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From USA Today Bestselling Author May McGoldrick... VON DER LIEBE VERZEHRT ZU WERDEN... Ironcross Castle wurde von den Highlanders als verflucht angesehen. Die letzten Burgherren waren bei Unfällen, Stürzen oder Bränden ums Leben gekommen. Der neue Besitzer, Gavin Kerr, hatte keine Angst vor dem Tod. Was er fürchtete, waren Gefühle - den Schmerz von Verrat und Verlust. Als er das Schloss betrat, hörte er von Geistern und Kulten und wurde von dem Porträt der schönen Joanna MacInnes angezogen, die hier in einem brennenden Ofen starb. Und als Gavin sie ansah, wollte er sie und verspürte das unmögliche Bedürfnis, sie in seine Arme zu schließen. ODER ZU VERBRENNEN... Die echte Joanna MacInnes war dem Feuer entkommen, das ihre Verwandten dahingerafft hatte. Monatelang wanderte sie nachts durch Ironcross, versteckte sich in den Geheimgängen und suchte nach der Wahrheit hinter dem Fluch der Burg. Jetzt fürchtete sie, dass der Fluch auch Gavin Kerr befallen würde. Doch als sie ihn warnte und ihn in der Dunkelheit berührte, entflammte bald eine andere Art von Feuer. Und selbst als sich ihre Lippen unter seinen öffneten, wusste sie, dass ihnen die Zeit davonlief, bevor sie einem herzlosen Schurken gegenüberstanden ... einem schrecklichen Geheimnis ... und einem Kampf zwischen ewiger Dunkelheit und der Macht der unsterblichen Liebe.
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Seitenzahl: 447
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2nd German Edition
Urheberrecht
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Flamme (Flame) © 2015 von Nikoo K. und James A. McGoldrick
Deutsche Übersetzung ©2024 von Nikoo und James McGoldrick
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Erstmals erschienen bei Topaz, einem Imprint von Dutton Signet, einer Abteilung von Penguin Books, USA, Inc. März 1998
Cover Art von Dar Albert. WickedSmartDesigns.com
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Epilog
Anmerkung zur Ausgabe
Anmerkung des Autors
Also by May McGoldrick, Jan Coffey & Nik James
Über den Autor
Ironcross Castle
In den nördlichen Highlands
Mai 1527
Als der Vollmond hinter den fernen Hügeln aufstieg, fielen Schatten wie klauenartig gekrümmte Finger auf die fahlen Mauern des Schlosses.
Die Gestalten, welche die Schatten warfen, stiegen in einer langen Reihe vom Hügel hinab und schritten auf die Festung zu. Der leise Gesang, der in flüsternden Fetzen vom Wind herübergetragen wurde, erstarb, als die letzte der dunklen Gestalten zwischen den Felsblöcken im Graben unterhalb des Schlosses verschwand. Unten in der Schlucht schimmerte das Wasser des Sees im Mondlicht.
Wenige Augenblicke später klickte an den massiven Wehrmauern ein schweres Eisenschloß, und eine dicke Eichentür schwang auf.
Schweigend traten die vermummten Gestalten nacheinander ein, und jede ergriff eine der Kerzen, die auf einem steinernen Sims direkt neben der Tür lagen. Kein Licht erhellte die Dunkelheit, und doch gingen die Gestalten unbeirrt den gewölbten Gang entlang.
Nach einer Weile bog der Anführer ab und trat über ein paar Stufen in einen großen, fast kreisförmigen Raum. Säulen trugen eine Kuppeldecke, die von Ruß und Rauch geschwärzt war. An der gegenüberliegenden Seite des Raums befand sich neben einem Stapel von Holzscheiten und Reisig ein steinerner Tisch, auf dem ein Kelch und eine Öllampe standen.
Eine vermummte Gestalt nach der anderen trat an den Tisch und entzündete ihre Kerze an der Öllampe. Dann berührten sie mit der Stirn den Stein und traten zurück, um einen großen Kreis zu bilden.
Verborgen im tiefen Schatten einer Nische in der Nähe des Tisches beobachtete eine schemenhafte Gestalt das Ritual. Die Anführerin der Kultgemeinde ergriff den Kelch und trat dann zurück an ihren Platz neben dem Holzstapel. Der Beobachter drückte sich tiefer in den Schutz der Dunkelheit, während die Anführerin in die Runde blickte.
»Schwestern!« rief die Frau, als sie sicher sein konnte, daß alle ihr aufmerksam zuhörten. »Bei den Seelen der hier begrabenen Toten, wir rufen die Macht an!«
»Mater!« erwiderten die anderen Frauen. »Wir rufen die Macht an!«
»Schwestern! Um unserer selbst willen, im Gedenken an unsere großen Schmerzen, wir rufen die Macht an!«
»Mater! Wir rufen die Macht an!«
»Schwestern! Wider die Übeltäter, um der Gerechtigkeit willen für ungesühnte Verbrechen! Wir rufen die Macht an!«
»Mater! Wir rufen die Macht an!«
Die Frau fuhr fort mit ihren Beschwörungen, und die Gruppe antwortete ihr. Der Beobachter blickte in fasziniertem Entsetzen auf das Schauspiel. Immer lauter wurden die Stimmen und die Körper begannen, hin und her zu schwanken und sich zu wiegen wie Äste im Wind.
Plötzlich kniete sich eine Frau mit einem wilden Schrei vor den Holzstapel und entzündete ihn. Die Flammen loderten auf, und stöhnend und heulend begannen die Gestalten zu tanzen.
»Schwestern!« rief Mater, als sich die Bewegungen verlangsamten. »Generationen vergehen, aber wir haben beim Schein des neuen Mondes wieder unser Gelübde erfüllt, uns zu erinnern.«
»Wir erinnern uns!« erwiderte die Gemeinde.
»Wir erinnern uns«, wiederholte Mater, hob den Kelch hoch über ihren Kopf und goß dann seinen Inhalt in die Flammen. Um sie herum sanken die Frauen auf den Steinboden, als seien sie bewußtlos, und nur noch leise das Knistern der Flammen war zu hören.
Nach einer Weile erhoben sich die Frauen wieder, und Mater ergriff abermals das Wort.
»Ich habe euch heute abend eine schlechte Nachricht zu überbringen, Schwestern, denn ich habe gehört, daß ein neuer Laird kommt.«
Ein Murmeln erhob sich, und die Gestalt in der Nische trat so weit wie möglich vor.
»Wie wir in der Vergangenheit gesehen haben, beherrscht das Böse die Seelen der Männer«, flüsterte Maters Stimme. »Wir erinnern uns alle an den Grund für unser Gelübde, den Grund für unsere Zusammenkunft. Wir erinnern uns alle daran, Schwestern!«
Die Menge wogte erregt hin und her.
»Wieder einmal müssen wir, wie in jener Nacht, unserer Tradition folgen.«
Mater erhob ihre Kerze, und der Beobachter sah den Widerschein der Flamme in den Augen der anderen Frauen. Entsetzen ergriff ihn.
»Soll der Fluch treffen, wen er mag … wir werden uns erinnern!«
Stirling, Schottland
»Es ist lebensgefährlich, dorthin zu gehen, Gavin, das weißt du genau!«
Gavin Ken tat so, als bemerke er die Verärgerung und Besorgnis seines Freundes gar nicht. Der schwarzhaarige Hüne ging einfach weiter im Atelier von Ambrose Macpherson herum und bewunderte die prächtigen Gemälde, die an den Wänden hingen.
»Mindestens zwölf Todesfälle im letzten halben Jahr!« grollte Ambrose. »Denk doch mal nach, Mann! Der letzte Laird und seine Familie starben einen elenden Tod in diesem Felsennest. Bei allen Heiligen, Gavin, seit Jahrhunderten ist kein Laird von Ironcross Castle an Altersschwäche gestorben!«
»Ambrose, deine Frau ist erstaunlich begabt …«
»Wir reden über dein wahnwitziges Vorhaben, gerade jetzt nach Ironcross Castle zu gehen«, unterbrach ihn Ambrose.
