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Der Stoff, aus dem die Träume sind — Romantik und Gefühle pur Schon so Iange sie denken kann, lebt Tessa fernab der Zivilisation auf einer winzigen Insel vor der schottischen Küste.Doch eines Tages stört ein Fremder das einsame Idyll: Colin, der Schiffbruch erlitten hat, wird an die Küste der Isle of May gespült. Und er bringt nicht nur Unruhe in Tessas Leben, sondern auch Licht ins Dunkel ihrer Vergangenheit… Düstere Geheimnisse aus längst vergangenen Tagen, arglistige Adelige, dunkle Intrigen und mutige Mädchen, die gegen alle Widerstände um ihr Glück kämpfen! Eintauchen in das goldene Zeitalter der Dukes und Baronessen, der herrschaftlichen Landsitze und rauschenden Bälle und Seite für Seite mitfiebern mit den jungen Heldinnen, die ihr Leben kühn in die Hand nehmen und ihrem Herz folgen... Für Fans von "Braveheart" und dem wildromantischen schottischen Hochland.
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Seitenzahl: 311
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Tessa und der Highlander
Copyright © 2024 von Nikoo K. und James A. McGoldrick, Book Duo Creative. Alle Rechte vorbehalten.
© 2002 der Original by Nikoo and James A. McGoldrick
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel Tess and the Highlander bei Avon True Romance, HarperCollins Books
Dies ist eine fiktive Geschichte. Alle Charaktere, Organisationen und Ereignisse, die in diesem Roman dargestellt werden, sind entweder Produkte der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet.
Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder auf elektronischem oder mechanischem Wege, einschließlich Informationsspeicher- und -abruftsystemen, reproduziert werden, mit Ausnahme von kurzen Zitaten in einer Buchbesprechung.
Umschlagillustration Dar Albert, Wicked Smart Designs
Für Cyrus und Samuel,
Unsere eigenen jungen Helden
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Also by May McGoldrick, Jan Coffey & Nik James
Über den Autor
Die Insel May vor der Firth of Forth
Schottland, März 1543
Tessa stieß den leblosen Körper mit einem Stock an und trat zurück.
Ihr ungebändigtes rotbraunes Haar, vollkommen durchnässt vom peitschenden Regen, fiel ihr in die Augen, als sie sich wieder vorbeugte, um ihn noch einmal aus der Nähe anzusehen.
Der Highlander schien tot zu sein, aber sicher war sie sich nicht. Langes blondes, verfilztes Haar verdeckte sein Gesicht. Die hohen Lederstiefel waren ganz dunkel vom Salzwasser. Der Mann trug ein zerrissenes Hemd, das einmal weiß gewesen sein musste. Sein karierter Umhang, der von einer silbernen Brosche an einer Schulter festgehalten wurde, trieb auf dem Wasserbecken. Ein breiter Gürtel hielt seinen Kilt zusammen, und unter ihm hervor ragte ein Dolch, der mit jeder Welle gegen seinen entblößten Schenkel schlug.
Ein Dutzend Seehunde beobachtete Tessa aus dem tiefen Wasser hinter der Brandung.
Während der Sturm immer noch wütete, stand sie unentschlossen über den Körper gebeugt. In all den Jahren, die sie auf der Insel verbracht hatte, war nicht ein einziges Mal ein Mensch an Land gespült worden. Natürlich hatte es nach Stürmen Wracks gegeben, die an der Seeseite angetrieben worden waren, und Auld Charlotte und Garth fanden dort immer wieder alles mögliche Strandgut — einiges wertvoll, anderes vollkommen nutzlos. Aber niemals war ein menschliches Wesen angeschwemmt worden — jedenfalls nicht, seit der alte Mann und seine Frau vor elf Jahren Tessa selbst gefunden hatten.
Tessa drängte diesen Gedanken beiseite und kauerte sich neben den Mann. Zögernd legte sie ihm eine Hand auf die Brust. Ein schwaches Pochen unter dem Hemd war die Antwort auf ihre Gebete ... und ihre Angst. Sie wollte nicht, dass irgendjemand auf ihre Insel und in ihr Leben eindrang. Sie konnte es aber auch nicht zulassen, dass ein lebendiges Wesen zu Tode kam, solange sie es zu retten vermochte. Oder ihn.
Die Brandung donnerte über den Ring aus Felsen, der das Tidenbecken vom Meer trennte, und die junge Frau erhob sich. Sie zog ihren Lederumhang enger, um sich vor der windgepeitschten Gischt zu schützen. Als sie wieder auf den Körper blickte, hatte eine Welle ihn tiefer in das Becken gedrückt, und sein Gesicht lag im Wasser.
Tessa ließ sofort den Stock fallen und hob seinen Kopf an. Sie blickte sich suchend um und entdeckte einen flachen Felsen am anderen Ende des Beckens. Er lag höher, als die Flut normalerweise stieg. Vorsichtig rollte sie den Highlander herum und hielt ihn dabei unter den Armen, als wieder eine Welle über den Rand des Beckens hereinbrach. Der Körper trieb einen Moment auf der Oberfläche und schnell zog sie ihn durch das Wasser auf den Felsen zu.
Er war schwerer, als sie gedacht hatte. Vollkommen außer Atem, schaffte sie es aber schließlich doch, ihn so hochzuziehen, dass er in Sicherheit war.
Auld Charlotte hatte ihr einmal erzählt, dass sie sie selbst in genau diesem Meeresbecken gefunden hatten, bereits halb ertrunken. Dieser Gedanke schoss ihr jetzt durch den Kopf. Sie versuchte, sich an den Sturm zu erinnern und an das Schiff und den Tag, aber schon vor langer Zeit hatten sich diese Erinnerungen in Albträume verwandelt. Zu tief war dies alles in ihr vergraben, als dass sie es wirklich hätte aufleben lassen können. Sie fragte sich, ob es damals ein Tag wie dieser gewesen war.
