, 1870, wird auch August Sauerwald Vater eines sehnlich erwarteten Sohnes. Der kleine Hermann soll später ebenfalls als Führungskraft in die Firma eintreten und Kompagnon seines Cousins Anton werden. Bis dahin wird allerdings noch viel Wasser die Ruhr hinabfließen – den Fluss, der dem bereits im Jahr 1072 erwähnten Ort Nuttlar ersten Wohlstand gebracht hat.

Die Firma Josef Sauerwald Söhne

Auf Antons Taufschein firmiert sein Vater Carl Sauerwald (1839-1907) als Seifenfabrikant. Tatsächlich aber betreibt das Unternehmen nicht nur diesen Geschäftszweig. Schon Josef Sauerwald (1798-1872), der Vater von August (1832-1902) und Carl, hatte seine Tätigkeiten breit aufgestellt. Zunächst verdiente er sein Geld als Hufschmied, Fuhrunternehmer mit 24 Pferden, Landwirt und Besitzer einer Schiefergrube.1 Die Gründung seines Unternehmens „Josef Sauerwald” wird auf das Jahr 1824 datiert. Zu diesem Zeitpunkt beginnt er durch den Ankauf bereits ausgelaugter Holzasche – aus bäuerlicher Produktion – durch Kalzinieren Pottasche (Kaliumcarbonat) industriell herzustellen.2 Diese Tätigkeit hat in der Familie Tradition. Sie ist, wenn auch in kleinerem Stil, erstmalig nachweisbar schon für Josef Sauerwalds Großvater Anton Johann Sauerwald (1735-1807) im Jahr 1778.3

Pottasche ist eine vielfältig einsetzbare Substanz. Sie dient als Treibmittel für Backwaren, als Trennmittel und Trocknungsmittel, als Zusatz bei der Herstellung von Glas und Seife und für vieles mehr. Ein Produkt also, das eine breite Handelspalette verspricht.

Neben dem Kalzinieren der Pottasche ist in den Annalen der Familie auch von einer Betätigung Josef Sauerwalds als Gastwirt um das Jahr 1835 herum die Rede. Allerdings scheint es sich nicht um ein regelrechtes Gasthaus gehandelt zu haben, sondern eher um eine Art Privatausschank.4

Auch das Betreiben einer Landwirtschaft durch Josef Sauerwald dürfte mehr in einer ausgedehnteren Selbstversorgung als im größeren Anbau bestanden haben.

Mit der Herstellung und vor allem mit dem Vertrieb der kalzinierten Pottasche entwickelt sich das Fracht- und Fuhrgeschäft und wird bald, neben dem Ausliefern des eigenen Produkts, zum Dienstleister für Auftragsfahrten anderer Unternehmen bis nach Düsseldorf, Köln, Lippstadt, Barmen und Elberfeld.5

Ab dem Jahr 1855 etwa produziert die Firma Josef Sauerwald aus der selbst hergestellten Pottasche erste Seifenprodukte.6 Dazu benötigt sie Fette, die sie in größeren Margen einkauft und in kleineren auch weiterverkauft. So wird das Unternehmen mehr und mehr zum Handelshaus. Um 1860 reicht die Palette der Verkaufsprodukte von selbst produzierten Seifen und Kerzen über Schmalz und Soda bis hin zu amerikanischem Speck und Petroleum.7

Über diesen ordentlichen Grundstock verfügen also Carl und August Sauerwald als Nachfolger ihres Vaters, von dem sie das Geschäft im Jahr 1862 übernommen haben. Und mit unternehmerischem Geschick und einem offenen Blick für Veränderungen verstehen sie, das nun auf „Josef Sauerwald Söhne” lautende Geschäft8 weiter auszubauen. So werden sie zum Beispiel im Jahr 1867 mit der Herstellung von Schultafeln mit Schiefer aus der eigenen Übertagegrube beginnen. Denn der kleine Ort Nuttlar, der seit 1816 zu Preußen gehört9 – wo seit 1824 die allgemeine Schulpflicht herrscht –, hat 1862 eine eigene Volksschule bekommen.10 Das Land braucht also Schiefertafeln, jetzt und auch in Zukunft. Der Schieferabbau aber ist ein mühsames Geschäft, und so übertragen die beiden Brüder im Jahr 1873 ihre nunmehr zwei Übertagegruben der 1857 gegründeten „Schieferbau-Actien-Gesellschaft Nuttlar”. Dafür erhalten sie jeweils 29 Aktien im Wert von 625 Mark pro Stück.11 Die AG sorgt nun für den Schieferabbau über und auch unter Tage, während die Schiefertafelfabrik von Josef Sauerwald Söhne weitergeführt wird.

Für Anton, als zukünftigem Mitinhaber des Unternehmens Josef Sauerwald Söhne, ist die Zukunft geregelt. Für seine fünf jüngeren Geschwister – bis 1879 folgen insgesamt sogar sechs, aber der 1874 geborene Ernst verstirbt noch im selben Jahr wieder – wird man andere Aufgaben finden müssen: Bei Bertha (1867-1940) gehen die Eltern ohnehin davon aus, dass sie heiraten und eine Familie gründen wird. Fritz (1877-1917) zeigt Neigungen zu einem Ingenieurberuf. Otto (1869-1930), Hugo (1872-1955) und Franz Carl, genannt Carl (1879-1954), sollen zwar ebenfalls Kaufmann lernen – dann aber am besten in ein bestehendes Unternehmen einheiraten oder sich selbständig machen.

Anton Sauerwald mit seinen Geschwistern Bertha, Otto und Hugo im Jahr 1876

„In einer Familiengesellschaft, deren Wesen darin besteht, dass der Betrieb von Generation auf Generation übertragen und als Familienunternehmen fortgeführt wird, ist es von ausschlaggebender Bedeutung, daß die präsumtiven Nachfolger Männer sind, die von frühester Jugend für ihre zukünftige Aufgabe vorbereitet und im Sinne der Tradition erzogen werden.” So formuliert es die Firmenchronik eines Kölner Textilunternehmens im ausgehenden 19. Jahrhundert.12 Und in der Familie Sauerwald wird es nicht anders gewesen sein. Dreh- und Angelpunkt für eine gute Ausbildung des späteren Firmenleiters ist eine gute Schulbildung. Und so klein der Ort Nuttlar in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch ist, verfügt er nach dem Erlass von 1825 des Königs Friedrich Wilhelm III. über die Schulpflicht in Preußen13 bereits seit 1840 über eine Volksschule und seit 1862 auch über ein eigenes Schulgebäude.14 Auf diese Weise kann Anton seine Grundschulzeit in seinem Heimatort absolvieren. Nach vier Jahren aber, in denen Anton einen kurzen Schulweg hatte, soll der nun Elfjährige ein Gymnasium besuchen. Das Gymnasium Petrinum im rund 13 Kilometer entfernten Brilon wäre dafür die nächste Adresse. Und auch in Arnsberg, etwa 30 Kilometer von Nuttlar entfernt, gibt es ein Gymnasium, das Laurentianum. Beide Gymnasien aber kommen für einen täglichen Hin- und Rückweg nicht infrage. Brilon ist per Eisenbahn zu dieser Zeit ohnehin noch gar nicht zu erreichen. Erst ab 1898 wird die Trassierung der Almetalbahn erfolgen, mit der Brilon-Stadt im Jahr 1900 einen Haltepunkt erhält.15 Arnsberg und Nuttlar sind zwar schon über die Obere Ruhrtalbahn direkt miteinander verbunden16, aber jeden Tag insgesamt 60 Kilometer hin und zurück – und an die Unterrichtszeiten gebunden – sind einfach nicht zu bewältigen. Da Anton also für die Gymnasialzeit ohnehin nicht ständig in Nuttlar wohnen kann, schicken seine Eltern ihren Sohn ab Herbst 1877 auf das Warburger Gymnasium Marianum, das seit 1874 nicht mehr nur Progymnasium, sondern Vollgymnasium ist.17

Der Bahnübergang in Nuttlar

Das Gymnasium Marianum in Warburg

Die Stadt Warburg liegt zwar 60 Kilometer von Nuttlar entfernt, aber offenbar ist man in Warburg auf die Unterbringung nicht einheimischer Schüler bestens eingerichtet. Fast die Hälfte der Gymnasiasten kommt von außerhalb und wohnt bei Gastfamilien.18 Außerdem ist die Verkehrsanbindung von Warburg sehr gut. Seit 1873 ist das letzte Teilstück der Oberen Ruhrtalbahn von Nuttlar nach Warburg fertiggestellt.19

Vielleicht soll Anton so früh wie möglich selbständig werden. Dazu mag die weitere Entfernung von zuhause dienlich sein. Und auch das Knüpfen von Kontakten kann ein angehender Kaufmann hier üben, besonders wenn so viele Mitschüler von auswärts kommen. Als Gymnasiasten stammen sie allesamt aus gehobenen und wohlhabenden Familien, die zu kennen sich irgendwann vielleicht einmal lohnen kann.

