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Lothar Steingruber ist arbeitslos. Trotz intensiver Bemühungen gelingt es ihm nicht, in seinem alten Beruf als Maurer Fuß zu fassen. Deshalb nimmt er auch das Angebot des windigen Fuhrunternehmers Balke an, mit seinem Wagen Kisten zu transportieren. Eines Tages entdecken er und sein Freund Frank den brisanten Inhalt: Waffen. Steingruber kündigt, um als Friedhofsgärtner zu arbeiten. Gerade an diesem vermeintlich friedvollen Ort entdeckt er eines Nachts eine Gruppe junger Leute, die auf dem Friedhof Waffen verstecken. Sie gehören alle der neuerstarkten rechten Szene an. Dagegen muss er etwas unternehmen! Wäre da nicht seine Tochter Claudia, die er in der bewussten Nacht auf dem Friedhof gesehen hat. Die schwierige Entscheidung zwischen Moral und Vaterliebe macht ihm das Leben zur Hölle. Wie soll er sich verhalten?'Nichts als gegeben hinnehmen', war einmal Max von der Grüns Antwort auf die Frage nach seinem Motto. Mit seinem literarischen Schaffen mischte sich von der Grün ein. Ob es um Korruption oder Rechtsradikalismus ging, Max von der Grün war ein unbequemer Zeitgenosse, der unangenehme Fragen stellte - und dabei den Kern des Problems traf.'Flächenbrand' wurde mit Horst Frank und Manfred Krug verfilmt. Insgesamt lieferte Max von der Grün Vorlagen für elf Fernsehfilme. Damit zählt der 'Revier-Goethe' (Der Spiegel) zu den am häufigsten verfilmten deutschen Autoren.
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Seitenzahl: 519
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Max von der Grün · Flächenbrand
Max von der Grün – Werkausgabe Band VHerausgegeben von Günther Butkus
Max von der Grün
Flächenbrand
Roman
Mit weiteren Texten von Max von der Grün
und einem Nachwort von Heinrich Peuckmann
PENDRAGON
Wir danken für die Förderung dieses Projektes der Kunststiftung NRW
Unsere Bücher im Internet:
www.pendragon.de
Veröffentlicht im Pendragon Verlag
Günther Butkus, Bielefeld 2009
© by Pendragon Verlag Bielefeld 2009
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Günther Butkus
Umschlag & Herstellung: Uta Zeißler (www.muito.de)
E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net
E-Book ISBN: 978-3-86532-174-9
Inhalt
Flächenbrand
Stephan Reinhardt, Amboss oder Hammer?
Max von der Grün, Kapituliert oder befreit?
Max von der Grün, Rede zum neunhundertjährigen Bestehen der Stadt Feuerbach
Max von der Grün, Ortsbesichtigung – und das nicht nur zur Festspielzeit
Nachwort von Heinrich Peuckmann
Editorische Notiz
Flächenbrand
1. Teil
Ich stehe am Ufer des Flusses
1
Frank hatte zwei Mal schnell hintereinander geschossen.
Er schoss in dem Augenblick, als wir uns einig geworden waren, nicht zu schießen. Ich stand wie gelähmt, als die zwei dumpfen Schläge durch den Wald blafften; dann rannte ich einfach fort, ohne mich nach Frank umzusehen.
Nur fort, versinken, unsichtbar machen oder einfach in Luft auflösen, und beim Laufen hörte ich die beiden Schüsse tausendfach an meine Ohren trommeln.
Als ich Franks Wagen erreichte, den er in einer Feldeinfahrt geparkt hatte, schloss er gerade den Wagen auf.
Bist du geflogen?, fragte ich keuchend.
Mir war, als dauerte es Stunden, bis das Auto ansprang und Frank losfuhr, ich hatte den Eindruck, als bewegte er sich im Zeitlupentempo auf der schmalen Straße, die von Hagen nach Dortmund von der Ruhr bergauf führt.
Fahr doch schneller!, schrie ich. Fahr! Fahr!
Ich fahre genau fünfzig, erwiderte er ruhig, und die Straße ist nur für Anlieger. Sind wir vielleicht Anlieger? Na also, hab dich nicht so. Franks Finger trommelten nervös am Steuerrad, er saß steif auf seinem Sitz und schaltete ruckartig wie ein Anfänger, er sah mehr in den Rückspiegel als durch die Frontscheibe nach vorn.
Zwei Schüsse hast du abgegeben, sagte ich.
Klar, einen für mich, einen für dich, wie es ausgemacht war.
Nichts war ausgemacht, erwiderte ich heftig, verdammt noch mal! Ausgemacht war, dass wir nicht schießen.
Hör auf Lothar, mach dich nicht verrückt. Wenn man so ein Ding in der Hand hat … ein Gefühl ist das … ein Gefühl.
Nun waren Franks Hände ruhig geworden, gelassen lenkte er den Wagen stadteinwärts durch den starken Verkehr.
In der »Linde«, unserer Stammkneipe, trank ich mein erstes Bier in einem Zug leer. Das Bier war lau. Der Wirt, den wir den lachenden Bajazzo nannten, hatte kurz vorher ein neues Fass angezapft, die Kühlung war für eine Stunde ausgefallen, erklärte er entschuldigend. Bajazzo stand mit verschränkten Armen hinter dem Tresen und grinste in die halbdunkle Gaststube, in der außer dem angetrunkenen Türken Osman niemand saß. Osman brabbelte leise vor sich hin. Immer, wenn sich Bajazzo wie jetzt von seinen Gästen abwendete, bedeutete das, dass er die Gespräche aufmerksam verfolgte. Als ich mein zweites Bier ausgetrunken hatte, sagte ich leise zu Frank: Du bist blöd, einfach in die Luft ballern.
Ich war überzeugt, dass Bajazzo meine Worte gehört hatte.
Frank trank langsam sein Glas leer und ging. An der Tür rief er mir zu: Zahl mein Bier mit. Oder Bajazzo soll anschreiben bis zum nächsten Zahltag.
Ich hing mehr am Tresen, als ich stand, mir war plötzlich speiübel. Wenn Frank nun getroffen hätte. Was dann. Nur nicht daran denken.
Einen betrügerischen Konkurs hatte er von Anfang an geplant, das wussten wir seit gestern aus den Zeitungen, und seinetwegen sind wir seit sieben Monaten arbeitslos, Frank und ich und hundert andere auch. Wir haben für Bäuerlein, diesem Schwein, gearbeitet, damit er seine Profite in die Schweiz schieben konnte auf ein Nummernkonto, und wir sollen hier im Dreck ersticken mit Weib und Kind und Haus und Garten und der Hypothek auf dem Haus. Die Kredite, die ihm Banken gegeben hatten, waren plötzlich wie vom Erdboden verschwunden; würden wir, Frank und ich, zu diesen Banken gehen und um diese sechs oder gar siebenstelligen Summen anklopfen, wir bekämen nicht einmal ein müdes Lächeln. Halb fertige Häuser hat er ihnen als Sicherheit angeboten, von denen er wusste, dass sie niemals fertig werden würden.
In die Luft ballern ist kindisch, das musste man anders machen, von Angesicht zu Angesicht, damit er wusste, von wem und wofür. Dieser ewig freundliche Bäuerlein, der den Mund nur aufmachte, um anzutreiben: Los Leute, Bewegung, time is money, Leute, jeder kann bei mir Polier werden, ohne Thermosflasche und Prüfung, ich bezahle euch nicht fürs Rumstehen, Bewegung, das Denken überlasst mir, keine Widerrede!
Das war Bäuerlein.
Er kam nie mit seinem Mercedes zur Baustelle, stets mit einem vergammelten VW, der wohl schon seine zwanzig Jahre auf dem Buckel hatte, und er war immer mit einer verdreckten Jeanshose bekleidet und gelben Gummistiefeln, auf dem Kopf trug er, ob Kälte oder Hitze, eine mit bunten Blumen bestickte Jeansmütze. Das war Bäuerlein, mein früherer Brötchengeber, es gab genug in unserer Belegschaft, die ihn verehrten und um seine Gunst buhlten, nur weil sie ihn als duften Kumpel ansahen wegen seiner dreckigen Kleidung und seines vergammelten VWs und seiner flotten Sprüche: Na Kumpel, gehts heute noch auf die Mama? Immer flott weg, wer rastet, der rostet.
He, Lothar, willst noch ein Bier? Bajazzo zapfte bereits ein neues Glas voll.
Mach mal, antwortete ich abwesend.
Sag mal, bist du schon besoffen, weil du so rumhängst wie ein Schlapper?
Bajazzo grinste mich an, immer etwas verlegen, wenn er nicht genau wusste, womit er ein Gespräch beginnen sollte, und vor allem, wenn er etwas Bestimmtes wissen wollte. Es gehörte zu seinem Beruf, informiert zu sein, um anderen Gästen etwas erzählen zu können. Er grinste ständig, irgendwer hatte ihm einmal den Namen lachender Bajazzo gegeben.
Ich sags immer, Lothar, arbeitslos müsste man sein, dann hat man noch was vom Leben; aber er sagte es nicht zu mir, er sprach es in den halbdunklen Raum hinein, wo Osman noch immer einsam am Tisch saß und leise, fast weinerlich vor sich hinsang. Stimmts, Lothar? Hab ich Recht, fragte Bajazzo.