Ihr Blick fiel auf den Dolch an der Seite des Highlanders und Tessa griff rasch danach, riss das Messer aus der Scheide und steckte es in ihren eigenen Gürtel.
Der Wind heulte und die salzige Gischt peitschte erbarmungslos ihr Gesicht. Tessa blickte auf die schäumende graugrüne See, in der schwachen Hoffnung, irgendwo ein Boot zu entdecken, das auf der Suche nach dem Mann war, der hier bewusstlos neben ihr lag.
Wenn sie kämen, würde sie sich auf keinen Fall blicken lassen. Sie wollte nicht, dass man auf dem Festland von ihrer Anwesenheit auf der Insel wusste.
Sie war erst sechs Jahre alt gewesen, als das Schiff gesunken war und das Meer sie an Land gespült hatte. Aber die wenigen Erinnerungen, die sie aus der Zeit vor diesem Tag zuließ, waren zu schmerzlich. Nie wieder wollte Tessa der schrecklichen Vergangenheit ausgesetzt sein. Es gab auf der ganzen Welt keinen anderen Ort, an dem sie lieber sein wollte als an diesem hier. Die Insel war die einzige Heimat, die ihr geblieben war.
Elf Jahre lang hatte das zurückgezogen lebende Paar ihre Existenz geheim halten können. Nun, da die beiden tot waren, konnte Tessa nur darum beten, ihr Leben wie gewohnt weiterführen zu dürfen — ungestört.
Sie würde genau dasselbe tun wie schon dutzende Male zuvor, seit sie an Land gespült worden war. Immer wenn ein Fischerboot oder irgendwelche Pilger auf die Insel zu kommen drohten, hatten Garth und Charlotte sie mit reichlich Proviant und Decken versorgt und in den Höhlen an der Westküste versteckt. Dort blieb sie in Sicherheit, bis die Luft wieder rein war und die Besucher wieder verschwunden waren.
Der einzige Unterschied war nun, dass sie selbst beurteilen musste, wann es sicher war, wieder herauszukommen.
Gerade wollte sie sich aufrichten, als Tessa ein Gefühl der Neugier durchfuhr, und sie strich dem Highlander das nasse Haar aus dem Gesicht. Sofort bereute sie es, denn die Züge des Mannes überwältigten sie. Obwohl er bewusstlos war, oder vielleicht gerade deshalb, sah er ausgesprochen gut aus. Eine hohe Stirn, eine gerade Nase, das Gesicht ohne Bart, ganz entgegen ihrer Annahme, dass alle Highlander bärtig waren. Keine Narbe versehrte seine Haut — noch nicht. Nur ein paar Schrammen und Kratzer, die ihm die Brandung beigefügt hatte.
Verärgert, dass sie sich hatte ablenken lassen, erhob sie sich, rutschte aber mit einem Fuß ab und musste sich mit der Hand auf seiner Brust abstützen, um sich wieder zu fangen. Plötzlich öffneten sich seine Augen und Tessa stockte der Atem. Blaue Augen in der Farbe des Winterhimmels blickten sie unter langen, dunklen Wimpern an. In dem Blau schimmerten goldene Flecken. Sie rührte sich nicht. Mit angehaltenem Atem verharrte sie einen ewig erscheinenden Augenblick, bis er die Augen wieder schloss.
Dann rutschte sie von dem Felsen und rannte, so schnell und so weit ihre Beine sie trugen.
Der Geschmack in Colin Macphersons Mund war so abscheulich wie ein eingetrockneter Nachttopf.
Als er sich auf die Seite rollen wollte, spürte er, wie sich ihm der Magen umdrehte. Er versuchte, sich hochzustemmen. Er konnte nichts sehen. Seine Hand rutschte von dem nassen, kalten Felsen ab, und er glitt in ein flaches Meeresbecken, wo er sich die Rippen an dem Stein anstieß.
»Verfluchte Hölle!« Er stöhnte laut auf und stützte sich mühsam auf die Knie. Er hielt sich den schmerzenden Kopf und blinzelte ein paar Mal, um den Sand und das Salz aus den Augen zu bekommen.
Felsen. Nichts als Felsen. Und Wasser. Auf- und abtauchende Köpfe. Er wischte sich eine lange, zottige Haarsträhne, die ihn beim Sehen behinderte, aus dem Gesicht und versuchte, den Blick auf die Wesen zu konzentrieren, die sich dort auf den Steinen bewegten.
Seehunde — bestimmt ein Dutzend — beobachteten ihn von den Felsen aus, die das Becken von der offenen See trennten. Ihre braunen Augen waren dunkel und wachsam. Plötzlich sah er das Bild eines Frauengesichts vor sich, und er versuchte mit aller Macht, auf die Füße zu kommen. Ein paar Seehunde bellten den anderen am Strand warnend zu.
»Haaallo!«, rief er mit letzter Kraft, aber Wind und Brandung schlugen seinen Ruf zurück.
Sein ganzer Körper schmerzte. Es hatte ihn alle Mühe gekostet, die Laute aus seiner wunden, rauen Kehle hervorzustoßen. Trotzdem versuchte Colin es noch einmal. Er war sicher, dass erst vor einem Moment noch jemand da gewesen war. Oder war es Stunden her?
»Hallo!«
Dieses Mal waren die Schreie der Seevögel seine einzige Antwort. Mühsam nach Luft ringend, versuchte er, die Füße in dem flachen Becken zu bewegen. Sie reagierten, aber es kam ihm vor, als wären sie aus Blei. Colin schaffte drei Schritte, bevor er sich auf den Rand eines Felsbrockens fallen ließ. Um ihn herum drehte sich alles.
