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"Wenn du ihn wiedersehen willst, musst du tun, was ich sage!" Zuerst hält Miley den Anruf für einen schlechten Scherz. Morgen wollen sie und Craig heiraten, da war es abzusehen, dass sich seine Freunde beim Junggesellenabschied einen Spaß machen. Doch bald muss sie erkennen, wie ernst die Lage tatsächlich ist. Craig wurde nämlich wirklich gekidnappt! Und jetzt hat sie nur noch eine Chance: Sie muss die Befehle der unheimlichen Flüsterstimme befolgen, um ihren Verlobten zu retten. Und sie muss sich beeilen, denn Craig wartet – lebendig begraben in einem Sarg!
Neuauflage des Bestsellers "Solange du atmest" von Dana Kilborne – Spannung pur!
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Dana Kilborne
Flüstergrab
Inhaltsverzeichnis
Prolog
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
Epilog
Leseprobe
Impressum
1. November, 04:30 Uhr, irgendwo in Florida
Trotz der beinahe unerträglichen Hitze und der stickigen Luft, die in seinem engen Gefängnis herrschte, fror er erbärmlich. Der durchdringende Gestank seines Schweißes raubte ihm schier den Atem, zudem hatte er das Gefühl, dass seine Blase kurz vor dem Platzen stand, und das Wasser in der Plastikflasche, die er fest umklammert hielt, reichte höchstens noch für zwei oder drei Schluck. Er wusste, wenn er nicht bald hier herauskam, würde er sich nicht nur in die Hosen machen, sondern schlimmstenfalls einfach verdursten.
Dabei hatte das alles doch nur als dummer Scherz begonnen – bloß dass daraus mittlerweile tödlicher Ernst geworden war. Wie viel Zeit mochte inzwischen vergangen sein? Ein Tag – oder mehr? Er wusste es nicht. Der Akku seines Handys hatte schon vor Stunden den Geist aufgegeben. Craig konnte gar nicht mehr zählen, wie oft er bis dahin versucht hatte, Hilfe zu alarmieren, doch er bekam hier drin keinen Empfang. Dafür hatte der Flüsterer gesorgt.
Und dann diese verdammte Dunkelheit! Die schrecklichen Dinge, die ihm seine Fantasie in der Finsternis vorgaukelte, machten alles noch schlimmer, als es ohnehin schon war.
Vor etwas mehr als fünf Minuten hatte er dann neue Hoffnung geschöpft, als jemand die Kiste, in der er nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit lag – den Sarg! –, endlich aus dem Leichenwagen gehoben und ein Stück weit unter Ächzen und Stöhnen über einen unebenen Boden geschleift hatte. Bei jedem Schlagloch war Craig hin und her geschleudert worden. Er hatte geschrien und um Hilfe gebettelt – ohne jede Reaktion von draußen.
Mit beiden Fäusten hämmerte er jetzt gegen den Deckel des Sarges, doch die dicke Innenverkleidung fing die Wucht seiner Schläge ab, sodass der Lärm, den er dabei produzierte, kaum der Rede wert war.
»Hilfe!«, schrie er aus Leibeskräften und kratzte verzweifelt an der Satinverkleidung. »Bitte, lass mich doch endlich hier raus! Ich …«
Plötzlich gab es einen Ruck, und für einen Moment hatte er das Gefühl, schwerelos in der Luft zu schweben. Dann prallte die Kiste auf dem Boden auf, und ein unbeschreiblicher Schmerz durchzuckte Craigs Körper.
Ein paar Sekunden lang sah er helle Lichtblitze vor seinen Netzhäuten explodieren, und schließlich kehrte die Dunkelheit zurück. Seine Augen bewegten sich hektisch von links nach rechts, doch überall herrschte nur undurchdringliche Schwärze.
»Bitte!«, flehte er unter Tränen. »Ich kann nicht mehr!«
Als er das leise Prasseln hörte, glaubte er zunächst, draußen habe es angefangen zu regnen. Dann erkannte er seinen Irrtum. Das waren keine Regentropfen, die auf den Deckel seines Gefängnisses fielen, sondern Erde.