Ich hatte keine Lust, mich mit ihm zu unterhalten, und wandte mich ab. Bauschulte betrat die Kneipe, er sah sich suchend um und stellte sich neben mich an den Tresen.
Pensionierter Kriminaler müsste man sein, frotzelte ich so, wie mich vorher der Wirt aufgezogen hatte, und ich beneidete Bauschulte auf einmal um seine Pension, sein Haus, seine Gewächshäuser, in denen er seine Tage und halbe Nächte zubrachte und seltene und empfindliche Pflanzen und Blumen züchtete, mit denen er sprach und die alle einen Namen trugen.
Ich habe ihn nie gefragt, was er im letzten Krieg gemacht hat, ob er an der Front war oder in der Heimat »Volksschädlinge« und Nichtarier hinter Gitter und in Lager brachte, nur einmal, bei einer SPD Ortsversammlung, als er neben mir saß, hatte er gesagt: Es werden noch schlimme Zeiten kommen, denk dran Lothar, noch ganz schlimme.
Hast schlechte Laune, fragte er.
Soll ich vielleicht nach sieben Monaten arbeitslos Halleluja singen, erwiderte ich schroff und es tat mir schon leid, dass ich so unfreundlich zu ihm gewesen war.
Bin ich schuld?, fragte er und lächelte mich an. Bauschulte war so schmal und zart, dass ich mir nie habe vorstellen können, er hätte jemals jemandem Handschellen umgelegt.
Geh nach Hause und brüte in deinen Glashäusern, sagte ich, immer noch unfreundlich.
Da komme ich gerade her, sagte er versöhnlich, als wäre nicht ich, sondern er zu mir schroff gewesen. Komm, Lothar, ich schmeiß eine Runde.
Kugel dir bloß deinen Arm nicht aus, ich kann mein Bier immer noch selber bezahlen, erwiderte ich und ärgerte mich über meine Unfreundlichkeit.
Na, dann eben nicht, ersäuf dich meinetwegen in deinem Ärger, du kannst dich heute mal wieder selber nicht leiden, antwortete Bauschulte lächelnd und freundlich.
Als Bajazzo Osman ein neues Bier brachte, sagte ich zu Bauschulte: Frank hat auf den Kerl geschossen.
Auf welchen Kerl, fragte er unbeteiligt.
Auf diesen Bäuerlein natürlich.
Mit was?, fragte er, wieder unbeteiligt.
Mit einer Pistole, erwiderte ich und sah prüfend in sein Gesicht. Aber er verriet keine Reaktion.
Und wo hat er die Pistole her?, fragte er, immer noch unbeteiligt.
Das geht dich einen feuchten Dreck an, verstehst du mich, Bauschulte.
Ich bin nicht mehr im Dienst, erwiderte er leise, weil Bajazzo wieder zum Tresen zurückkehrte.
Dass ich nicht lache, Leute wie du, die dienen nie aus, bis sie sterben, sagte ich, und ich ärgerte mich erneut über mich selbst, weil ich ihm gegenüber grundlos unfreundlich war.
Witzig bist du heute wieder, aber ich kann nicht mehr darüber lachen, Lothar.
Das bringt der Tag so mit sich, antwortete ich, bezahlte und ging. Bauschulte rief mir nach: Du kannst dir deine Staude abholen, ich hab sie ausgegraben, sie steht in einem Sack vor dem Gartentörchen.
2
Man kommt auf die blödsinnigsten Gedanken, wenn man ohne Arbeit herumläuft, zu Hause sitzt und grübelt. Warum haben andere Arbeit und ich nicht?
Manche fahren zwei Mal im Jahr in Urlaub an die schönsten Flecken dieser Erde, dabei wohnen sie hier in Villen, mit nicht einsehbaren Gärten und beschäftigen einen Steuerberater, der ihnen verrät, wie man die Urlaubsreise als Geschäftsreise absetzt. Man kommt ins Grübeln, wenn die Frau am Monatsletzten ihr selbst verdientes Geld zum Leben einbringt, wenn sie am Morgen aus dem Haus geht und am Abend erschöpft heimkommt und trotzdem fröhlich fragt: Na, wie war’s. Hast den Tag gut rumgekriegt?
Wer bin ich, dass ich zu Hause sitzen muss und warten, ein Mann Mitte Vierzig, wer bin ich, dass mich keiner mehr haben will, weil so viele Junge es billiger und williger machen. Wer bin ich. Ist meine Erfahrung und meine Zuverlässigkeit nicht mehr gefragt, ist nur noch Jugend Trumpf. Gehöre ich schon zur ausgepowerten Generation, die sich alles gefallen ließ, gehorsam war bis zum Rausschmiss. Überstunden klopfte, wenn es verlangt wurde und sich dann nach Hause schicken ließ, wenn es verlangt wurde. Wer bin ich.
Frank hatte nicht Unrecht, als er einmal zu mir sagte: Lothar, wir müssen ein Zeichen setzen. Etwas in die Luft sprengen oder eine Bank ausräumen, irgendwas ausrauben … irgendwas. Wir können doch nicht rumsitzen und warten, warten, bis uns die gebratenen Tauben in den Mund fliegen.
Frank, hör auf, wir sind doch keine Kriminellen, hatte ich damals gesagt, denn mehr fiel mir dazu nicht ein. O dieser Frank, er hatte immer solche Ideen.
Und was sind die, die uns arbeitslos gemacht haben. Lothar, was! Das sind ehrbare Bürger, die sind natürlich keine Kriminellen, die haben sich nur verspekuliert. Und spekulieren ist in unserem Land erlaubt.
Vergleiche hast du, erwiderte ich.
Es wird höchste Zeit, dass wir einmal anfangen zu vergleichen, verstehst du, Lothar. Und dann wirst du staunen, was bei diesem Vergleich dabei herauskommt.
Frank und ich waren in einem Alter, wo einem leicht die Nerven durchgehen, vom Warten und Warten auf Arbeit. Mitte Vierzig sein heißt, wir sind noch zu jung, um warten zu können, aber schon zu alt, um Zeit zu haben. Die Tage rasen dahin und überschlagen sich. Soll ich mich auf die Couch legen und von Helen ernähren lassen. Das Brot, das ich esse, wird von ihr bezahlt, das Buch, das ich lese, leiht sie mir.
Helen hatte an dem Morgen, an dem Frank abends die Schüsse abgab, gesagt: Wann willst du dich eigentlich mal wieder rasieren. Du siehst verhauen aus.
Sie goss uns dabei Kaffee ein.
Für wen soll ich mich rasieren, für wen soll ich nicht verhauen aussehen, fragte ich.
Für mich … du lässt dich gehen.
Beim Abschied küsste sie mich und strich mit dem Handrücken über meinen Stoppelbart. Dabei lächelte sie. Sie lächelte wie damals in der Buchhandlung, als ich mich in sie verliebte.
Ich wollte ihr nachrufen, dass der Wagen etwas nach rechts zieht, wenn sie scharf bremst, aber sie fuhr schon um die Straßenecke, als ich vor die Haustüre trat. Sie wird es merken, sie ist eine umsichtige Fahrerin, sie ist so sicher, dass ich beim Fahren neben ihr schlafen kann.
In der Küche trank Claudia im Stehen ihren Kaffee und aß meine mit Käse bestrichenen Brote auf; sonst verschmäht sie Käse am Morgen. Sie sagte nichts, stieß mir nur den Ellenbogen in die Seite und stürzte dann aus der Küche, ich hörte sie den Abschiedsgruß klingeln, als sie ihr Mofa aus der Garage schob und auf dem Bürgersteig vor dem Haus den Motor ankickte. Sie hätte zu Fuß gehen können, die Schule war nur ein paar Meter entfernt. Früher hatte ich mich über ihre Bequemlichkeit aufgeregt, ich habe sie geschluckt, so wie ich vieles zu schlucken gelernt habe.
Die Schutzbleche ihres Mofas waren mit Abziehbildern beklebt, die Eiserne Kreuze zeigten und um den Hals trug Claudia eine Kette, an der nicht etwa ein Schmuckstück baumelte, sondern wieder ein Eisernes Kreuz aus Blech.
Helen hatte das Claudia einmal, in einem Anfall von Wut, vom Hals gerissen, als unsere Vorwürfe nichts nutzten. Aber am nächsten Tag trug Claudia wieder ein Eisernes Kreuz um den Hals und als Helen es wieder abreißen wollte, hielt ich sie zurück: Lass das, Helen, das Zeug gibt es jetzt überall zu kaufen.
Nächstens kommt sie auch noch mit einem Hakenkreuz an, sagte Helen und stampfte mit dem Fuß auf, und das uns …
Auch das gibt es jetzt überall zu kaufen, warf ich ein. Was sollte ich sagen, ich kam mir so hilflos vor.
Ich war wieder allein im Haus, das ich so sehr liebe und für das ich ein halbes Leben geschuftet habe und das mir jetzt immer öfter auf den Kopf zu fallen droht. Drohend war auch die Leere geworden, in der ich mich tagsüber bewegte: vom Haus in den Garten, vom Garten in das Haus, vom Dach zum Keller, vom Keller zum Dach. Seit sieben Monaten, seit sieben langen Monaten. Ja, die Zeit kann schrecklich lang sein.