Wasser. Felsen. Rings um das geschützte Tidenbecken ragten nur felsbedeckte Uferböschungen, die hie und da mit Tang überzogen waren, aus der schäumenden See.
Das Schiff der Macphersons war nordwärts gesegelt, als das Wetter sich plötzlich verschlechtert hatte. Was allerdings nicht unvorhersehbar hätte sein sollen. Die Firth of Forth war berüchtigt für ihre tückischen und schnell wechselnden Launen.
Auf halber Strecke nach Aberdour — fünfzig Faden tief — Sir Patrick Spence begraben liegt, umgeben von seinen Chiefs.
Na ja, dachte Colin, er selbst war wenigstens an Land gespült worden ... wo immer er auch sein mochte.
Colins letzte klare Erinnerung war, wie er einen der Matrosen in den Achterdurchgang gestoßen und ihn dadurch in Sicherheit gebracht hatte. Der Junge war nahezu bewusstlos gewesen, nachdem er ein paarmal gegen die Schiffsreling geschlagen war, als das große Schiff immer wieder unter den tobenden Windstößen krängte.
Der Sturm war schnell und heftig aufgekommen, aber sie hatten ihn gut gemeistert. Colin und Alexander, sein ältester Bruder, hatten mit dem zweiten Maat am Ruder gestanden, als der Junge plötzlich stürzte. Das Wasser, das über Deck geschossen kam, hätte ihn beinahe von Bord gespült.
Colin musste eine plötzliche Übelkeit unterdrücken. Wieder spürte er den abscheulichen, salzigen Geschmack im Mund.
Kaum war der Junge in Sicherheit gewesen, da hatte Colin den Mann im Ausguck aufschreien hören. Als dunkler Umriss tauchte backbord Land vor ihnen auf, nicht einmal einen Pfeilschuss entfernt. Und dann war der Schiffskiel auch schon auf eine Sandbank gestoßen.
Colin war hart über Bord geschleudert worden, so viel wusste er noch, dann war er von der See ergriffen worden, um gleich darauf in die Tiefe gezogen zu werden. Nachdem er eine Ewigkeit lang im Dunkel des Meeres um sich geschlagen hatte, kam er schließlich spuckend und prustend an die Oberfläche. Er hatte nur kurz das heulende Kreischen des Windes gehört, bevor ihn die nächste krachende Welle erneut unter Wasser gedrückt hatte. Irgendwie hatte er dies alles überlebt, er hatte allerdings keine Ahnung, wie.
Er erblickte einen Seehund, der ihn aufmerksam beobachtete. Einen verrückten Moment lang umnebelte der Gedanke an alte Seefahrerlegenden seine Sinne.
Eine eisige Windbö, die erbarmungslos über das stürmische Wasser tobte, ernüchterte ihn augenblicklich wieder. Er war vollkommen durchnässt und bis auf die Knochen ausgekühlt. Colin schaffte es, auf die Beine zu kommen und aus dem Becken zu klettern.
Wieder durchzuckte das Bild von dunklen Augen, die ihn ansahen, seine Gedanken. Die Augen einer jungen Frau. Er erinnerte sich jetzt besser. Jemand, der ihn durch das Wasser zog und ihn an den Felsen lehnte. Sie war keine Erscheinung gewesen.
Colin stemmte sich in den Wind und ließ den Blick über die Umgebung schweifen.
»Wo bist du?«, rief er gegen den Wind an. Es war weder ein Mensch noch ein Boot, ja nicht einmal ein Baum in Sicht, und der ansteigende felsige Grund vor ihm verdeckte Colin den Blick auf alles, was dahinter lag.
»Und wo bin ich?«, murmelte er vor sich hin.
Das Schiff der Macphersons war zu weit nördlich gewesen, als dass er auf englischem Boden hätte angeschwemmt werden können. Genauso wenig hätte der Sturm sie ganz nach Osten bis zum europäischen Festland treiben können. Dies musste also Schottland sein.
Colin wusste, dass ihn die Kälte, wenn es erst Nacht war, umbringen würde. Er musste herausfinden, wo er war, und an einer geschützten Stelle das Ende des Sturms abwarten.
Er sah sich erneut um. Er wurde das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden, und er glaubte nicht, dass es nur die Seehunde waren. Allerdings war sonst niemand in Sicht. Seine Hand tastete nach dem Dolch, den er immer am Gürtel trug, doch er war weg. Aus dem Treibholz suchte er einen starken Ast aus und begann den Aufstieg.
Er kam nur langsam voran, aber es war kein weiter Weg. Als er den Bergkamm erreichte, ließ er sich auf einen Felsbrocken fallen, der aus dem hohen Gras ragte. Ein Blick und er erkannte die Gegend.
Colin Macpherson war an Bord von Schiffen aufgewachsen. Auf dem Achterdeck neben seinem Großvater stehend, neben seinem Onkel und später seinem älteren Bruder, hatte er diese Küste über die Jahre mehrfach befahren. Colin war mit jedem einzelnen Hafen vertraut, mit jedem Meeresarm, jeder Insel, im Osten zwischen den Shetlands und Dover, zwischen Stornoway und Cornwall im Westen. Er war von Mull nach Frankreich gesegelt und wieder zurück — mehr als ein Dutzend Male. Und er kannte die Geschichte dieser schottischen Küste so gut wie den Namen seines eigenen Clans.
