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Moral und Sitte in der Donaumonarchie Außereheliche Verhältnisse gehörten im Wien um 1900 in allen gesellschaftlichen Schichten zum gelebten Alltag. Die Autorinnen gehen nun der Frage nach der gesellschaftlichen Akzeptanz der Geliebten, ihrer finanziellen Situation, vor allem aber auch dem Umgang mit aus diesen Verbindungen hervorgegangenen Kindern nach. Anhand zahlreicher Schicksale, von der Tänzerin Marie Schleinzer und der Sängerin Louise Robinson, den beiden langjährigen Geliebten Erzherzog Ottos und ihren Kindern, der Familie Wallburg - Nachkommen Erzherzog Ernsts - über Mizzi Zimmermann, Mutter zweier außerehelicher Kinder Gustav Klimts, bis zu Elisabeth Kotter, einem einfachen Dienstmädchen und Mutter zweier Kinder von Felix Salten, werden persönliche Lebenswege nachgezeichnet. Während Männer ihre "zweiten Menagen" mehr oder weniger offen leben konnten, mussten Frauen, darunter auch Louise Coburg, für ihre Liebesbeziehungen damals jedoch noch mit einer Einweisung in die Irrenanstalt büßen. "Ist das Weib geistig normal entwickelt und wohlerzogen, so ist sein sinnliches Verlangen ein geringes. Wäre dem nicht so, müsste die ganze Welt ein Bordell und Ehe und Familie undenkbar sein." Richard von Krafft-Ebing, Psychiater und Rechtsmediziner, 1886
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Seitenzahl: 171
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Sabine Fellner • Katrin Unterreiner
Frühere Verhältnisse
Sabine Fellner • Katrin Unterreiner
Frühere Verhältnisse
Geheime Liebschaftenin der k. u. k. Monarchie
Mit 11 Abbildungen
Bildnachweis
Bildarchiv ÖNB/imagno (S. 31, 80, 90, 95, 135)
Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv (S. 100)
Privatbesitz (S. 27. 29, 49, 57, 118)
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Herstellung: studio e, Josef Embacher
Gesetzt aus der 12/14,5 pt Adobe Garamond
Gedruckt in der EU
ISBN 978-3-85002-727-4eISBN 978-3-90286-242-6
Vorwort
Bürgerliche Verhältnisse
»Unkenntnis und Vorurteil«
Empfängnisverhütung
»Falls es am Leben bleibt …« – Ungewollte Kinder
Arthur Schnitzler, Felix Salten und Gustav Klimt
»Die Frucht des Fehltritts vor der Welt verbergen«
Das Wiener Gebär- und Findelhaus
»Kummer und Elend, Sünde und Pein«
Dienstmädchen als ledige Mütter
»… lebten unseren Rausch und kümmerten uns wenig«
Alma Mahler-Werfel
»Ein sicheres Mittel gegen Störungen«
Schwangerschaftsabbruch
Liebschaften im Kaiserhaus
»Wenn die fürstlichen Frauen sich vergessen«
Erzherzogin Louise von Toskana
Die »zu Galanterien gegen das schöne Geschlecht auffällig geneigten Erzherzoge«
Konfidentenberichte des Informationsbüros
»… jetzt ganz auf Balletteusen versessen«
Erzherzog Otto
»Eine stadtbekannte Cocotte als Favoritin«
Kronprinz Rudolf
»Wenn Sie mich lieb haben, erwarten Sie mich im Bett«
Kaiser Franz Joseph
»Hilfe des Gerichtes zur Erlangung einer Alimentation«
Erzherzog Leopold Ferdinand
Wenn »der Mensch erst beim Baron anfängt«
Erzherzog Heinrich
»Mein Vater sprach kein Wort«
Erzherzog Ernst
»Ein sechs Jahre währender Racheakt«
Louise Prinzessin von Sachsen-Coburg
»Ein wenig irrsinnig«
Sophie Herzogin von Alençon
Anhang
Unterhalts- und Erbrecht unehelicher Kinder zur Zeit der k. u. k. Monarchie
Gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs
Quellen und Literatur
Danksagung
Anmerkungen