»Ganz richtig, aber diese Porträts berühren mein Herz im Augenblick mehr.« Gavin fuhr mit dem Finger über die leuchtenden Farben auf der Leinwand. Das Bild zeigte das strahlende Gesicht eines Kindes, das liebevoll einen Säugling im Arm hielt. »Bonnie Jaime! Sie ist so sehr gewachsen, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Und Michael ist schon ein strammer Junge geworden …«
Ambrose beugte sich über den Tisch, der zwischen ihnen stand. »Gavin, wir reden nicht über Elizabeth und meine Kinder. Ich möchte dir dieses fluchbeladene Geschenk ausreden, das der Earl of Angus dir gemacht hat. Merkst du denn nicht, daß der Lordkanzler versucht, sich deiner zu entledigen?«
»Nein, Angus könnte mich durchaus leichter loswerden, als mich zum Laird eines Schlosses in den Highlands zu machen.« Gavin fuhr sich mit der Hand über das Kinn, bevor er zum nächsten Bild trat. »Allerdings ist die Belohnung für mich nicht allzu ehrenvoll, wenn man bedenkt, wie groß meine Abneigung gegen alle Highlander ist – abgesehen von deiner Familie natürlich«, fügte er grinsend hinzu.
Der Highlander wollte gerade etwas darauf erwidern, als die Tür aufging und Elizabeth Macpherson leise eintrat. Wie in der Nacht der Vollmond den Himmel erhellt, so strahlte das finstere Gesicht ihres Mannes auf, als die junge Frau hereinkam.
»Meine Gebete, daß ihr zwei diese leidige Angelegenheit beigelegt habt, sind wohl nicht erhört worden«, schalt Elizabeth lächelnd. Spielerisch schlug sie Gavin auf den Arm und trat neben ihren Mann.
Die Neuigkeiten über seine Versetzung hatten sich rasch am Hof verbreitet, deshalb war Gavin keineswegs überrascht über Elizabeths plötzliches Erscheinen. Seine Freunde wollten ihn offensichtlich mit geballter Macht überwältigen.
»Um es dir bequem zu machen, Gavin Kerr«, sagte Elizabeth, »habe ich in diesem Flügel des Hauses bereits schwarze Vorhänge vor die Fenster hängen lassen, damit das Licht nicht hereindringt. Die Kinder habe ich im Westflügel untergebracht, um jede Störung zu vermeiden.«
»Um es mir bequem zu machen, Elizabeth?« erwiderte Gavin. »Ich kann nicht bleiben.«
»Aber du mußt bleiben«, sagte die junge Frau bestimmt. »Der einzige Grund, dein Land zu verlassen und nach Ironcross Castle zu gehen, ist doch gewiß nur, daß du dich wieder einmal von der Welt zurückziehen willst.«
»Du meinst, meine Liebe«, warf Ambrose ein, »daß dieser Dickschädel von einem Lowlander mal wieder in dieser düsteren Stimmung ist, in der er sich von den Menschen fernhält und alle Welt haßt … einschließlich sich selbst.«
Elizabeth lächelte. »Ja. Deshalb dachte ich mir, daß er, so gut er auch in seinem neuen Kilt aussieht, sicherlich nicht in das wilde und gefährliche nördliche Highlands reisen muß. Schließlich kann er doch bei uns das gleiche Elend erleben – ich meine, er kann sich genausogut zurückziehen, und zwar hier bei uns.«
»Ihr werdet mich nicht von meinem Entschluß abbringen.« Gavin lächelte die beiden an. Elizabeths schwellender Leib kündete von ihrer kurz bevorstehenden Niederkunft, sie erwartete ihr drittes Kind. »Ihr habt im Augenblick genug andere Sorgen, zudem stehen meine Männer bereit. Ich habe bereits eine Nachricht nach Ironcross Castle und an meinen Nachbarn, den Earl of Athol, geschickt. Ich werde dort in vierzehn Tagen erwartet, ihr braucht also gar nicht weiter auf mich einreden.« Er schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Außerdem ist es weder der Wunsch, Eremit zu werden, noch zu sterben, der mich veranlaßt, dorthin zu reisen. Einen Grund gibt es allerdings.«
Gavin zögerte und bedachte seine nächsten Worte, da er wußte, daß die Wahrheit seinen Freunden kaum weniger Sorgen bereiten würde. Nach den verheerenden Verlusten, die er auf Flodden Field erlitten hatte, stand er ohne Familie da, und niemand war ihm näher als diese beiden Menschen. Und er wußte auch, daß sie sich mehr um ihn sorgten als er um sich selbst.
Er hob wieder an. »Vor zwei Wochen kam eine Edelfrau zu mir. Zu dieser Zeit hatte ich mich noch nicht für das Angebot des Lordkanzlers, Ironcross Castle zu übernehmen, entschieden. Die Frau war alt und gebrechlich. Sie sagte, du würdest dich an sie erinnern, Elizabeth. Ihr Name ist Lady MacInnes.« Gavin schwieg, als er sah, daß Elizabeths Gesicht ganz weich wurde. Ambrose legte tröstend den Arm um seine Frau.
»Schon bevor ich sie kennenlernte, wußte ich, daß Ironcross Castle seit Jahren im Besitz der Familie MacInnes gewesen war, aber sie sagte mir, daß es nach der letzten Tragödie zu Staub zerfallen könne.«
Elizabeth ließ sich schwerfällig auf einen Stuhl nieder. »Sie erzählte mir letzten Sommer eine schreckliche Geschichte, wie sie ihren Mann und zwei ihrer Söhne bei seltsamen Unfällen auf den Ländereien des Schlosses verloren hat.«
»Ja. Alle ihre Männer bis auf einen«, fügte Ambrose grimmig hinzu. »Und dann hat sie bei dem Brand auch noch ihren dritten Sohn verloren, zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter.«
Gavin nickte ernst. »Ja. Sie sagte mir, ihre Enkelin habe dich sehr gern gehabt.«
»Ich werde Joanna nie vergessen«, flüsterte Elizabeth. »Sie war so voller Leben, eine liebenswerte und starke junge Frau, bereit für alles, was das Leben ihr zugedacht hatte. Sie wollte in diesem Frühjahr heiraten – den Neffen des Earl of Huntly, James Gordon. Aber damit ist es jetzt vorbei. Die Träume eines ganzen Lebens verflogen in einem Augenblick.«
»Der Grund von Lady MacInnes’ Besuch, meine Freunde, war nicht, mir all diese Tragödien zu erzählen, sondern mich um etwas zu bitten.« Gavin Kerr wandte sich um und betrachtete erneut die Gemälde an den Wänden. »Sie erzählte mir, daß ihre Enkelin dir letzten Sommer für ein Porträt gesessen hat.« Er drehte sich um und blickte Elizabeth an.
»Ja, das tat sie«, erwiderte Elizabeth. »Und soweit ich weiß, haben sie das Bild nach Ironcross Castle mitgenommen.«
Gavin sah seine beiden Freunde an. »Die alte Frau will das Bild haben. Sie sei zu alt, sagt sie, um selbst nach Ironcross zu reisen … noch nicht einmal, um die Gräber ihrer Lieben zu besuchen. Es ist ihr gleichgültig, was vom Schloß übriggeblieben ist. Sie macht sich auch keine Gedanken um meine neue Aufgabe. Einzig und allein möchte sie, daß ich ihr das Bild ihrer Enkeltochter schicke, wenn es nicht ein Raub der Flammen geworden ist.«
Ambrose blickte den Lowlander prüfend an. »Wenn das dein einziger Grund ist, kannst du doch einen Boten hinschicken und ein paar von deinen Männern, damit sie das erledigen. Das ist doch kein Grund für dich …«
»Doch, es ist ein Grund für mich, dorthin zu reisen«, unterbrach Gavin ihn. »Sie sagte mir noch etwas, das meinen Entschluß festigte.«
Er schwieg. Seine Freunde starrten ihn schweigend an und warteten darauf, daß er fortfuhr. »Lady MacInnes meinte, es sei zwar unnatürlich, daß so viele aus ihrer Familie dort gestorben sind, aber sie glaube immer noch nicht, daß der Fluch von Ironcross Castle etwas mit Geistern und Gespenstern zu tun habe. Sie sagte, es stimme, daß etwas Böses dort sei. Aber das Böse sei menschlich.«
Der morsche Laden hoch oben in der Ruine des Turms schlug plötzlich auf, als der Nachmittagswind auf West drehte, und die goldenen Strahlen des Sonnenlichts drangen in den verwüsteten Raum.
Auf dem Strohhaufen in der Ecke des Zimmers fuhr die Gestalt in dem zerlumpten Umhang erschreckt zusammen. Obwohl das Frühjahr schon weit fortgeschritten war, fror sie ständig. Vielleicht lag es daran, daß sie so selten die Sonne sah, kam es ihr in den Sinn. Sie war jetzt ein Geschöpf der Nacht, nur noch ein Schatten.