Er war auf May, einer kleinen Insel östlich der Firth of Forth. Unter Seeleuten war sie als Friedhof für gekenterte Schiffe berüchtigt. Viele, die den zerklüfteten Felsen über und unter der Wasseroberfläche zu nahe gekommen waren, hatten an ihrer westlichen Küste ihr Ende gefunden. Und die Sandbänke am östlichen Ende waren mindestens genauso tödlich. Ein Hügel, der höchste Punkt, erhob sich fast genau in der Mitte der Insel. Im Westen fielen Kliffs steil ab zur See. Zu seiner Rechten sah Colin die sanfter abfallende Strecke mit Felsen und Seegras, die bis ans Wasser reichte, zur Linken die niedrigen Mauern und Ruinen von fünf oder sechs Gebäuden eines verlassenen Priorats.
Zu wissen, wo er war, erleichterte Colin ungemein. Hier war er sicher, und es war nur eine Frage der Zeit, bis Alexander sein Schiff wenden und nach ihm suchen würde.
Der schneidende Wind, der von hinten kam, drang durch seine nasse Kleidung, und Colin fror heftig, als er sich weiterkämpfte. Es hieß, die Insel sei einmal ein Wallfahrtsort für gläubige Pilger gewesen und habe Jahr für Jahr viele über das Wasser angezogen. Das Priorat, vor Jahrhunderten erbaut, war einem gewissen heiligen Adrian geweiht, der hier in dunkler Vorzeit von marodierenden Dänen umgebracht worden war.
Während sich Colin den Gebäuden näherte, fiel ihm wieder ein, dass die Mönche die Insel angeblich schon vor Zeiten seines Großvaters verlassen hatten. Jetzt lebten hier nur noch ein alter Mann und seine Frau, die den Pilgern, die hier gelegentlich an Land gingen, zu essen gaben und bei Sturm hohe Leuchtfeuer entzündeten, um die Schiffe zu warnen.
Bevor er von Bord gespült wurde, hatte Colin vom Schiff aus einen kurzen Blick auf die Insel geworfen. Er erinnerte sich jedoch nicht, dort ein Feuer gesehen zu haben. Aber er glaubte auch nicht, dass das Gesicht, das er gesehen hatte — und das sich schon in sein Gedächtnis gebrannt hatte —, das eines alten Menschen gewesen war.
Er schüttelte die Müdigkeit ab, die sich wie dichter Nebel um ihn legte, und ging weiter auf die Steinbauten des alten Priorats zu. In der Senke zu seiner Rechten entdeckte er einige Schafe, die sich aneinander gedrängt gegen den Wind stemmten. Er konnte nicht erkennen, welches der baufälligen Gebäude, die er vor sich hatte, das alte Paar beherbergen könnte.
»Hallo!« Auf seinen Ruf hin stoben die Schafe durcheinander und blökten laut los. Colin wollte, er wüsste etwas mehr über den Schäfer und seine Frau — schon ein Name wäre von Vorteil gewesen. Keine Seele zeigte sich, und die dunkelgrauen Steinhäuser verrieten mit keinem Zeichen, dass irgendein lebendes Wesen darin wohnte.
Er watete durch ein Moor mit kniehohem Gras und fand sich auf einer Art Pfad wieder. Dieser führte an einem kleinen Stück Land entlang, das durch ein Wäldchen aus kurzen, windgekrümmten Kiefern vor dem Westwind geschützt wurde. Die Überreste eines Gartens aus dem vergangenen Sommer ließen darauf schließen, dass das Paar tatsächlich noch auf der Insel lebte.
Erst als er die vorderste Reihe von Gebäuden hinter sich gelassen hatte, bemerkte er Rauch, der einem erst kürzlich erbauten Schornstein auf einem gedrungenen zweigeschossigen Haus entstieg. Als Colin näher kam, staunte er über den ordentlichen Zustand des geschützt liegenden Hofes.
»Ist jemand da?«, rief er die alten Treppen hinauf, die hinter dem Tor lagen.
Er ließ sich nicht davon entmutigen, dass niemand antwortete. Hinter ihm heulte der Wind. Die Stufen waren erst kürzlich gefegt worden. Ein großer Stapel knorrigen Treibholzes war am Fuß der Treppe sorgfältig aufgeschichtet. Colin holte tief Luft und schickte sich an, die Stufen hochzusteigen. Als er das obere Geschoss erreichte, sah er die leuchtende Glut einer Feuerstelle am gegenüberliegenden Ende des Raums.
Irgendjemand musste in der Nähe sein. Dass sich aber niemand zeigte, war ihm unheimlich.
»Ich habe nichts Böses im Sinn«, sagte er laut. Von den niedrigen Deckenbalken hingen dicke Scheiben von geräuchertem Fisch und lange Schlaufen aus Muschelsträngen. Sein Blick schweifte in alle dunklen Ecken und Winkel. Das schwache Licht, das durch schmale Schlitze in den Wänden hereindrang, vermischte sich mit dem matten Schein der Feuerstelle, aber es reichte nicht, um den Raum wirklich hell erscheinen zu lassen. »Ich bin im Sturm von Bord meines Schiffes gespült worden.«
Vorsichtig betrat er den Raum. Ein zerrissenes Netz, erst zum Teil geflickt, lag neben einem kleinen, sorgsam aufgehäuften Stapel gebleichter Walknochen. Irgendetwas knirschte unter seinen Stiefeln. Er blickte zu Boden. Über den ganzen Boden verstreut waren Muschelschalen aller Größen und Arten und ein Häufchen davon lag in der Ecke auf einem Schaffell neben einem kleinen Webstuhl.
Das Feuer in der Herdstelle knisterte und sprühte Funken und zog Colins Aufmerksamkeit auf sich. Über dem Herd entdeckte er einen Kessel. Jemand kochte ein Essen.
»Ich glaube, jemand ... von euch vielleicht hat mich aus dem Wasser gezogen.«
Er hatte gehört, dass das alte Paar, das auf dieser Insel lebte, angeblich nicht besonders gastfreundlich war. Andererseits hatten sie sich gegenüber den Fischern oder Seeleuten, die an ihrem Strand auftauchten, nie besonders ängstlich gezeigt.