»Ist das Weib geistig normal entwickelt und wohlerzogen, so ist sein sinnliches Verlangen ein geringes. Wäre dem nicht so, müsste die ganze Welt ein Bordell und Ehe und Familie undenkbar sein«, so der Psychiater und Rechtsmediziner Richard von Krafft-Ebing.1 Angesichts der Tatsache, dass in Wien Mitte des 19. Jahrhunderts jedes zweite Kind unehelich zur Welt kam, scheinen diese Ängste nicht ganz unbegründet gewesen zu sein. Wie war es möglich, dass zu einer Zeit, da der Anblick eines unbedeckten Frauenknöchels bereits zum Skandal geriet, derartig viele »Fehltritte« mit Folgen passierten? Wer waren diese »wohlerzogenen Frauen mit mäßig sinnlichem Verlangen«, die uneheliche Kinder zur Welt brachten? Wie reagierte die Gesellschaft auf derartige Vergehen? Was geschah mit den Müttern und ihren in Schande geborenen Kindern in einem Umfeld, das »die Sexualität als ein anarchisches und darum störendes Element, das man nicht am lichten Tage schalten lassen dürfe, weil jede Form einer freien Liebe dem bürgerlichen ›Anstand‹ widersprach«, empfand?2
Tatsache ist, dass außereheliche Verhältnisse offensichtlich im 19. Jahrhundert gelebte Praxis waren, wie dies Otto Friedländer, Chronist der Monarchie, nicht ohne Sarkasmus beschrieb:
Männer flüchten aus unglücklichen Ehen in eine sogenannte ›zweite Menage‹. Es gibt zahllose ›zweite Menagen‹ vom Kaiser herab bis zum wohlhabenden Gewerbetreibenden. Das Eigentümliche ist, daß die zweite Menage genauso aussieht wie die erste, nur etwas billiger: Hat die erste Menage vier Dienstleute, dann hat die zweite zwei und so weiter. Meistens gibt es in der zweiten Menage auch Kinder, und kein Mann empfindet sie als weniger verpflichtend als die erste.3
Also auch die Mitglieder des Kaiserhauses und des Adels pflegten diese Usancen, wie die »zweiten Menagen« Erzherzog Ottos mit Marie Schleinzer und Louise Robinson zeigen. Sogar der Kaiser selbst war davon nicht ausgenommen:
Manche Frauen der ersten Menage fördern die zweite geradezu. Mit Abenteuer, Verschwendung und Leichtsinn haben diese zweiten Menagen gar nichts zu tun – nicht einmal viel mit Erotik. Es soll zweite Menagen geben, die überhaupt nichts mit Erotik zu tun haben. Das behaupten viele, die etwas wissen sollten, zum Beispiel von der zweiten Menage des Kaisers.4
Was geschah nun, wenn diese Verbindungen – wie die Statistiken zeigen offensichtlich häufig – Folgen hatten und die Frauen schwanger wurden. Standen die Väter zu ihren heimlichen Geliebten und unehelichen Kindern?
Das Buch geht der Frage nach, wie heimliche Geliebte versorgt und mit außerehelichen Schwangerschaften im Kaiserhaus, in den Villen der Bürger und in den Dachkammern der Dienstmädchen verfahren wurde.
Die so angestrengte Wahrung des Anstands sollte vor allem dem aufstrebenden Bürgertum eine von allen respektierte Stellung innerhalb der Gesellschaft garantieren. Der Lebensstil des Adels war unpassend für die bürgerliche Welt:
Den hohen Aristokratinnen ist jede Freiheit erlaubt: Sie dürfen so schäbig oder so kühn angezogen sein, wie sie wollen, sie dürfen sich laut schreiend unterhalten, die Füße übereinanderschlagen, dass man die halben Waden sieht, sich schminken, Verhältnisse haben. Wenn eine bürgerliche Frau solche Dinge tut, ist sie unmöglich und ist eine »Person«. Die Leute, die etwas auf sich halten verkehren nicht mit ihr und die Lieferanten nehmen sich Vertraulichkeiten heraus.5
Die Moralvorstellungen des städtischen Proletariats waren wiederum auf Grund der Lebensumstände gezwungener Maßen frei. Die Wohnverhältnisse innerhalb der Stadt, die das enge Beisammenwohnen mehrerer Generationen in einem Raum erzwangen, ergaben für die Kinder nicht nur freiwillig einen frühen Zugang zur Sexualität. Zum einen blieb nichts verborgen, zum anderen kam es oft zu sexuellen Übergriffen durch Erwachsene auf die Kinder, teils durch die eigenen Väter, teils durch die sogenannten Bettgeher, die gegen Geld einen Schlafplatz für die Nacht mieteten.