Asche zu Asche, Staub zu Staub.
Panik stieg in Craig auf und riss auch den letzten Rest von Selbstbeherrschung mit sich, als ihm klar wurde, was hier gerade passierte.
Er wurde lebendig begraben!
Am Abend zuvor, Tampa, Florida, 18:34 Uhr – Halloween
Wenn Craig Cooper mit einem nicht gerechnet hatte, dann damit, am Tag vor seiner Hochzeit eine Leiche zu finden.
Allerdings war sowieso schon nichts nach Plan verlaufen. Eigentlich hatte er vorgehabt, den Abend gemütlich vor dem Fernseher zu verbringen. Allein – oder zumindest fast. Sein Kater Brownie, der so hieß, weil er die Farbe von geschmolzener Schokolade besaß, hätte auf seinem Schoß gesessen und sich von ihm kraulen lassen, und vielleicht hätte Craig auch das eine oder andere Budweiser getrunken und insgeheim auf seinen Abschied vom Junggesellenleben angestoßen.
Und auf den Abschied von dem ganzen anderen Mist.
Aber dann, so gegen halb sieben, stand sein bester Freund Mike Wilkes plötzlich vor der Tür. »Wenn du dich schon beharrlich weigerst, dir von deinen Kumpels eine anständige Party schmeißen zu lassen, kannst du mir auch wenigstens bei einer Fuhre helfen. Ich muss für meinen Vater eine Ladung Reifen aus Tampa abholen und keine Lust, bei dem Sauwetter allein da raus zu fahren.«
»Vergiss es«, hatte Craig entschieden erwidert. »Falls du dich noch erinnerst: Ich heirate morgen.«
»Was du nicht sagst! Und falls du dich erinnerst: Du warst es, der sich vehement geweigert hat, sich von seinen Freunden eine Junggesellenabschiedsparty organisieren zu lassen. Sonst säßen wir jetzt nämlich alle im Venus Club, würden literweise Wodka trinken und uns von den heißesten Mädels von ganz Florida einen Lapdance verpassen lassen, der sich gewaschen hat. Und mein Vater hätte sich einen anderen Trottel suchen müssen, der seine Fuhre übernimmt. Aber du …«
»Genau, ich hatte keine Lust auf so einen Mist. Ich weiß, du wirst es nie verstehen, aber ich liebe Miley und habe es nicht nötig, einen Tag vor unserer Hochzeit noch irgendwelche Stripperinnen anzuglotzen.«
Zu dem Zeitpunkt war Craig noch fest entschlossen gewesen, den Rest des Abends allein vor dem Fernseher zu verbringen. Doch Mike hieße nicht Mike, wäre es ihm nicht gelungen, ihn doch noch irgendwie zu überreden. Ein bisschen Gejammer von wegen »Wer weiß, was alles passieren kann, wenn ich allein unterwegs bin« und »Weißt du noch, wie ich damals dies und jenes für dich getan habe?« – und schon hatte Craig sich geschlagen gegeben und sich rasch angezogen. Kurz darauf war er mit Mike durch den strömenden Regen zu dessen Lieferwagen gelaufen, den der mangels freier Parkplätze etwas weiter die Straße hinunter geparkt hatte.
Von der Fahrt hatte Craig anfangs nicht allzu viel mitbekommen: Der Regen, der mit voller Wucht aufs Wagendach hämmerte, nahm trotz der auf Hochtouren arbeiteten Scheibenwischer nahezu jede Sicht, und sobald sie aus Sarasota raus waren, hätte es ohnehin nicht mehr viel zu sehen gegeben, denn die Lagerhalle von Mikes Vater lag direkt an der Interstate 75. Zudem war Craig mit seinen Gedanken ohnehin nur bei Miley. Auch wenn er zugegebenermaßen nie hatte heiraten wollen, so konnte er den morgigen Tag doch kaum erwarten. Vielleicht war es daher doch gar keine so schlechte Idee gewesen, die restlichen Stunden als Single nicht gänzlich allein zu verbringen; Mikes Gesellschaft würde ihn ein wenig ablenken.