»Meine Leute werden mich bald holen.« Dieses Mal sprach er lauter. Er hatte eine Leiter entdeckt, die gegen eine Wand lehnte. Daneben bildete eine Reihe dunkler Bretter über den Balken eine Art Dachboden. »Ich möchte mir eine Decke borgen ... und vielleicht etwas zu essen ... und ich werde euch dafür entschädigen.«
Er kletterte die Leiter hinauf und spähte in den großen, stockfinsteren offenen Raum. Er schien als Lagerraum genutzt zu werden.
»Hallo?« Auch dort oben war niemand.
Colin kletterte die Leiter wieder herab und schaute durch den schmalen Fensterspalt auf die See. Der Sturm toste noch immer gewaltig und er konnte kaum über die Uferlinie hinaus sehen. Er stellte sich vor, wie verzweifelt Alexander jetzt sein musste. Aber es gab keine Möglichkeit, ihn noch an diesem Abend und bei diesem Wetter zu holen.
Colin wollte die verschwundenen und mit Sicherheit verängstigten Bewohner nicht aus ihrem Heim vertreiben, deshalb fand er sich damit ab, die Nacht draußen zu verbringen. Er nahm sich eine dicke Wolldecke, die er auf dem Regal neben der Herdstelle fand. Als er sie aufhob, fiel etwas zu Boden, das in die Decke gewickelt gewesen war. Er kauerte sich hin und fand zu seinen Füßen ein kleines Bündel Flickzeug. Die feine Spitzenbordüre an einer weißen Kindermütze fiel ihm als Erstes auf. Er berührte vorsichtig den weichen Wollstoff eines Kleides. Staunend entfaltete er eine leinene Kinderschürze und starrte dann wieder auf die kleine Mütze, die er zuerst gesehen hatte. Einzeln hob er die Stücke hoch und sah sie sich genau an, vollkommen verwundert, warum ausgerechnet zwei alte Leute solche Gegenstände aufbewahren sollten.
Noch einmal sah er sich in dem Raum um. Neben dem Herd lag eine einzelne hölzerne Schüssel — mit einem einzelnen Löffel darin. Auf dem Boden in einer Ecke befand sich ein kleines Strohlager mit Decken, gemacht für eine Person. Wieder berührte er sachte das Kleid. Die dunklen Augen einer Frau, die sich über ihn beugte, kamen ihm wieder in den Sinn. Colin wickelte das Bündel mit Kindersachen sorgfältig in die Decke und legte alles wieder dorthin zurück, wo er es gefunden hatte.
Er erhob sich, nahm eine verschlissenere Decke, die zusammengefaltet neben dem Bett lag, und legte sie sich um die Schultern. Er blickte noch einmal umher, stieg dann die Treppen hinab und stemmte sich wieder gegen den Sturm.
Tessa zitterte am ganzen Körper und jetzt fingen auch noch ihre Zähne an zu klappern und sie kam nicht dagegen an. Ihre Kleidung war bei dem Versuch, den Mann aus dem Becken zu ziehen, vollkommen durchnässt worden. Ihr war klamm, sie war bis auf die Knochen ausgekühlt. Der Lederumhang bot zwar etwas Schutz gegen den bitterkalten, windgepeitschten Regen, aber als sie jetzt bäuchlings auf den Felsen hinter dem Priorat lag, war ihr Körper nicht mehr in der Lage, sich aufzuwärmen.
Tessas Augen verengten sich, als der Highlander endlich ihr Haus verließ.
Sie hatte gehofft, noch hineingehen und sich ein oder zwei Decken und Proviant holen zu können, bevor sie in die Höhlen im Westen der Insel floh. Mehr als gehofft, korrigierte sie sich insgeheim. Sie musste sich einfach mit Vorräten versorgen, ehe sie sich versteckte. Wer konnte wissen, wie lange die Sturmwogen es nötig machten, dass sie sich verborgen hielt, oder wie viele Tage es dauern würde, bis die Mannschaft des Highlanders zurückkehren würde?
Die Nacht breitete schnell ihren dunklen Mantel über die Insel. Der Sturm hingegen hatte sich jetzt endgültig von allen Fesseln befreit. Er fauchte zehnmal so wütend wie zuvor über die Insel hinweg. Eisiger Regen kam stoßweise. Wirklich keine Nacht, die man draußen verbringen sollte.
Er machte sich ein Feuer. Sie sah ihn mehrmals auf das Haus zugehen. Jedes Mal, wenn sie ihn einen Arm voll von dem trockenen Seetang und dem Treibholz davontragen sah, das sie so mühsam gesammelt hatte, wurde sie wütender. Als ob das nicht reichte, schichtete er seine Feuerstelle innerhalb der schützenden Prioratsmauern auf.
Die stabile Steinwand bildete einen Windschutz und hielt den Regen ab. Dort war er sicher und warm. Aber wie sollte ein vorbeikommendes Schiff sein Feuer entdecken?
Was noch schlimmer war: Sie konnte nicht ungesehen an ihm vorbei in ihr Haus gelangen.
Sie hätte ihn einfach liegen und noch mehr Wasser schlucken lassen sollen.
Die sprühenden Flammen, die zischten und knisterten, stiegen hoch in den Himmel. Colins Kleidung war jetzt fast trocken. Sein Umhang und die Decke, die er aus dem Haus mitgenommen hatte, hielten den schlimmsten Regen ab.
Er war erstaunt, dass er sogar so etwas wie Hunger verspürte. Einen Augenblick lang dachte er an das Essen, das er in dem Prioratsgebäude gesehen hatte. Ein letztes Mal ging er hinüber und trat an die Herdstelle. Er nahm den Holzlöffel und schob damit den leise simmernden Kessel vom Feuer. Einen Mund voll von dem dicken, bitter schmeckenden Gebräu und ihm drehte sich der Magen um. Colin rannte hinaus. Tief, Zug um Zug, sog er die frische Salzluft ein, um sich nicht übergeben zu müssen.
Der Appetit war ihm vergangen, womöglich für immer, und er kehrte zu seinem Feuer zurück. Bei jedem Schritt vermeinte er die Blicke zu spüren, die ihn irgendwo aus der Dunkelheit heraus beobachteten. Er richtete sich für eine Nacht an der Mauer ein und dachte an die alten Geschichten, in denen Seehunde sich in Frauen verwandelten.
Tessa schreckte hoch. Sie wusste nicht, wie lange sie auf den eiskalten Steinen gelegen hatte. Es war immer noch Nacht. Der Sturm hatte kein bisschen nachgelassen. Ihre Glieder waren steif und taub. Das Zähneklappern war wie Donner, der schmerzhaft durch ihren Kopf rollte. Irgendwann, dachte sie, musste sie wohl eingeschlafen sein. Aber sie war sich nicht sicher.
Den Kopf vom Felsen zu heben, erforderte erstaunliche Mühe. Sie schob die Kapuze ihres ledernen Umhangs nach hinten, damit sie etwas sehen konnte. Der Regen, der fast schon in Schnee überging, prasselte nach wie vor auf sie ein, aber dort unten brannte immer noch das Feuer des Highlanders. In dem Lichtschein, den das Feuer warf, sah sie seinen schlafenden Körper dicht an die Wand gedrängt. Er musste es ganz angenehm haben, eingewickelt in ihre Decke.
Sie sah auf die Tür, dann wieder zurück zu dem Highlander. Das Licht des Feuers reichte nicht ganz bis zum Eingang des Gebäudes. Außerdem schien er ohnehin mit dem Rücken zur Tür eingeschlafen zu sein.
Der erste Versuch, auf die Füße zu kommen, scheiterte an ihren steifen, halb erfrorenen Muskeln. Mit dem zweiten Versuch hatte sie mehr Erfolg. Vorsichtig schlich sie sich zwischen den Felsbrocken hindurch und betete, dass ihr Zähneklappern ihn nicht weckte.
Neben dem Sturm gab es noch etwas anderes, das ihr Sorgen bereitete. Die alte Charlotte hatte sie immer gewarnt vor Seefahrern und Fischersleuten ... vor allen Männern. Außer Garth hatte es kein lebendes männliches Wesen gegeben, dem Tessa trauen konnte. Die alte Frau hatte sich ziemlich unverblümt dazu geäußert. Immer wieder hatte sie es ihr eingebläut, selbst auf dem Totenbett noch.
Wenn die Dreckskerle ein junges und schönes Ding wie dich auf dieser verlassenen Insel finden, denken sie alle dasselbe, Mädel. Sie werden sich gegenseitig eins auf die Rübe geben und um die Wette rennen, um zu sehen, wer als Erster seine dreckigen Pfoten auf dich legen kann. Aber lass dich von keinem anfassen, Tessa! Du wehrst dich, hörst du, Kind? Noch besser, versteck dich und lass dich überhaupt gar nicht erst von einem von ihnen sehen.
In weitem Bogen lief Tessa um ihn herum, blieb in der Dunkelheit und schlich geduckt an dem niedrigen Steinwall entlang, der die Ruine umschloss. Die ganze Zeit behielt sie den Körper des schlafenden Mannes im Auge und überlegte dabei, was sie mitnehmen musste.
Die Tür knarrte leise, als sie sie aufdrückte. Erschrocken sah sie sich nach dem Highlander um. Er rührte sich nicht.
Sobald sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, blieb sie im Dunkeln stehen und zog den triefenden Umhang aus. Nach dem vertrauten Haken tastend, hängte sie das Cape auf und wendete sich der Treppe zu. Nach so vielen Stunden in der Kälte verweigerten die Knie ihr fast den Dienst, als sie versuchte, die Stufen hinaufzusteigen, aber sie nahm sich zusammen.
Essen. Trockene Kleidung. Decken. Feuersteine. Sie überlegte, ob der Stapel Seegras und Treibholz, den sie vor einem Jahr gesammelt und in einer der Höhlen gelagert hatte, noch da sein würde. Als sie den Treppenabsatz erreichte, bemerkte Tessa, dass von dem ersterbenden Feuer im Herd noch etwas rote Glut übrig war. Der Kessel hing so, wie sie ihn zurückgelassen hatte.
Nichts wollte Tessa lieber tun, als sich erst einmal selbst zu trocknen und zu wärmen. In ihrer Eile, ans Feuer zu kommen, rutschte sie jedoch aus und wäre beinahe auf ein paar Muscheln gefallen, die der Highlander wohl verschoben haben musste. Schnell fing sie sich wieder und bewegte sich nun vorsichtiger durch den Raum.
Die Hitze der Glut fühlte sich nach den Stunden bitterer Kälte und Nässe himmlisch an. Sie kauerte sich vor die Feuerstelle und legte etwas trockenen Tang und ein paar Stücke Treibholz nach, die daneben lagen. Während sie darauf wartete, dass das Feuer aufflammte und sich wieder belebte, legte sie ihre Hände um den Kessel und seufzte fast laut auf vor Wonne über seine Wärme.
»Davon würde ich lieber nicht essen, wenn ich an deiner Stelle wäre.«
Die junge Frau sprang auf die Füße und wirbelte mit der Behändigkeit einer Katze herum. Colin starrte auf seinen eigenen Dolch, den sie gezogen und gegen ihn erhoben hatte.
»Soviel ich weiß, gehört dieses Messer mir«, sagte er ruhig.
Sie machte eine Bewegung mit der Waffe, die ihm bedeutete, vom Treppenabsatz zurückzuweichen. Er wollte ihr nicht mehr Angst einjagen, als sie ohnehin schon hatte, aber er stand bereits so weit von ihr entfernt wie möglich. Er war hinter ihr hereingekommen, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sie auf einer der Muscheln ausrutschte, die im Raum verstreut lagen. Sie hatte Glück gehabt, dass sie sich nicht den Kopf aufgeschlagen hatte.
»Wieso legst du die Waffe nicht hin?« Er lehnte sich lässig an die Wand.
Sie hob leicht den Ellbogen, bereit zuzustoßen, und machte einen Schritt auf die Treppe zu.
Colin wandte den Blick vom Dolch ab und betrachtete sie. Sie war die Gestalt, die er am Wasserbecken gesehen hatte. Dieselben dunklen Augen funkelten im Widerschein des lodernden Herdfeuers. Aber ihr Gesicht war mit Dreck verschmiert, und alles, was er in dem schwachen Licht erkennen konnte, war, dass sie jung war ... jünger als er zumindest. Ihr dunkles Haar war triefend nass und ein lose geflochtener Zopf fiel ihr auf den Rücken wie ein dickes Tau. Ihr Wollkleid, das sie sicher selbst gesponnen, gewoben und genäht hatte, war ebenfalls tropfnass. Sie war ein schmales Ding, alles in allem, und Colin war klar, dass er sie ohne weiteres überwältigen könnte, wenn er wirklich wollte. Trotz ihres tapferen Gebarens zitterte sie und war blass. Colin runzelte die Stirn. Er wusste, dass sie nur seinetwegen draußen geblieben war.
»Ich wollte dir keine Angst machen.«
Er hob beide Hände, damit sie sehen konnte, dass er keine Waffen bei sich trug. Sie schob sich weiter auf die Treppe zu. Colin bemerkte, dass sie nicht ganz sicher auf den Füßen war. Er stieß sich von der Wand ab. Der unbändige Sturm pfiff durch die Fensterschlitze.
»Hör mal, du selbst hast mich doch gerettet. Du weißt, dass ich an den Strand gespült worden bin. Allein.« Er versuchte, mit sanfter Stimme zu reden. »Du holst dir mit Sicherheit den Tod bei diesem Wetter, wenn du deine nassen Sachen anbehältst.«
Wieder rutschte sie auf den gleichen verdammten Muscheln aus und knickte ein. Colin trat auf sie zu. Doch ehe er ihr eine Hand bieten konnte, drehte sie sich zur Seite und schlug mit dem Dolch nach ihm.
»Verflixte Hölle«, fluchte er, als er den Riss in seinem Hemdsärmel erblickte, den der Dolch glatt durchtrennt hatte. Sein Ton verriet, dass er langsam die Geduld verlor. Nur haarscharf hatte sie seine Haut verfehlt. »Ich habe doch gesagt, ich tue dir nichts.«
Sie versuchte, auf die Füße zu kommen, aber dieses Mal kam er ihr nicht zu Hilfe. Mit einer schnellen Bewegung trat Colin ihr den Dolch aus der Hand. Die Waffe schlug laut gegen die steinerne Wand.
»Du kannst allerdings nicht erwarten, dass ich freundlich reagiere, wenn jemand meinen Dolch stiehlt und ihn dann auch noch gegen mich richtet.« Er packte sie hinten am Kleid und zog ihre zarte Gestalt auf die Füße. Sie war so leicht und hilflos wie eine Stoffpuppe. Er drehte sie um, damit er ihr ins Gesicht sehen konnte. Sie hatte noch kein Wort gesprochen. Vielleicht verstand sie ja gar nicht, was er sagte? »Lass uns noch mal von vorne anfangen, Mädchen.«
Sie trat ihm mit aller Kraft vors Schienbein.
»Zum Teufel!« Er packte sie fester an der Schulter. »Ich hab dir doch gesagt —«
Ihr Schlag streifte sein Gesicht, und sie versuchte, sich von ihm loszureißen. Nun war er wütend. Er drehte ihr einen Arm auf den Rücken und zog sie unsanft an sich heran. Ihre dunklen Augen sprühten Funken, und sie sah aus, als ob sie sofort zubeißen würde, wenn sie nur die Gelegenheit dazu bekommen würde.
»Hör zu. Ich weiß nicht, warum du so —«
Sie stieß ihr Knie brutal in seinen Unterleib. Colin rang nach Luft und sein Griff lockerte sich.
Als er versuchte, wieder zu Atem zu kommen, sah er sie gerade noch die Treppe hinablaufen und hörte, wie sie die Tür aufriss. Plötzlich verlor er die Lust, ihr hinterherzulaufen. Sie war eine Hexe, eine Teufelin, eine Verrückte.
Trotzdem: Sie hatte es geschafft, ihn aus dem Wasser zu ziehen, und er stand in ihrer Schuld.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht richtete er sich mühsam auf und machte einen Schritt vorwärts. Er humpelte die Stufen hinab. Unten sah er den Lederumhang, der noch am Haken hing. Diesen Umhang hatte sie getragen, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Er trat nach draußen.
Sein Feuer war heruntergebrannt. Das Bündel Decken lag immer noch an der Wand. Der Sturm umtoste die Insel nach wie vor unbarmherzig, und Colin verschränkte die Arme vor der Brust, um den Wind abzuhalten. Er ließ seinen Blick über die Ruinen und die Hügel rundum schweifen. Zu seiner Linken sah er einen Schatten über einen Hügelkamm huschen.
»Warte!« Er lief ihr nach. Diese Närrin! Er war sicher, dass es auf der Insel nicht noch mehr Gebäude gab. So ausgekühlt und nass, wie sie jetzt schon war, und ohne irgendeinen Schutz würde sie sich mit Sicherheit den Tod holen, wenn sie bei diesem Wetter die Nacht draußen verbrachte.
Als er den Kamm erreichte, wo er sie zuletzt gesehen hatte, starrte er verzweifelt um sich auf das wilde und pechschwarze Terrain. Das Heulen des Sturms wurde nur noch vom Donnern der fernen Brandung übertönt. Der Schneeregen schlug ihm ins Gesicht und er konnte kaum sehen. Er hatte keine Ahnung, wohin sie verschwunden sein könnte.
»Beim heiligen Andreas, ich habe doch gesagt, ich tue dir nichts!«, schrie er in die Nacht.
Er war noch nicht bereit aufzugeben, auch wenn er nicht einmal einen Schritt weit sehen konnte. Der felsige Boden glänzte im Regen. Er sprang von einem Felsvorsprung und rannte weiter.
Sie musste die Tochter dieses zurückgezogen lebenden Paares sein, von dem er gehört hatte. Aber er erinnerte sich, dass die beiden sehr alt gewesen sein mussten, während sie doch noch so jung war. Und dann die Handarbeit, die er in dem Raum gefunden hatte — das Kinderkleid und das Mützchen. Ohne Frage: Seine Neugier war angestachelt.
Er hatte keine Angst, sich zu verirren. Er konnte den Widerschein des Feuers an den Wänden des Priorats sehen. Wovor er sich aber in Acht nehmen musste, waren die Kliffs im Westen. Ein falscher Schritt und er würde vierzig Fuß tief in die felsige Brandung fallen.
Etwas sagte ihm, dass ihn seine schöne Gastgeberin nicht ein zweites Mal retten würde.
Colin stolperte über einen Haufen aus Steinen und Muscheln. Er blieb abrupt stehen und sah sich um. Direkt vor ihm befanden sich zwei solcher Haufen. Seite an Seite. Er kauerte nieder und betrachtete die sorgfältig angelegte Schicht aus Muschelschalen und darauf liebevoll aufgehäufte glatte Steine.
Gräber. Zwei Gräber.
Nun wusste er wenigstens, was aus dem alten Paar geworden war.
Während Tessa sich auf dem Kliff vorankämpfte, wurde sie von dem Wind, der über die Felsen fegte, mehrmals beinahe von dem schmalen Grat geweht. Als sie sich über einen besonders knappen Felsvorsprung Zentimeter für Zentimeter vorwärts schob, rutschte sie auf dem eisigen Grund aus. Tessa klammerte sich verzweifelt an den schlüpfrigen Felsen fest und schaffte es irgendwie, nicht in das brodelnde Meer zu stürzen. Einen Augenblick später hatte sie ihr Ziel erreicht. Aber hier musste sie feststellen, dass alles vergebens gewesen war.
Die Flut stand zu hoch. Sie hatte noch nie erlebt, dass das Wasser an der Kliffseite so weit hinaufgereicht hätte. Die Wellen krachten in die Öffnung ihrer Höhle. Der Fußweg an der offenen Seite war vollkommen überschwemmt. Es hatte keinen Zweck: Sie konnte nicht hinein.
Wenn sie in die Höhle hineingekommen wäre, hätte sie sich in den Gängen gut zurechtgefunden. Innen führten einige der Höhlengänge nach oben. Selbst bei höchstem Wasserstand gab es trockene Stellen, wo sie Zuflucht gefunden hätte. Sie wäre dort sicher gewesen.
Verzweifelt auf der Suche nach einem Ausweg aus ihrer misslichen Lage, überlegte Tessa, ins Wasser zu springen und zu versuchen, in die Höhle hineinzuschwimmen. Vor vielen der tiefer gelegenen Höhlen hatte sie immer wieder Seehunde spielen sehen, die sich auf den Wellenkämmen in die Höhlen treiben ließen.
Tessa drehte sich um und versuchte, sich an den Felsen wieder hinaufzuhangeln. Sie war dankbar dafür, dass sie trotz des geschwächten Körpers bei klarem Verstand war. Sich den Kopf am Felsen anzuschlagen oder von der Flut in die offene See gespült zu werden, wäre kein Ausweg aus ihrer Zwangslage gewesen. Der Kampf mit dem Highlander hatte ihr einen Moment lang ungeahnte Kräfte verliehen, aber als sie es endlich über den Rand des steilen Kliffs geschafft hatte, war davon nichts mehr übrig.
Er hatte gesagt, dass er ihr nichts tun wollte. Aber Charlotte hatte sie auch vor Lügen gewarnt.
Er war größer. Er war stärker. Er war schneller.
Er war ein Highlander.
Dies allein war für Tessa Grund genug, ihm nicht zu trauen.
Vollkommen erschöpft schaffte sie es gerade noch, sich in eine Felsspalte hinunterzulassen. Dem Schneeregen war sie immer noch ausgesetzt, dafür aber vor dem Wind geschützt.
Colin wartete, bis das erste Licht des Morgengrauens den Himmel erhellte, ehe er sich wieder auf die Suche nach ihr machte. Außer dass er die Gräber gefunden hatte, war bei seinem letzten Versuch nicht viel herausgekommen. Er war wild entschlossen, sie dieses Mal zu finden und zurückzuholen. Es war eine bitterkalte Nacht gewesen. Er betete, dass sie überhaupt noch am Leben war.
Der Schneeregen hatte aufgehört, aber immer noch verdunkelten tiefgraue Wolken den Himmel. Der Wind schien noch stärker geworden zu sein.