Die bürgerliche Welt musste also gegen den hemmungslosen Adel auf der einen Seite und das Proletariat, das roh und unbekümmert war, auf der anderen Seite abgegrenzt, Triebe und Leidenschaften daher möglichst im Verborgenen ausgelebt werden. »In diesem Zwiespalt erfand nun jene Zeit einen sonderbaren Kompromiss. Sie beschränkte ihre Moral darauf, dem jungen Menschen zwar nicht zu verbieten, seine Vita sexualis auszuüben, aber sie forderte, daß er diese peinliche Angelegenheit in irgendeiner unauffälligen Weise erledigte. War die Sexualität schon nicht aus der Welt zu schaffen, so sollte sie wenigstens innerhalb ihrer Welt der Sitte nicht sichtbar sein. Es wurde also die stillschweigende Vereinbarung getroffen, den ganzen ärgerlichen Komplex weder in der Schule, noch in der Familie, noch in der Öffentlichkeit zu erörtern und alles zu unterdrücken, was an sein Vorhandensein erinnern könnte«6, beschrieb Stefan Zweig in seinen Lebenserinnerungen das Dilemma, in dem die Gesellschaft der k. u. k. Monarchie steckte.
Verschärft wurde das Problem durch den Umstand, dass der durchschnittliche bürgerliche Mann erst relativ spät eine Ehe eingehen konnte, da er ja bereits über ein beträchtliches Vermögen verfügen musste, um seiner Frau ein standesgemäßes Leben bieten zu können. Welch schwierige und teure Angelegenheit eine Heirat war, lässt sich vor allem bei Angehörigen des Militärs nachvollziehen, die eine hohe Kaution entweder als Rücklage zur Versorgung der Witwe, oder aber als Pension hinterlegen mussten. Erst mit steigendem Dienstgrad verringerte sich diese Kaution.
War man zu arm, um eine Ehe einzugehen, blieb die Möglichkeit eines eheähnlichen Verhältnisses:
Ein gebildeter, aber mittelloser Mann, der z. B. um der Prostitution oder sonstigen Unsitten zu entgehen, als Student heiraten und vielleicht mit seiner Frau in einem Zimmer und ohne weiteren Aufwand leben möchte, wird schwerlich ein gebildetes Mädchen finden, das sich dazu hergibt. Alles muss nach der herrschenden Mode und »standesgemäß« geschehen, sodaß die Ehe dadurch in den meisten Fällen unmöglich gemacht wird. Dennoch kann der gleiche Student im Konkubinat leben, weil bei diesem Verhältnis die genannten Vereinfachungen zulässig sind. Warum können aber dieselben Existenzmittel, die zu einem Konkubinat reichen, für eine Ehe unmöglich genügen?7
Diese Notlösung war zwar gelebte Praxis, wurde offiziell aber von der bürgerlichen Moral strikt abgelehnt. Man ging sogar mit allen zu Verfügung stehenden Mittel dagegen vor. Als 1867 Theodor Weiß von Starkenfels die Polizeidienststelle in Wien übernahm, begann die Sittenpolizei nicht nur gegen die Prostitution besonders streng vorzugehen, sondern auch gegen das Konkubinat. Bezirksdirektionen gingen gegen Paare vor, die ohne Trauung zusammenlebten. Ausländer wurden ausgewiesen, Paare, die gemeinsame Kinder hatten, getrennt.8
War eine Ehe nach Erfüllung aller geforderten Voraussetzungen – dies bedeutete für den Mann ein geregeltes, angemessenes Einkommen und eine gewisse gesellschaftliche Stellung, für die Frau einen makellosen Ruf und selbstverständlich Unberührtheit – endlich doch geschlossen, blieb auch hier fern der Öffentlichkeit kein Platz für Unmäßigkeit. Vor allem den Frauen wurde dies deutlich gemacht: Die »ehelichen Pflichten … dienen dem sittlichen Zweck der Fortpflanzung. Keinesfalls dürfen sie den Vorwand für geschlechtliche Unmäßigkeit abgeben. Daraus ergibt sich die Frage, wie oft der Geschlechtsgenuß erlaubt ist, ohne Schaden zu stiften. Durchschnittlich soll der Akt nicht öfter als einmal in der Woche ausgeübt werden.«9
Ein zusätzliches Problem war, dass Ehen in bürgerlichen Kreisen nicht aus Liebe geschlossen wurden: »… äußere Verhältnisse, materielle Momente, Nützlichkeitsgedanken … stehen im Vordergrund. Die Mehrzahl der Ehen der Gegenwart sind nicht Liebesheiraten oder Zuneigungsheiraten, sondern Konvenienzehen.« In den meisten Fällen erkoren die Eltern einen passenden Heiratskandidaten für ihre bis dahin streng unter Verschluss gehaltenen Töchter, die sich in ihr Schicksal zu fügen hatten.