Das jedenfalls hatte Craig noch gedacht, als sie nach knapp einer Stunde Fahrt endlich ihr Ziel erreichten, aus dem Wagen stiegen und die Lagerhalle betraten.
Doch jetzt, als sie die reglose Gestalt am Boden liegen sahen, dachte er anders darüber. Jetzt wünschte er sich nur noch, nicht nachgegeben zu haben und zu Hause in seinem luxuriösen 100-Quadratmeter-Apartment geblieben zu sein.
Mike hatte die Beleuchtung angeschaltet, aber von den ganzen Leuchtstoffröhren, die an der Decke angebracht waren, flackerte nur noch eine einzige, sodass die ziemlich heruntergekommene Halle nur sehr spärlich erhellt war. Überall stapelten sich Schrottteile und Autoreifen – teilweise so hoch, dass man Angst bekommen konnte, darunter begraben zu werden.
Als zusätzliche Stolperfallen lagen halbleere Farbdosen und Eimer herum, sodass man kaum einen Schritt machen konnte, ohne gegen etwas zutreten.
Craig wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit sie die Lagerhalle betreten hatten. Dreißig Sekunden, vielleicht eine Minute? Gefühlt jedoch eine halbe Ewigkeit, und keiner von ihnen hatte seitdem auch nur einen Ton über die Lippen gebracht. Wie versteinert standen sie da starrten die am Boden liegende Person an. Sie lag auf dem nackten Betonboden der Lagerhalle, direkt unterhalb des großen Lastenkrans, den Mikes Vater benutzte, um schwere Gegenstände auf die Trucks seiner Kunden zu befördern. Hellblondes Haar breitete sich wie ein Fächer um den Kopf herum aus und fiel ihr auch übers Gesicht. Es handelte sich um eine Frau, wie unschwer zu erkennen war, da sie keine Faser Stoff am Leib trug.
Die Neonbeleuchtung flackerte noch immer. Hell – dunkel – hell. Es machte Craig fast verrückt. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, was angesichts der reglosen Nackten auf dem Boden sehr ungünstig erschien.
»Ist sie … tot?« Mikes Stimme war kaum mehr als ein Krächzen, dennoch wirkten seine Worte angesichts der Stille wie ein Donnerschlag.
Craig schüttelte den Kopf. »Woher soll ich das wissen?« Doch tief in seinem Innern glaubte er keine Sekunde daran, dass die Frau noch lebte. Warum, wusste er selbst nicht so genau. Er ahnte es irgendwie. Und war da nicht eine dunkle Lache auf dem Boden, direkt neben ihr? Er kniff die Augen zusammen. Blut? Er wusste es nicht. »Verdammt«, flüsterte er, »wie kommt hier überhaupt jemand rein? Es war doch abgeschlossen, oder nicht?«
»Sicher, mein Vater schließt immer ab. Ich weiß auch nicht, was …«
Craigs Gedanken rasten. »Komm, wir rufen die Polizei«, sagte er und kramte in seiner Hosentasche nach seinem Handy. Endlich hielt er es in der Hand. »Ich wüsste jedenfalls nicht, was wir sonst …«
»Die Polizei?« Mike schien von der Idee alles andere als angetan zu sein. Mit einem Griff nahm er ihm das Handy aus der Hand.
»Hey, was soll das? Ich …«
»Mensch, wir wissen doch noch gar nicht, was los ist! Was, wenn sie nur ohnmächtig ist? Dann wäre das ziemlich verfrüht, oder? Vielleicht sollten wir erst mal nachsehen, ob sie wirklich …« Er kam nicht dazu, seinen Satz zu Ende zu bringen, denn im selben Moment gab die Leuchtstoffröhre an der Decke mit einem leisen Pling endgültig den Geist auf. Craig hörte, wie Mike erschrocken aufschrie und dann davonlief, wobei er im Dunkeln gegen Fässer und Eimer stieß und einen Riesenlärm produzierte.