Anton kann also schon jetzt lernen, was ihm später hilfreich sein wird, sowohl im Persönlichen wie auch im Hinblick auf sein zukünftiges Unternehmen: auf Menschen zuzugehen, Kontakte aufzubauen und sich zu vernetzen. Miteinander bekannt zu sein, „Verbindung zu haben”, ist wirtschaftlich wie auch gesellschaftlich wichtig. Der Leumund, der öffentliche Ruf, den ein Mann unter seinen Geschäftspartnern und Bekannten genießt, steht – zumindest in jener Zeit – letztendlich für seine monetäre Bonität. Und die Kreise, in denen er verkehrt, sichern einerseits seinen beruflichen, andererseits aber auch seinen privaten Stand – durch die Möglichkeit einer Heirat im passenden gesellschaftlichen Ambiente.

Wo und bei wem Anton in seiner Warburger Zeit wohnt, ist nicht überliefert. Die Annalen der Schule führen ihn nur unter der Adresse seiner Eltern in Nuttlar.20

Das Gymnasium zu Warburg ist eine gemischt konfessionelle Schule, allerdings ist die Anzahl der katholischen Schüler bedeutend höher als die der evangelischen und jüdischen.21 Und so wird der katholische Glaube in der ehemaligen Klosterschule des Dominikanerklosters doch besonders gepflegt: Während des Besuchs der Quinta empfängt Anton am 29. Juni 1879 in der Klosterkirche zu Warburg die erste heilige Kommunion, gleich verbunden – was zu dieser Zeit recht üblich ist – mit der Firmung.22

Die Schulferien wie auch die höheren und damit mehrtägigen Feiertage wird Anton daheim in Nuttlar verbracht haben. Und aus dieser Zeit ist zum ersten Mal seine musikalische Begabung überliefert. Nach den späteren Aufzeichnungen seiner Tochter Else hat er bereits im Alter von zwölf Jahren, also um 1878, die Orgel in der Nuttlarer Kapelle gespielt23, dem Vorläuferbau der späteren Pfarrkirche St. Anna. Es kann sich bei der „Orgel” allerdings auch um ein Pedalharmonium gehandelt haben. Dieses Instrument, dessen Blasebalg durch Bewegung der Fußpedale gefüllt wird, wurde seit etwa 1860 produziert und häufig in kleineren Sakralräumen verwendet.24 Durch diese sakrale Funktion hat es angeblich Spitznamen wie „Choralpumpe”, „Psalmenquetsche” und „Hallelujavergaser” erhalten.25

Dass die Eltern Carl und Anna Sauerwald zu dieser Zeit ein Klavier besessen haben und Anton dort seine ersten Fähigkeiten als Pianist erworben hat, ist nicht belegt, aber durchaus anzunehmen. Denn etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat ein Boom der Hausmusik das Land überzogen. Das Klavier wird zum Statussymbol eines bürgerlichen und erst recht eines großbürgerlichen Haushalts26 wie dem der Fabrikantenfamilie Sauerwald. Und es entwickelt sich zum Trendinstrument: In der Zeit von 1870 bis 1890 werden die Produktionszahlen in Deutschland von unter 15.000 auf rund 70.000 Stück steigen. Zum Vergleich: Die USA produzieren um 1890 rund 72.000, Frankreich 20.000 Klaviere.27 Sofern es im Haus Sauerwald allerdings doch kein Klavier gegeben hat, könnte Anton sich seine Fähigkeiten auf dem Warburger Gymnasium angeeignet haben, oder in der Nuttlarer Kapelle selbst.

Der „Sauerlanddichter” Friedrich Wilhelm Grimme

Im Jahr 1882 vergrößert sich die Distanz zwischen Antons Elternhaus und seinem Schulort noch einmal um ein beträchtliches Stück: Er wechselt von Warburg auf das Königliche Katholische Gymnasium zu Heiligenstadt im thüringischen Eichsfeld, das zu dieser Zeit zur preußischen Provinz Sachsen gehört.28 Auf dem katholischen Gymnasium werden allerdings – wie in Warburg – auch Schüler evangelischen und jüdischen Glaubens unterrichtet. Das Schulprogramm des Schuljahres 1878/1879 zum Beispiel vermerkt insgesamt 212 Schüler. Davon sind 169 katholischer, 37 evangelischer und 6 jüdischer Konfession.29

Allerdings beträgt die Entfernung zwischen Nuttlar und Heiligenstadt mit der Eisenbahn stattliche 160 Kilometer. Laut einem Fahrplan von 1880, der aber auch zwei Jahre später noch Gültigkeit gehabt haben dürfte, bedeutete das mit der schnellsten Verbindung rund neun Stunden Reisezeit. Wahrlich alles andere als ein Katzensprung!

Die Gründe für Antons Schulwechsel sind, wie schon bei der Entscheidung für das Gymnasium zu Warburg, nicht überliefert. Es ist möglich, dass Anton in Warburg nicht sonderlich reüssiert hat. Die beginnenden Flegeljahre können ein Grund dafür gewesen sein – oder auch einfach Heimweh nach Nuttlar und der Familie. Oder aber: Das Heiligenstädter Gymnasium ist eine feine Adresse, die für eine gehobene Schulausbildung steht.

Der Direktor des Heiligenstädter Gymnasiums, Friedrich Wilhelm Grimme (1827-1887) ist im Sauerland kein Unbekannter. Denn er stammt selbst von dort, aus Assinghausen, einem Dorf, das nur gut 10 Kilometer von Nuttlar entfernt liegt und heute zur Stadt Olsberg gehört. Und eine ganze Reihe von Grimmes Heiligenstädter Schülern haben sauerländische Heimatadressen.30 Während diese auswärtigen Schüler wahrscheinlich zu großen Teilen im 1837 gegründeten Bischöflichen Knabenkonvikt untergebracht waren31, darf Anton privat und sogar beim Direktor selbst wohnen. Der Aufenthalt im Haus Grimme und die Eingebundenheit in die Familie werden für Antons Lebensweg überaus prägend werden – und Friedrich Wilhelm Grimme wird Antons Mentor.

Friedrich Wilhelm Grimme

Schon Grimmes Vater Engelbert Josephus Bernhardus war Lehrer, allerdings nicht an einem Gymnasium, sondern an der Dorfschule in Assinghausen, wo er sonntags in der Kirche auch die Orgel spielte. Laut Überlieferung improvisierte er zur Geburt seines siebten Sohnes – der durch diese Stellung unter den Geschwistern Patensohn des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. wurde und dessen Namen erhielt – am 25. Dezember 1827 im Weihnachtsgottesdienst einen freudigen „Hirtenwalzer” aus einer alten Assinghauser Weise32, der noch heute auf Youtube zu hören ist.33

Friedrich Wilhelm Grimme hat seine eigene Gymnasialzeit in Brilon verbracht, wo er aus Kostengründen – Lehrer wie sein Vater Josephus Bernardus Grimme wurden vom preußischen Staat nicht gerade fürstlich bezahlt – in einem Gasthaus ein Zimmer und ein Bett mit einem weiteren Schüler teilte.34 Er studierte an der Königlichen Akademie Münster, der Vorläuferin der Universität, und zählte hier 1847 zu den Gründungsmitgliedern der Studentenverbindung „Sauerlandia”.35 Nach seinem Studium arbeitete er als Lehrer an den Gymnasien Brilon, Arnsberg, Münster und Paderborn. Hier findet sich unter seinen Schülern der spätere Komponist Engelbert Humperdinck (1854-1921) aus Siegburg. Dass der junge Humperdinck – von dem an anderer Stelle noch die Rede sein wird – nach Paderborn aufs Gymnasium geschickt wird, ist ein Indiz dafür, dass es nicht ganz unüblich war, Gymnasiasten auswärts zur Schule gehen zu lassen, anstatt sie zuhause zu behalten, und dass dies wahrscheinlich eine Prestigefrage war. Denn für Humperdinck, dessen Vater selbst Gymnasiallehrer war, hätte es in Bonn, Köln oder Siegburg leichter erreichbare Standorte gegeben. Im Fall Humperdincks muss man allerdings noch hinzufügen, dass sein Onkel Domkantor in Paderborn war, Engelbert also Verwandtschaft an seinem Schulort hatte.36

Friedrich Wilhelm Grimme ist ein Pädagoge, der „mit unendlichem Pläsier” unterrichtet37, und ein großer Kinderfreund. In einem Gedicht, das von einem seiner Kinder handelt, gesteht er, dass „dein Blick, dein Kuss, dein lallend Wort, dein Arm um mich geschlungen, ist hell’re Poesie, als je ein Dichter hat gesungen”38. Grimme ist ein Mann, der sich offen und ohne Scham zur Liebe zu seinen Kindern und zu seiner Ehefrau bekennt. Und dies für die prüde biedermeierliche Gesellschaft teils so unumwunden, dass den Briloner Gymnasiasten jener Zeit die Lektüre seiner Gedichte untersagt wird.39

Seit 1872 leitet der Sauerländer Friedrich Wilhelm Grimme das Heiligenstädter Gymnasium. Er ist ein ebenso leidenschaftlicher Philologe wie Pädagoge und macht sich auch auf dem Gebiet der Botanik einen Namen. Seit 1875 ist er Träger der preußischen Auszeichnung „Königlicher Roter Adler Orden IV. Klasse”. Die Ehrendoktorwürde der Königlichen Akademie Münster wurde ihm im selben Jahr für seine literarischen Arbeiten und botanischen Studien verliehen.40 Es ist gut denkbar, dass ein derart wissbegieriger Mann wie Grimme auch für seine Schüler einen ziemlich hohen Maßstab anlegt und einiges von ihnen fordert. Die recht anspruchsvoll klingenden Lernziele des Gymnasiums Heiligenstadt stellt er in den jährlich erscheinenden Schulprogrammen vor.