Sie erschauerte leicht. In ihrem Magen stach es vor Hunger. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, das Gefühl zu verdrängen. Vor heute abend würde es nichts zu essen geben, wenn der Verwalter und die Dienstboten, die nach dem Brand noch geblieben waren, zu Bett gegangen waren. Dann konnte sie wie ein Gespenst in die Küche schlüpfen und nach etwas Eßbarem suchen.
Diejenigen, die noch im Schloß wohnten, hielten sie für ein Gespenst. Wie dumm sie sich wohl vorkämen, wenn sie wüßten, wie menschlich ihre Bedürfnisse waren.
Der Holzladen schlug wieder gegen die Mauer, und sie starrte ihn finster an. Das war die Zeit, in der sie sich ausruhte, schalt sie im stillen den lauten Fensterladen. Wie die Fledermäuse und Eulen, dachte Joanna. Denn nur im Schutz der Dunkelheit konnte sie sich frei in diesem ausgebrannten Gefängnis bewegen, das sie einst ihr Zuhause genannt hatte.
Mühsam erhob sie sich und trat ans Fenster. Plötzlich hörte sie in der Ferne das Geräusch von Pferden. Vom Hof drangen Rufe herauf, und alles schien auf einmal vor Eifer und Aufregung erfüllt zu sein. Mit klammen Fingern zog Joanna den Laden zu, ohne noch einen weiteren Blick nach unten zu werfen.
Der arme Mann, dachte sie. Der verfluchte Laird war angekommen.
Die Hufe der Pferde wirbelten eine graue Staubwolke auf. Gavin Kerr blickte von den herbeieilenden Knechten auf das mächtige Eisenkreuz, das über der steinernen Wölbung der schweren Eichentüren hing. An den blutroten Rostflecken auf dem Stein unter dem Kreuz erkannte der neue Laird, daß es schon seit ewigen Zeiten dort hängen mußte. Gavin wandte den Blick ab und musterte die Gebäude, die den offenen Hof umstanden wie eine Faust, die im Begriff war, sich zu schließen.
Das Schloß war wesentlich größer, als er erwartet hatte. Hoch oben über dem Hauptgebäude und dem nördlichen Flügel befanden sich schmale Fensterschlitze, während die Fenster des Südflügels wesentlich größer waren. Offensichtlich war dieser Teil des Schlosses später erbaut worden. Langsam ließ Gavin seinen Blick wandern. Es gab kein Anzeichen von dem Feuer, das den früheren Laird, seiner Familie und seinen Dienstboten das Leben gekostet hatte. Schnee und Regen hatten jede Spur von Ruß auf den Mauern getilgt.
Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr – im Turm über dem Südflügel wurde ein Fensterladen geschlossen.
Da jetzt jedoch Männer näher kamen, dachte Gavin nicht weiter darüber nach. Der große Mann, der gerade die herumeilenden Knechte ausschalt, mußte Allan sein, der Verwalter der letzten vier Lairds der MacInnes. Seine grauen Haare und der Bart kündeten von seinem fortgeschrittenen Alter, während seine kraftvolle, nur ganz leicht gebeugte Erscheinung die Stärke vermittelte, die für die Position, die er schon so lange innehatte, notwendig war.
Gavin stieg von seinem Pferd, reichte einem Knecht die Zügel und erwiderte den Gruß des Verwalters, der sich vor ihm verneigte.
»Ihr seid in der Tat genau zu dem Zeitpunkt angekommen, wie wir es erwartet hatten, Mylord. Nicht einen Tag zu früh oder zu spät.« Der alte Mann machte eine einladende Geste zum Eingang des Schlosses hin. »Ich habe mir die Freiheit genommen, Gibby, die Köchin, um die Vorbereitung eines Festmahls zu Eurer Ankunft zu bitten.«
Er schwieg, als ein paar Dienstboten zusammen mit einem zwergenhaften, kränklich aussehenden Priester aus dem Haus traten, um den neuen Laird willkommen zu heißen.
»Euer Nachbar, der Earl of Athol«, fuhr Allan fort, »hat schon auf Eure Ankunft gewartet, Mylord. Wenn Ihr wünscht, werde ich einen Mann hinüberschicken und ihn einladen …«
»Nein, Allan. Das kann einen oder zwei Tage warten.« Gavins Blick schweifte wieder über die Türme zu beiden Seiten des Hofes. »Ich möchte, daß Ihr mir den Besitz zeigt, während meine Männer sich einrichten.«
Der ältere Mann nickte zustimmend und folgte Gavin, der bereits auf den südlichen Turm zustrebte. »Ihr möchtet wahrscheinlich gerne im Haupthaus beginnen, Mylord, wie wir das alte Schloß nennen. Anschließend zeige ich Euch die Küchengebäude und die Ställe im nördlichen Flügel. Im Südflügel ist nur wenig zu sehen.«
Gavin blieb abrupt stehen, sah zum Südturm hinauf und blickte dann den Verwalter an.
»Dieser Flügel würde größtenteils vom Feuer zerstört, Mylord«, erklärte Allan rasch. »Vom Hof aus sieht er unversehrt aus, aber innen war der Schaden außerordentlich groß, vor allem dort, wo der Flügel an das alte Schloß grenzt. An einigen Stellen ist das Dach eingestürzt, und ich habe die Eingänge verbarrikadieren lassen, um …«
»Verbarrikadieren?« unterbrach Gavin ihn und starrte auf den Turm.
»Ja. Am größten ist der Schaden jedoch an der Seite, wo der Turm den See überragt. Dort schliefen alle, als das Feuer ausbrach. Gott schenke ihren Seelen Frieden. Als wir anderen im alten Schloß den Rauch rochen, war der ganze Südflügel bereits niedergebrannt.«
Gavin trat an die Steinmauer und blickte durch die Schlitze der unteren Fenster. Durch die Bohlen der darüberliegenden Böden schimmerte Licht.
»Warum erlaubt Ihr den Dienstboten, den Flügel zu betreten?« fragte Gavin. Der alte Mann errötete. »Die oberen Geschosse sehen ziemlich baufällig aus.«
»Seit dem Feuer hat kein Lebender mehr den Fuß in diesen Flügel gesetzt, Mylord. Ich selbst habe alle Türen versperrt und die oberen Gänge zumauern lassen. Außer einem Dachs … oder einem Fuchs vielleicht …« Seine Stimme erstarb.
Gavin trat vom Gebäude zurück und blickte auf die oberen Fenster im Turm. »Ich sah, wie dort oben ein Fensterladen geschlossen wurde.«
Der alte Mann blickte kurz zu den Fenstern hinauf, dann sah er seinen neuen Herrn an.
»Ja, Mylord. Wir sehen von Zeit zu Zeit das gleiche, aber es ist nur der Wind.« Als der neue Laird zur Vorderseite des Gebäudes ging, folgte ihm der Verwalter. »Überall war Rauch, und die Treppen, die in den Turm führen, wurden zerstört. Da bin ich mir ganz sicher. Das Dach jedoch ist möglicherweise an dieser Stelle unversehrt geblieben, und ein paar Vögel haben dort ihre Nester. Flügel braucht man schon, um in den Turm zu gelangen.«
Gavin spähte noch einmal zum Turm hoch. Zahlreiche Läden schlugen im stärker werdenden Wind gegen die Mauern. Offensichtlich hatte die Natur die Oberhand über die meisten Fenster gewonnen … bis auf eines. Das Fenster, das er vorher offen gesehen hatte, blieb trotz des Nordwinds geschlossen.
Die Vögel in den Highlands können offensichtlich Fensterläden zusperren, dachte Gavin bei sich. Schweigend wandte er sich zum Haupteingang des alten Schlosses. Der Verwalter folgte ihm.
Niemand wagte es, ihr Reich zu betreten.
Die teilweise eingestürzten Dächer, die klaffenden Löcher in den Wänden, von denen aus man einen ungehinderten Ausblick auf die Felsen von Loch Moray hatte, und die rußgeschwärzten, morschen Böden machten aus dem Südflügel von Ironcross Castle einen verbotenen Ort. Doch als Joanna leise zu dem Geheimgang huschte, durch den sie in die unterirdischen Tunnel und Höhlen gelangte, spürte sie auf einmal, daß noch vor kurzem jemand hier entlanggegangen war.