»Verdammt, Mike!«, rief Craig ihm nach. »Komm zurück!« Doch sein Freund reagierte nicht, und vielleicht hatte er recht damit. Vermutlich sollte auch erselbst besser zusehen, dass er aus der Lagerhalle herauskam, doch seine Neugier hielt ihn davon ab.
Erneut kramte er in seiner Hosentasche herum und holte seinen Schlüsselbund hervor, an dem eine kleine Taschenlampe hing. Noch einmal atmete er tief durch, dann knipste er sie an. Der Lichtschein war im Grunde ein schlechter Scherz – kein Wunder, eigentlich sollte der Anhänger lediglich dazu dienen, ein Schlüsselloch leichter im Dunkeln zu finden. Doch es war immer noch besser als gar nichts.
Er fasste sich ein Herz und setzte sich in Bewegung. Langsam ging er auf die regungslose Frau zu. Seine Schritte hallten von den Wänden der Lagerhalle zurück und klangen ohrenbetäubend laut in seinen Ohren. »Hallo«, sagte er leise. »Können … Können Sie mich hören?«
Nichts.
Endlich erreichte er die Frau. Doch was er sah, als er direkt vor ihr stand, ließ sein Herz einen Schlag aussetzen.
Blut – überall Blut!
Craig schluckte trocken. Von Weitem hatte es nicht so viel ausgesehen, doch nun musste er erkennen, dass es eine riesige Lache war, die sich auf dem Boden rund um die Nackte ausgebreitet hatte. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr für ihn: Vor ihm lag eine Tote.
Und Mike hatte sein Handy!
Er spürte, wie Panik ihn erfasste. »Mike?«, rief er laut. »Verdammt, komm endlich wieder rein!«
Er wusste, dass es Blödsinn war, eine Antwort zu erwarten. Der ist abgehauen! Und genau das solltest du auch tun. Besser jetzt als gleich!
Doch aus irgendeinem Grund konnte er es nicht. Warum, wusste er selbst nicht. Er kannte diese Frau nicht. Möglich, dass sie noch lebte, aber er kannte sie nun mal nicht. Doch gleichzeitig schoss ihm ein erschreckender Gedanke durch den Kopf: Er stellte sich vor, die Unbekannte am Boden wäre Miley, die Frau, die er morgen heiraten wollte, und irgendjemand würde sie, schwerverletzt, wie sie war, einfach liegen lassen und weglaufen.
Du willst ab morgen ein neues Leben beginnen? Dann fang jetzt damit an und hau nicht ab wie ein gottverdammter Feigling!
Zögernd ging er neben der Nackten in die Knie und ließ den schmalen Lichtkegel seiner Taschenlampe von den Füßen weiter hoch gleiten. Craig runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte hier nicht, nur …
Er hielt die Luft an. Einen Augenblick lang starrte er das Etwas vor ihm einfach nur an, dann packte er es, drehte es herum – und begriff. Gleichzeitig verstand er aber auch gar nichts, denn vor ihm lag keine tote Frau, sondern …
»Eine gottverdammte Gummipuppe!«
Seine überrascht ausgestoßenen Worte waren noch nicht verhallt, als die Schüsse krachten. Dann schrie irgendjemand »Überraschung!«, und im nächsten Moment flammten helle Lichter auf.
Am selben Abend im Haus der Familie Waltham, Sarasota, Florida.
»Passt auf, gleich ist es soweit, gleich küsst er sie, gleich … Jaaaaaaa!«
Wie aus einer Kehle seufzten, stöhnten und schluchzten die acht Mädchen, die in Pyjamas auf dem flauschigen Teppichboden saßen. Der FilmNotting Hill war zwar schon etwas älter, aber einer ihrer absoluten Favoriten.
»Oh Mann, ich weiß auch nicht, aber so oft ich den Film schon gesehen habe, ich muss jedes Mal aufs Neue heulen!«, rief Pamela, die mit ihren siebzehn Jahren das Nesthäkchen der Truppe war, und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Ich frage mich jedes Mal, ob mich irgendwann auch mal ein Typ so küssen wird!«
»Wenn du dich weiterhin wie ein Baby aufführst, würde ich nicht so bald damit rechnen, Schwesterherz«, entgegnete Teri trocken, woraufhin Pam ihre die Zunge herausstreckte.