Der Eingang zum Gymnasium in Heiligenstadt

Seit 1824 besteht in Preußen und seit 1833 in Sachsen für die Gymnasien die Pflicht, ihre Schuljahresprogramme zu drucken41, einschließlich der Namen der Lehrer und Schüler der „Anstalt” wie auch der Termine für die Abiturprüfungen, die zu dieser Zeit öffentlich stattfinden. Das Schulprogramm wird damit zu einer Art intellektueller und gesellschaftlicher Visitenkarte der Schule wie auch ihres Direktors.

Aus heutiger Perspektive erscheint es allerdings kaum möglich, den Schwierigkeitsgrad der damaligen Lerninhalte und der Abiturprüfungen über alle Fächer hinweg verbindlich und im Vergleich zu anderen Schulen einzuschätzen. Daher können auch keine Aussagen darüber getroffen werden, ob das Heiligenstädter Gymnasium eine „Elite-Anstalt” gewesen sein könnte. Allerdings stand die Schulgemeinde zu Grimmes Zeit bereits in einer 300-jährigen Tradition42, die im Jahr 1875 mit einer großen Jubiläumsfeier – unter der Ägide von Grimme – zelebriert wurde. Dieses Traditionsgefühl mag von besonderer Bindungskraft für eine Alumnikultur ehemaliger Schüler gewesen sein. Ein Beleg für die Verbundenheit der Absolventen noch lange nach dem Schulabschluss ist die zum 350-jährigen Bestehen der Schule erschienene und von ehemaligen Schülern erstellte Festschrift aus dem Jahr 1925. Aus ihr spricht zudem ganz klar ein Prestigegefühl, das die Absolventen des Heiligenstädter Gymnasiums erfüllt.43

Emilie Grimme

Grimme als Direktor des Heiligenstädter Gymnasiums und als Dichter

Grimmes Sohn Meinulf (1868-1942), frühere Schreibweise: Meinolph, wird seinen geistig so ambitionierten Vater und sicher auch leistungsorientierten Gymnasialdirektor später allerdings als einen Mann beschreiben, der mit seinen kleineren Kindern um den Weihnachtsbaum tanzte und der von den Ovationen „seiner Prima” am Abend vor seinem Abschied aus dem Schuldienst so gerührt ist, dass er weinend am Fenster seines Hauses steht.44 Grimme ist also wohl alles andere als ein strenger „Zeus”. Seine offenbar freundliche und humane Art ist für diese Zeiten ungewöhnlich. Unter seinem Nachfolger im Amt, Dr. Johannes Brüll, wird die Schulchronik des Schuljahres 1889/90 mehrere Selbstmorde unter den Schülern zu verzeichnen haben.45

Neben seinem Amt als Heiligenstädter Gymnasialdirektor pflegt Friedrich Wilhelm Grimme einige künstlerische Hobbys. Er schreibt Gedichte,

Schwänke und Theaterstücke, vielfach auf Sauerländer Platt und von kauzigem Humor. Außerdem spielt er Orgel, wie schon sein Vater, und tritt auch als Komponist hervor. Schon 1857/58 wurde die Oper „Der blonde Rolf”, die Grimme nach seiner gleichnamigen Ballade schrieb, im Konzertsaal der Stadt Paderborn aufgeführt.46 Die Neue Deutsche Biographie von 1966 berichtet, dass seine f-Moll-Messe für gemischten Chor und Orchester aus dem Jahr 1867 alljährlich im Paderborner Dom gespielt wurde, bis im Jahr 1872 Orchestermusik im Gottesdienst verboten wurde47, da sie angeblich die Andacht der Gottesdienstbesucher beeinträchtigte.

Den größten Erfolg aber hatte Grimme bereits im Jahr 1866 mit seiner Schrift „Das Sauerland und seine Bewohner”. In ihr schildert der Autor nicht nur die Topographie und Geschichte dieses Landstrichs, sondern auch dessen Kultur und Lebensart, die er mit vergleichsweise wenigen Strichen äußerst eindrucksvoll skizziert. Dieses Buch wie auch Grimmes plattdeutsche Erzählungen und Schwänke, die während seiner Paderborner Zeit zwischen 1856 und 1872 entstanden sind und in deren Mittelpunkt der „typische Sauerländer” steht, haben dem Autor bereits zu dieser Zeit im gesamten westfälischen Raum einen großen Namen eingetragen. Grimme gilt als „der Sauerlanddichter” – und wird diesen Namen und Ruf noch durch einige Generationen hindurch behalten.

Mit dem Wechsel auf das Heiligenstädter Gymnasium erhält der junge Anton Sauerwald in der Familie des Direktors Familienanschluss. Friedrich Wilhelm Grimme hat mit seiner Frau Emilie geborene Düser (1838-1913), die Tochter eines Arnsberger Druckereibesitzers, elf Kinder, sechs Söhne und fünf Töchter. In diesem großen Haushalt geht es der Überlieferung nach unkompliziert und bodenständig zu. Hauspersonal gibt es nach Auskunft von Grimmes Sohn Meinulf nicht, wahrscheinlich aus Kostengründen. Zu besonderen Feierlichkeiten hilft stattdessen der Schulpedell beim Tischdecken aus.48 Denn so wie es schon beim

Assinghauser Lehrer Grimme bescheiden zuging, wird auch Friedrich Wilhelm Grimme als Gymnasialdirektor offenbar nicht gerade üppig entlohnt. Durchblicken lässt er dies in einer seiner Schnurren, dem posthum veröffentlichten Text „Dispeltaziaune” von 1881.

Dispeltaziaune

„Niu hiät dai Menske, [...], en ganz Hius voll Blagen, graut un klein, sau ase de Üärgelpyipen – hai hiät den Diß all dreimol grötter maken loten mötten – dai Blagen sittet rundopp ümme diän Diß und sind, Guatt Luaf und Dank, frötsk oppem Tahne und wellt wat tüsker de Tiänne hewwen – und Strauh un Heu friättet se nit. Fläiß wellt se hewwn, Tuffeln wellt se hewwen, Braud wellet se hewwen-...”49 (Etwa „Nun hat der Mann ein ganzes Haus voller Kinder, groß und klein, wie die Orgelpfeifen – er hat den Tisch schon dreimal größer machen lassen müssen – sitzen die Kinder rund um den Tisch und sind, Gott Lob und Dank,

Neun der elf Grimme-Kinderhungrig und wollen etwas zwischen die Zähne haben – und Stroh und Heu fressen sie nicht. Fleisch wollen sie haben, Kartoffeln wollen sie haben, Brot wollen sie haben ...”) Auch erwähnt Grimmes Alter Ego, „twai Jungens hiät hai op der Universitäit”! – „zwei Jungen hat er auf der Universität” –, was exakt Grimmes Lebensumständen zu dieser Zeit entspricht. Er kann also das Kostgeld, das der Fabrikant Sauerwald für seinen Erstgeborenen entrichtet – und angeblich hat es noch andere Schülergäste in seinem Haus gegeben50 –, gut gebrauchen.

Neben der Unterbringung in seiner Familie soll Grimme auch ein Auge darauf haben, dass Anton auf dem neuen Gymnasium gut mitkommt. Hier aber kommt es eindeutig zu ein paar Anlaufschwierigkeiten, wie Dr. Grimme im Juni 1882 an den Vater seines Schülers berichtet: „Sein Fleiß war in den ersten Wochen nicht sonderlich angestrengt und bedurfte häufig des Spornes; jetzt ist das besser geworden, er treibt sich selbst mehr an, hält seine Studierstunden pünktlich inne, und es scheint, daß auch seine innere Lust zum Arbeiten sich mehr und mehr steigert. [...] er ist ja ausreichend begabt, und wenn er fleißig zu Hause, achtsam in der Klasse ist, so kann er leisten, was nötig ist.”51

Die Leistungen bedürfen also offenbar, bei allen vorsichtigen Formulierungen des Gastvaters, noch der Steigerung – vielleicht grundsätzlich, vielleicht aber auch im Hinblick auf das Niveau des Heiligenstädter Gymnasiums. Auf jeden Fall aber stimmt die Chemie zwischen der Familie Grimme und Toni, wie Anton in seiner Gastfamilie genannt wird. Er freundet sich mit den Grimme-Kindern an und „besitzt unser aller Liebe”, wie der Gastvater an Carl Sauerwald berichtet.52 Die Kinder spielen miteinander im Garten oder gehen im Wald spazieren. Grimme selbst mag Toni wohl ebenfalls besonders gern: „Bei weiteren Waldausflügen, die ich und meine Frau bisweilen mit dem ganzen Hause machen, habe ich mich gewundert und gefreut, einen so angenehmen, echt sauerländischen Mutterwitz bei ihm zu entdecken. Bei solchen u. ähnlichen Gelegenheiten sprechen wir beide dann auch wol [sic!] mal sauerländisch Platt.”