Sie blieb stehen und blickte sich um. Viel konnte sie nicht sehen. Vorsichtig ließ sie sich auf alle viere nieder und spähte durch die Bohlen auf den darunterliegenden Gang. Diese Flure mied sie für gewöhnlich, aus Angst, von irgend jemandem entdeckt zu werden.
Trotz des zunehmenden Dämmerlichts konnte sie deutlich Fußabdrücke erkennen – jemand war vom alten Schloß herübergekommen und zum Arbeitszimmer ihres Vaters gegangen. Leise erhob sich Joanna und schlich sich an der Wand entlang zu dem ausgebrannten Zimmer.
Durch die Bohlen an der verrußten Tür spähte sie in den Raum. Er war leer. Wieder blickte sie den Flur entlang. Da sie gerade aus dem oberen Geschoß gekommen war, mußte der Eindringling seinen Weg über die fast unpassierbare Haupttreppe fortgesetzt haben.
Erleichtert zog sie ihren Mantel fester um sich und blickte noch einmal in das Arbeitszimmer. Der vertraute Schmerz schnürte ihr die Kehle zu, als sie in das verwüstete Zimmer trat. Seit jener schrecklichen Nacht hatte sich hier nichts verändert. Alles war ein Raub der Flammen geworden. Von einer Wand hingen verkohlte Stoffetzen herunter, wo früher einmal eine prächtige Wandbespannung gewesen war. Alles war zerstört.
Alles bis auf das dumme Porträt von ihr, das über dem Kamin hing. Sehnsüchtig starrte sie auf das lächelnde Gesicht. Es schnürte ihr die Kehle zusammen, sich selbst so zu sehen, dieses Bild der Vollkommenheit, das sie einst gewesen war. Welche Eitelkeit, dachte sie ärgerlich.
Am liebsten wäre sie hinübergegangen, hätte es von der Wand gerissen und es zerstört, wie es schon vor langer Zeit hätte geschehen müssen. Aber der Fußboden im Zimmer war zu morsch. Aus Erfahrung kannte sie jede lose Bohle, jedes gefährliche Brett. Nein, sie hatte diese Marter nicht so lange überlebt, um sich jetzt den Hals zu brechen. Aber diese Augen forderten sie heraus. Sie haßte das Bild. Warum mußte gerade das Gemälde alles überstehen, wo sonst niemand überlebt hatte? Niemand außer ihr.
Mit Tränen in den Augen zog Joanna ihre Kapuze tief ins Gesicht und hastete den dunklen Gang entlang, der tief unter die Erde führte, wo niemand sehen konnte, was aus ihr geworden war – ein geisterhafter Schatten der Vergangenheit, ein Geschöpf der Nacht, verbrannt, häßlich, elend. Tot.
Joanna MacInnes verschwand in der Dunkelheit. Sie dachte an ihre arme Mutter und ihren Vater, an all die unschuldigen Menschen, die im Feuer ihr Leben gelassen hatten.
Jetzt war es ihr Schicksal, sich zu verstecken und darauf zu warten, daß sich eine Gelegenheit zur Gerechtigkeit ergab.
Ein großes Holzscheit krachte herunter, Flammen loderten empor und Funken stieben in dem riesigen Kamin in der großen Halle.
Das Gesicht des neuen Lairds lag im Schatten, während er die drei jungen Männer betrachtete, die um ihn herum saßen. Auf den Bänken in der großen Halle schliefen Dienstboten und Krieger, und auf dem Steinboden lagen Hunde. Die meisten Mitglieder des Haushalts schliefen bereits, entweder hier oder in den Ställen und in den anderen Gebäuden, nur Gavin und drei seiner Vertrauten waren noch wach. Seit sie angekommen waren, hatten diese Männer überprüft, was getan werden mußte, um das Schloß instand zu setzen. Jetzt wollten sie ihm Bericht erstatten, und der Lowlander beugte sich vor, um sie anzuhören.
Edmund begann. »Ich habe gehört, wie der Verwalter Euren Wunsch weitergegeben hat, die Zugänge im Südflügel für Euch freizulegen, damit Ihr ihn morgen ansehen …«
»Ja«, fiel Peter ungeduldig ein. »Und ein paar von den Knechten und der alte Schmied haben sofort damit angefangen, die vermauerten Türen zu öffnen.«
»Der Verwalter hat die Leute hier im Schloß gut im Griff«, fügte Edmund bewundernd hinzu.
»In der Tat«, stimmte Peter ihm zu. »Man hätte meinen sollen, es hätte ausgereicht, die Türen zu verbarrikadieren. Aber gleich alle zuzumauern, um die Leute am Durchgang zu hindern!« Der stämmige Krieger spuckte auf den Fußboden. »Die meisten Dienstboten sind so alt, daß sie ohne Hilfe noch nicht einmal einen Riegel zurückschieben können!«
Gavin unterbrach die beiden. »Ich kann Allans Besorgnis verstehen. Er sagte mir, er habe nach dem Brand sichergehen wollen, daß niemand den Südflügel betritt, ehe Lady MacInnes oder der nächste Laird kommt, um festzustellen, was übriggeblieben ist.« Der Lowlander lehnte sich zurück, hob einen Kelch und blickte sich in der stillen Halle um. »Da den Lairds in all, den Jahren so viele Unfälle zugestoßen sind, zeugt es von einem wachen Verstand, alles unangetastet zu lassen. Was hast du herausgefunden, Andrew?«
Andrew räusperte sich. »Als ich zur Abtei hinüberritt, Mylord, traf ich ein paar Männer des Earls of Athol, die nach Norden ritten. Sie erzählten mir, wie seltsam es hier nach dem Feuer war. Keiner der Krieger des letzten Lairds sei hiergeblieben, sagten sie. Offensichtlich sind sie alle in die Berge geflohen, als sei der Teufel hinter ihnen her.«
Gavin leerte seinen Kelch und stellte ihn wieder auf den Tisch, bevor er sich Andrew zuwandte. »Was kannst du uns von der Abtei berichten?«
»Es ist seltsam dort. Kaum eine Stunde am Ufer des Sees entlang von hier, aber nichts als ein Haufen Steine und zerfallene Mauern im Schutz der hohen Hügel. Sie ist umgeben von Wiesen und Weideland, und es gibt auch ein paar Pachthöfe, aber erstaunlicherweise wenige Bauern.«
»Man hat mir erzählt, sie seien dort sehr fromm.«
»Das weiß ich nicht, Mylord«, erwiderte Andrew. »Jene, die geblieben sind, leben mitten im zerstörten Kloster in Steinhäusern, die sie sich aus den Steinen der alten Gebäude errichtet haben.«
»Gibt es einen Abt oder etwas in der Art?« fragte Gavin.
»Ja, eine Frau, die sie Mater nennen.«
»Eine Frau?« sprudelte Peter hervor.
»Ja«, erwiderte Andrew langsam. »Es gibt nur Frauen dort. Jedenfalls soweit ich gesehen habe, bevor sie alle verschwanden.« Er schwieg einen Moment. »Diese Abtei, Mylord, kommt mir recht ungeschützt vor, so offen, wie sie daliegt.«
»Das sieht den Highlandern doch ähnlich«, murrte Peter, »einfach ein paar Frauen …«
Gavin spürte, wie seine Nackenhaare sich aufstellten. Etwas am anderen Ende der großen Halle hatte seine Aufmerksamkeit erregt. In der dunklen Ecke am Gang zur Küche und zum Nordflügel hatte sich etwas bewegt. Ein Schatten … irgend etwas … er war sich ganz sicher. Gavin spähte in die Dunkelheit und musterte die schlafenden Gestalten auf den Bänken, während er weiter seinen Männern zuhörte. Die Dienstboten waren schon vor Stunden zu Bett geschickt worden, und es war unwahrscheinlich, daß außer ihm und den drei Männern im Schloß noch jemand wach war.
»Ich habe Mater gesagt, Mylord, daß Ihr in den nächsten Tagen vorbeikommen werdet, um ihr einen Besuch abzustatten.«
»Das ist in Ordnung«, antwortete Gavin. Er schüttelte leicht den Kopf über seine Sinnestäuschung und schenkte sich noch ein Ale ein. Er war bestimmt nur müde, grübelte er und ließ seinen Blick noch einmal zum anderen Ende der Halle schweifen. Seine erste Nacht in Ironcross Castle, und schon war er ein Opfer dieses seltsamen Ortes. Plötzlich bemerkte er, daß einer der Hunde sich langsam erhoben hatte und auf die Küche zutrottete. Der Laird schob den Krug beiseite und stand ebenfalls auf.
»Die Leute des Earls of Athol haben auch erwähnt, daß er Euch noch vor dem Wochenende einen Besuch abstatten wird.« Andrews Augen folgten seinem Herrn, während Gavin um den Tisch herumtrat, an dem sie saßen. »Er wohnt nur einen Tagesritt entfernt, sagten sie, und wenn es Euch nicht recht ist …«
»Das ist in Ordnung«, erwiderte Gavin abwesend, ohne sich umzudrehen. »Legt euch schlafen. Morgen erwartet uns viel Arbeit.«
Die drei Männer beobachteten schweigend, wie ihr Herr leise auf die Küche zutrat.
Diese Neuankömmlinge entwickelten sich zu einer regelrechten Plage, dachte sie. Sie könnten sogar eine Bedrohung für sie werden. Und es waren so viele.
Nachdem Joanna sich aus dem Gang herausgewagt hatte, als die lauten Geräusche des Festmahls verstummten, war sie überrascht, wie viele Leute sich noch in der großen Halle aufhielten. Aus Erfahrung wußte sie, daß sie hier mehr zu essen finden würde als in der Küche, aber das konnte sie sich nun aus dem Kopf schlagen. Sie hoffte nur, daß die sparsame Gibby nicht wieder alles weggeschlossen hatte, wie sie es sonst immer tat.
In der Küche blickte Joanna sich nach vereinzelten Schläfern um, aber da es milder geworden war, war niemand zu sehen. Die Holzscheite in dem riesigen Kamin flackerten noch, und sie konnte die Brotlaibe erkennen, die zum Aufgehen auf dem langen Tisch lagen.
Auf einer Anrichte fand sie eine große Schüssel mit harten Brotbrocken. Joanna nahm sich eine Handvoll und steckte sie in die tiefe Tasche ihres Umhangs. Dann blieb sie lauschend stehen. Da jetzt so viele Leute hier waren, würde sie weitaus vorsichtiger sein müssen als in der Vergangenheit. Wenn man sie entdeckte, würde dies das Ende ihres Vorhabens bedeuten. Nie würde ihr einziger Wunsch in Erfüllung gehen, der allein sie zum Weiterleben zwang. Wenn sie entdeckt würde, gäbe es keine gerechte Strafe für die Mörder ihrer Eltern. Dessen war sie gewiß.
Lautlos glitt Joanna durch die Küche und blieb seufzend vor einem verschlossenen Vorratsschrank stehen. Erschreckt fuhr sie zusammen, als eine Hundeschnauze plötzlich ihre Hüfte berührte. Lächelnd streichelte sie das sanfte Tier. Alle Hunde im Schloß waren an sie gewöhnt, aber Max war der einzige, der immer zu ihr kam. Joanna ließ es zu, daß er ihr das Kinn leckte, und tätschelte ihm den Kopf. Dann richtete sie sich wortlos auf und machte sich weiter auf die Suche nach etwas Eßbarem.
Ein himmlischer Duft nach Moorhühnern und nach gebratenem Lamm hing noch in der Luft, und ihr lief das Wasser im Mund zusammen, aber leider fand sie keine Reste mehr. Von den Balken an der Decke hing geräuchertes Fleisch herab, aber sie wagte nicht, etwas davon zu stehlen. Sie hörte Max in einer Ecke schnüffeln und entdeckte zwei Kugeln Käse, die an Schnüren von einem Küchenbord herunterhingen, gerade so hoch, daß sie der Hund nicht erreichte. Dankbar über eine Gelegenheit, ihrer mageren Kost einmal etwas anderes hinzufügen zu können, griff sie danach.
»Es tut mir so leid, daß man dir für beide die Schuld geben wird«, flüsterte sie, »aber du kannst leider nur einen haben.« Sie rollte seinen Käse spielerisch über den Fußboden und steckte den anderen in ihre Manteltasche.
Der Hund sprang seiner Beute durch die Küche nach, blieb aber auf einmal abrupt stehen. Sein tiefes Knurren veranlaßte Joanna, sich zu verstecken. Leise trat sie in den tiefen Schatten hinter dem riesigen Kamin, wo eine schmale Tür zu den Kellergewölben führte. Von dort konnte sie in das Labyrinth von Gängen unter dem Schloß gelangen. Sie blieb jedoch noch einen Moment lang stehen, die Hand auf dem Türgriff, bereit wegzurennen, falls es nötig war.
»Was versteckst du da, du gefräßiges Vieh?« Die Stimme des Mannes war tief und seltsam sanft. »Hast du keine Angst vor der Küchenfee?«
Joanna preßte ihr Gesicht an die warmen Steine, während sie lauschte. Am freundlichen Schwanzwedeln des Hundes und dem leisen Lachen des Mannes erkannte sie, daß er die Zuneigung des Tieres bereits gewonnen hatte.
»Oh, ich merke schon, du wirst Schwierigkeiten bekommen. Du bist ein Dieb, nicht wahr? Ein Stück Käse. Ein Kapitalverbrechen, wenn die Köchin es herausfindet, mein Junge. Hmm. Ich werfe ihn dir jetzt hin, du sabberndes Biest.«
Joanna war sich bewußt, daß sie besser gehen sollte, aber sie konnte nicht. Die Neugier ließ sie verharren, und sie hätte zu gerne das Gesicht gesehen, das zu der Stimme gehörte.
»Du möchtest also spielen? Willst du, daß ich dich jage?«
Wahrscheinlich war er einer der Männer des neuen Laird.
»Dazu ist es doch schon viel zu spät, mein Junge. Na gut. Bring ihn her, dann werfe ich ihn für dich. Aber nur ein Mal, hörst du?«
Der Hund knurrte verspielt, und das leise Lachen des Mannes brachte Joanna zum Lächeln.
»Auch noch schlau! Und das bei einem schottischen Schäferhund aus dem Highlands!«
Ein Lowlander also, dachte sie. Joanna beugte sich leicht vor und beäugte den Mann im schwachen Schein des Kaminfeuers. Genau wie sie sich vorgestellt hatte, saß er mit dem Rücken zu ihr auf der Tischkante. Im Moment war er damit beschäftigt, die Käsekugel aus der Schnauze des Hundes zu winden.
»Zwing mich nicht, grob zu werden!«
Sie musterte seine breiten Schultern. Der Krieger war bei weitem größer als jeder der Männer, die im Dienst ihres Vaters gestanden hatten. Als er für einen Augenblick aufstand, zog sie sich sofort wieder zurück, aber er beugte sich nur über den Hund. Er war ein Hüne, und nicht nur für einen Lowlander. Sein langes dunkles Haar war im Nacken mit einem Band zusammengebunden. Während er mit dem Hund rangelte, wandte er ihr kurz sein Gesicht zu, und sie konnte sein gutgeschnittenes Profil erkennen. Ihr Herz schnürte sich zusammen, und sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Was ist los mit mir, dachte sie und rang nach Atem.
Was spielte es schon für eine Rolle, ob der Mann gut aussah? Das konnte ihr, einem Geist, doch gleichgültig sein! In der dunklen Küche spielte einem die Fantasie schon einmal einen Streich, und vielleicht war er im Tageslicht der häßlichste Mann Schottlands, obwohl sie es nie sehen würde. Vielleicht war das hier der richtige Platz für sie beide, dachte sie ärgerlich. Im Dämmerlicht würde er wahrscheinlich noch nicht einmal ihre Verunstaltungen erkennen. Mit zitternden Händen zog sie ihre Kapuze tiefer ins Gesicht. Nein, so blind war niemand.
»Als dein Laird befehle ich dir, den Käse mit mir zu teilen. Oh, du bist gemein! Jetzt hast du ihn ganz alleine gefressen!«
Laird! Rasch zog Joanna sich hinter die Feuerstelle zurück. Mit grimmigem Gesicht schlüpfte sie durch die Tür in den dunklen Gang hinaus. Schweigend eilte sie die engen, gewundenen Steintreppen zum Kellergewölbe hinab, bis sie weit von der Küche entfernt war. Erst dann blieb sie stehen, um Luft zu schöpfen, und lehnte sich schwer ahnend an die rauhe Steinwand.
Laird! Sie wünschte, sie hätte ihn nie gesehen. Es wäre viel einfacher gewesen, seinen Tod zu beklagen, wenn sie ihn nie gesehen hätte. Die arme Seele, dachte sie und ging rasch weiter. Gegen das Böse, das ihn umgab, würde er keine Chance haben.
Der Geruch von Feuer und Qualm hing wie ein Pesthauch in der Luft.
»Es tut mir weh, Ironcross Castle so zu sehen, Mylord.« Allans Stimme klang gepreßt. »Von außen sieht es unversehrt aus, aber hier drinnen …« Der Verwalter sah Gavin an und schüttelte den Kopf.
Gavin gab keine Antwort, sondern ging weiter die in einem weiten Bogen angelegte Treppe hinauf. Sie wollten in das zweite Stockwerk und waren schon beinahe da. Gavin blickte durch die geborstenen Stufen in den stahlgrauen Himmel hinauf.
»Aye«, sagte Allan, der dem Blick seines Herrn gefolgt war, »hier regnet es herein.«
Der neue Laird grunzte zustimmend und kletterte über einen verbrannten Balken in den Korridor hinein.
»Dieser Teil des Schlosses wirkt viel neuer als der Rest«, sagte Gavin. Das Ausmaß der Zerstörung war gewaltig, aber er begann schon darüber nachzudenken, wie das Gebäude gerettet werden könnte. Er würde seine Männer anweisen, den ganzen Schutt hier herauszuschaffen, erst dann konnte man feststellen, wie solide das Mauerwerk noch war.
»So ist es, Mylord«, erwiderte Allan. »Dieser Flügel wurde von Sir Duncan MacInnes erbaut, dem Vater der drei letzten Lairds. Gott schenke ihren Seelen Frieden.«
Gavin blickte zu den zersplitterten Balken empor. Die Decken im Südflügel waren hoch, und in diesem Stockwerk ging der Korridor auf den Garten hinaus. Die hohen, schmalen Fenster ließen Licht und Luft herein. Ein paar Türen auf der rechten Seite hingen nur noch lose in den Angeln, und alles war voller Staub und Spinnweben. »Wie ist Duncan gestorben?«
»Duncan?« wiederholte der Verwalter überrascht. »Die arme Seele.« Er schwieg. »Das ist schon so lange her. Mehr als zwanzig Jahre sind vergangen, seit …«
»Ihr wart doch damals schon Verwalter auf Ironcross, Allan, nicht wahr?«
»Jawohl, Mylord.«
Gavin musterte den Mann neben sich kritisch. »Und dann könnt Ihr Euch nicht erinnern, wie Euer Herr gestorben ist?«
»Jawohl, Mylord. Natürlich erinnere ich mich«, erwiderte Allan rasch. »Eure Frage hat mich nur überrascht. Bei einem Sturz vom Pferd erlitt er tödliche Kopfverletzungen. Das war ein trauriger Tag für Ironcross Castle.« Der alte Mann blickte auf seine Füße. »Er war auf der Jagd.«
»Wer jagte mit ihm?« Gavin ging langsam den Korridor entlang, wobei er jedes Brett prüfte. Allan folgte ihm.
»Wer mit ihm jagte?« Der Verwalter kratzte sich am Kopf. »Nun, damals lebten noch viel mehr Menschen hier auf dem Schloß. Laßt mich überlegen. Ich glaube, Alexander, der älteste der Jungen, war bei ihm, und natürlich die Jäger und die Knechte. Lady MacInnes war damals in Stirling. Sie hat in diesen Jahren nur wenig Zeit auf Ironcross verbracht. Nun, ich glaube … jawohl, Lord Athol, der Vater des heutigen Earl, war auch mit auf der Jagd.«
Gavin hob die Hand. Weiter hinten im Gang war ein kratzendes Geräusch zu hören. Gavin zog leise sein Messer aus dem Gürtel. Sie waren kaum zwei Schritte weitergegangen, als eine Ratte im Flur auftauchte und bei ihrem Anblick wieder ins Zimmer huschte.
Der neue Laird steckte das Messer wieder in die Scheide und wandte sich zu dem Verwalter. »Ich möchte, daß Ihr die Knechte und jeden verfügbaren Jungen auf Rattenjagd schickt. Das ganze Schloß soll vollkommen von diesen Schädlingen gesäubert werden.«
»Aye, Mylord.« Allan versuchte, seine Überraschung über einen so außergewöhnlichen Wunsch nicht allzu deutlich zu zeigen. »Wie Ihr wünscht.«
Gavin haßte Ratten. Er wußte, daß sie überall waren, in jedem Schloß und jeder Hütte in Europa. In Florenz, in Paris und sogar im wiederaufgebauten Edinburgh, aber er haßte sie, und auf seinem Besitz wollte er sie nicht haben, wenn er etwas dagegen unternehmen konnte.
Gavin wandte dem Verwalter wieder den Rücken zu und blickte in das Zimmer, vor dem sie standen. Auch dort hatte der Brand schlimm gewütet, und überall lagen angesengte, zerbrochene Möbelteile herum.
»Das war das Arbeitszimmer des Lairds, Mylord«, sagte Allan. »Sir John, Euer Vorgänger auf Ironcross Castle, hielt sich häufig in diesem Zimmer auf. Er war ein großer Gelehrter – anders als sein Vater oder seine beiden Brüder.«
Als Gavin weiter den Gang entlanggehen wollte, fiel sein Blick auf eine halb geöffnete Tür in der hölzernen Wandverkleidung. Dahinter verbarg sich ein kleines Gelaß, in dem ein paar Bücher auf einem Regal lagen, die vom Feuer verschont geblieben waren. Überrascht nahm Gavin sie heraus.
»Ah, Mylord«, sagte Allan entschuldigend und nahm die Bücher entgegen. »Ich hätte sie nach dem Feuer ins alte Schloß bringen lassen sollen. Es tut mir leid, daß ich meine Pflichten vernachlässigt habe. Aber jetzt, da Ihr hier seid, werde ich …«
Doch Gavin hörte den Verwalter nicht mehr. Er blickte gebannt auf das Gemälde, das über dem kleinen Kamin hing, und auf einmal existierte nichts mehr um ihn herum. Er betrachtete die goldenen Haare der jungen Frau, ihre elfenbeinweiße Haut, die gerade Nase und den geschwungenen Mund, der die Andeutung eines Lächelns verriet. Aber es waren vor allem die Augen, die tiefblauen Augen, die ihn faszinierten. Trotz der dunklen Rußflecken, die das Gemälde zur Hälfte bedeckten, lachten diese fast violetten Augen, leuchteten vor Lebensfreude, strahlten vor jugendlicher Unschuld.
»Das war Mistress Joanna, Mylord. Sir Johns Tochter.«
Bei den Worten des Verwalters zuckte Gavin zusammen und drehte sich um.
»Gott schenke ihrer Seele Frieden«, fuhr Allan ehrerbietig fort. »Sie war eine bezaubernde junge Frau, innerlich und äußerlich. Es ist ein Jammer, daß sie so jung sterben mußte.«
Gavin blickte wieder zu dem Porträt. Joanna MacInnes.
»Wir kannten sie hier nur flüchtig, da ihr der Laird nicht erlaubte, längere Zeit auf Ironcross zu bleiben. Sie ging in Paris zur Schule und wurde dort zur Hofdame ausgebildet. Obwohl die junge Frau ihre Besuche im Nordland liebte, wollte Sir John, daß sie bei seiner Mutter, Lady MacInnes, in Stirling blieb.« Der Verwalter schüttelte den Kopf. »Wenn Ihr sie gekannt hättet, Mylord, Ihr hättet geglaubt, einem Engel zu begegnen. Sie war so freundlich und mitfühlend. Nicht so wie die Damen, die Thomas, Sir Duncans zweiter Sohn, hierherbrachte.«
Gavin blickte wieder auf ihre Augen. Sie waren vollkommen offen, ohne das leiseste Anzeichen von Arg.
»Es war sehr traurig«, fuhr Allan fort. »Aber das ist es wohl immer, wenn eine so junge Frau stirbt.« Gavin trat noch einen Schritt auf das Gemälde zu. »Sie war die erste MacInnes, die den Frauen in der Abtei Interesse entgegenbrachte.«
Gavin tat noch einen weiteren Schritt und drehte sich dann zu dem Verwalter um.
»Sagt mir«, begann er, »waren sie und Mater …« Er konnte den Satz nicht mehr beenden. Plötzlich gab der Boden unter ihm nach und tat sich auf.
Joanna richtete sich kerzengerade auf ihrem Strohlager auf.
Das markerschütternde Krachen brachte den ganzen Südflügel zum Beben. Mit klopfendem Herzen saß sie da wie erstarrt, unfähig, sich zu bewegen. Das mußte der neue Laird gewesen sein. Er war tot! Schon wieder ein Leben verschwendet … und wofür?
Verdammt, Joanna MacInnes, fluchte sie leise. Wann wirst du endlich den Mut finden, diesem Fluch ein Ende zu setzen? Wie viele müssen noch sterben, bevor du endlich handelst?
»Mylord!«
Gavin hing hoch in der Luft und hielt sich mit den Fingern mühsam an einem vorstehenden Balken fest. Er ignorierte den Verwalter und versuchte, sich hochzuziehen. Beim zweiten Versuch gelang es ihm, sich auf das schmale verbleibende Stück des Fußbodens im Arbeitszimmer zu hangeln.
»Diese Böden, Mylord!« rief der Verwalter von der anderen Seite des Zimmers. »Man kann nie wissen, wo sie noch heil sind! Da war ein guter …«
»Genug, Allan!« unterbrach ihn Gavin und richtete sich langsam auf, während er das klaffende Loch im Fußboden betrachtete. »Holt Hilfe! Edmund überprüft gerade die Festungsmauer. Und bringt wenigstens ein Seil mit!« Als der alte Mann zögerte, fügte er nachdrücklich hinzu: »Los, Mann, bevor der Rest des Bodens auch noch einbricht.«
Eilig rannte der Verwalter den Gang entlang zur Treppe.
Gavin lehnte sich an die Wandtäfelung und blickte sich im Zimmer um. Langsam beruhigte sich sein Herzschlag wieder. Fast wäre er abgestürzt. Beinahe, dachte er und betrachtete das klaffende Loch und die schwindelerregende Tiefe.
Dann hörte er es deutlich. Über seinem Kopf knarrte eine Bohle. Er blickte zur rußgeschwärzten Decke. Noch eine Ratte? Wieder knarrte es. Er versuchte, sein Gewicht zu verlagern. Wenn es eine Ratte war, mußte sie sehr groß sein. Sie bewegte sich auf die Wand zu, an der er lehnte.
Aufmerksam lauschte er. Stille. Er wartete, aber es blieb still.
Die Täfelung klemmte ein wenig, bevor sie unter dem Druck ihrer Hand nachgab. Joanna drückte sie zögernd auf, lauschte einen Moment lang und schlüpfte dann in den dunklen Gang zwischen den Mauern.
Der schmale Tunnel bekam ein wenig Licht durch ein Loch im Dach. Joanna ging zu einer Leiter, die zu dem darunterliegenden Gang führte und von dort zu den Geheimgängen unter dem Schloß. Vorsichtig kletterte sie immer weiter hinunter.
Gavin blickte auf das Porträt über dem Kamin. Es hing ein ganzes Stück weit weg von der Ecke, in der er stand. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er versuchen solle, dorthin zu kommen, aber die Bohlen waren zu schmal und morsch.
Ein schwaches Knirschen von Holz auf Holz kam aus der Täfelung hinter ihm, und als Gavin herumwirbelte, wäre er fast wieder abgestürzt.
Um Gleichgewicht ringend, drückte er sich in die Ecke und untersuchte die Wandtäfelung. Ein Brett vibrierte leicht.
Joanna lauschte sorgfältig auf Geräusche von der anderen Seite der Vertäfelung. Sie war sich ziemlich sicher, daß der Lärm und die Schreie aus diesem Zimmer gekommen waren, aber jetzt war nichts mehr zu hören.
Sie hatte die Hand bereits auf dem Türgriff und spielte mit dem Gedanken, in den Gängen unter dem Schloß bis zur Dunkelheit zu warten, um dann in Erfahrung zu bringen, was geschehen war. Wenn der neue Laird bereits tot war, war es sinnlos, daß sie sich jetzt in Gefahr brachte.
Trotzdem nagte die Ungewißheit an ihr, und sie konnte es nicht mehr erwarten. Sie drückte den Griff auf und begann das Brett wegzuschieben.
»Mylord!«
Der Ruf von der anderen Seite der Vertäfelung ließ Joanna erstarren, weil er so nahe war. Noch schlimmer jedoch war der Anblick des neuen Laird, dessen Kopf sie durch die schmale Öffnung direkt vor sich sah. Zum Glück hatte er das Gesicht dem Arbeitszimmer zugewandt, da der Ruf, offensichtlich von unten, erneut zu hören war.
Erschreckt schloß Joanna die Öffnung so leise wie möglich wieder. Sie preßte ihre Hände gegen das Holz und atmete tief durch. Zum ersten Mal seit Monaten war sie unvorsichtig gewesen und wäre fast entdeckt worden. Sie mußte sich zusammenreißen. Sie mußte weg von hier. Sie preßte die Knöchel gegen die Stirn und schloß die Augen. Sie zitterte am ganzen Körper, und ihre Beine gehorchten ihr nicht mehr.
Gavin drehte sich wieder zur Täfelung um – er fuhr mit den Fingern über das rauhe Holz und untersuchte jede Unebenheit. Er hätte schwören können, daß sich noch vor einem Moment dort etwas bewegt hatte.
»Mylord!« Edmund war im Arbeitszimmer angelangt. »Der verdammte Fußboden … Bei der heiligen Jung … was für ein Durcheinander … Gavin, seid Ihr verletzt?«
Hinter der Wand war etwas. Gavin konnte es förmlich spüren. Wer mochte dort sein, fragte er sich. Er wußte, daß es in anderen Schlössern Geheimgänge gab. Und wenn es sich hier ebenso verhielt, konnte jemand unbehelligt durch diesen Flügel gehen. Gavin schlug fest gegen die Wand. Er fühlte, wie sich ein Teil der Vertäfelung bewegte. Als er auf die Kante drückte, verschob sich das Brett leicht. Der Boden unter ihm knackte, und er hielt inne. Auf der anderen Seite der Täfelung war ein scharrendes Geräusch zu hören, und er vernahm deutlich, wie sich jemand eilig entfernte.
»Mylord?«
Gavin ignorierte den Mann und drückte sein Ohr fester gegen das Holz.
»Was ist denn dahinter, Allan?«
Der alte Mann schwieg einen Moment und meinte dann: »Die Mauer?«
»Haltet Ihr mich für beschränkt?« grollte Gavin und funkelte den Verwalter drohend an. »Ihr wart doch schon hier, als dieser Flügel erbaut wurde. Wollt Ihr mir erzählen …«
»Es wurden damals Geheimgänge angelegt«, erwiderte der Mann rasch. »Aber nur der Laird wußte … die Geheimgänge führten zu den Höhlen unter den Hügeln und zum See. Aber seit Duncans Zeiten ist niemand mehr in den Höhlen gewesen, Mylord.«
»Wie macht man das auf?« unterbrach Gavin ihn. »Dieses Brett hier ist der Zugang, nicht wahr?«
Als Allan schwieg, sagte Edmund: »Mylord, wenn Ihr mir erlauben wolltet, Euch wenigstens mit diesem Seil zu sichern, für den Fall, daß der Fußboden …«
»Wie öffnet man das verdammte Ding?«
Sein ärgerlicher Tonfall brachte den alten Mann zum Reden. »Im Gelaß … dort an der Ecke der Außenmauer … ja, da … ein kleiner Eisenring …«
Gavin schob sich vorsichtig vorwärts und griff hinein. Mit den Fingern ertastete er den Metallring. Er zog daran und sah befriedigt, daß das Brett, vor dem er gestanden hatte, einen Spaltbreit zur Seite glitt.
»Mylord, Ihr habt doch wohl nicht vor, alleine dort hineinzugehen«, fragte Edmund beunruhigt.
»Wenn Ihr erst einmal unter dem Schloß seid, findet Ihr Euch in den Geheimgängen nicht mehr zurecht«, stimmte Allan ihm zu. »Einer der Gehilfen des Baumeisters ist in diesen Gängen verschwunden. Selbst für diejenigen, die sich dort auskennen, ist es gefährlich. Es gibt tiefe Abgründe. Der Junge wurde nie wieder gefunden, Mylord, und er war nicht der einzige!«
Gavin trat zu dem Brett und zog es ganz beiseite.
»Bitte, Mylord«, drängte Edmund, »erlaubt mir wenigstens, mit Euch zu kommen.«
»Versucht, zum Kamin zu gelangen.« Der Lowlander drehte sich zu seinem rothaarigen Krieger um. Mit den Augen wies er auf das Porträt von Joanna MacInnes. »Bringt das Gemälde zum alten Schloß und stellt es in mein Zimmer.«
Ohne ein weiteres Wort zwängte sich Gavin durch die schmale Öffnung und verschwand in dem dunklen Gang.
Der schmale Rücken der alten Frau war gebeugt unter der Last der schweren Taschen, die sie trug. Mühsam schleppte sie sich vorwärts. Als sie weitere Kräuter erblickte, stützte sie sich mit ihrer gichtigen Hand auf den Felsen und zog an der Pflanze. Die hartnäckige Wurzel wollte nicht herauskommen.
Die Luft war noch schwer von Feuchtigkeit, obwohl die Sonne durch die schweren Wolken gebrochen war. Die Frau zog abermals an der Pflanze und wischte sich mit der anderen Hand den Schweiß von der Stirn, wobei sie eine erdige Spur an ihrer Schläfe hinterließ. Erleichtert seufzte sie auf, als das Kraut sich endlich herausziehen ließ. Sie säuberte es und steckte es sorgfältig in eine der Ledertaschen. Mühsam richtete sie sich auf.
»Mater«, ertönte eine vorwurfsvolle Stimme hinter ihr. »Warum müßt Ihr bei der Hitze beide Taschen tragen? Laßt mich Euch helfen.«
Die alte Frau winkte ab und fuhr mit ihrer Suche fort. Als die jüngere Frau sie jedoch einen Moment später erreicht hatte und ihr eine der Taschen abnahm, wehrte sie sich nicht.
»Wir anderen können weitersuchen. Ihr solltet in Eurem Alter nicht immer allein für alle sorgen.«
»Da ist noch eins«, erwiderte Mater und bückte sich nach einem weiteren Kraut. »Was gibt es für Neuigkeiten aus dem Schloß?«
»Molly ist zu Besuch zu ihren Schwestern gekommen. Sie hat erzählt, heute morgen habe es einen … Unfall … im Südflügel gegeben. Der Laird hatte darauf bestanden, daß Allan ihm das Ausmaß des Schadens im Südflügel zeigte.«
»Ich wußte, daß ihn nichts davon abhalten würde. Was ist geschehen?«
»Der Fußboden unter ihm stürzte ein, aber er blieb unverletzt.«
Mater schwieg einen Moment lang, nickte und ging dann den Hügel hinunter auf die Ruine der Abtei zu. »Gibt es sonst noch etwas?«
Die junge Frau ging neben ihr her. »Wie sein Mann Euch gestern bereits gesagt hat, erzählt auch Molly, daß er vorhat, der Abtei einen Besuch abzustatten.« Sie blickte die alte Äbtissin an. »Wollt Ihr ihn sehen, Mater?«
Mater blieb stehen und blickte zum Himmel empor. »Ich habe keine andere Wahl. Ich will ihn sehen … wenn er noch lebt!«
Die alte Kapelle schmiegte sich an den Felsen in der südöstlichen Ecke des Schlosses. Darunter lag das graue Wasser des Sees. Abgesehen von einem niedrigen Bogengang, der zu dem kleinen Kirchhof führte, hatte der neue Südflügel die Kirche völlig vom Schloßhof abgetrennt.
»Das ist ein elender Ort«, giftete der teiggesichtige kleine Priester und starrte finster auf das Gebäude. »Im Sommer heißer als die Hölle und im Winter windiger als Luthers Arsch. Es ist kein Wunder, daß die Pächter nichts damit zu tun haben wollen.«
Wie wahr, dachte Gavin und betrachtete den verbitterten Gesichtsausdruck des Mannes. Kein Wunder.
»Sie sind nicht besonders gläubig hier in dieser Gegend, wißt Ihr, doch sie sehnen sich nach Trost. Sir John MacInnes, der letzte Laird, hat mir versprochen, die Kapelle instand zu setzen, aber er hat es nicht getan.«
»Zeigt mir das Innere, Father William«, befahl Gavin und ging auf das Gebäude zu.
»Ja, gewiß«, erwiderte der Geistliche. »Allerdings würde es mich sehr wundern, wenn Ihr irgend etwas Bemerkenswertes darin finden würdet.«
Gavin gab keine Antwort, obwohl er die Einstellung des Priesters ausgesprochen merkwürdig fand. Father William drückte die schwere Eichentür auf.
»Nicht so, wie es einmal gewesen ist. Keine Frömmigkeit. Kein Pflichtgefühl. Seit dem Tod von Sir John haben fast alle seine Pächter … Eure Pächter … ihre Habseligkeiten gepackt und sind nach Norden auf das Land des Earls of Athol gezogen.«
Es waren aber nicht alle gegangen, dachte Gavin. Einer von ihnen, da war er sich sicher, war das angebliche Gespenst, das im Südflügel spukte.
Als Gavin in den schmalen Geheimgang hinter der Wand im Arbeitszimmer geschlüpft war, hatte er sofort die Leiter gefunden, die zum Obergeschoß führte. Die oberen Zimmer waren früher einmal komfortabel eingerichtet gewesen, aber jetzt lag alles in Schutt und Asche. Gavin ging vorsichtig durch alle Räume, wobei er sorgfältig darauf achtete, daß nicht wieder der Boden unter ihm nachgab. Schließlich war er in das Turmzimmer gelangt, in dem sich am Tag seiner Ankunft der Fensterladen geschlossen hatte.
Dort verriet ihm das Strohlager, eine angesengte Decke, ein paar Lumpen und eine Holzschüssel, daß er recht gehabt hatte. Jemand hatte Zuflucht im Turm gesucht, und wahrscheinlich war er aus den Höhlen unter dem Schloß durch die Geheimgänge hierher gelangt.
Wenn das, was der Priester gerade gesagt hatte, stimmte, dann mußte der Fremde ein Pächter sein. Der Lowlander hatte so viele Geheimgänge in dem ausgebrannten Flügel erkundet, wie er konnte, aber er hatte davor zurückgescheut, in die Gänge unter dem Schloß einzudringen. Dafür würde er eine Fackel brauchen und sicher auch einen Führer.
Eigentlich, dachte er, könnte er jetzt ganz gut eine Fackel gebrauchen. Die Kapelle war so dunkel und staubig, daß den Worten des Priesters wenig entgegenzusetzen war. Durch die spärlichen, schmalen Fenster drangen nur wenig Licht oder Luft in den geweihten Raum. Keine wertvollen Ornamente verzierten den Altar. Nur ein mit Eisennägeln beschlagenes Holzkreuz hing über dem Altar. Das war alles.
Gavin blickte sich um und wies auf die Treppe, die in die Tiefe führte. »Die Krypta?«
»Ja, Mylord.« Die Verachtung in der Stimme des Mannes war unüberhörbar, und obwohl Gavin sich nicht ganz sicher war, wem sie galt, wurde er des kleinen Mannes rasch überdrüssig.
»Holt eine Kerze!«
Als der Priester mit einer brennenden Kerze wiederkam, stieg Gavin die Stufen zur Krypta hinunter. Es war ein niedriger, viereckiger Raum, an dessen Wänden steinerne Sarkophage aufgereiht waren. Auf manchen lagen die marmornen Abbilder der Ritter, ihre Schwerter neben sich. Während William etwas über die offensichtliche Überlegenheit früherer Generationen von sich gab, entdeckte Gavin einen niedrigen Durchgang, der in einen anderen Bereich des stickigen Raums führte.
»Sir Duncan hat diesen Teil vor meiner Zeit hier bauen lassen. Jenes mit der Steinfigur ist sein Grab. Seine Söhne hatten leider keine Gelegenheit mehr, Vorsorge für ihre eigene Beerdigung zu treffen.«
»Wo liegen Sir John, seine Frau und seine Tochter?«
In dem flackernden Licht der Kerze wirkte Williams Gesicht gelb und ungesund, und er schien zu zögern, bevor er antwortete.
»Auf dem Kirchhof, Mylord.«
Gavin starrte den Mann einen Moment lang an. »Ich möchte sehen, wo Ihr sie beigesetzt habt.«
»Ja. Hier entlang.«
Auf dem Weg zum Kirchhof überlegte Gavin, was zu tun wäre, um die früheren Lairds und ihre Familien in die Krypta umzubetten.