Miley, die Hauptperson des heutigen Abends, blickte lachend in die Runde. Neben den Geschwistern waren auch noch Mileys beste Freundin Juna, sowie ein paar Mädchen aus der Uni anwesend. Penny, Danielle und Sidney waren zwar alles andere als richtige Freundinnen, aber Miley kam in der Uni gut mit ihnen klar, und so hatten Juna und Teri, die das Ganze hier organisiert hatten, sie kurzerhand mit eingeladen.
»Schluss jetzt, Ladys«, sagte Miley entschieden. »Wir sind hier schließlich auf meinem Junggesellinnenabschied und nicht auf einer Kindergartenparty!« Sie griff zu der fast leeren Schüssel mit gebuttertem Popcorn und stand auf. »Ich geh besser mal für Nachschub sorgen – schließlich gibt es, wenn man für Frieden sorgen will, nichts Besseres als eine geballte Ladung Kalorien!«
»Warte, ich komme mit«, sagte Teri, und auch Mileys beste Freundin Juna rappelte sich auf und begleitete sie in die Küche.
Sie waren im Haus von Teris und Pams Eltern, die sich freundlicherweise bereiterklärt hatten, ihr Heim für Mileys Junggesellinnenabschied zur Verfügung zu stellen. Da ihr Stiefvater Dave nicht gerade begeistert davon war, dass Miley mit ihren zweiundzwanzig Jahren bereits heiraten wollte, war es ihr ein wenig unpassend erschienen, die Party mit ihren besten Freundinnen in seinem Haus steigen zu lassen.
Dass auch ihre Mädels nicht begeistert von ihrer Idee waren, in ihrem Alter bereits den Bund fürs Leben zu schließen, zeigte sich mal wieder, als sie zusammen die riesige Küche der Walthams betraten.
»Hör mal, Miley, ich will ja nicht nerven«, begann Juna zögernd, während das Popcorn in einer geschlossenen Alupackung in der Pfanne aufpoppte. Sie fuhr sich durch ihr kurz geschnittenes, leuchtend pinkfarben gefärbtes Haar. »Aber …«
»Lass mich mal raten«, seufzte Miley. Sie musste keine Hellseherin sein, um zu wissen, worauf ihre Freundin hinauswollte. »Du willst mir noch mal ins Gewissen reden, weil du meinst, dass Craig nicht der Richtige für mich ist, stimmt’s?«
Juna hob die Schultern. »Jetzt versteh mich nicht gleich falsch. Ich kenne Craig ja nicht näher, und er ist ja auch ganz nett und so … Aber gleich heiraten? Muss das denn unbedingt sein?«
Teri, die mit ihren sanften goldblonden Locken der krasse Gegensatz zu Juna war, nickte zustimmend. »Finde ich auch. Du bist doch gerade mal etwas mehr als ein halbes Jahr mit ihm zusammen. Wie kannst du dir da so sicher sein, dass das mit euch für immer ist?«
»Meine Güte, ihr redet wirklich schon wie mein Stiefvater!« Genervt betrachtete Miley ihr leicht verzerrtes Spiegelbild im polierten Edelstahlkühlschrank der Walthams. Sie sah das Gesicht eines Mädchens, das mindestens zwei Jahre jünger aussah, als es tatsächlich war. Glattes, schwarzbraunes Haar reichte ihr bis zu den Schultern, ein fransiger asymmetrischer Pony fiel ihr über die Stirn und endete knapp über großen, blaugrauen Augen, die von langen Wimpern beschattet wurden. Im Grunde war sie mit ihrem Aussehen ganz zufrieden, wenn man mal von ihrem Mund absah. Sie selbst fand ihre Lippen viel zu groß, doch da ihr deswegen an der Highschool den Spitznamen Jolie verpasst worden war – nach Angelina Jolie –, hatte sie sich schließlich damit arrangiert. Witzigerweise war es genau dieser Makel, der ihr an der Uni eine neue Freundin beschert hatte: Juna.