Theodor Fontane zeichnete dies im Schicksal Effi Briests, die aus gesellschaftlichem Ehrgeiz eine Vernunftehe mit einem zwanzig Jahre älteren Baron eingeht, literarisch nach. Aus Langeweile und weil sie sich von ihrem Mann vernachlässigt fühlt, geht Effi ein Verhältnis mit dem charmanten, lebenslustigen Frauenheld Major von Crampas ein: »Weil ihr, wenn auch unklar, dabei zum Bewusstsein kam, was ihr in ihrer Ehe eigentlich fehlt: Huldigungen, Anregungen, kleine Aufmerksamkeiten. Instetten war lieb und gut, aber ein Liebhaber war er nicht.«10
Das Ergebnis all dieser Restriktionen und Hürden die zu überwinden waren, um eine Ehe mit einem oft ungeliebten Partner einzugehen, waren mehr oder weniger öffentlich gelebte voreheliche und außereheliche Verhältnisse. Tatsächlich gab es zahlreiche Möglichkeiten unverbindliche Verhältnisse einzugehen:
Den Frauenhelden, die ihr Gewissen gut im Griff hatten, verschaffte ein Verhältnis mit dem – wie Schnitzler es die Wiener lehrte – »süßen Mädel« unbelastete Wonnen, die zu nichts verpflichteten. Ein bisschen gut berechnetes Liebesgeflüster, hin und wieder ein Abendessen in einem der gerade beliebten Restaurants oder ein Wochenende auf dem Lande: Das empfanden junge, lebenshungrige Frauen schon als adäquaten Lohn für die von ihnen gewährte Gunst.11
Dass das Eingehen eines derartigen Verhältnisses von Seiten der aus einfachsten Verhältnissen stammenden Frauen nicht nur dem Lebenshunger entsprang, sondern sehr wohl der Hoffnung nach finanzieller oder gesellschaftlicher Besserstellung, versteht sich angesichts ihrer kümmerlichen Lebensumstände wohl von selbst. Schnitzler, als homme de femmes bekannt, ging selbst eine seiner zahlreichen Liebschaften mit einem einfachen Mädchen ein:
Indes hatte Jeanette selbst begonnen, mir ihre finanziellen Verlegenheiten einzugestehen, und die Annahme der recht geringen Summen nicht verweigert, die ich ihr gelegentlich von London aus zur Verfügung stellen konnte. Ihre Handarbeit brachte ihr wenig oder nichts ein. Aus einem Sticksalon, wo sie für die mühselige Arbeit von acht bis eins und drei bis sieben einen Monatsgehalt von zwanzig Gulden bezogen hatte, war sie wegen Herzbeschwerden, Blutspucken, Kopfweh und Rückenschmerzen bald wieder ausgetreten, was mir schon darum recht war, weil sie nun wenigstens nicht allabendlich den für ihre zweifelhafte Tugend doppelt, sechs- und hundertfach bedenklichen Weg aus der Stadt nach Hernals wandern mußte. Nun stickte und häkelte sie zu Hause und lieferte ihre Arbeiten an Geschäfte ab, erhielt aber das ausbedungene Honorar meistens nur unter Schwierigkeiten oder gar nicht ausbezahlt …12
Ihre Situation kann wohl stellvertretend für zahllose ähnliche Schicksale betrachtet werden. Als Jeanette den ihr ein solides Leben versprechenden Heiratsantrag »eines Buchhalters bei Haberfellner in der Burggasse« zugunsten Schnitzlers ausschlug, beeilte sich Schnitzler zu betonen, »daß ich ihrem Glück nicht im Wege stehen wolle, um so weniger, als ich ja entschlossen sei, sie niemals zu heiraten.«13 Literarisch in Form gebracht findet man diese Episode in »Der Weg ins Freie«, und erfährt Näheres über die Praxis Verhältnisse dieser Art elegant zu beenden. Die Geliebte erhält hier allerdings eine noble Abfertigung:
»Die Kleine«, sagte Oskar Ehrenberg zu Georg, während Amy mit Heinrich vorausging, »die ahnt auch nicht, daß wir heute das letztemal zusammen im Prater spazieren gehen.«
»Warum denn das letztemal?«, fragte Georg ohne tieferes Interesse.