Eine ganz besondere Verbindung zu Anton empfindet Friedrich Wilhelm Grimme offenbar über die Musik. „In seiner freien Zeit spielt er fleißig auf dem schönen Gymnasial-Flügel (und er spielt schon recht wacker) ...”, berichtet der Gastvater mit offenkundigem Wohlgefallen den Eltern Sauerwald nach Nuttlar.53

Der Flügel stammt aus der Klavierfabrik Ibach in Barmen, heute ein Stadtteil von Wuppertal, und wurde, wie Grimme in der Chronik des Schuljahrs 1875-1876 erwähnt, im Jahr 1876 angeschafft.54 Noch ahnt niemand, dass die Firma Rudolf Ibach Sohn einerseits und Anton Sauerwald andererseits dereinst die beiden größten Pianohandlungen in der aufstrebenden Metropole Köln führen werden.

Bei Grimmes selbst gibt es Hausmusik der ambitionierteren Art, in denen die Grimme-Kinder ihr musikalisches Talent einbringen. Auf einem alten vierbeinigen Tafelklavier werden allabendlich vierhändige Sonaten gespielt. Ebenso werden Kunstlieder von Schubert, Schumann und Mendelssohn gesungen.55

Als leidenschaftlicher Lehrmeister wird Grimme die Gelegenheit nicht ausgelassen haben, seinen musikalisch begabten Kindern auch Grundzüge der Harmonielehre zu vermitteln – und Anton als fleißigem jungen Pianisten ebenfalls. Hier dürfte ein Grundstein gelegt worden sein für Antons spätere Ausbildung zum Musiker. Und auch auf andere, ganz persönliche Weise – wie noch gezeigt werden soll – wird die Zeit, die Anton im Hause Grimme zubringt, sein zukünftiges Leben bestimmen.

Anton Sauerwald auf seiner ersten Geschäftsreise um 1883 hinten in der Kutsche sitzend

Die Sommerferien sowohl der Jahre 1882 wie auch 1883 – die nicht mit Versetzungen in die nächsthöheren Klassen verbunden sind, sondern ein Schuljahr endete wie ein Geschäftsjahr zu Michaelis, also mit dem 29. September – verbringt Anton offenbar zuhause in Nuttlar. Im Nachlass von Antons Tochter Else befindet sich ein Foto, das laut einer Aufschrift auf der Rückseite Anton Sauerwald auf Geschäftsreise zeigt. Das Gesicht des jungen Mannes in der zweispännigen Kutsche mitsamt Kutscher ist schwer zu erkennen, es scheint sich aber tatsächlich um Anton Sauerwald zu handeln. Die Bäume auf dem Foto sind belaubt. Das Foto muss daher spätestens im Sommer 1883 entstanden sein. Es ist gut denkbar, dass Anton in diesen Sommerferien, die die letzten seiner Gymnasialzeit sein werden, daheim schon einmal ein wenig in die Geschäfte der Firma Josef Sauerwald Söhne eingeweiht und von seinem Vater zu Kundenbesuchen mitgenommen wurde.

Sein Abitur macht Anton am Gymnasium Heiligenstadt aber schließlich nicht. Diese akademischen Weihen wären ihm als angehendem Kaufmann auch gar nicht weiter förderlich.56 Stattdessen verlässt er die Schule spätestens im Herbst 1883. Das Schulprogramm des Jahres 1883/1884, beginnend Oktober 1883, führt ihn nicht mehr als Schüler. Stattdessen besucht Anton nun, mit siebzehn Jahren, die „kaufmännische Handelsschule zu Magdeburg”57; die „Höhere Gewerbe- und Handlungsschule”, wie ihr offizieller Name lautet.

Die Magdeburger Höhere Gewerbe- und Handlungsschule

Es ist anzunehmen, dass Anton die 10. Klasse des Gymnasiums Heiligenstadt mit Erfolg absolviert hat und nicht nur aus Verlegenheit die Schule wechselt. Zwar berichtet ein Artikel aus der Darmstädter „Allgemeinen Schulzeitung” von 1827, dass die Höhere Gewerbe- und Handlungsschule in Magdeburg zu dieser Zeit als fünfstufige weiterführende Schule nach der preußischen Elementarschule arbeitete und für Schüler geeignet war, welche sich „dem Militärstande, der Handlung, dem Baufache, dem Forstwesen, der Oekonomie oder sonst dem höheren Gewerbestande” widmen wollen58, was nach einem Abschluss mit dem sogenannten Einjährigen klingt, vergleichbar mit einer 10. Klasse. Die Lebenserinnerungen des knapp zwanzig Jahre älteren Forschers Wilhelm Siemens (1823-1883) – eines jüngeren Bruders des Firmengründers und Industriellen Werner von Siemens (1816-1892) – aber halten fest, dass um 1840 der Abschluss der 10. Klasse eine Voraussetzung für den Zutritt zu dieser Schule gewesen sei, um dort eine Art Fachabitur zu erwerben.59

Die Plätze auf der Magdeburger Fachschule sind begehrt. Denn die zuerst in Sachsen eingeführten Höheren Handelsschulen gelten als eine Art „Flaggschiff” des kaufmännischen Bildungswesens. Sie sollen ihre Absolventen auf eine gehobene Position in einem Handelsunternehmen vorbereiten, ohne erst die beschwerliche Lehrlingsausbildung durchlaufen zu müssen. Es gibt diese Schulen allerdings nur in wenigen Städten.60 Magdeburg – heute in Sachsen-Anhalt gelegen – ist zu dieser Zeit auch Sitz des Königlichen Provinzial-Schulkollegiums, der Schulbehörde für Sachsen61, wozu Heiligenstadt, wie bereits erwähnt, zu dieser Zeit gehört. Es spricht einiges dafür, dass Friedrich Wilhelm Grimme als Direktor des Heiligenstädter Gymnasiums, das ja ebenfalls der Behörde in Magdeburg untersteht, Anton den Platz auf der Handelsschule über den „kurzen Dienstweg” besorgen konnte.

Anton Sauerwald in Magdeburg 1883

Ein für Anton besonders günstiger Umstand ist, dass das Schuljahr 1883/84 eine Umstellung mit sich bringt: Beginn und Ende der Schuljahre sollen in Zukunft nicht mehr im Herbst stattfinden, um mit dem Wirtschaftsjahr übereinzustimmen, sondern die Versetzungen sollen jetzt an Ostern erfolgen. Auf diese Weise wird Antons Schulbesuch in Magdeburg nach einem Kurzschuljahr von nur sechs Monaten zu Ostern 188462 enden. Ein Fachabitur, von dem der oben erwähnte frühere Schüler Werner von Siemens spricht, wird er in dieser kurzen Zeit nicht erworben haben. Stattdessen aber hat er nun offenbar einen doppelten Abschluss einer 10. Klasse: der Untersekunda des Gymnasiums wie auch ein kaufmännisches Abgangszeugnis der Höheren Gewerbeund Handlungsschule.

Noch im Jahr 1883 lässt Anton sich für seine Lieben daheim bei dem heute leider nicht mehr nachweisbaren Fotografen W. Seyser „Nähe der Hauptpost” in Magdeburg fotografieren. Sein Porträt zeigt einen ruhig in die Kamera blickenden jungen Mann. Antons Anzug ist aus gediegenem Tuch, mit Paspeln an den Nähten. In seiner Krawatte steckt eine Nadel mit einem großen, an vier Stellen gefassten Stein. Man sieht: Anton ist auf dem Sprung ins Leben. Im Herbst 1884, mit achtzehn Jahren – das ist vor seiner Großjährigkeit, die erst mit 21 Jahren beginnen wird –, soll er in die Firma seines Vaters und des Onkels eintreten.63 Zuvor soll er ein Volontariat im Ausland absolvieren, „in Amsterdam oder Antwerpen”, wie seine Tochter Else später notieren wird.64 Das Volontariat dient dazu, den Abschluss der Höheren Gewerbe- und Handlungsschule auf praktische Weise fortzusetzen und Einblick in die Arbeitsweise eines anderen Handelsunternehmens als dem väterlichen zu gewährleisten. Standesgemäß im Kontor, und nicht, wie die Lehrlinge, in der „Handlung” oder gar im Lager. Man darf davon ausgehen, dass es sich bei dem belgischen oder holländischen Unternehmen um Geschäftspartner der Firma Josef Sauerwald Söhne gehandelt hat, die dem Nachwuchskaufmann den Volontariatsplatz ermöglichten.

Maria Grimme um 1883

Möglicherweise aber schmiedet Anton zu dieser Zeit noch weitere Zukunftspläne, und zwar in seinem Herzen. Ein Abzug seines Porträts aus Magdeburg könnte den Weg nach Heiligenstadt gefunden haben, in das Haus seines Gastvaters Grimme. Dieser hatte sich übrigens in seine spätere Ehefrau Emilie verliebt, als diese erst vierzehn Jahre alt war.

Auch im Heiligenstädter Haus Grimme wohnt zu Antons Magdeburger Zeit eine Vierzehnjährige. Es ist Maria, die dritte Tochter der Eheleute Grimme, das sechste der insgesamt elf Kinder.

2. Die Erblindung

Im Frühjahr 1884, mit siebzehneinhalb Jahren1, erfährt Antons Leben eine schicksalhafte Wendung. Er hat einen Eiterpickel im Gesicht, an der Nase oder am Kinn, und er kratzt ihn auf. Die Wunde entzündet sich und führt zu einer schweren Blutvergiftung. Es ist eine lebensgefährliche Situation, denn Penicillin und andere Antibiotika, mit denen eine Sepsis heute zu heilen ist, gibt es zu dieser Zeit noch nicht. Anton muss ohne diese Hilfsmittel überleben. Monatelang ist er schwer krank.2

An welchem Ort Anton mit seiner Erkrankung rang, ist nicht überliefert. Es scheint allerdings nicht in Magdeburg gewesen zu sein – dies wäre in die Familienerzählungen eingegangen –, sondern in seiner Heimat Nuttlar, in die er nach dem Ende des Schuljahres auf der Handelsschule zu Ostern 1884 zurückkehrte.

Zum Glück kommt Anton zwar schließlich doch noch mit dem Leben davon, aber er hat sein Augenlicht verloren. Eine kleine Brille mit Metallrand, die er fortan trägt, mag ein Hinweis darauf sein, dass er vielleicht einen letzten Rest seiner Sehkraft behalten hat und Schemen oder Schatten erkennen kann. Die Brille kann aber auch ganz einfach Unbekannte, denen Anton in Zukunft begegnet, darauf hinweisen, dass er sehbehindert ist. Eine letzte Möglichkeit ist, dass sie einen gewissen Schutz vor physischen Einwirkungen bieten soll.

Mit der Erblindung sind die Pläne für Antons Einstieg in die Firma Josef Sauerwald Söhne hinfällig geworden – bei Vater Carl mit seinem Kompagnon August ebenso wie bei Anton selbst. Zu jener Zeit kann sich noch niemand vorstellen, dass man auch als Mensch mit körperlichen Einschränkungen eine höhere Position in einem Wirtschaftsunternehmen bekleiden kann – zumal in einer Doppelspitze mit einem sehenden Kompagnon, wie dies für Anton und seinen Cousin Hermann in der Firma ihrer Väter vorgesehen ist. Somit muss Anton kurz vor seinem Berufsstart seine gesamten bisherigen Lebenspläne begraben. Das ist ein großer Schock für ihn, für seine Eltern und für alle, die ihn als einen der Nachfolger in der Firma sahen.

Antons Beziehungen zur Familie Grimme werden während seines Aufenthalts in Magdeburg nicht abgerissen sein. Besonders mit dem nur eineinhalb Jahre jüngeren Meinulf Grimme verband ihn schon während seiner Heiligenstädter Zeit eine tiefe Freundschaft, die auch Jahre später noch anhalten sollte.3 Mit Sicherheit hat daher auch die Familie Grimme früh von Antons Erblindung erfahren.

Für Anton stellt sich die Frage, wie er nun mit seiner Blindheit umgehen kann. Was kann er tun? Ist er ab jetzt darauf angewiesen, dass seine Familie für ihn sorgt? Oder hat er eine Möglichkeit, als Blinder einen Beruf auszuüben?

Eines ist ganz klar: Anton muss die Punktschrift erlernen, die der ebenfalls blinde Franzose Louis Braille im Jahr 1825 erfunden hat. Sie ist der Schlüssel für ein Mindestmaß an Selbständigkeit. Und am besten sollte er auch irgendwie die Möglichkeit erlangen, einen Beruf auszuüben.

Zum Glück für Anton hat sich gerade im Jahrzehnt vor seiner Erkrankung eine Menge für die Blinden getan. Denn mit der Gründung des Kaiserreiches 1871 blühte das Gesundheitswesen in Deutschland auf. Damit einher gingen auch ein Ausbau der klinischen Augenheilkunde sowie ein Aufschwung der Blindenbildung durch die Einrichtung von Blindenschulen.4 Seit 1873 werden alle drei Jahre Blindenlehrerkongresse abgehalten.5

Blindheitsprophylaxe im Kaiserreich

Dass es zu jener Zeit bedeutend mehr Blinde gab als heute, ist auf das damalige Fehlen von Antibiotika zurückzuführen. Im 19. Jahrhundert verloren rund 35 % aller Blinden ihr Augenlicht durch die Pocken.6 Ebenso stellten Typhus und Scharlach eine Gefahr für die Augen dar, vor allem aber Masern und Hirnhautentzündung.7 Auch die Augenentzündung der Neugeborenen (Blennorrhoea neonatorum) spielte eine große Rolle. Sie wird durch Eiterbakterien übertragen, die häufig beim Geburtsvorgang von einer mit Tripper infizierten Mutter in die Augen des Kindes geraten.8

Durch die Aufklärung der Bevölkerung über Hygiene und Vorsorge vor Augenleiden und auch durch die Credé-Prophylaxe – eine Vorsorgemaßnahme, die der Leipziger Frauenarzt und Geburtshelfer Carl Siegmund Franz Credé entwickelte und bei der jedem Säugling nach dem ersten Bad nach der Geburt eine Silbernitratlösung in die Augen geträufelt wurde9 – sollte es gelingen, die Blindheit im Deutschen Reich zurückzudrängen: Entfielen zur Zeit der Reichsgründung 1871 noch 88 Blinde auf 100.000 Einwohner, so waren es im Jahr 1900 nur noch 60. Das ist in dreißig Jahren ein Rückgang von rund 30 %.10

Im von Nuttlar etwa 60 Kilometer entfernt liegenden Paderborn gab es seit 1842 ein kleines Privatinstitut für Blinde11, das die Ordensschwester Pauline von Mallinckrodt (1817-1881) eingerichtet hatte. Schon 1847 ist diese Gründung in ein Provinzial-Blindeninstitut umgewandelt worden. Hier werden nur Katholiken aufgenommen, in der im selben Jahre entstandenen Provinzialanstalt in Soest ausschließlich Protestanten.12 Seit 1858 bildet die Paderborner Anstalt Blinde in Korbflechten und Bürstenmachen aus13, während für Protestanten in Soest seit 1865 sogar eine Ausbildung zum Organisten möglich ist.14

Organist – das wäre vielleicht eine berufliche Möglichkeit für Anton. Er ist ja ein „recht wackerer” Pianist, wie Friedrich Wilhelm Grimme ihm bereits vor Jahren attestiert hatte. Aber Anton gehört nicht der evangelischen Kirche an, sondern er ist katholisch. Somit kann er in Soest nicht ausgebildet werden.

Dennoch wird die Familie Sauerwald Kontakt nach Paderborn aufgenommen haben – oder vielleicht war es auch Friedrich Wilhelm Grimme, der in dieser Stadt immerhin sechzehn Jahre lang als Gymnasiallehrer tätig war. Die Paderborner Anstalt könnte darauf verwiesen haben, dass die Provinzialinstitute sehr wohl auch für Katholiken eine Ausbildung zum Organisten im Portfolio führen – sowie ebenso die Ausbildung zum Musiklehrer und Klavierstimmer. Und zwar in der Anstalt in Düren.

Sicher ist die Aussicht, seinen Lebensunterhalt als Musiklehrer zu bestreiten, nicht mit einem Leben als Firmenchef zu vergleichen. Aber es ist immerhin eine Möglichkeit, die auch Antons Begabung und Interessen entspricht.

So begibt sich Anton am 1. Oktober 1884 nach Düren, um sich als „Zögling” der Blindenanstalt „in der Musik und im Klavierstimmen”15 ausbilden zu lassen.

Es ist wohl eine der besten Entscheidungen, die Anton für sein Leben treffen konnte.

Die Provinzial-Blindenanstalt in Düren

Schon im Jahr 1845 wurde in Düren die „Elisabethstiftung für Blindenunterricht in der Rheinprovinz” errichtet. Seit dem Jahr 1873 gehört die Einrichtung zu den Provinzialinstituten16, die sich im gesamten Einzugsgebiet der damaligen Rheinprovinz für die Förderung behinderter Menschen einsetzen.17 Die seit 1876 in der Dürener Nordstadt in einem neuen Gebäude untergebrachte Blindenanstalt ist eine moderne Anlage. Sie erstreckt sich mit vier getrennten

Die Dürener Blindenanstalt

Gebäuden, einem Gemüsegarten, fünf Höfen mit Sträuchern, Bäumen und Turn- und Klettergeräten über rund 3 Hektar.18 Das Wohngebäude verfügt über mehrere Badezellen.19 Schon seit 1868 verfolgt die Anstalt ein geradezu revolutionäres Ausbildungskonzept. Durch die folgenden baulichen Erweiterungen wird sie sich zur modernsten Blindeneinrichtung im deutschen Sprachraum entwickeln.20

Wilhelm Scheu genannt Mecker

Spiritus Rector der Anstalt in Düren ist Wilhelm Scheu genannt Mecker (1839-1898). Schon 1868 wurde ihm die Leitung des Hauses übertragen. Mecker ist der Sohn eines Landwirts aus Havixbeck bei Münster. Er hat in Münster und Bonn Philologie studiert und arbeitete bislang als Gymnasiallehrer in Düsseldorf und als Rektor der Höheren Bürgerschule in Cochem an der Mosel.21 Mit Verve stürzt Mecker sich in seine neue Aufgabe und beschreitet völlig neue Wege. An erster Stelle im Lehrplan „seiner” Blindenanstalt steht selbstverständlich das Erlernen der Brailleschrift, die seit 1879 als offizielle Blindenschrift für das Deutsche Reich anerkannt ist.22 Sie ist die Grundlage für alles Weitere: Das Lesen erfolgt durch Ertasten der Punktschrift, das eigenständige Schreiben durch das Durchbohren eines starken Papiers mit einem Punktierstift23.

Für den Unterricht der schulpflichtigen Kinder setzt Mecker neben den üblichen Fächern auch Sport auf die Lehrpläne seiner Anstalt; damit seine „Zöglinge”, die bislang vor allem saßen und von Sehenden geführt wurden, ein besseres Körpergefühl entwickeln, das sie Sicherheit im freien Raum erlangen lässt. Der weiße Langstock, mit dem sich heute Blinde orientieren und im öffentlichen

Das Braille-Alphabet

Raum unterwegs sind, wird erst eine Erfindung des 20. Jahrhunderts sein. Dennoch aber sind einzelne Absolventen der Dürener Blindenanstalt nach ihrer Ausbildung in der Lage, sich ohne Hilfe außerhalb ihrer Wohnungen zu bewegen. So berichtet Mecker im Jahr 1882/83 nach einem Besuch bei einigen ehemaligen „Zöglingen” von einem Blinden, der „obgleich ohne alle Lichtempfindung, alle Wege in der Umgebung von 2 Stunden ohne Führer macht”.24 Ein anderer ist in der Lage, „obwohl stockblind, alle seine Geschäftsreisen, die sich 10 Meilen im Umkreise, sogar bis nach Frankreich hinein, erstrecken, auch meilenweite Fußtouren allein ohne jede Begleitung” zu unternehmen.25

Schon kurz nach seiner Bestallung als Leiter der Blindenanstalt hat Mecker im Jahr 1870 den Bonner Professor für Augenheilkunde Theodor Saemisch (1833-1909) als „Hausarzt” für seine Anstalt gewonnen, wodurch ihm eine „vorbildliche Symbiose von Ausbildung, Erziehung und ärztlicher Betreuung der blinden Schüler” gelingt.26 Außerdem legt er größten Wert auf eine musische Bildung seiner Zöglinge, die zu einem emotionalen Gleichgewicht, zu Glück und Zufriedenheit führen soll. Er versucht, seine Schüler zu einer „inneren Aussöhnung mit ihrem Geschick” zu führen und ihnen Selbstbewusstsein zu verleihen, so dass sie sich als aktiven Teil der Gesellschaft empfinden und sich durch ihren Beruf einbringen.27 Er ist der tiefen Überzeugung, dass blinde Menschen ohne eine passende Ausbildung vergehen wie „Blumen ohne Licht”.28

Seit 1873 findet im Deutschen Reich alle drei Jahre ein Blindenlehrerkongress statt. Mecker gehörte zwar nicht zu dessen Initiatoren, aber mit seiner Zeitschrift „Der Blindenfreund. Zeitschrift zur Verbesserung des Looses [sic!] der Blinden”, die er seit 1881 herausgibt, trägt er entscheidend zum Austausch und der Vernetzung der „Akteure des Blindenwesens” im deutschsprachigen Raum bei.29

„Vernetzung” ist einer der entscheidenden Begriffe, um das Wirken Wilhelm Meckers zu skizzieren, von dem die Schüler „seiner” Anstalt nicht nur während ihrer Ausbildung profitieren, sondern – wie auch für Anton Sauerwald noch zu zeigen sein wird – in ganz entscheidender Weise vor allem danach, in einem weitgehend eigenständigen Leben.

Die Zeitschrift „Der Blindenfreund”

Aus Meyers Großem Konversations-Lexikon 1908

Neben einer Blindenschule für schulpflichtige Kinder bietet die Dürener Anstalt Berufsklassen für verschiedene Berufszweige, die zur selbständigen Erwerbsfähigkeit führen sollen. Hier lernen die Auszubildenden unter anderem auch das Schreiben von Geschäftsbriefen.30 In den eigenen Berufsklassen für Organisten, Klavierstimmer und Musiklehrer wird – auf der Basis der bereits bis zur Lese- und Schreibfähigkeit erworbenen Brailleschrift – auch die 1828 ebenfalls von Braille entwickelte Musikpunktschrift gelehrt.31 In Meyers Großem Konversations Lexikon aus dem Jahr 1908 findet sich eine Beschreibung der Braille-Notenschrift – deren Erfindung allerdings fälschlich auf das Jahr 1836 datiert wird.

Aus Meyers Großem Konversations-Lexikon 1908:

Notenschrift für Blinde

Notenschrift für Blinde wurde von dem blinden Louis Braille (s. d. und Blindendruck) um 1836 erfunden und ist heute international. Mit ihrer Hilfe kann der Blinde zwar nicht vom Blatt spielen, wohl aber beim Erlernen den Vorspieler entbehren, kann Stücke, die er gelernt hat, abschreiben, und wenn er sie später nochmals braucht, wieder durchlesen. Ja er kann selbst eine größere Anzahl Sehender unterrichten, ohne die Stücke auswendig zu lernen. In dem nachfolgend abgedruckten Schema der C dur-Tonleiter (die übrigen Tonarten werden mit Hilfe der # und b [letzte Zeile des Schemas] genau wie bei den Sehenden gebildet) bezeichnet jedes der 32 Zeichen der vier ersten Zeilen gleichzeitig den 16. Teil der Länge der betreffenden Note oder Pause. Da der Blinde hinter jedem Takt einen Zwischenraum läßt, wie der Sehende einen Taktstrich, so ist eine Verwechselung z. B. zwischen halben Noten und 32/teln unwahrscheinlich. Von den sieben Schlüsseln der fünften Reihe, deren jeder eine Oktave umfaßt, setzt man einen zu Anfang des Stückes, ferner vor eine jede Note der Melodie, die mehr als eine Quint höher oder tiefer liegt als die vorhergehende. Bei Sekunden und Terzen fallen sie stets weg, bei Quarten und Quinten, sobald die zweite in einer anderen Oktave liegt. (Demnach wird vor die zweite Note des Intervalls DA ein Schlüssel gesetzt, wenn es sich um eine Quint nach oben handelt, aber nicht, wenn eine Quart nach unten dadurch bezeichnet wird.)

Für Orgel und Klavier werden die beiden Hände getrennt geschrieben, und man gibt in der rechten nur die Melodie, in der linken den Baß durch Noten an. Die übrigen Noten des Akkordes werden durch Intervallzeichen (Zeile 6) dahinter gesetzt. Die Noten, deren Länge von der Hauptnote abweicht, werden ausgelassen und am Schlusse des Taktes angeschlossen dahinter gesetzt. Die 17 Zeichen, die von den 63 Zeichen des gesamten Systems noch übrigbleiben, benutzt der Blinde als Fingersatz, Triller und ähnliche Zeichen, genau wie der Sehende.32

Es ist ein hochkompliziertes System, das eine unglaubliche Kopfarbeit und Merkfähigkeit des Musikers voraussetzt, um den Notentext fehlerfrei zu entschlüsseln und auswendig zu lernen. Eine gewisse Erleichterung versucht man dadurch herbeizuführen, dass im Fall von Tasteninstrumenten nicht der gesamte Notentext der rechten oder der linken Hand hintereinander geschrieben wird, sondern immer nur eine bestimmte Anzahl von Takten. Gleiches gilt für Partituren.

Die blinden „Musik-Zöglinge” der Dürener Anstalt lernen die Braille-Noten nicht nur lesen, sondern auch schreiben, auch in Musikdiktaten, zu denen bevorzugt Orgelstücke verwendet werden.33 Kein Wunder, dass zu einer solch schwierigen und auch auf viel Fleiß basierenden Ausbildung tatsächlich nur Bewerber zugelassen werden, die „hervorragende Anlage und Lust” dazu mitbringen und damit Aussicht auf Fortkommen in diesem Bereich haben.34

Neben dem Unterricht auf dem Klavier oder der Orgel erlernen die angehenden Musiklehrer ein zweites Instrument, als Bläser oder Streicher, und spielen gemeinsam mit ihren Kollegen in Quartetten und kleinen Orchesterbesetzungen35 mit einer so geringen Anzahl an Musikern, dass kein Dirigat benötigt wird – da es für die Blinden nicht zu sehen ist. Fortgeschrittene Schüler werden, unter der Aufsicht ihrer eigenen Lehrer, beim Unterricht der Anfänger eingesetzt.36 Wer nach Erlangung der notwendigen musikalischen Vorkenntnisse eine zweijährige Ausbildung zum Klavierstimmer absolviert, wird danach zu einem Praktikum in eine Klavierfabrik vermittelt.37 Die Organisten, die die Anstalt verlassen, bestehen – wie Mecker in seiner Festschrift zum 50-jährigen Bestehen stolz berichtet – die öffentliche Prüfung fast immer mit Auszeichnung.38

Neben der soliden und lebensnahen Ausbildung der „Zöglinge” kümmert sich Mecker auch nach deren Abschied aus Düren weiter um diejenigen, die einen selbständigen Beruf ergreifen. „Mit fast allen Entlassenen hält die Anstalt einen regen Verkehr”, berichtet er in seiner Festschrift.39 Auch Anton Sauerwald wird später von dieser fortwährenden Kontakthaltung Meckers profitieren.

Man kann wohl sagen: Mecker brennt für seinen Beruf. Und er ist nicht nur ein guter Pädagoge, sondern entwickelt sich auch zu einem Vertriebler, der sich um den Absatz der Bürsten- und Korbwaren kümmert, die in der Blindenanstalt hergestellt werden oder auch von selbständigen externen Blinden. Schon im Jahr 1877 hatte Mecker für die Einrichtung einer Verkaufsstelle in Köln gesorgt, in der „Passage Nr. 12”40, in der Königin-Augusta-Halle.

Die Königin-Augusta-Halle um 1863

Die Königin-Augusta-Halle in Köln: Shopping am Ende des 19. Jahrhunderts

Bei der Königin-Augusta-Halle handelte es sich um ein 1863 eröffnetes Shoppingcenter an der Hohe Straße Ecke Brückenstraße. Die Passage enthielt 55 Läden und ein Kaffeehaus in der Mitte. Überspannt wurde das Gebäude von einem verglasten Satteldach. Es war nach „Sillems Bazar” in Hamburg die zweite bedeutende Einkaufspassage in Deutschland.41 Allerdings muss das Bürsten- und Korbwarengeschäft mit den Produkten der Dürener Blindenwerkstatt schon im Jahr 1881 wieder schließen.42 In den kommenden Jahren aber wird Mecker sein Wirken zunehmend mit den Möglichkeiten des gerade zur Großstadt aufstrebenden Köln verknüpfen – auch zum Besten seiner Absolventen.

Nach rund einem Jahr, 1885, hat Anton Sauerwald seine Ausbildung in Düren beendet und verlässt die Blindenanstalt.43 Anstatt aber ein Praktikum in einer Klavierfabrik an seine Ausbildung zum Musiker und Klavierstimmer anzuschließen, entschließt er sich, privaten Orgelunterricht in Köln zu nehmen. Sein Lehrer wird Franz Strung (1847-1913), Organist an der Kölner Kirche St. Aposteln. Strung ist ebenfalls Absolvent der Dürener Blindenanstalt.44 Die Vermittlung von Anton an ihn dürfte ein Resultat von Meckers Fürsorge für den frisch gebackenen Absolventen Anton Sauerwald einerseits wie auch der regelmäßigen Reisen zu seinen Ehemaligen sein – und ein Ergebnis der praktischen Hilfe und Unterstützung, die er ihnen angedeihen lässt. Wahrscheinlich wohnt Anton auch bei Franz Strung, der zu dieser Zeit mit seiner Familie in der Schaafenstraße 45 lebt. Eine eigene Wohnung ist für Anton Sauerwald in dieser Zeit in Köln jedenfalls nicht nachweisbar.

Für Franz Strung, der rund neunzehn Jahre älter ist als Anton, dürfte die Unterbringung seines Schülers einerseits praktisch und gleichzeitig pragmatisch gewesen sein – man erspart sich gegenseitig lange Wege –, andererseits vielleicht auch ein willkommenes Zubrot. Denn wie sich zeigen wird, wird die Einkommenslage für blinde Organisten, die nicht in der Lage sind, auch Küsterdienste in den Kirchen auszuüben, zunehmend schwieriger und zum Ende des Jahrhunderts schließlich unhaltbar werden.45 Möglicherweise gibt es in der Mitte der 1880er Jahre schon erste Anzeichen für diese Entwicklung. Damit war rund zehn Jahre zuvor offenbar noch nicht zu rechnen: Strung muss die Blindenanstalt vor 1876 verlassen haben. Denn für das Jahr 1876 verzeichnet die Festschrift der Anstalt seine Spende von 1500 Mark in Gestalt eines neuen Flügels.46 Zu dieser Zeit hat Strung offenbar ausreichend verdient und konnte sich eine solch große Gabe leisten.

Im Zusammenhang mit Antons Unterbringung in Köln drängt sich die Frage auf, wie sich Anton überhaupt im öffentlichen Raum und in diesem Fall in Köln bewegte. Es ist kaum anzunehmen, dass auch er zu den Absolventen der Dürener Anstalt gehörte, die zumindest in jungen Jahren ohne eine sehende Person auskamen. Denn als zuvor Sehender dürfte Anton Sauerwald durch seine erworbene Blindheit in höherem Maße irritiert gewesen sein als ein von Geburt an blinder Mensch. Möglicherweise hat Franz Strungs ältester Sohn Franz, der auch die Korrespondenz für seinen Vater erledigte47, Anton in Köln begleitet. Im Sommer 188648 ist es so weit: Anton Sauerwald meldet sich als Externer zur Prüfung zum

Das alte Gregoriushaus in Aachen um 1900

Kirchenorganisten an der erst fünf Jahre zuvor, 1881, gegründeten Kirchenmusikschule St. Gregoriushaus in Aachen, das damals noch zum Kölner Erzbistum gehört. Das St. Gregoriushaus ist nach der 1874 gegründeten Katholischen Kirchenmusikschule in Regensburg die zweite Kirchenmusikschule im Deutschen Reich49, also eine Kaderschmiede für die Organisten, die im Rheinland und Westfalen etwas werden wollen. Im Herbst 1886 – sofern sich das Gregoriushaus an die üblichen akademischen Semester hielt – besteht Anton die Prüfung „mit Erfolg”50.

Damit ist Anton Sauerwalds Berufsausbildung beendet. Sie ist bei weitem nicht das, was ihm in die Wiege gelegt zu sein schien, eine gediegene Existenz als Fabrikant; aber sie ist wahrscheinlich mehr, als Anton und seine Familie zwischenzeitlich zu hoffen wagten. Eine Anstellung als Organist aber, auf die Anton von nun an sehnlichst hofft, wird auf einige Zeit ein Desiderat bleiben.

3. Von Nuttlar nach Bochum

Nach seinem Organistenexamen lebt Anton Sauerwald ab Herbst 1886 zunächst wieder im

Haus seiner Eltern in seinem Heimatort Nuttlar und betätigt sich dort als Musiklehrer.1 Sein jüngster Bruder Franz Carl, genannt Carl, ist inzwischen sieben Jahre alt. Er wird Antons Klavierschüler.2

Neben Carls Unterricht dürfte Anton Sauerwald in Nuttlar allerdings beruflich kaum ausgelastet sein. Bei geschätzt 800 Einwohnern des Ortes zu jener Zeit3 wird die Anzahl der Nuttlarer Musikschüler überschaubar gewesen sein, selbst wenn Anton neben Klavier vielleicht auch Geigespielen unterrichtet, da er sich ja in Düren auf einem zweiten Instrument ausbilden lassen musste. Die Anzeige seiner späteren Geschäftseröffnung im Jahr 1896 in Köln betont jedenfalls „Specialität: Schulgeigen”. Daraus ist zu schließen, dass Anton neben dem Klavier mehr von Geigen verstand als von anderen Instrumenten. Dennoch: Die Situation in Nuttlar stellt Anton vor die Frage, wie er seinen Beruf in angemessenem Umfang ausüben kann und ob sich daraus jemals ein akzeptables eigenes Einkommen ergeben wird.

Unterdessen wird seinem ehemaligen Heiligenstädter Gastvater und Mentor Grimme, der inzwischen in Münster lebt, neuer Ruhm zuteil.

Friedrich Wilhelm Grimme in Münster

Bereits 1885 hat sich Friedrich Wilhelm Grimme aus gesundheitlichen Gründen früher pensionieren lassen und ist mit seiner Familie nach Münster gezogen. Die älteste Tochter, Maria Josephine Elisabeth, genannt Else, hat im September 1884 noch in Heiligenstadt geheiratet. Sie lebt nun mit ihrem Ehemann, dem Nationalökonomen Dr. Franz Berghoff-Ising, in der Schweiz, in Bern.4 Grimmes Söhne Fritz und Hubert sind durch ihr Studium schon länger aus dem Haus. Für die übrigen Kinder erhofft Grimme sich in Münster bessere Ausbildungsmöglichkeiten als in Heiligenstadt.5 Der Erfolg seiner Kinder sollte ihm später Recht geben: Von seinen sechs Söhnen werden vier den Doktortitel tragen, zwei werden Buchhändler und Verleger, von denen einer später die Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis, dem späteren Papst Pius XII., aus der Zeit der Weimarer Republik herausgeben wird. Grimmes noch unverheiratete Töchter werden allesamt erst nach einer Ausbildung an dem seit 1832 errichteten ersten Katholischen Lehrerinnenseminar für Preußen in Münster und dem „Höheren Lehrerinnenexamen” ins Leben entlassen. Das Lehrerinnenseminar ist zu dieser Zeit für Frauen die einzige Möglichkeit, eine Art Studium zu absolvieren. Die Ausbildung dauert drei Jahre. Als Lehrerin wirken und unverheiratet bleiben – gemäß dem sogenannten Lehrerinnenzölibat, einem Ministererlass von 1880, der für Frauen die Unvereinbarkeit von Lehramt und Ehe festlegte6 – wird allerdings nur Sophie (1872 – 1933), die schließlich Konrektorin wird in Langenbochum, heute ein Stadtteil von Herten in Westfalen.

Nuttlar, Dorfstraße um 1900

Nun, im Jahr 1886, wird zwanzig Jahre nach der Erstauflage Grimmes Buch „Das Sauerland und seine Bewohner” noch einmal neu publiziert – in stark umgearbeiteter und erweiterter Form.7 Damit wird Grimmes Ruf als Sauerlanddichter gefestigt – und das sogar auf Jahrzehnte hinaus.

Im Jahr 1886 aber richtet zunächst der Männergesangverein Olsberg, durch das angrenzende Assinghausen quasi Grimmes Geburtsort, ein Sängerfest aus. Schon im Jahr 1872 hatte sich der Verein gegründet und auf Grimmes Vorschlag hin – so die Überlieferung des Chores – den naheliegenden Namen „Sauerlandia” gewählt. Zu diesem Sängerfest im Sommer 18868 reist Grimme noch einmal in seine sauerländische Heimat. Dort trägt er seine zu diesem Anlass entstandene Dichtung „All-Surland soll liäwen” vor9 – ein ebenso humoristisches wie heimatverbundenes Epos von immerhin zwölf Strophen. Daraufhin feiern die Sauerländer ihren „Nationaldichter” am Abend mit einem Fackelzug.10 Dann, im folgenden Frühjahr, am 3. April 1887, stirbt Friedrich Wilhelm Grimme, rund einen Monat nach dem Tod seiner ältesten Tochter Else.

Postkarte mit dem Geburtshaus Friedrich Wilhelm Grimmes in Assinghausen, um 1900

Else und Friedrich Wilhelm Grimme

Offenbar war Grimmes Verhältnis zu Else recht eng und von gemeinsamer Arbeit geprägt, denn kurz vor ihrem Tod hatte Else eine „verschlüsselte” Erzählung für die von ihrem Vater begründete und in Heiligenstadt erscheinende, religiös orientierte Zeitschrift „Edelsteine. Illustrierte katholische Jugendschrift” verfasst.11 Laut der Gedenkschrift des Sohnes Gustav zum 50. Todestag Grimmes hat ihm dieser Verlust im wahrsten Sinn des Wortes „einen Schlag versetzt”, verbunden mit einem körperlichen Zusammenbruch und „Wochen großer Hilflosigkeit”.12

Die Nachricht von Grimmes Tod dringt bis ins Ausland, in die an das Münsterland angrenzenden Niederlande. Die niederländische Zeitung „De Tijd” aus dem grenznahen s’Hertogenbosch stellt Grimme in einem Nachruf vom 8. April 1887 in eine Reihe mit dem großen norddeutschen Mundartdichter Fritz Reuter (1810-1874) sowie mit dem schwäbischen Dichter Ludwig Uhland (1787-1862).13

Die Todesnachricht wird Anton in seiner ohnehin schon betrüblichen Situation zusätzlich erschüttert haben. Ob er an der Beerdigung seines Mentors teilnehmen konnte, ist nicht überliefert und auch eher unwahrscheinlich, denn die Beisetzung fand nur drei Tage später statt, am 6. April. Es dürfte für Anton kaum möglich gewesen sein, so schnell eine Reise von Nuttlar nach Münster zu organisieren, noch dazu mit einer sehenden Begleitung und aufgrund der Distanz von über 100 Kilometern mit mindestens einer Übernachtung in Münster.

Generell gibt es für die Zeit nach Antons Abschied aus Heiligenstadt im Jahr 1883 keine greifbaren Belege für den Kontakt zur Familie Grimme. Das Jahr 1888 aber beweist die enge Verbindung, die Anton weiterhin zur Familie des nunmehr verstorbenen Sauerlanddichters pflegte.

In diesem Jahr nämlich erscheint in der von Friedrich Wilhelm Grimme gegründeten und in Heiligenstadt bei F.W. Cordiers Verlag herausgegebene Publikationsserie „Edelsteine. Illustrierte katholische Jugendschrift” unter Anton Sauerwalds Namen der Beitrag „Aus Mozarts Leben”. Der erste Abschnitt des Artikels verspricht für die kommenden Ausgaben sogar noch weitere Erzählungen aus der Jugend großer Komponisten.14 Es gibt aber keine Hinweise darauf, dass diese Beiträge tatsächlich erschienen sind. Wie es überhaupt wenig wahrscheinlich ist, dass „Aus Mozarts Leben” tatsächlich aus Anton Sauerwalds Feder stammte.

Meinulf Grimme als Ghostwriter? Oder ein Text von Else Grimme?

Der Sprachduktus des Beitrags weist keinerlei Ähnlichkeiten auf zum ansonsten eher trockenen und knappen Berichtsstil, mit dem Anton Sauerwald seiner Nachwelt Aufzeichnungen über sein Leben hinterlassen hat. Stattdessen erinnert er stark an den Stil seines Freundes Meinulf Grimme, wie er sich auch in den „Immortellen” findet, einem Beitrag zum Gedenken an Friedrich Wilhelm Grimmes 100. Geburtstag im Sauerländischen Gebirgsboten von 1927.15 Meinulf Grimme ist seit 1885 in Münster als Buchhändler tätig16 – einem klassischen Berufsfeld für „verhinderte Schriftsteller”.

Möglich ist auch, dass es sich bei dem Text „Aus Mozarts Leben” um einen weiteren Text der Grimmetochter Else handelt. Bereits kurz vor ihrem Tod hatte sie ja einen „verschlüsselten” Text in den „Edelsteinen” publiziert.17 Anton Sauerwalds Name könnte bei „Aus Mozarts Leben” als Pseudonym für die verstorbene Else gedient haben. Ob aber nun Meinulf oder Else Grimme die Urheber des Textes waren – in beiden Fällen scheint es, als sei mit dem angeblichen Beitrag von Anton in den „Edelsteinen” ein Versuch unternommen worden, seinen Namen publik zu machen oder ihm eine kleine berufliche Aufgabe zu verschaffen – die er wohl mit Rücksicht auf seine mangelnde Begabung für das schreibende Fach denn doch wieder aufgeben musste.

Im Sommer 1888 bewegt sich endlich eine Kleinigkeit für Anton Sauerwald: Am 1. Juli 1888 ist er Gründungsmitglied des Nuttlarer Männergesangsvereins.18 Und noch im selben Jahr übernimmt er das Dirigat von Lehrer Simon aus Ostwig. Dieses Amt wird ihm sogar vergütet, mit einer monatlichen „Bonifikation” von 20 Mark.19 Nach einem Umrechnungskurs der Deutschen Bundesbank entspricht dies im Jahr 2024 einer Kaufkraft von etwa 150 Euro.20 Darüber hinaus vermerkt die Chronik zur ersten Generalversammlung nach einem Jahr, am 8. Dezember 1889, dass der Dirigent „dem Verein leihweise ein Pianino für die Übungen überlässt und dafür laut Beschluß der General-Versammlung eine monatliche Miethe von drei Mark erhält”21 – was heutzutage einer Kaufkraft von etwa 22 Euro entspricht.22 Der Verleih dieses Klaviers ist – was in diesem Moment wohl noch niemand ahnt – sozusagen ein erster Einstieg in einen Geschäftszweig, den Anton Sauerwald später verfolgen und ausbauen wird.

Zu einem Dasein als Musiker gehört aber nicht nur das Reproduzieren von Musik, sondern auch ihre Neuerfindung, das Komponieren. Das Amt des Dirigenten des Nuttlarer Männergesangvereins ab 1888 scheint Anton Sauerwald animiert zu haben, neue Literatur aufzutun oder auch selbst zu schaffen. Seine später im Druck veröffentlichten Noten beginnen mit Opus 10 „Das Sträußchen”. Die Werke 1 bis 9 sind verschollen; oder es hat sie nie gegeben und Anton Sauerwald zählt – wie sich später zeigen wird – überhaupt erst ab der Nummer 10. Darüber hinaus wird er seinen eigenen Kompositionen nur gerade Werknummern geben.

Die Aufzeichnung der Kompositionen

Es ist nicht überliefert, wie Anton Sauerwald seine Vertonungen aufzeichnet. Dass er sie mit einem Punktierstift als Braille-Noten schreibt, ist ausgeschlossen, da man sie ja für die Ausführenden wieder in die übliche Schreibung hätte transkribieren müssen. Stattdessen muss er sie am Klavier gespielt und jemandem, der ebenfalls Noten lesen konnte, diktiert haben. Günstigerweise wusste Anton aus seiner Zeit als Sehender, wie ein Notensystem im konventionellen Notendruck, dem sogenannten Schwarzdruck, aussieht; nämlich dass es sich um ein vertikales System für alle Stimmen handelt, während Braille-Noten horizontal und in kleineren Takteinheiten hintereinander für die einzelnen Stimmen aufgezeichnet werden.

Die Übernahme des Dirigats gestaltet sich zu einem Erfolg: Im Jahr 1890, nur zwei Jahre nach seiner Gründung, nimmt der Männergesangverein Nuttlar unter seinem jungen Dirigenten Anton Sauerwald – er ist zu diesem Zeitpunkt knapp 24 Jahre alt – an einem Preissingen in Meschede teil und erringt dabei den ersten Preis.23 Mit welchen Liedern dies gelingt, ist nicht überliefert. Es sei an dieser Stelle aber erwähnt, dass es sich nicht um das „Sauerlandslied”, die Vertonung eines Gedichts von August Bolhöfer (1849-1917), gehandelt haben kann. Dieses