Es war schon ziemlich merkwürdig. Abgesehen davon, dass sie beide diese Angelina-Jolie-Lippen besaßen, hatten sie auch noch dieselbe Augenfarbe. Damit hörte die physische Ähnlichkeit aber auch schon auf, denn Juna kleidete sich betont auffällig und färbte ihr Haar in einem so grellen Pink, dass Miley sich manchmal fragte, wie sie wohl ganz normal gestylt aussehen mochte. Was ihre Interessen betraf, lagen sie hingegen wieder auf genau derselben Wellenlänge: Wie Miley las Juna am liebsten dicke Fantasywälzer und schaute sich gerne Filmklassiker im Kino an.
Bei der Spätvorstellung von ›Lawrence von Arabien‹ waren sie sich zum ersten Mal begegnet. Ein paar Jungs fanden es ziemlich witzig, Miley damit aufzuziehen, dass sie eine ›dicke Lippe riskierte‹. Juna konnte darüber ebenso wenig lachen wie Miley, und so verbündeten sich die beiden gegen die Jungs.
Am Ende des Abends waren sie Freundinnen geworden – beste Freundinnen, wie Miley inzwischen wusste. Es gab niemanden, mit dem sie besser reden konnte als Juna. Es kam ihr manchmal vor, als seien sie seelenverwandt, weil Juna immer schon wusste, was sie sagen wollte, ehe sie auch nur den Mund aufgemacht hatte.
Im Grunde konnte Miley sich, was ihr Aussehen anging, also nicht beschweren, sagte sie sich jetzt, während sie ihr Spiegelbild betrachtete, doch irgendwie sahen die Jungs das wohl anders, denn viele Dates hatte sie nie gehabt. Oder war sie einfach nur zu schüchtern? Jedenfalls hatten die Typen sie immer nur als eine Art Kumpel gesehen.
Bis auf Craig.
Bei ihm hatte es irgendwie sofort Klick gemacht.
Es war auf einer Verbindungsparty von Gamma-Delta-Charly gewesen, zu der Juna sie geschleppt hatte. Dass Miley mitgegangen war, hatte sie nur der Hartnäckigkeit ihrer Freundin zu verdanken, denn eigentlich mochte sie diese Verbindungsveranstaltungen gar nicht, die am Ende doch immer nur in Sauforgien ausarteten. Außerdem war sie es gewesen, die ihr Craig vorgestellt hatte.
Er war ebenfalls mit Freunden dort gewesen. Und als er sie ansprach, wusste sie, dass er der Richtige für sie war. Es lag einfach an der Art und Weise, wie er sie behandelte. Er gab ihr das Gefühl, eine Frau zu sein, und nicht nur ein dummes kleines Mädchen. Sie spürte einfach, dass das mit ihnen etwas Besonderes war, und deshalb wollte sie ihn jetzt auch heiraten: Weil sie ihn liebte und den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen wollte.
Und vielleicht auch, weil dein Stiefvater damit partout nicht einverstanden ist und du so endlich mal richtig gegen ihn rebellieren willst?
Es stimmte: Ihr Stiefvater hatte Craig von Anfang an nicht leiden gekonnt. Für ihn war er ein Nichtsnutz und Versager, der nichts leistete und sich sein teures Leben nur erlauben konnte, weil seine reichen Eltern ihm alles finanzierten. Und für seine Stieftochter stellte David Pelzer sich nun mal etwas anderes vor. Aber Miley hatte sich lange genug in ihr Leben reinreden lassen. David war nicht ihr leiblicher Vater, und ihre Mutter lebte seit fünf Jahren nicht mehr – er hatte ihr nichts zu sagen! Und genau deshalb wollte sie jetzt endlich einmal etwas tun, das sie allein entschieden hatte.
Juna schüttelte den Kopf. »Quatsch doch nicht. Dein Dad kann Craig nicht ab, und wir …«
»Ihr auch nicht«, fiel Miley ihr ins Wort. »Erzählt mir doch nichts, ihr denkt doch auch, dass er nicht der Richtige für mich ist!«
»Darum geht’s doch gar nicht«, fuhr Juna fort. »Ich kapier nur nicht, warum man unbedingt gleich heiraten muss. Aber weißt du was, es ist dein Leben. Ich kann dir nur sagen, dass ich die Sache mit der Hochzeit für eine totale Schnapsidee halte.«
»Siehst du das auch so?«, wandte Miley sich an Teri.
»Tut mir echt leid, Süße, aber was erwartest du denn? Und irgendwie tut’s mir auch echt leid für …« Sie stockte, als sie offensichtlich merkte, dass sie im Begriff stand, etwas Falsches zu sagen.
»Leid für wen?«, hakte Miley nach. »Was meinst du?«
Teri zierte sich ein wenig. »Na ja, ich musste halt gerade an Fletcher denken, und …«
»Ah, daher weht also der Wind!« Miley nickte wissend, während ihr Blick zwischen ihren beiden Freundinnen hin und her wechselte. »Ihr meint also immer noch, Fletcher will was von mir, wie? Mensch, wann kapiert ihr endlich, dass wir einfach nur gute Freunde sind? Und zwar schon seit dem Kindergarten, wenn ich das mal hinzufügen darf. So gut wie ihn kenne ich sonst niemanden. Er ist … wie ein Bruder für mich.«
»Mag ja sein«, sagte Juna, »aber das ändert nichts daran, dass er bis über beide Ohren in dich verknallt ist. Und das nicht erst seit gestern. Hör mal, Süße, wir kennen uns jetzt seit zwei Jahren, und genau so lange beobachte ich Fletchers verträumte Blicke, immer dann, wenn er auch nur in deiner Nähe ist.«
Miley schüttelte den Kopf. Sie wollte es nicht zugeben, aber natürlich wusste sie inzwischen längst, dass bei Fletcher noch andere Gefühle als reine Freundschaft im Spiel waren. Er hatte nie etwas in der Richtung gesagt, und sie hatte sich auch immer bemüht, ihm keinerlei Hoffnungen zu machen, denn für sie kam etwas anderes als Freundschaft einfach nicht infrage. Sie mochte Fletcher, wollte ihn keinesfalls verlieren, aber er war nun mal einfach nicht ihr Typ. Dabei sah er gar nicht mal schlecht aus. Er hatte tolle blaue Augen, die von innen heraus zu strahlen schienen, und besaß eine gewisse Ähnlichkeit mit Orlando Bloom, nur dass er hellblondes Haar hatte, das sich nur schwer bändigen ließ. Von der Statur her war er weniger durchtrainiert als zum Beispiel Craig, der jeden dritten Tag ins Fitnessstudio ging, aber den meisten Mädchen schien sein Look zu gefallen. Doch Miley selbst stand ganz einfach auf eine andere Art Jungs: Groß, dunkelhaarig, mit glutvollen Augen und sportlicher Figur und männlich markanter Ausstrahlung und den gewissen Ecken und Kanten.
Und genau so war Craig. Er sah einfach verdammt gut aus, wenngleich nicht perfekt, und zudem umgab ihn einfach das gewisse Etwas, wirkte ein bisschen geheimnisvoll.
Dennoch war ihr Fletchers Enttäuschung natürlich nicht entgangen, als er von der Hochzeit hörte.
»Ich habe ihm nie irgendwelche Hoffnungen gemacht«, beteuerte sie noch einmal.
»Aber du hast ihm auch nie klar und deutlich gesagt, dass aus euch nie was werden wird, oder?«, meinte Teri.
»Wieso sollte ich? Wir sind schließlich nur Freunde, und …«
»Ach, red dir doch nichts ein!«, fiel Juna ihr ins Wort. »Freundschaft zwischen Frauen und Männern, so was gibt es einfach nicht. Typen wollen immer noch was anderes von einer Frau, sonst würden sie ihre Zeit mit einem ihrer Kumpel verbringen.«
»Ach, und was ist mit dir und Bobby?