»Es muß sein«, erwiderte Oskar. »Solche Sachen dürfen nicht länger dauern als höchstens ein Jahr. Sie können sich übrigens vom Dezember an bei ihr Ihre Handschuhe kaufen«, fügte er heiter, aber nicht ohne Wehmut hinzu. »Ich richte ihr nämlich ein kleines Geschäft ein. Das bin ich ihr gewissermaßen schuldig, denn ich hab sie aus einer ziemlich sicheren Situation herausgerissen.
»Aus einer sicheren?«
»Ja, sie war verlobt. Mit einem Etuimacher.«14
War ein Seitensprung beim Mann toleriert, so war er bei der Frau offiziell undenkbar. Eine Publikation aus dem Jahre 1916 mit dem Titel »Die sexuelle Untreue der Frau. Erster Teil: Die Ehebrecherin« macht dies mehr als deutlich. »Die eheliche Treue der Frau ist, um ein Goethesches Wort zu gebrauchen, ›der Anfang und Gipfel aller Kultur‹, von ragender Bedeutung für den sittlichen Aufbau der Familie, für die glückliche Entwicklung der Gesellschaft, für die gedeihliche Wohlfahrt des Volkstums, für die reine Wahrung der Rasse – von lebensspendender Wichtigkeit für den einzelnen wie für die Grund genug, daß die Negation, die Geschlechtsuntreue der Ehefrau, das Interesse des Arztes und Sozialisten, des Staatsmannes und Rechtsgelehrten, des Geistlichen und Biologen in hohem Maße in Anspruch nimmt«15, heißt es hier im Vorwort. Mit einem Seitenhieb auf zaghaft aufkommende Emanzipationsbestrebungen der Frauen in Hinblick auf die eheliche Treue wird weiter ausgeführt:
Dennoch sind unsere Frauenrechtlerinnen in einem großen Irrtume befangen, wenn sie aus der Untreue des Mannes das Recht des geschlechtlichen Treuebruches für die Frau ableiten. Dazu sind die Rollen der beiden Gatten im sexuellen Akte zu verschieden. Der Mann kann in der Ehe Seitensprünge machen, ohne daß die Folgen derselben tief eingreifend sein müssen, er kann jeden Augenblick reuige Buße tun, ohne daß der angerichtete Schaden nicht gut zu machen wäre. Die Untreue der Frau vergiftet die Seele derselben für immer, erschüttert die Grundlage der Harmonie zwischen Mutter und Kindern, stellt die Legitimität der letzteren in Frage und bringt einen unheilbaren Riß in das Familienleben.16
Deutlich wird hier, dass die Untreue des Mannes und eine eventuell daraus resultierende Schwangerschaft als ein gut zu machender Schaden angesehen wurde, in welcher Form bleibt offen. Hingegen verbot die essentielle Notwendigkeit sich seiner Erben sicher zu sein, radikal jeden Fehltritt seitens der Frauen. Die hier vertretene scheinheilige Doppelmoral wurde von einer Gynäkologin, die sich der Aufklärung der Frauen in einem medizinischen Ratgeber mit aller Offenheit annahm, klar formuliert:
Es gilt eben auf dem ganzen Gebiet des Geschlechtslebens die doppelte Moral, die jede geschlechtliche Betätigung des Mannes, selbst die auf Kosten eines Menschenschicksals geübte, für erlaubt und einwandfrei, die der von ihm doch erst dazu veranlaßten Frau dagegen für ehrlos und verbrecherisch erklärt. Diese doppelte Moral aber ist im höchsten Maße unmoralisch und muß aufs Nachdrückliche bekämpft werden. Es ist unbedingt zu verlangen, daß der außereheliche Geschlechtsverkehr des Mannes nicht mehr als selbstverständliche Notwendigkeit gelte …17
Angesichts der Tatsache, dass außereheliche Verhältnisse erschreckend häufig zu ungewollten Schwangerschaften führten, die in erster Linie für die Frauen katastrophale Folgen hatten, stellt man sich die Frage nach der Empfängnisverhütung. Welche Möglichkeiten gab es und warum wurden diese offensichtlich nur sehr eingeschränkt angewandt?
