Fremdes Herz - E.F. v. Hainwald - E-Book

Fremdes Herz E-Book

E.F. v. Hainwald

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Beschreibung

»Manchmal kann uns das erlösen, was uns auf den ersten Blick teuflisch erscheint.«

Im Europa des Mittelalters hat alles seinen Platz. Auch Gräfin Isabella hat als Mutter längst ihre Pflicht für das Adelsgeschlecht von Lilienthal erfüllt.
Doch während sie eine der neuen Kathedralen begutachtet, rüttelt der Anblick der monströsen Wasserspeier gehörig an ihrem Selbstbild. Keine Predigt kann ihr Herz besänftigen - im Gegenteil, Äbtissin von Bingen schürt ihre Verzweiflung noch.
Schließlich sucht die Gräfin Antworten in den alchemistischen Künsten. Diese wecken in ihr eine Sehnsucht, die sie längst in die tiefsten Gewölbe ihres Herzens verbannt hatte ...

Eine historische Kurzgeschichte mit einem Funken Fantasy.

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I

Der sanfte Anstieg der Gasse erschien Isabella wie eine steile, kaum zu erklimmende Wendeltreppe. Mit rasselndem Atem hastete sie über den schlammverkrusteten Weg. Ihre Finger gruben sich verkrampft in den tiefblauen Stoff ihres Kleides – nur noch beiläufig hob sie dessen Saum an, um ihn vor dem Dreck zu bewahren. Das fein gewebte Leinen mit seinen unzähligen Schichten raschelte um ihre Beine, während sie, ohne langsamer zu werden, eilig nach oben blickte.

Der schmale Schlitz, der zwischen den schrägen Giebeln der Häuser den wolkenverhangenen Himmel offenbarte, wollte einfach nicht größer werden. In der Heimstadt ihres Gatten spannte er sich stets endlos weit über sie hinweg, aber in der Enge der Stadt war das Gewölbe Gottes lediglich ein kleiner Fetzen zwischen all den Gebäuden. Plötzlich fühlte sie sich wie in einen winzigen Käfig gesperrt und ihre Lunge wollte einfach nicht genug Luft in ihren Brustkorb saugen.

Daheim war es kein Problem, wenn die Markgräfin von Lilienthal allein durch die Straßen streifte, um in der Ruhe und Abgeschiedenheit nächtlicher Stunden ihren Geist ganz dem Studium zu widmen. Doch im Gedränge der winzigen Häuser und stinkenden Gassen, das die Bewohner Stadt nannten, lauerte hinter jeder Ecke Gesindel.

Die Zeit war ungeahnt schnell vorangeschritten – zu interessant war das Gespräch mit dem alten Alchemisten gewesen. Entgegen den Gepflogenheiten des Adels war der weise Mann sehr angetan davon, die Gedanken einer Frau über die Essenzen der Elemente und Wunderlichkeiten der Natur zu vernehmen. Die Ritter, die ihr zum Schutze vor Ungemach als Eskorte abgestellt worden waren, hatte sie dabei gar nicht gebrauchen können. Zum Glück war das Wort Ihrer Durchlaucht ihnen Befehl gewesen.

Doch in diesem Moment sehnte sich Isabella nach dem Geklapper ihrer Rüstungen. Immer wieder blickte sie über die Schulter zurück, aber es war niemand zu sehen. Die Straße verlor sich in gähnender Finsternis. Kurz stoppte sie ihren eiligen Lauf und hielt den Atem an.

Nichts außer ihrem donnernden Herzen drang an ihr Ohr.

»So still«, wisperte sie und starrte in die Dunkelheit.

Wieso hörte sie keine saufenden Männer und das Getrippel der Ratten? Waren diese bewegten Schatten in der Ferne dämonische Gestalten, die sich an ihrer Seele laben wollten?

Plötzlich zerriss ein dumpfer Laut die Stille.

Isabella wirbelte herum.

»Zeig dich«, hauchte sie und zerrte so fest an ihrem Gewand, dass die kunstvollen Nähte bedrohlich knackten. »Zeige dich, Kreatur der Finsternis!«, schrie sie in die Nacht hinein.

Schweigen.

Isabella starrte in die Nacht, doch nichts regte sich. Eigentlich sollte sie das beruhigen, doch diese unwirkliche Stille passte nicht zu einer Stadt.

Nach ein paar Wimpernschlägen eilte sie weiter. Lediglich die Kathedrale kam ihr als Zufluchtsort in den Sinn. Das im Bau befindliche Gotteshaus war zwar noch nicht geweiht worden war, dennoch würde es ihr offenstehen und etwas Schutz bieten. Vielleicht war auch ein Wächter oder gar Priester anwesend, um Bettler und Taugenichtse davon abzuhalten, wertvolle Werkzeuge zu stehlen? Dieser Gedanke schien ihren Beinen Flügel zu verleihen und trieb sie mit neuer Kraft vorwärts.

Wie ein Portal zu einer Festhalle öffnete sich die Gasse und mündete in einen großen, gepflasterten Platz. Die Umrisse der Kirche schälten sich aus dem Dunkel und der Sandstein strahlte so hell wie die Haut eines Engels. Isabella weitete hoffnungsvoll die Augen. In diesem Moment riss die Wolkendecke weiter auf und der silberne, volle Mond schien in all seiner Pracht auf sie herab.

»Ein Zeichen«, flüsterte sie mit bebenden Lippen. »Es ist ein Zeichen. Hab Dank, Gott im Himmel!«

Die Kathedrale erhob sich in all ihrer Pracht vor ihr. Schmale, beinahe spindeldürre Pfeiler rahmten unzählige Fensteraussparungen, die statt in herkömmlichen, runden Bögen in eleganten Spitzen endeten. Ornamente wanden sich über den Stein und verliehen ihm etwas Organisches. Statuen zierten jeden Vorsprung und verwandelten die Wände in Szenerien aus der Heiligen Schrift.

Isabellas Puls verlangsamte sich, ihr Geist klärte sich. Binnen Momenten war die Furcht kaum noch in ihren Venen zu spüren und die Faszination über die erstaunliche Schaffenskraft menschlicher Hände verdrängte die Furcht, die ihr eben noch die Sinne hatte rauben wollen.

Ein sanftes Lächeln umschmeichelte ihre Lippen, gerade als sie erneut das seltsam dumpfe Geräusch vernahm. Dieses Mal vermochte sie es zu erkennen: das Schlagen riesiger Schwingen.

Sofort loderte die Angst wieder auf und sie riss ihr Kinn nach oben. Eilig suchte sie mit dem Blick den Himmel ab. War dort gerade ein geflügelter Schatten zum Hauptschiff der Kirche geglitten?

Noch einmal ertönte das Flügelschlagen.

Viel näher – zu ihrer Rechten!

Isabella schaute nicht mehr hin. Sie rannte los.

Weg von dem noch gottlosen Haufen Stein und den Dämonen, die sich womöglich an den Seelen verunglückter Steinmetze labten und noch immer durch die Arkadengänge huschten.

»Herr im Himmel, gesegnet sei Dein Name. Dein Reich komme, Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden …«, keuchte sie mit Tränen in den Augen.

Nur der kalte Stein lauschte ihren Worten.