Während ich das Frühstücksgeschirr spülte, klingelte es an der Haustüre. Es war Frank. Es war neun geworden.
Frank sah aus, als hätte er die ganze Nacht durchgezecht, er folgte mir in die Küche und nahm wortlos ein Geschirrtuch vom Haken an der Wand und trocknete das gespülte Geschirr ab, so selbstverständlich, als wäre das der Job, mit dem er sein Geld verdiente. Er tat es ernst und sorgfältig.
Ganz schön blöd sind wir gewesen, sagte er endlich.
Stell das trockene Geschirr auf die Anrichte, ich ordne es später in die Schränke, Helen mag keine Unordnung, sagte ich und wagte nicht, ihn anzusehen.
Verrückt müssen wir gewesen sein, einfach herumballern, einfach so, aus lauter Langeweile … erwachsene Männer … Lothar, verrückt müssen wir gewesen sein, sagte er und rieb an einem Teller.
Frank, wo hast du die Pistole, fragte ich und trat ihm vor das Schienbein.
Du, die Nordsiedlung soll abgerissen werden, ich weiß es von unserem Ortsvorsitzenden und der hat es wieder von einem aus dem Stadtrat.
Wo hast du die Pistole, fragte ich lauernd.
Im Werkzeugkasten neben dem Reserverad im Wagen, wenn du es genau wissen willst … Und jetzt lass mich mit der Pistole in Ruhe.
Wirf die Pistole weg, Frank, was sollen wir damit.
Wegwerfen? Es sind noch vier Patronen drin. Sie könnte einer finden. Wir haben sie auch gefunden … Die Nordsiedlung. Verdammt, und meine Partei macht da mit.
Ich löffelte Kaffeemehl in das Filterpapier und goss heißes Wasser nach. Der Kaffeeduft füllte die Küche, ich kann mich an ihm berauschen.
Wir saßen uns gegenüber und schlürften unseren Kaffee. Es war schon zu einer Gewohnheit geworden, dass Frank einmal bei mir Kaffee trank und ich anderntags bei ihm.
Auf einmal sagte er: Ich halt’s nicht mehr aus. Bin ich vielleicht schon Invalide. Bin ich Schrott.
Bist du im Bett schon Invalide, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf und sah an mir vorbei.
Na also, dann gehts noch weiter, Frank.
Lothar, wir können doch nicht so dasitzen und zugucken, wir müssen selber etwas tun.
Was denn? Das Parlament in Bonn in die Luft sprengen, wenn die wieder so ein idiotisches Gesetz verabschieden, das nur ihnen Vorteile bringt.
Manchmal kommt man auf die blödsinnigsten Gedanken, antwortete er, das kommt nur vom Rumsitzen. Aber Parlament in die Luft sprengen geht nicht, macht zu viel Krach.
Er sah zur Küchenuhr.
Als wir die Uhr kauften, hatte der Verkäufer gesagt, weil wir uns über das leise Ticken freuten, das werde immer so bleiben. Jetzt ist das Tick-Tack zur Tortur geworden, es ist so laut, wie das Metronom, das Claudia auf ihrem Klavier stehen hat, aber seit Jahren schon nicht mehr benutzt, nur ich spiele manchmal mit dem Metronom.
Als meine Mutter starb, fünfundsechzig war sie geworden, ein Jahr nach dem Tod meines Vaters, den die Silikose erstickte, hinterließ sie mir fünftausend Mark. Weiß der Himmel, wie sie zu diesem Geld gekommen ist mit ihren 640 Mark Rente im Monat nach dem Tod meines Vaters. Von diesem Geld kauften wir Claudia ein gebrauchtes, fast neues Klavier, das alte klang nicht mehr.
Helen schrieb den Scheck aus im Musikhaus. Am nächsten Morgen um neun wurde das Klavier angeliefert. Nachbarn standen neugierig auf der Straße und staunten, denn in unserer Siedlung hatte es das noch nicht gegeben, dass vier gewichtige Männer mit Gurten ein Klavier in ein Haus trugen. Es ist schon komisch, wie über Kinder verfügt wird. Vor zwölf Jahren, als Claudia sechs Jahre alt war und kurz vor der Einschulung stand, besuchten wir Freunde. Claudia zupfte auf der Gitarre, die an der Wohnzimmerwand hing. Helen beschloss darauf, dass unsere Tochter ein Instrument erlernen soll, am besten Klavier, denn es war nach Helens Meinung das einzige Instrument, das einem zu Hause nicht auf die Nerven geht. Sie hatte sich gründlich getäuscht.
Frank und ich saßen uns stumm gegenüber, bis die Kaffeekanne leer war. Frank erhob sich mühsam, er hielt sich an der Tischplatte fest und sagte stockend, als müsste er sich bei mir entschuldigen: Ich habe was in Aussicht. Das traf mich.
Du hast was in Aussicht? Und das sagst du einfach so ruhig. Ist da nicht auch was für mich drin? Ich hatte Mühe, ruhig zu sprechen.
Für dich ist nichts drin, tut mir leid. Die suchen Fahrer. Für den Job musst du Führerschein Klasse zwei haben. Lastwagen fahren bei einer Speditionsfirma.
Scheiße, sagte ich, mehr zu mir als zu ihm.
Frank war gegangen.
Warum hatte er mir die Pistole nicht dagelassen. Wir hatten sie gefunden. Einfach so, wie man etwas findet. Wir fuhren nachts von der Kneipe nach Hause. Da blitzte etwas auf im Scheinwerferlicht. Frank bremste scharf. Lothar, steig aus, sieh nach, was es ist.
Als ich die Pistole vor mir auf der Straße liegen sah, hob ich sie vorsichtig auf wie etwas Zerbrechliches. Ich setzte mich wieder neben Frank in den Wagen und hielt ihm mit beiden Händen die Pistole vor die Nase. Frank sah sie ungläubig an: Na so was … und dann streichelte er die Pistole mit zwei Fingern seiner rechten Hand.
Gib sie mir, sagte er laut und entriss sie mir, er steckte sie einfach in seine Hosentasche, wie man ein Feuerzeug darin verschwinden lässt. Acht Tage später, als ich nach dem Verbleib der Waffe fragte, antwortete er nebenbei: Damit werden wir Bäuerlein erschießen.
Ich lachte.
Doch wenige Tage später waren wir Bäuerlein tatsächlich mit dem Wagen gefolgt. Wir hatten ihn zufällig vor einem Apartmenthaus entdeckt, nicht weit von der Kronenbrauerei, als ein attraktives Mädchen in seinen Wagen stieg, hochhackig und mit langen Haaren. Und weil wir nichts anderes zu tun hatten, folgten wir ihm bis hinunter ins Ruhrtal und hatten an unserer Verfolgungsfahrt unsere Freude. Bäuerlein fuhr in einen Hohlweg, der von Schlehen- und Hagebuttensträuchern völlig verdeckt wurde. Ein idealer Ort für Liebespärchen, die vor der Neugier der Großstadt flüchten.
Während Frank und ich uns durch das Gebüsch in die Nähe seines Autos schlichen, dachte ich nur: Bankrott machen. Junge Dinger umlegen. Arbeiter auf die Straße schmeißen.
Und dann hatte Frank, um ihn zu erschrecken, zweimal in die Luft geschossen.
3
Claudia tobte sich oben in ihrem Zimmer auf dem Klavier aus. Früher hatte ich das nie so wahrgenommen; tagsüber war ich bei der Arbeit, und abends spielte sie selten, und nur dann, wenn ich sie bat, mir etwas vorzuspielen.
Jetzt hasste ich das Klavier. Immer öfter ging ich aus dem Haus, wenn sie das Klavier traktierte. Aber es musste sein.
Wenn Frank, wie wir es abgemacht hatten, mir die Pistole gibt, wo werde ich sie verstecken? Im Wagen nicht, so wie er. Seit ich arbeitslos bin, fährt Helen mit dem Wagen in ihre Bibliothek und auch zur Werkstatt, waren kleinere Reparaturen notwendig geworden.
Ich hatte das Abendessen gerichtet. Helen wirkte erschöpft, als sie sich an den Abendbrottisch setzte. Wir sprachen während des Essens kein Wort miteinander, ich sah nur staunend zu, wie Claudia und Helen sich das Essen hineinstopften, mit dem ich mir so viel Mühe gegeben hatte. Meine fragenden Blicke, ob es ihnen auch schmeckte, ließen sie unerwidert. Vielleicht nehmen sie mich dann erst wieder wahr, wenn ich kein Essen mehr koche, nicht mehr den Tisch decke.
Nach dem Abendbrot sagte Helen: Es war mal wieder ein hektischer Tag. Es wird immer hektischer.
Immer wenn sie das sagte, versuchte ich mir vorzustellen, wie sie, als Leiterin einer Büchereiaußenstelle, überhaupt einen hektischen Tag haben konnte. Die Bücher stehen stumm in den Regalen und die Ausleiher bewegen sich auf lautschluckenden Böden. Bücher können doch nicht hektisch sein, nur spannend oder langweilig, dünn oder dick, leicht oder schwer.
Die Wäsche, rief Helen und lief hinauf in den ersten Stock, in das Badezimmer. Obwohl ich den ganzen Tag zu Hause bin und Zeit habe, darf ich die Wäsche nicht waschen. Nur einmal habe ich sie durch die Trommel laufen lassen, und daraufhin hat Helen drei Tage lang nur das Nötigste mit mir gesprochen. Ich habe sie manchmal beim Wäschewaschen beobachtet: Es war für sie keine Arbeit, sondern eine Lust.
Frank, dem ich von meiner Beobachtung einmal erzählte, winkte ab: Gib es auf, darüber nachzudenken. Es gibt nur zwei Sorten von Frauen: die Putzteufel und die Schlampen. Meine Gabi ist eine Schlampe, und ich weiß wirklich nicht was schlimmer ist, Putzteufel oder Schlampe.
Ich geh mal eben zu Frank, sagte ich zu Helen, als die Waschmaschine zu summen begann.
Und beide geht ihr dann in die Kneipe, rief mir Helen ohne Vorwurf nach.
Gabi öffnete mir die Tür.
Als ich Frank vor zehn Jahren auf einer Baustelle kennen lernte, er wurde meiner Arbeitskolonne zugeteilt, habe ich mich anfangs über Gabi lustig gemacht. Doch bald gewöhnte ich mich an ihre Figur, an ihren unförmigen Hintern: denkt man sich ihre Beine weg, würde sie einer großen Birne gleichen. Sie selbst aber schien unter ihrer Unförmigkeit nie gelitten zu haben. Ich traf sie immer nur heiter und ihre Heiterkeit ließ ihre Figur vergessen.
Frank, den ich nur ein einziges Mal auf das Aussehen seiner Frau angesprochen hatte, erwiderte, ohne das Gesicht zu verziehen: Weißt du, es ist ganz angenehm, ich liege weich auf ihr. Ich bin doch kein Hund, der auf Knochen liegen will. Und dann lächelte er doch, als er noch hinzufügte: Nur wenn sie in meinen Wagen einsteigt, dann habe ich manchmal das Gefühl, der Wagen kriegt Schlagseite.
Lass doch einfach auf die zwei rechten Reifen ein Atü mehr drauf pumpen, erwiderte ich lachend.
Halt deine Schnauze, sagte er böse. Nur Frank durfte sich über seine Frau lustig machen, taten es andere, reagierte er empfindlich und gereizt.
Nie wieder habe ich mich über Gabi lustig gemacht. Sie umgab etwas Weiches. Ihre Stimme klang tief, obwohl ihr Kopf viel zu klein geraten war, vielleicht aber wirkte er nur klein im Verhältnis zu ihrem Hinterteil. Von Zeit zu Zeit flocht sie sich ihre langen blonden Haare zu Zöpfen und umwickelte sie an den Enden mit bunten Schleifchen.
Frank ist nicht da … noch nicht da … Er wollte sich irgendwo vorstellen, bei einer Spedition, wegen einer Stelle. Hoffentlich kriegt er die Stelle, zu Hause ist es mit ihm nicht mehr auszuhalten.
Ich weiß, sagte ich, deshalb bin ich ja hier. Ich wollte fragen, ob es geklappt hat mit der Stelle, er hat mir davon erzählt.
Gabi bat mich ins Haus, ich winkte ab. Was sollte ich mit ihr reden, wir sprachen nie viel miteinander. Besuchte ich Frank, dann saß Gabi nur dabei, lächelte uns an und lutschte Karamellbonbons. Ihr Vorrat an Karamellbonbons schien unerschöpflich.
Wie geht es ihm, fragte ich und deutete nach oben.
Er schläft, er hat eine gute Nacht gehabt, antwortete sie warmherzig. Aber du kannst ihn ruhig besuchen kommen, Lothar, er freut sich immer, wenn du kommst.
Ich besuche ihn morgen, Gabi.
Angetrunken und ausgelassen vor sich hinsingend traf ich Frank in der »Linde«, er sprang auf, als er mich sah, breitete die Arme weit aus und rief: Lothar, komm her, setz dich zu mir, ich gebe dir einen aus.
Wenn Frank nicht am Tresen stand, sondern an einem Tisch saß, musste etwas Ungewöhnliches vorgefallen sein. Er schob mir sein halbvolles Bierglas hin: Trink, sagte er, schon lallend, trink, sollst nicht leben wie ein Hund. Ich habe die Stelle. Morgen fange ich an. Morgen fängt wieder ein neues Leben an.
Mir war zum Heulen.
Dann schmiss Frank eine Thekenrunde nach der andern und kommentierte seine Bierspende mit den Worten: Sauft Leute! Morgen kommt die Trockenzeit.
Am Tresen standen sechs Männer. Woher aber hatte Frank das Geld? Ob ihm die Firma Vorschuss ausbezahlt hatte. Unwahrscheinlich, die Betriebe geizten jetzt mit Vorschüssen. Es war nicht mehr wie früher, wo sie einem das Geld nachwarfen, nur um die Leute zu ködern und zu halten. Jetzt musste man erst einmal acht Tage arbeiten, bevor sie auszahlten. Die Zeiten hatten sich geändert, am Geld war es am ehesten zu merken.
Hellwach verfolgte ich, wie ich langsam betrunken wurde, aufstand und mich auf Franks Schulter stützte und ihn anlallte: Geh nach Hause. Frank, du bist besoffen. Wenn du morgen anfangen willst, dann musst du nüchtern sein. Du kannst doch nicht besoffen am Steuer sitzen, mit einer Fahne, nicht am ersten Tag, die werfen dich gleich wieder raus.
Neidhammel. Ich habe wieder Arbeit, verstehst du, nach sieben Monaten. Weißt du, was das heißt.
Er glotzte mich an, wollte sprechen, bekam aber die Lippen nicht auseinander, er stand auf und wankte aus der Gaststube. Bajazzo grinste Frank hinterher, er stand hinter dem Tresen und streichelte mit beiden Händen wohlgefällig seinen Bauch. Ein zufriedener Mensch, neidisch konnte man werden.
Ich blieb noch eine Weile allein am Tisch sitzen und auch die Frotzeleien der Thekengäste konnten mich nicht aufheitern. Ich dachte nur: Frank hat Arbeit und ich hänge herum wie einer, der nichts mehr wert ist. Osman schlich einmal an meinem Tisch vorbei und sagte fast verschwörerisch: Ich gewinne einmal Lotto.
Hau ab, Mufti, zischte ich ihn an und scheuchte ihn weg. Dann ging ich nach Hause.
Als ich in unsere Straße einbog, die den schönen Namen Marienkäferweg trägt, sah ich Frank vor dem Pfeiferschen Haus auf dem Bürgersteig sitzen und mit dem Rücken an einer Peitschenleuchte lehnen. Er stierte mich betrunken an, als ich vor ihm stand und auf ihn runtersah.
Spionierst du mir nach, fragte er mit schwerer Zunge.
Komm nach Hause, ich helf dir.
Was soll ich zu Hause, da ist doch nur die Gabi und keine Kinder. Und mein Vater wartet schon seit drei Jahren auf seinen Tod. Aber Gabi hat sich in den Kopf gesetzt, dass er nicht sterben darf, damit sie ihn ewig pflegen kann. Ich sag dir nur, Lothar, Menschen gibt’s, die gibt’s gar nicht.
Ich setzte mich neben Frank und lehnte mich an den Gartenzaun, ich war überzeugt, dass die Pfeifer im Fenster hing und zuhörte. Die Alte schlief nie.
Deine Gabi kann deinen Vater ewig pflegen, bei der Rente, die er bekommt. Da würde ich meinen Vater auch pflegen, brauchst gar nicht mehr arbeiten gehen.
Neidhammel! Du Neidhammel, rief Frank laut in die Nacht.
Frank sprang auf und stieß seinen Fuß an meine Füße, ich erhob mich ebenfalls und hielt mich am Lichtmast fest. Mir war übel geworden.
Weil’s wahr ist, schrie Frank wieder, du bist ein Neidhammel …
Ich war so betrunken, dass ich nur erwiderte: Weil’s wahr ist … weil’s wahr ist … Dein Vater kriegt über tausend Mark Rente und frisst nur für dreißig Mark im Monat … weil’s wahr ist.
Dafür hustet er aber tausend Mal am Tag. Das mach mal nach … du Neidhammel.
Frank torkelte auf sein Haus zu, das von meinem und dem der Pfeifer nur hundert Meter entfernt war.
Ich hörte die alte Pfeifer kichern.
Ich flüchtete in mein Haus, das auf der anderen Straßenseite lag. Das Kichern der Alten war widerlich.
Helen lag schon im Bett und las in einem dicken Wälzer, sie hat immer einen Stoß Bücher auf ihrem Nachttisch liegen, ohne Bücher kann sie nicht einschlafen.
Sie fragte: Betrunken?
Ich drehte mich um und ging wieder die Treppe hinunter in die Küche und setzte mich auf die Eckbank. Ich nahm Papier und Kugelschreiber vom Regal hinter mir und begann zu rechnen: Für jeden Huster sollte Franks Vater eine Mark bekommen, er hustet tausendmal am Tag, das sind tausend mal dreißig Tage. Franks Vater ist demnach unterbezahlt. Unsinn, er hustet nicht tausendmal am Tage, höchstens zweihundert- oder dreihundertmal aus seinen mit Steinstaub einbetonierten Lungen. Fünfunddreißig Jahre lang hat er den Staub für einen lächerlichen Lohn achthundert Meter unter Tage täglich und stündlich eingeatmet. So konnte man Menschen langsam zu Tode quälen und am Ende stand eine Rente und zum Trost hieß es dann: Er ist an einer Berufskrankheit gestorben. Franks Bruder wollte seinen Vater nicht aufnehmen, denn er fürchtete, er würde seinen drei Kindern die Schwindsucht anhusten, und jetzt gönnt er Frank die Rente seines Vaters nicht. Frank wollte sich nichts vorwerfen lassen. Er hatte schon an dem Tag, an dem er seinen Vater bei sich aufgenommen hatte, ein Konto bei der Sparkasse eingerichtet, auf das die Rente seines Vaters überwiesen wurde. Franks Bruder wusste von dem Konto nichts.
Die Küchenuhr tickte laut und entnervend.
Claudia, die noch munter war, kam zu mir in die Küche, nahm aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier und öffnete sie.
Trink Vater, vielleicht erstickst du mal dran, aber sie lachte dabei. Ihr Lachen machte mich wütend.
Sie setzte sich mir gegenüber, ihr Bademantel hatte sich oben ein wenig geöffnet, und ich sah auf ihre weißen Brustansätze, ich wunderte mich plötzlich, dass es meine Tochter war, die mir gegenüber saß.
Frank hat Arbeit bekommen, er wird Fahrer bei einer Speditionsfirma. Warum habe ich keine Arbeit. Claudia … bin ich dumm … faul.
Ich habe dir doch schon mal gesagt, Vater, dass du auf der Straße liegst, das verdankst du deiner Partei …
Sie ist nicht mehr meine Partei, sie hat mich rausgeschmissen, und du sollst nicht immer wieder die alte Suppe aufkochen, als ob es davon besser würde.
Natürlich, die Sozis schmeißen jeden raus, der nur einen Funken Verstand im Hirn hat … deine Sozis …
Lass meine Sozis in Ruhe … fünfzigtausend Mark Schulden haben wir noch auf dem Haus, ich weiß nicht, wie wir das runterkriegen sollen … wenn ich noch länger … und der Verdienst deiner Mutter … ich weiß nicht, manchmal habe ich alles so satt.
Ich habe euch immer gesagt, dass ich keinen Wert auf ein Haus lege, weil es mich an einen Ort bindet. Aber du und Mutter, ihr habt euch auf das Haus gestürzt, als ob euer Leben davon abhängen würde. Bleibt doch wenigstens ehrlich, ihr habt das Haus doch nicht für mich, ihr habt es für euch gebaut.
Achtzehnjährige reden immer so wie du. Mit dreißig schon hältst du einen Dankgottesdienst, dass du als Sicherheit ein Haus im Rücken hast. Und was heißt das, wir haben für uns gebaut, das eine schließt das andere doch nicht aus.
Mach dir keine Sorgen, Vater, Mutter verdient gut, Beamte dürfen nicht gekündigt werden und der Staat geht auch nicht in Konkurs wie deine Baufirma. Es ist alles geregelt in diesem Land. Es ist alles bestens geregelt in diesem Land.
Ihr Hohn sollte mich treffen, aber ich konnte mich darüber nicht mehr aufregen, wie früher, als ich sie manchmal anbrüllte.
Ich habe in der Zeitung gelesen, dass die Arbeitslosigkeit bei Musikern ganz besonders hoch ist, die stehen an der Spitze. Und da willst du immer noch Musik studieren?
Soll ich deswegen vielleicht Chemie studieren. Morgen stehen die Chemiker an der Spitze, es ist alles geregelt in diesem Land, Vater, was die einen nicht haben, das haben die anderen. Und wenn Musiker an der Spitze stehen, wundert dich das, wenn Abgeordnete erst in einem Lexikon nachschlagen müssen, was das Wort Kultur heißt.
Ich möchte noch einmal so alt sein wie du, Claudia. Ich würde alles anders machen.
Was würdest du anders machen, Vater. Du würdest vielleicht eine andere Frau heiraten und vielleicht ein anderes Haus bauen, du würdest vielleicht Schlosser lernen statt Maurer, aber du würdest alles genau so machen wie du es gemacht hast …
Man kann ja gar nicht machen, was man will, Claudia …
Weil deine Partei alles absichern will. Keiner bringt doch mehr den Mut auf, aus dieser Ordnung auszubrechen.
Claudia hatte sich wieder einmal eingeschossen, da war es besser, das Gespräch nicht fortzuführen, sie hasste die Sozis, wie sie meine Partei nannte.
Wir waren enttäuscht und beunruhigt darüber, dass unsere Tochter so dachte und sprach, immerhin waren wir alte Sozialdemokraten, und auch mein Rausschmiss vor zwei Jahren hatte Helen nicht dazu bewegt, aus der Partei auszutreten.
Claudia blieb noch einen Augenblick an der Tür stehen und sagte, ohne mich anzusehen: Noch was, Vater, ich weiß, dass dir mein Klavierspielen auf die Nerven geht. Aber ich muss nun mal pauken, anders gehts einfach nicht, will ich bei der Prüfung nicht durchrasseln … Geh einfach in die Kneipe, solange ich übe.
Ich blieb sitzen und dachte, vielleicht gehe ich nicht in die Kneipe, sondern jeden Tag acht Stunden auf das Arbeitsamt und setze mich in den Flur auf die lange Wartebank, auf der schon hundert sitzen. Es wird eine Tür aufgehen und mein Name wird gerufen. Ein Beamter oder eine Beamtin werden mir sagen: Wir haben Arbeit für Sie, Monatsverdienst fünftausend Mark. Ob mir das recht ist.
Ich werde keine Miene verziehen, um meine Freude nicht zu zeigen.
Ich stand auf, mir war schwindelig. Frank hat eine Arbeit. Dann braucht er auch die Pistole nicht mehr.
Helen war immer noch wach, sie knipste die Nachttischlampe an, als ich mich im Schlafzimmer auszog.
Du solltest nicht so viel trinken, sagte sie ohne Vorwurf.
Ihr solltet euch in dem Haus hier endlich mal einig werden. Eben hat mir Claudia gesagt, ich solle in die Kneipe gehen, wenn sie übt. Aber falls es dich beruhigt, ich habe keinen Pfennig ausgegeben, Frank hat Arbeit gekriegt, er hat alle freigehalten. Ich sags immer, wer nicht arbeitet, der soll wenigstens gut trinken.
Fang nicht wieder an, dich selbst zu bedauern, dann gehts nämlich wirklich bergab mit dir. Du brauchst mir nichts zu erzählen, ich weiß wie es ist, sieben Monate ohne Arbeit, du hast es Claudia und mich jeden Tag spüren lassen.
Die sieben Monate waren die längste Zeit in meinem Leben, eine lange Zeit, und da gehen einem schon mal die Nerven durch, wenn man zusehen muss …
Soll ich mal vorfühlen … ich meine …
Nein, Helen, ich will nicht, dass meine Frau mich managt, schon gar nicht von deinen SPD Genossen …
Die auch mal deine gewesen sind und immer noch sind, Lothar, mach dir nichts vor.
Gewesen. Mensch, Helen, die stinken doch schon vor Zufriedenheit, und dabei sind sie erst zehn Jahre an der Macht.
Und was willst du wählen?, fragte sie ohne besonderes Interesse, vielleicht die Schwarzen … oder vielleicht die Kommunisten?
Warum nicht … Warum eigentlich nicht Helen. Öfter mal was neues.
Du spinnst, erwiderte sie heftig.
Und so ein Kerl wie der Bäuerlein, der einen Bankrott macht, den er von Anfang an gewollt hat, der hat im Stadtrat gesessen, im Finanzausschuss. Helen, unsere, deine Partei war immer genial, wenn es darum ging, den Bock zum Gärtner zu machen.
Du siehst alles zu persönlich, sagte sie verärgert und drehte mir den Rücken zu.
Na und? Soll ich alles theoretisch sehen, meine sieben Monate nicht persönlich, sondern theoretisch. Bin ich mit meinen fünfundvierzig Jahren ohne Arbeit ein theoretisches oder ein persönliches Problem.
Aber Lothar, du kannst doch nicht …
Was kann ich nicht, Helen, was kann ich nicht. Doch, ich kann, ich muss mich an der beschissenen Politik messen. Alles andere wäre Augenwäscherei.
Dann lagen wir nebeneinander und sprachen nicht mehr, dann schob Helen ihre Hand unter der Bettdecke in die meine und drückte sie, und ich erwiderte ihren Druck, und dann tasteten wir unsere Körper ab und es war wie immer.
4
Die Nordsiedlung wird abgerissen, das ist sicher, Lothar, und weißt du, wer seine Hand mit im Spiel hat. Nein, der Bäuerlein ist abgeschrieben, unser lieber Balke hängt mit drin, da kann er seine Lastwagen auslasten. Nicht verzagen, Balke fragen … Übrigens, er war hier.
Wer, Balke?, fragte ich und verstand nicht.
Balke. Er hat mir einen Job angeboten als Fahrer. Ich habe abgelehnt, ich hätte auch abgelehnt, wenn ich noch arbeitslos gewesen wäre. Vielleicht kommt er zu dir.
Ich kann nicht fahren, Lastwagen meine ich … Wie geht es deinem Vater, Frank.
Gabi schirmt ihn ab, sogar mich will sie nicht mehr ins Zimmer lassen. Er wartet auf seinen Tod. Was soll er sonst tun. Lothar, es ist ein langsames Sterben, ich wusste gar nicht, dass Sterben so lang sein kann.
Auf der obersten Haustürstufe saß Gabi und lutschte Karamellbonbons. Frank folgte meinem Blick, er sagte so nebenbei: Sie ist eine richtige Straßensperre, sie wird immer breiter.
Dann gab er mir die Pistole.
Ich schlenderte zu meinem Haus zurück. Ich fühlte den Stahl in meiner Hosentasche, ich kam mir groß vor. Als ich an Bauschultes Haus vorbeiging, winkte mir Bauschulte zu, ich solle auf ihn warten. Unwillig blieb ich stehen, und er trat an seinen Gartenzaun und sagte ohne Umschweife: Lothar, gib mir die Pistole.
Pistole?, fragte ich ihn. Von was redest du eigentlich.
Mir altem Fuchs kannst du doch nichts vormachen. Gib sie mir, Lothar, sonst passiert noch mal ein Unglück. Ich weiß, wie so was geht, erst spielen damit und dann schießen.
Wie unter Zwang gab ich ihm die Pistole und fragte nicht, woher er wusste, dass ich sie in der Tasche trug.
Willst mit ins Gewächshaus kommen, fragte Bauschulte.
Nein, da darf ich nicht rauchen und es ist mir auch zu feucht. In deinen Glashäusern bekomme ich keine Luft … Und übrigens, du kannst mich mal, Bauschulte.
Die alte Pfeifer lag im Fenster, als ich vor ihrem Haus die Straße überquerte, und ich hörte sie rufen: Der Balke ist da, da steht sein Wagen, er wartet auf Sie, Herr Steingruber.
Neugieriges Luder, dachte ich.
Balke trat aus dem Haus. Helen begleitete ihn zur Haustüre. Als sie mich bemerkt hatte, kehrte sie wieder in den Flur zurück. Balke strahlte, Balke strahlte immer, auf seinen Lastwagen stand sein Werbespruch: Nicht verzagen, Balke fragen.
Ich hab einen Job für dich, rief er und haute mir auf die Schulter, jetzt scheint wieder die Sonne. Na, was ist, kannst sofort mitkommen, Steingruber.
Ich kann keine Lastwagen fahren, Balke, das weißt du doch.
Ach was, kommst in die Verteilung oder ins Materiallager oder kannst mit deinem eigenen Auto fahren, hätte da auch was parat …
Ich mag nicht, unterbrach ich ihn und ließ ihn einfach stehen. Ich hörte ihn noch hinter meinem Rücken sagen: Winseln wirst noch, Zement fressen wirst du noch. Denk an meine Worte. Rumlungern und dann noch wählerisch sein. Euch geht es immer noch zu gut.
Im Wohnzimmer fragte mich Helen: Ist dir kalt, Lothar, weil du beide Hände in den Hosentaschen hast.
Ich stand auf und ging. Im Flur begegnete mir Claudia. Sie fragte: Suchst du was, Vater.
Warum soll ich was suchen, Claudia.
Weil du dauernd zur Decke guckst.
Ja, ich suche was, wenn du es genau wissen willst, ich suche nämlich die Zeit, die mir noch zum Leben bleibt.
Na, Vater, dann fröhliches Suchen, antwortete sie schnippisch, ich sah ihr an, dass sie sich am liebsten an die Stirn getippt hätte.
Im Keller, vor meiner Werkbank, setzte ich mich auf den wackligen Stuhl, den ich schon seit Wochen leimen wollte. Das also war mein Haus, das ich mit Opfern und heute kaum noch begreiflichem Verzicht gebaut hatte. Und jetzt? Nicht einmal ein Zimmer habe ich für mich allein, keinen Winkel im Haus, wo ich die Tür hinter mir zuziehen könnte, um allein zu sein. Nur Claudia hatte ihr eigenes Zimmer. Da wohne ich in einem Haus und habe kein Zimmer für mich. In meinem eigenen Haus. Warum sind wir beim Hausbau eigentlich nie auf den Gedanken gekommen, dass jeder von uns seine eigenen vier Wände haben müsste. Nur der Keller gehört mir allein, hier bin ich für mich, mit meiner Werkbank, mit meiner Schnitzbank und dem Werkzeugschrank, in dem so viele Dinge sind, die sich im Laufe von zehn Jahren anhäuften und von denen ich genau weiß, dass ich sie wohl nie brauchen werde. Wie muss reichen Menschen zumute sein, die nichts brauchen, weil sie alles haben.
Als ich mit Frank nach dem Tode meiner Mutter ihre Wohnung auflöste, hatten wir zwei Tage voll zu tun, um das alte Mobiliar abzutransportieren, Gerümpel, das meine Mutter auf dem Dachboden des kleinen Zechenhauses gehortet hatte, von leeren alten Dosen bis zu zerfressenen Fußmatten, von dreibeinigen Stühlen bis zu zersprungenen Nachttöpfen. Hatte sie sich daran erfreut, weil sie glaubte, auf dem Dachboden Besitz zu verwahren? Nicht einmal die Türken, die in dem Viertel wohnten und die meine Mutter hasste wie eine Geißel Gottes, wollten das Zeug haben, das Frank und ich ihnen anboten, um uns dadurch den Abtransport zu erleichtern.
Draußen blitzte es. Wenig später folgten die Blitze so schnell hintereinander, als würde ein Feuerwerk abgebrannt.
Noch blieb der Donner aus.
Morgen suche ich Personalbüros auf, ich werde mich nicht mehr auf dem Arbeitsamt abspeisen lassen. Ich werde denen sagen: Stellen Sie mich ein oder nicht. Ich bin zwar Maurer von Beruf, aber ich traue mir jede Arbeit zu. Ich werde auch Torten backen, wenn Sie es verlangen sollten.
Du wirst dich erkälten, hörte ich Helen hinter mir sagen. Ich rührte mich nicht auf meinem wackligen Stuhl, ich dachte nur: Mein Gott, wo kann ich mich bloß vor meiner eigenen Familie schützen, wo darf ich allein sein.
Du wirst schon wieder Arbeit finden, sagte sie, noch verhungern wir ja nicht, noch bin ich da. Wir haben keine Sorgen, Lothar, du erfindest nur welche. Komm doch rauf, sagte sie und berührte meine Schulter, wir spielen Canasta.
Ich schloss die Kellertüre zum Garten von außen ab. Unser Nachbar trat aus den Sträuchern, die unsere Gärten trennten: Das Wetter wird sich austoben, morgen wird es gutes Wetter geben. Das Gewitter hat lange in der Luft gehangen.
Nun war auch der erste Donner zu hören. Weit weg.
Hoffentlich, antwortete ich meinem Nachbarn, den ich nicht besonders mochte, ohne zu wissen warum.
Ich hörte Claudia Klavier spielen, und Helen, die an der Terrassentür auf mich wartete, sagte: Sie hört gleich auf.
Ist ja gut, Helen. Mein Gott, nehmt doch nicht dauernd Rücksicht auf mich wie auf einen Kranken. Was sein muss, muss sein. Besser, als dass wir sie zum Klavier zwingen müssten.
Ich mischte die Karten und verteilte sie. Fünfzehn Karten für jeden.
Was hat Frank gesagt, fragte Helen.
Was schon, kannst dir doch vorstellen, er war natürlich selig, dass er wieder Arbeit hat.
Und was wollte Balke von dir, fragte sie.
Er hat mir auch einen Job angeboten, antwortete ich unwillig, denn ihre Fragen waren mir lästig.
Und du …
Ich habe abgelehnt. Ich habe ihn nicht einmal gefragt, was für ein Job das ist, den er mir anbieten wollte.
Gut. Du kriegst auch ohne Balke etwas. Ganz bestimmt.
Was soll das Gerede, Helen. Das sagen wir uns schon seit Monaten und machen uns was vor. Helen, ich bin fünfundvierzig, mich will keiner mehr haben, Männer in meinem Alter sind aufmüpfig, die lassen sich nicht mehr alles gefallen, die widersprechen. Weißt du, mir hat mal ein alter Handlanger gesagt, ist schon Jahre her: wenn man erst mal zwei Jahre arbeitslos ist, dann existiert man gar nicht mehr für seine Umwelt, dann wird man nur noch wahrgenommen, wie man einen streunenden Hund wahrnimmt. Der musste es wissen, der war in den zwanziger Jahren fünf Jahre arbeitslos. Jetzt haben ihn schon die Würmer gefressen. Ein Lastwagen hat beim Rückwärtssetzen einen Betonmischer umgefahren und der hat ihn erschlagen. Hätte nicht zu sein brauchen, aber der Kerl hat sich geradezu zu Überstunden gedrängt, er konnte den Hals nicht voll kriegen. Die fünf Jahre ohne Arbeit haben ihm in den Knochen gesteckt, die konnte er nicht vergessen.
Während es draußen nur noch donnerte, hielt ich ein gutes Blatt in der Hand, drei Joker, ich werde drei Canasta auslegen, vielleicht sogar einen reinen.
Und dann hat er noch gesagt, ergänzte ich, man muss in den mageren Jahren für die fetten Jahre vorsorgen. Nicht umgekehrt. Nichts hat er gehabt. Er war noch nicht richtig unter der Erde, da hat seine Alte schon wieder geheiratet, den spindeldürren Polier, den wir damals hatten, der war so lang und dürr wie eine verwitterte Birke. Das wollte ich dir sagen, Helen, entschuldige, wenn ich dich mit meinen Geschichten langweile.
Du langweilst mich nicht, ich höre dir gerne zu, erzähle weiter, da lässt es sich gut spielen.
Morgen fahre ich in die Stadt, ich werde an alle Türen klopfen, ich werde mich anbiedern, ich werde nicht mehr auf die Vermittlung durch das Arbeitsamt warten.
Aber von meinem Vorhaben erzählte ich Helen nichts. Und ich legte tatsächlich drei Canasta aus.
5
Der heftige und stundenlang anhaltende Gewitterregen vom Vortag hatte die Baustelle in Morast verwandelt. Ich watete bis zu den Knöcheln im Schlamm und balancierte auf den ausgelegten Bohlen über das Baugelände.
Der Bauführer, den ich in einem schon bedachten Rohbau antraf, bedauerte: Ich kann dir nichts versprechen. Du weißt ja selber, wie die Zeiten sind. Und die Zeiten sind so … Wie lange bist du denn schon ohne.
Bald acht, sagte ich.
Ein Trauerspiel ist das, antwortete er, Leute wie dich lässt man rumlaufen wie herrenloses Vieh, dabei hocken hier so viele, die das Salz in der Suppe nicht verdienen dürften, so faul sind die. Und wenn sie mauern, Mensch, Knick haben die im Auge … Na, dann hast du noch fünf Monate, bis du Arbeitslosenhilfe kriegst, hast immerhin noch was vor dir.
Schwacher Trost. Wenn ich sie kriege, die Arbeitslosenhilfe. Meine Frau verdient. Beamtin. Aber man weiß ja nie, wie das mit Ermessensfragen bei Behörden ist.
Ein Trauerspiel ist das … Beamtin? Mensch, hätte man werden müssen. Verdient sie gut?, fragte er ohne Neugier.
Zweitausend netto, antwortete ich und es war mir peinlich, Helens Gehalt zu nennen.
Wenn du da an einen Eifrigen gerätst, der den Staat retten will, dann gibt er dir vielleicht dreihundert im Monat, damit das Bild wenigstens einen Rahmen hat. Und du kannst nichts dagegen machen, denn auf Arbeitslosenhilfe gibt es keinen Rechtsanspruch. Aber das weißt du ja selber, was erzähle ich dir das.
Nach dreißig Jahren auf dem Bau ist man auf Gnade oder Ungnade der Behörde ausgeliefert, sagte ich bitter, und ich wunderte mich, dass ich so was überhaupt dem Bauführer erzählte.
Das nennt man … das ist der soziale Rechtsstaat, erwiderte er, Drückeberger werden belohnt, faule Stinker und solche, die die Arbeit fürchten wie die Pest.
Der Bauführer schien plötzlich an mir interessiert zu sein und musterte mich ungeniert von unten bis oben, von oben bis unten, als sehe er mich jetzt zum ersten Mal. Er legte mir kumpelhaft die Hand auf die Schulter und erklärte mir: Diese Gesetze müssten alle abgeschafft werden, die dienen nur den Drückebergern und den Ausländern mit ihrem Stall voller Kinder, und wer was kann, der geht stempeln … Was glaubst du, wie gerne ich einige Leute hier feuern würde … aber die Gesetze. Wie war der Name … ach ja, Steingruber.
Wir stiegen die Leiter hinunter und traten ins Freie.
Ich habe mich hochgeschuftet, ohne Gesetze. Diese Sozialgesetze sind nur für Faulenzer und Stinker, wer was leistet, der braucht keine Gesetze, der braucht nur freie Luft und Ellenbogen und ein gutes Auge … Heutzutage kann ja nicht mal mehr einer ohne Wasserwaage arbeiten, die würden am liebsten einen Computer mauern lassen … Zeiten sind das. Aber so sind eben die Zeiten.
Es hat also keinen Zweck, wenn ich noch einmal vorbeikomme, sagte ich entmutigt und hielt ihn am Ärmel fest.
Meinetwegen kannst jeden Tag kommen und nachfragen, hast doch den ganzen Tag Zeit … aber momentan, wie gesagt… wenn wir den Siedlungskomplex hier hochgezogen haben und bis dahin keine neuen Aufträge in die Tasche kriegen, dann müssen wir sogar Leute rausschmeißen. Ich sag dir nur, es war noch nie so beschissen … Sieben Monate, Mensch, da weißt du ja schon bald nicht mehr, wie du die Kelle halten musst.
Ich hab noch nichts verlernt … Na, dann will ich es mal woanders versuchen.
Viel Glück, rief er mir nach.
Im Weggehen hörte ich ihn schreien: He! Du da drüben, kannst du dich nicht bewegen! Wenn du angewachsen bist, dann verkauf ich dich als Weihnachtsbaum, du Armleuchter … Los, lauf schon!
Auf der Straße vor meinem Wagen kratzte ich mir Schlamm und Lehm von meinen Stiefeln. Ich lehnte mich an mein Auto und sah mir die Baustelle genauer an. Es wäre mir früher nie eingefallen, mir eine Baustelle aufmerksam zu betrachten, was interessierte mich, was der Dachdecker machte, mich interessierte nur, ob die Lieferung Steine abgeladen worden war, der Kies, der Sand, der Zement. Vierfamilienhäuser wurden da hochgezogen, da liefen Maschinen, da wurde gemauert, verputzt, eingeschalt, betoniert und an drei Häusern waren schon Dachpfannen aufgelegt. Ich konnte mich nicht satt sehen an dieser Betriebsamkeit. Da wuchs etwas aus dem Boden, und ich sah mit wachsender Freude zu, wie sich sogar in wenigen Minuten das Bild veränderte. Da war Kraft zu spüren und Schweiß zu riechen. Der Geruch von frisch gelöschtem Kalk kitzelte meine Nase. Das war angenehm. Vor sieben Monaten noch habe ich alles mitwachsen lassen und wusch mir nach Feierabend die Hände und fluchte über den Dreck, den widerlichen Zement, der die Haut durchfraß und den Kalk, der die Haut ätzte. Ich lamentierte über meine aufgeplatzten Hände und freute mich auf meinen Garten, auf Claudias Klavierspiel und Helens Geschäftigkeit. Stundenlang konnte ich im Garten herumlaufen und mich an dem freuen, was ich mit meinen eigenen Händen gebaut und gepflanzt hatte: gemeinsam mit meinen Kollegen hatte ich alles gemauert, gezimmert, allein die Terrasse verlegt und den Zaun genagelt und die Obstbäumchen gepflanzt. Es gab im Haus und im Garten immer zu tun. Die Zeit reichte nicht aus, und ich geizte mit Schlaf, und ich lief meiner freien Zeit hinterher. Jetzt aber hat die Zeit mich eingeholt. Nachdem Haus und Garten fertig waren, lag ich manchmal im Liegestuhl und las ein Buch, das Helen mir mitgebracht hatte; auch heute besorgt mir Helen noch regelmäßig Bücher. Aber ich gehe jetzt jeden Tag mit Widerwillen nach Hause. Immer seltener rühre ich Bücher an und schimpfe leise auf Claudias Klavierspiel, und das Unkraut im Garten stört mich nicht mehr. Was mich früher erregte, lässt mich heute gleichgültig, was mich früher zornig machte, darüber lache ich nur noch. Und als mich Helen vor drei Wochen auf eine lecke Stelle in der Dachrinne aufmerksam machte, hat mich das nicht berührt; vom Küchenfenster aus sah ich zu, wie ein dünner Wasserstrahl durch die undichte Rinne an die Hauswand pisste und ich hatte mich nicht einmal über meine eigenen Worte gewundert, als ich Helen sagte: Wir müssen einen Klempner holen.
Seit wann brauchen wir denn einen Handwerker im Haus, fragte sie erstaunt. Du bist doch da.
Helen hatte mir den Wagen überlassen, aber ich sollte sie abends von der Bücherei abholen.
Von der Baustelle fuhr ich auf dem Ruhrschnellweg nach Bochum zu einer Tiefbaufirma. Ich hatte in einem Inserat gelesen, dass die Firma Arbeiter für Tiefbau und Stahlbeton suchte. Ich bin weder für Straßenbau noch für Stahlbeton ausgebildet, aber dreißig Jahre im Baugewerbe machen jeden zum Fachmann. Ich klopfe sogar Zimmerleuten noch was vor, wenn es verlangt werden sollte. Man lernt viel in den vielen Jahren, nur weil man anderen hilft oder einfach zuguckt, wie andere das machen.
Der Chef ist vor ein paar Minuten weggefahren, nuschelte das Mädchen im Büro, während es ihre Fingernägel feilte. Das muss ein Irrtum sein, jemand muss Sie falsch unterrichtet haben, ich weiß von nichts, sagte das Mädchen uninteressiert.
Aber ich habe es gestern selber in der Zeitung gelesen, versuchte ich zu erklären.
Da hätten Sie heute Morgen um sechs kommen müssen. Um viertel nach sechs waren die zehn offenen Stellen schon vergeben. Sie sah mich dabei nicht einmal an, feilte nur mit Hingabe ihre Fingernägel, und ich merkte ihr an, dass sie das wohl mehrmals am Tag aufsagen musste.
Ich zögerte, ich stand vor ihrem Schreibtisch und sah auf sie herunter, wie sie mit Hingabe ihre Fingernägel zu spitzen Ovalen feilte. Ihre Anwesenheit war im Grunde überflüssig, man hätte ebenso eine Kassette laufen lassen können, warum saß sie überhaupt hier. Ich verspürte Lust, ihr auf die Finger zu klopfen.
Noch was?, fragte sie, unterbrach ihr Feilen und sah erstaunt zu mir hoch, als merkte sie meine Anwesenheit erst jetzt. Ihr Gesicht war verändert, sie hatte ein ausdrucksvolles Kindergesicht, ihr Mund rundete sich zu einem Knopf. Sie legte die Nagelfeile neben einen Locher.
Sagen Sie mal, haben Sie eigentlich keine Angst, dass Sie auch einmal entlassen werden könnten, fragte ich und hatte Mühe beim Sprechen.
Nun waren auch ihre Augen braune Knöpfe. Sie stand auf und sah mir direkt in die Augen: Was geht Sie das eigentlich an. Gehen Sie, ich habe Sie nicht gerufen, ich habe keine Arbeit für Sie … Und wenn, dann würde ich sie meinem Bruder zuschanzen. Der kommt in vierzehn Tagen aus der Schule und hat noch keine Lehrstelle, was stehen Sie hier herum.
Ich habe mich geirrt, dachte ich, so dumm ist sie nun auch wieder nicht. Ist ja schon gut, sagte ich begütigend und verließ das Büro, ich spürte fast schmerzhaft die Blicke der jungen Frau auf meinem Rücken.
Um sieben holte ich Helen von der Bücherei ab, die in einem alten Sandsteingebäude untergebracht war. Bis nach Hause sprachen wir kein Wort miteinander.
Claudia trug in der Küche das Essen auf, Erbsensuppe mit Speck und geräucherten Würstchen. Die Erbsensuppe hatte ich gestern schon vorbereitet. Claudia brauchte sie nur mit den Würstchen aufzuwärmen, mehr Arbeit hatte sie nicht gehabt.
Und dann kam doch diese immer wiederkehrende Frage: Na, wie war’s … Hast du was erreicht.
Wie mich diese Frage verletzte. Nach sieben Monaten war sie zu einer Redensart geworden, da war kein Interesse mehr vorhanden, keine Anteilnahme, keine Sorge. Ich kam mir überflüssig vor. Ich war das Dienstmädchen in meinem eigenen Haus, ich war geduldet, es fehlte nur noch ein separater Eingang für mich und ein altes Bett unter der Firste.
Ich war auf einer Baustelle, nichts, ich war auch in Bochum, nichts, bin zu spät gekommen.
Ein verlorener Tag also, sagte Claudia teilnahmslos.
Kein Tag ist verloren, erwiderte Helen und las dabei in der Tageszeitung. Man wird immer reicher.
Du hast Recht, Helen. Ich werde jeden Tag reicher, entweder an Erfahrung oder an Enttäuschung. Aber auf diesen Reichtum kann ich getrost verzichten.
Auch meine Erwiderung war nur eine Redensart, die wir uns auf dem Arbeitsamt untereinander zuriefen, wenn wir warten mussten, um von einem Beamten in ein Zimmer gebeten zu werden, dann machten wir uns gegenseitig etwas vor, dann waren wir Könige und Milliardäre, Filmstars und Entdecker, wir waren nur zum Spaß auf das Arbeitsamt gekommen, weil wir mit unserer Zeit nichts anzufangen wussten, wir waren Reiche, die nichts brauchten, weil sie alles hatten.
Lass dir doch helfen, Lothar, sagte Helen, las dabei aber immer noch in der Zeitung.
Helfen? Von wem. Von deiner Partei, bei der ich fünfundzwanzig Jahre Mitglied war und die mich rausgeschmissen hat, nur weil ich mit Kommunisten gegen die Fahrpreiserhöhung in unserer Stadt demonstriert habe, für etwas Vernünftiges demonstriert habe, weil ich mich mit anderen auf die Straßenbahngleise gesetzt habe, weil ich …
Deshalb haben sie dich nicht rausgeworfen, sie haben dich gefeuert, weil du … Helen legte die Zeitung weg.
Gefeuert, weil ich auf einer Veranstaltung öffentlich gesagt habe, die Kommunisten haben Recht, und es ist nicht deshalb falsch, weil es von Kommunisten gesagt wird, dagegen habe ich mich zur Wehr gesetzt, denn es ist doch so, wenn in diesem Land Kommunisten sagen, zwei mal zwei ist vier, dann lassen unsere Parteien gleich neue Rechenbücher drucken.
Sei vernünftig, Lothar. Nenn mir bitte eine Partei, wo alles wie am Schnürchen läuft, unterbrach mich Helen ungehalten.
Vernünftig? Ich will kein Schnürchen, ich will Arbeit und nicht mit fünfundvierzig Jahren auf einem Schrotthaufen landen, wo mich jeder anpissen darf.
Noch bist du kein Schrott, warf Claudia ein.
Sehr witzig, entgegnete ich ihr.
Ich habe heute mit jemandem von der Stadt gesprochen. Du könntest im städtischen Fuhrpark unterkommen. Oder in der Stadtgärtnerei, du brauchst nur ja zu sagen …
Fuhrpark geht nicht, ich habe nur Führerschein Klasse drei, das weißt du, Helen …
Frank hat seinen Führerschein Klasse zwei auch erst vor drei Jahren gemacht, noch bist du nicht zu alt dafür, ein guter Fahrer wie du, für dich ist das doch ein Kinderspiel und die paar Mark, die der kostet, die machen uns auch nicht ärmer.
Und weiter?, fragte ich und sah sie gespannt an. Ich meine, Helen, wenn du mir über deine Freunde eine Arbeit verschaffst, dann wird sie doch einem anderen weggenommen, dem sie eigentlich zusteht … oder irre ich mich da. Ich lasse mich gerne aufklären, oder meinst du das nicht so, wird für mich etwas zusätzlich geschaffen.
Mein Gott, wenn du so denkst, rief Helen.
Aber so denke ich nun mal.
Cosi fan tutte, hörte ich Claudia sagen.
Was ist das?, fragte ich.
Das ist der Titel einer Oper von Mozart, Vater, auf deutsch heißt das: So machen es alle.
Das ist gut, rief ich, das muss ich mir merken. Klingt gut: Cosi fan tutte.
Lothar, sei vernünftig, so wie du denkst, denkt kein vernünftiger Mensch …
Leider, Helen, leider.
Wenn du so denkst, dann kannst du dich gleich darauf einstellen, dass du bis zu deinem Lebensende hier herumsitzen musst und warten musst, zumindest, bis du Rente kriegst.
So, ich sitze also rum!, schrie ich plötzlich und sprang auf. Warum sitze ich hier eigentlich rum. Weil ich nämlich durch die Politik deiner Parteifreunde ganz gesetzlich durch die Vordertüre auf die Straße geflogen bin, und jetzt soll ich durch deine Parteifreunde über den Dienstboteneingang wieder hineingeholt werden. Warum. Damit ich wieder Mitglied werde. Ich soll kommen, damit sie später sagen können: Seht mal, wir sind ja gar nicht so, wir nehmen jederzeit Einsichtige wieder in unsere Arme und drücken sie an unser Herz, wir …
Schrei nicht so, du bist hier nicht auf einer Baustelle, schrie Helen wie hysterisch.
Ich schreie so viel ich will in meinem Haus, damit du es nur weißt …
In unserem Haus, gab Helen ruhig zurück.
Das traf mich, weil Helen diese Wahrheit so ruhig aussprach.
Entschuldige, sagte ich und verließ die Küche.
Im Flur hörte ich Claudia zu ihrer Mutter sagen: Das hättest du nicht sagen dürfen, Mama, du weißt doch, wie empfindlich Vater ist, wenn es um das Haus geht.
Um meine Empfindlichkeit kümmert sich keiner, auf mir wird herumgetrampelt … Du kannst das Geschirr spülen, ich habe noch zu arbeiten, sonst komme ich mit meinen Terminen in Verzug.
Im Keller musste ich plötzlich vor mich hinlachen: Ich stellte mir vor, Gabi wäre von zwei Kugeln in ihr Hinterteil getroffen worden, sie würde es gar nicht merken, sie würde sich nur kratzen.
6
Mein Nachbar sagte durch die Sträucher: Jetzt haben Sie aber viel Zeit, Herr Steingruber … und wie lange das schon geht.
Ich gab ihm keine Antwort, ich saß auf einem Gartenstuhl auf der Terrasse und las in einem Buch. Es war in diesen letzten Apriltagen schon angenehm warm.
Helen hatte mir aus der Bücherei den Wälzer von diesem Speer mitgebracht, sie meinte, es sei notwendig, dass ich das Buch einmal lese.