Eine Flut von ärztlichen Ratgebern und Aufklärungsbüchern versuchte Ende des 19. Jahrhunderts sexuelle Aufklärung zu leisten, um einerseits die in allen Bevölkerungsschichten wütenden Geschlechtskrankheiten Syphilis und Gonorrhö (Tripper) in den Griff zu bekommen und andererseits die hohe Zahl unehelicher Kinder zu reduzieren. Manche Ärzte sahen sich wohl auch veranlasst, jenen Ehefrauen beratend beizustehen, die erschöpft von zahlreichen Schwangerschaften einfach keine weiteren Kinder wollten.
Verblüffend ist die Tatsache, dass der Zyklus der Frau im 19. Jahrhundert in gutbürgerlichen Kreisen offenbar ein Geheimnis war, sowohl für die Frauen selbst als auch für die Ärzte. Jahrhunderte altes Wissen von Geburtshelferinnen und Heilerinnen bezüglich Empfängnis, Verhütung oder aber Abtreibung schien verloren gegangen. Erst in den 20er-Jahren gelang es dem österreichischen Arzt Hermann Knaus und – unabhängig von ihm – seinem japanischen Kollegen Kyusaku Ogino, den Zeitpunkt des Eisprungs zu ermitteln und damit die fruchtbaren Tage der Frau festzustellen. Knaus stellte diese Erkenntnisse 1929 auf einem Gynäkologenkongress vor. Bis dahin schien selbst in Ärztekreisen das Thema Empfängnisverhütung von geringer Bedeutung gewesen zu sein, zeugte doch auch der Arzt Arthur Schnitzler uneheliche Kinder. Seinen Tagebüchern ist zu entnehmen, dass er während seiner Liaison mit Marie Reinhard 1896 mit der Frage der Verhütung zwar konfrontiert war, sich aber nicht besonders verantwortungsvoll verhielt. Seine Vorsicht wurde von Marie als Mangel an Zärtlichkeit beklagt, daraufhin wurde er wütend und »nannte sie ein dummes Weib – dann war ich unvorsichtig.«18 Marie wurde wenig später schwanger.
Unter den damals zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, war die sicherste und einzige auch von der Kirche akzeptierte Form der Verhütung, die Enthaltsamkeit. Sie war begreiflicherweise nicht sonderlich beliebt und wurde vor allem von jenen Frauen praktiziert, die nach zahlreichen Schwangerschaften keine Kinder mehr wünschten. Sie verbannten ihre Ehemänner kurzerhand aus dem Schlafzimmer.
Eine der ältesten und einfachsten Methoden der Empfängnisverhütung war der Coitus interruptus. Er bedurfte keiner wie auch immer beschaffenen Hilfsmittel und keiner Unterstützung von Ärzten oder Apothekern. Einerseits in medizinischen Ratgebern empfohlen, wurde doch immer wieder diskutiert, ob der vorzeitige »Rückzug« den Genuss des Liebesaktes beinträchtige. James Ashton wusste in dieser Hinsicht zu beruhigen und gab auch gleich Anweisung, wie die Mann vorzugehen hatte: »Man nehme stets eine saubere Serviette mit ins Bett, die der Mann während des ehelichen Akts in der Hand hält. Dann wird es ein Leichtes sein, diese Serviette so zu halten, dass sie im Augenblick des Rückzugs den Samen aufnehmen kann.«19
Die Ansichten über diese Form der Verhütung blieben allerdings geteilt und sie wurde von manchen Ärzten verurteilt: »Diese Praxis ist höchst peinlich. Sie stört nicht nur den Genuss, sondern direkt die Samenentleerung und ist nicht einmal sicher …«20
Andere wieder mutmaßten, dass sie eine schwere gesundheitliche Schädigung des Mannes mit sich brächte:
Vor diesem Hilfsmittel kann nicht dringend genug gewarnt werden, da es das Nervensystem des Mannes in außerordentlichem Grade schädigt. Die Anstrengung, im Augenblick der höchsten Erregung abzubrechen, ist so groß, daß bei dauerndem Befolgen dieses Gebrauchs schwere Nervenstörungen eintreten, die nicht selten Jahre hindurch anhalten.21
Der Coitus interruptus war natürlich mehr als unsicher. Eine den Frauen empfohlene, allerdings ebenfalls als höchst unzuverlässig eingestufte Methode waren Spülungen: »Das Weib kann sofort vor und nach dem Beischlaf eine Ausspritzung der Scheide mit lauwarmem Wasser und Essig 3 % bis 5 % vornehmen. Dieses Mittel ist stets anzuwenden, wenn irgendein anderes Mittel (auch ein vom Mann angewendetes) versagt, oder irgendeine Ungeschicklichkeit passiert. Sicher ist es aber keineswegs.«22
Neben Spülungen gab es die Möglichkeit chemischer Substanzen in Zäpfchen- oder Pulverform, die vor dem Geschlechtsakt eingeführt, den männlichen Samen abtöten sollten. Der Nachteil dieser Methoden lag in der schlechten Verträglichkeit dieser chemischen Cocktails, die zu schweren Entzündungen führen konnten.
Generell wäre als Schutz vor Ansteckung ein Präservativ angeraten gewesen, doch in medizinischen Ratgebern wird immer wieder der Verlust des Lustgewinns zur Debatte gestellt. Die Qualität und Verlässlichkeit der damaligen Produkte kann mit heutigen nicht verglichen werden. Präservative kannte man bereits seit der Antike. Damals waren sie aus Fisch- oder Lämmerdarm gefertigt und sollten vor allem die weit reisenden Söldner vor Ansteckung bewahren. Bis ins 19. Jahrhundert wurden Präservative aus Guttapercha23, Fischblasen oder aus den Blinddärmen von Schafen hergestellt. 1843 gelang die Vulkanisierung des Kautschuks und ermöglichte damit eine serienmäßige Produktion von Präservativen. Mit dem Aufkommen des Kautschuk-Präservatives begann man dieses auch als sicheres Mittel gegen eine ungewollte Schwangerschaft zu akzeptieren: »Das einfachste und zweckmäßigste Mittel ist, über das erigierte männliche Glied eine undurchlässige Membran von der Form eines Handschuhfingers zu ziehen.«24
Hier wird auch ausgeführt wie man Kondome wäscht und mehrmals verwenden kann:
Man kann den gleichen Condom, wenn er solid ist, sehr oft brauchen, wenn man, nachdem er gewaschen und zwischen zwei Tüchern beiderseits getrocknet ist, Luft hineinbläst, die Öffnung an der Basis zudreht und den so aufgeblasenen Condom bis am Morgen, am besten auf einem Stück Wollstoff, trocknen lässt. Dann dreht man die Öffnung wieder auf, weitet sie gleich aus, bevor sie zu hart geworden ist, und der Condom ist von neuem gebrauchsfähig.25
Mit dieser Methode ließ sich auch gleich die Unversehrtheit überprüfen. Der aus heutiger Sicht befremdlich erscheinende Umstand, dass Kondome mehrmals verwendet wurden, findet einige Zeilen weiter seine Erklärung: »Diese Details sind alle sehr wichtig, denn arme Leute können sich solche ziemlich teuren Dinge nicht jedesmal frisch kaufen.«26
Tatsächlich waren Kondome 1900 noch vergleichsweise teuer, ein vulkanisiertes Kautschukpräservativ der Firma Julius Fromm kostete 1 Krone, das entsprach dem Tagesverdienst einer Fabrikarbeiterin.27 Ein Dienstmädchen verdiente zehn bis zwanzig Kronen im Monat, ein Kondom war also nicht unbedingt das Verhütungsmittel erster Wahl – ganz abgesehen davon, dass das Wissen um Verhütung nicht nur in diesen Kreisen der Bevölkerung mehr als mangelhaft war. Der engagierte Arzt August Forel, der seine Publikation schon im Titel den »Gebildeten« widmete, sprach diesen Umstand direkt an: