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Die legendäre Herrscherin abseits der Klischees Nach dem Tod ihres Vaters, Kaiser Karl VI., trat Maria Theresia ein schweres Erbe an: Der Angriff Friedrichs II. auf Schlesien stürzte den Staat in eine ernste Krise. Es galt, mit zahlreichen Reformen für einen Modernisierungsschub zu sorgen. Gleichzeitig war Maria Theresia eine absolutistische Regentin, die einen barocken Lebensstil pflegte: Inszenierte Frömmigkeit und prächtige Feste bestimmten ihren Alltag. Als Mutter zeigte sie sich ihren Kindern gegenüber oft kompromisslos – die Staatsräson stand im Vordergrund. Habsburg-Expertin Katrin Unterreiner blickt hinter die Kulissen und geht den Mythen auf den Grund. Anhand zahlreicher Fragen, die aufgrund neuester Quellen bestätigt oder als Legende entlarvt werden, ermöglicht sie einen spannenden Blick auf die Persönlichkeit Maria Theresias und ihre Politik.
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Seitenzahl: 171
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Maria Theresia
Mythos & Wahrheit
Die Initialen Maria Theresias am Eingangstor zum Tiergarten Schönbrunn.
Foto: Gerhard Trumler.
Maria Theresia, porträtiert von Jean-Étienne Liotard.
Katrin Unterreiner
Maria Theresia
Mythos & Wahrheit
Kaiser FranzI. Stephan und Maria Theresia mit dem 1741 geborenen Sohn Joseph in ungarischer Tracht. Gemälde von unbekanntem Künstler.
Cover
Titel
Einleitung
Pragmatische Sanktion für Maria Theresia?
Liebesheirat mit Franz Stephan von Lothringen?
Gut vorbereitet auf den Thron?
Kaiserin oder doch nicht?
Franz Stephan – träger Lebemann oder cleverer Manager?
Feierte gerne?
Frönte dem Glücksspiel?
Von Mozart geküsst?
Sprach Wienerisch?
Begeisterte und liebevolle Mutter?
Erzog ihre 16 Kinder selbst?
Verheiratete ihre Kinder aus rein politischen Gründen?
Liebte alle Kinder gleich?
Kontrollsüchtig?
Distanziertes Verhältnis zu Joseph II.?
Marie Antoinette – ihr Sorgenkind?
Reformerin oder Traditionalistin?
Empfing Juden nur hinter einem Paravent?
Friedenskaiserin oder kriegslüstern?
Mit Friedrich von Preußen verfeindet?
Glückliche Ehe mit Franz Stephan?
Bigott und eifersüchtig?
Altersdepressiv?
Starb an „Wassersucht“?
Anhang
Anmerkungen
Quellen und Literatur
Bildnachweis
Impressum
Das Zentrum des Reiches: Schloss Schönbrunn. Gemälde von Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, um 1759.
War Maria Theresia wirklich eine liebevolle und sich aufopfernde Mutter, die neben den Regierungsgeschäften ihre 16 Kinder selbst erzog, oder eine kühl berechnende Monarchin, die ihre Kinder aus politischen Gründen verschacherte? Hatte sie Lieblingskinder, die sie bevorzugte? Stimmt es, dass sie vor lauter Eifersucht auf ihren ständig fremdgehenden Mann die Keuschheitskommission einführte, oder war es doch eine glückliche Ehe? Verdanken wir die großen berühmten Reformen wie die allgemeine Schulpflicht, die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Abschaffung der Folter wirklich der großen Monarchin? War sie tatsächlich so korpulent, dass sie sich Aufzugsmaschinen bauen ließ, da sie keine Treppen mehr steigen konnte, und wie war nun wirklich ihr Verhältnis zu ihrem großen politischen Gegenspieler König FriedrichII. von Preußen?
Diese Fragen wurden mir nicht nur während meiner Tätigkeit als Fremdenführerin in Wien, sondern auch später als wissenschaftliche Leiterin der Schloss Schönbrunn Kultur- und BetriebsgesmbH immer wieder gestellt. Um die gängigsten Klischees und Legenden rund um die Habsburger der historischen Realität gegenüberzustellen, hatte ich vor ein paar Jahren die Idee zum Buch Die Habsburger – Mythos und Wahrheit, dessen großer Erfolg mich inspirierte, anlässlich des 200. Geburtstages Kaiserin Maria Theresias einen neuen Band zu schreiben. In diesem Buch drehen sich die Fragen ausschließlich rund um die populäre Habsburgerin und ihre große Familie, die schon zu ihren Lebzeiten für viel Aufregung, Verwirrung und zahlreiche Anekdoten sorgten. Um dem historischen Kern der vielen Legenden auf die Spur zu kommen bzw. um sie als populäre Erfindungen zu entlarven, sind die historischen Quellen nötig: Briefe, Tagebücher, Denkschriften und Memoiren vertrauter Zeitgenossen. Zu den spannendsten Quellen zählen neben dem regen Schriftverkehr Maria Theresias mit ihren Kindern und Vertrauten bis heute die Tagebücher ihres Obersthofmeisters Fürst Khevenhüller sowie Berichte der nach Wien gesandten Botschafter. Am ergiebigsten sind jene des Grafen Podewils, der detaillierte Berichte an Friedrich verfasste und dabei auch auf alle schon damals verbreiteten Gerüchte einging – auch wenn seine Einschätzung nicht immer den Tatsachen entsprach, da es dem Wiener Hof in vielen Fragen geschickt gelang, den preußischen „Spion“ zu täuschen und in die Irre zu führen. Aber auch die zahlreichen noch erhaltenen Briefe von und an die Kaiserin – vor allem an enge Vertraute wie Rosalia „Salerl“ Edling, Sophie Enzenberg und Maria Antonia von Sachsen – erlauben einen unmittelbaren Einblick in ihre Gedankenwelt, ihre Sorgen und Alltagsprobleme. Ein besonderes Vergnügen stellen die Briefe ihres Mannes Franz Stephan dar, die in lautmalerischem Französisch geschrieben sind und damit für äußerst unterhaltsame Stunden im Staatsarchiv sorgten. An dieser Stelle möchte ich mich ein weiteres Mal ganz herzlich beim Team des Haus-, Hof- und Staatsarchivs bedanken, das mir stets hilfreich zur Seite stand – allen voran bei Direktor Thomas Just, der mir wieder wertvolle Tipps und Hinweise für meine Recherchen gab und entscheidend dazu beigetragen hat, dass ich auch neue, bislang unbeachtete Quellen sichten konnte.
Der Vater: Kaiser KarlVI. Porträt nach einem Stich von Christoph Weigel.
KarlVI. stand vor einem Dilemma. Der überraschende frühe Tod seines älteren Bruders JosephI. im Jahre 1711, der bei seinem Tod „nur“ zwei Töchter hinterließ, hatte ihm vor Augen geführt, dass die Erbfolge schnell auf eine andere Linie wechseln konnte. Er selbst hatte bei seiner Thronbesteigung noch keine Kinder und mit der Rückkehr seiner Gemahlin Elisabeth Christine aus Spanien nach Wien – die in der Hoffnung, Spanien für die Habsburger retten zu können, als Statthalterin ihres Mannes bis 1713 in Barcelona zurückgeblieben war – hatten sich Rangstreitigkeiten mit der Witwe Josephs sowie deren Töchtern ergeben. Denn seine Nichten ließen langsam, aber sicher Erbansprüche für sich und ihre Nachkommen anklingen – war doch die Ehe des Kaisers bis dahin nach wie vor kinderlos geblieben. Karl sah sich daher gezwungen, die Erbfolge der gegebenen Situation anzupassen, und erließ vor diesem Hintergrund 1713 die sogenannte Pragmatische Sanktion, in der die Erbfolge in allen habsburgischen Ländern erstmals einheitlich geregelt wurde. Zwei Punkte waren dabei entscheidend: Der habsburgische Besitz wurde als unteilbar und untrennbar erklärt, womit eine Erbteilung verhindert werden sollte, und die Erbfolge wurde zwar nach dem Gesetz der Primogenitur in männlicher Linie, bei Aussterben im Mannesstamm jedoch auch in weiblicher Linie bestimmt. Damit wurde nicht nur die weibliche Erbfolge möglich, sondern auch insofern umgekehrt, als Karls potentielle Töchter vor jenen seines älteren Bruders erbberechtigt waren und die Töchter JosephsI. ausschließlich im Fall einer gänzlich kinderlosen Ehe Karls das Erbe antreten können sollten. Da Karl bei der Bekanntmachung der Pragmatischen Sanktion gerade einmal 28 Jahre alt war, war allerdings noch mit zahlreichen Kindern und damit Erben zu rechnen – dass die weibliche Erbfolge tatsächlich einmal zum Tragen kommen sollte, erwartete der junge Kaiser damals wahrscheinlich nicht wirklich. Erst als das erste Kind erst 1716 geboren wurde – ein Sohn, der jedoch ein paar Monate nach seiner Geburt verstarb – und danach drei Töchter, Maria Theresia 1717, Maria Anna 1718 und Maria Amalia 1724, folgten und die Kaiserin nicht mehr schwanger wurde, wurde die Situation immer heikler. Die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion durch die europäischen Fürsten wurde für Karl immer wichtiger und der Kaiser begann, seine gesamte Politik darauf zu fokussieren. In seinem verbissenen Bemühen um ihre Sicherung machte er sich allerdings zunehmend erpressbar und war in seiner Politik äußerst eingeschränkt. Den Ratschlag des Prinzen Eugen, seines wichtigsten Feldherrn und Beraters, die Kräfte lieber auf ein schlagkräftiges Heer und finanzielle Reserven zu konzentrieren, schlug er in den Wind und erkaufte sich in mühevollen jahrzehntelangen Verhandlungen die Zustimmung der europäischen Mächte um den Preis zahlreicher territorialer Verzichte. Neapel-Sizilien wurde an Spanien abgetreten, Sardinien erhielt einen Teil der Lombardei, Lothringen ging an Frankreich. Auch handelspolitische Verzichte blieben nicht aus. So erfolgte auf Druck Englands und Frankreichs die Liquidierung der wirtschaftlich erfolgreichen, 1722 gegründeten Ostendischen Kompanie (Ostender Kompanie), die den Kaufleuten und Schiffsbesitzern der Österreichischen Niederlande den uneingeschränkten Handel mit Ostindien zugesichert hatte. Gleichzeitig war er von diesen Machtkämpfen so abgelenkt, dass er eine Modernisierung des Staates, der Verwaltung und innenpolitische Reformen verabsäumte. Prinz Eugen sollte Recht behalten. Die teuer erkauften Anerkennungen der Pragmatischen Sanktion waren 1740 das Papier nicht wert, denn die europäischen Mächte dachten nicht daran, sich an ihre Zusagen zu halten, und sahen ihre große Chance gekommen, das mächtige Habsburgerreich, dessen Schicksal nun in den Händen einer 23-jährigen Frau lag, endlich zu besiegen und unter sich aufzuteilen. Doch mit einem hatten sie nicht gerechnet: mit dem Mut, der Energie, dem guten Auftreten in der Öffentlichkeit und vor allem dem politischen Geschick der jungen Erzherzogin.
Das lange Ringen um die Pragmatische Sanktion: Im „Pactum mutuae successionis“ zwischen den Erzherzögen Joseph und Karl vom 12. September 1703 wurde für den Fall eines Aussterbens der männlichen Nachkommenschaft erstmals auch die Erbfolge der Frauen vorgesehen. (Haus-, Hof- und Staatsarchiv)
Die Heirat war eine glückliche Fügung des Schicksals in einer Zeit, in der Hochzeiten in aristokratischen Kreisen nichts mit Liebe zu tun hatten.
Franz Stephans Vater Herzog Leopold von Lothringen bemühte sich als Sohn der habsburgischen Erzherzogin Eleonora und Karls von Lothringen, der seit der Besetzung Lothringens durch die Franzosen am Wiener Hof im Exil lebte, zeit seines Lebens, die verwandtschaftlichen Verhältnisse zu den Habsburgern zu pflegen. Er selbst war bei seiner Mutter in Innsbruck aufgewachsen und später an den Hof seines Onkels und Paten Kaiser LeopoldI. geschickt worden, um sowohl eine höfische Bildung zu erhalten als auch seine „Karrierechancen“ zu verbessern – war doch sein Herzogtum nach wie vor von Frankreich besetzt und seine Zukunft ungewiss. So wuchs er gemeinsam mit seinen Cousins Joseph und Karl – den späteren Kaisern JosephI. und KarlVI. – auf und festigte damit die familiäre Verbundenheit. 1697 schlug schließlich seine Stunde, als Frankreich nach einigen militärischen Niederlagen Lothringen räumen und Leopold als Herzog von Lothringen anerkennen musste. Er übersiedelte nach Nancy und heiratete eine Nichte LudwigsXIV., Prinzessin Elisabeth Charlotte von Bourbon-Orléans. Doch das Glück währte nur kurz, mit Ausbruch des Spanischen Erbfolgekrieges besetzten die Franzosen erneut Nancy und der Herzog musste sich mit seiner Familie nach Lunéville zurückziehen. Dennoch residierte er feudal in seinem neu errichteten prächtigen Schloss und galt als äußerst kunstsinniger und populärer Herzog. Im Hinblick auf die unsichere und unbefriedigende Situation seines Herzogtums ist es nachvollziehbar, dass er die Allianz mit dem Wiener Hof festigen wollte und daher konsequent seinen Plan verfolgte, seinen ältesten Sohn mit einer Tochter KarlsVI. zu vermählen. So erreichte er auch nach einigen Versuchen und Verhandlungen die Zusage KarlsVI., seinen Sohn Leopold Clemens an den kaiserlichen Hof einzuladen – offiziell, um ihm eine höfische Bildung zu ermöglichen, insgeheim als potentieller Schwiegersohn. Ersteres unterstützte Karl durchaus, zunächst auch den Plan seines Cousins, seinen Sohn als Ehemann einer seiner Töchter zu etablieren, hoffte er damals doch noch auf die Geburt eines Thronerben. Dennoch war er schon damals zurückhaltend, was seine älteste Tochter Maria Theresia betraf, für die er die de facto besitzlosen und politisch völlig unbedeutenden Herzoge von Lothringen nicht als adäquate Partie erachtete. Der lothringische Erbprinz Leopold Clemens, der auf diese Aufgabe und Chance hin erzogen wurde, wurde daher recht unverbindlich an den Wiener Hof eingeladen. Jedoch ereilte ihn das tragische Schicksal vieler Kinder dieser Zeit: Der 16-jährige Prinz verstarb an den Pocken. So rückte von heute auf morgen der jüngere Sohn Franz nach, der an Stelle des älteren Bruders nach Wien geschickt werden sollte. Um die Gunst des kaiserlichen Verwandten zu erwerben, schickte ihn Leopold zur Krönung Karls zum böhmischen König 1723 nach Prag, wo es zu einem ersten kurzen, aber umso entscheidenderen Zusammentreffen kam. Selbstverständlich bekam er genaueste Verhaltensvorschriften mit auf den Weg. Sein Erzieher, der ihn nicht begleiten konnte, schrieb: „Monseigneur! Ich bin äußerst betrübt, dass ich durch meine Gebrechlichkeit verhindert bin, Ew. Königl. Hoheit folgen zu können, wie ich es von ganzem Herzen wünschte. Die Reise, die Sie jetzt nach Prag tun, halte ich für den wichtigsten Schritt Ihres Lebens. Ew. Königl. Hoheit mögen bedenken, dass es gilt, Ihren Herrn Bruder zu ersetzen, der dort so erwünscht und begehrt war. An Ihnen liegt es, einen guten Gebrauch von den glücklichen Talenten Ihres Geistes und Ihres Körpers zu machen, mit denen der Herr Sie gesegnet hat, um dort die Größe Ihres erlauchten Hauses und die Wünsche und Erwartungen der ganzen Welt zu erfüllen … seien Sie ergeben ohne Affektiertheit, zeigen Sie hohe und große Gesinnung, wie sie Ihnen zustehen, ohne Stolz und Prahlerei; seien Sie edel und ungezwungen, nicht verkrampft in Ihrer Handlungsweise, seien Sie sanft, höflich, leutselig und wohltätig. Die Tugend ist einfach und schlicht, ohne Schminke und ohne Maske. Man täuscht die Öffentlichkeit nur wenige Zeit, und wenn man erkannt ist, wird man leicht verachtet.“1 Weiters riet er dem 14-Jährigen, sich vor Speichelleckern in Acht zu nehmen, sich vor Hofklatsch zu hüten, niemals müßig zu sein, sich vor jeder Art von Spiel zu hüten – und deutsch zu sprechen! Franz, der nun um Verwechslungen innerhalb der Familie zu vermeiden auch seinen zweiten Namen Stephan führte, nahm sich die Ratschläge offenbar zu Herzen, denn er meisterte die entscheidende Situation mit Charme und Höflichkeit und Kaiser Karl notierte in seinem Tagebuch: „Prinz Lothringen find hibsch, wohl gewachs, manierlich, redt Teutsch“, tags darauf: „Prinz Lothringen lustig“ und einen Tag später: „Prinz Lothringen da, herzig … lustig“2. An Herzog Leopold schrieb er, dass er seinen Sohn „gescheit, manierlich und achtsam“ fände und der Prinz „bei allen Leuten beliebt und admiriert“ sei.3 Die erste Hürde war also geschafft, aber Herzog Leopold legte sicherheitshalber nochmals nach und klagte, dass er um die Integrität seines Sohnes fürchte, der zu Hause auch durch seine französische Mutter einem zu starken Einfluss der Franzosen ausgesetzt wäre: „Da mein Land leider von Frankreich so umringt und abgeschnitten ist, so ist der Einfluss der Franzosen unvermeidlich. Deren Sitten aber sind für meinen Sohn, der doch schon zu seinen Jahren kommt, sehr gefährlich! … Sie sprechen von nichts anderem als von der Größe ihres Königs und mit einer Universalverachtung aller anderen Monarchen und Nationen …“4 Leopolds Engagement zahlte sich aus und Franz Stephan erhielt die heißersehnte Einladung an den Wiener Hof sowie eine vage Zusage zum gewünschten Hochzeitsprojekt, jedoch mit der eindeutigen Auflage, „daß kein Publizität noch Datum gemacht werde“.5
Der 15-jährige Herzog Franz Stephan von Lothringen im Jagdkostüm. Gemälde von Frantz von Lutering, um 1723.
Maria Theresias Mutter: Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel. Porträt von Johann Gottfried Auerbach.
1724 übersiedelte der Prinz nach Wien und wurde von Karl wie ein Sohn aufgenommen und erzogen. Schon bald wurde er zum ständigen Jagdbegleiter des Kaisers und schaffte es, sich durch seine sanfte, charmante und trotzdem lebenslustige Art beliebt zu machen. Und zwar nicht nur beim Kaiser, sondern mit den Jahren auch bei dessen ältester Tochter Maria Theresia. Denn bei der Ankunft des 15-Jährigen in Wien war Maria Theresia gerade einmal sieben Jahre alt – weshalb er die ersten Jahre bei Hof in erster Linie an einer guten Beziehung zum Kaiser interessiert war. Da es letztendlich jedoch darum ging, eine Tochter des Kaisers zu heiraten, verlor er dieses Ziel sicherlich nie aus den Augen – umso mehr, als die älteste Tochter mit den Jahren zur immer wahrscheinlicheren Nachfolgerin avancierte, da ihre Mutter Elisabeth Christine nach 1724 nicht mehr schwanger wurde. So verhielt sich Franz Stephan ihr gegenüber offenbar äußerst charmant, denn trotz des offenkundigen Plans Leopolds verstanden sich die beiden sehr gut, vielleicht verliebte sich die junge Erzherzogin in diesen Jahren auch schon in den attraktiven lothringischen Prinzen. Doch ihre unbeschwerte Jugend wurde 1729 jäh unterbrochen, als Franz überraschend nach Lunéville zurückkehren musste, da sein Vater bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen war und er nun das Erbe antreten musste. In den folgenden Jahren festigte Franz Stephan in seinem Bemühen um sein Herzogtum nicht nur seine Abneigung gegen Frankreich, das Lothringen nach wie vor besetzt hielt, sondern ging, wie es damals für aristokratische junge Männer üblich war, auf Reisen. Diese Tour d’ Europe, die ihn vor allem nach England, Holland und Preußen führte, sollte im Hinblick auf sein späteres Wirken von größter Bedeutung sein. Gleichzeitig bemühte er sich natürlich, den Kontakt zum Wiener Hof aufrechtzuerhalten, und wurde schließlich auch von Karl als Statthalter in Ungarn eingesetzt. Er residierte nun in Pressburg (Bratislava), das nicht weit von Wien entfernt war, und hatte wohl auch intensiven Kontakt zur kaiserlichen Familie – und zu Maria Theresia, die in der Zwischenzeit zu einer hübschen jungen Frau herangewachsen war. Mittlerweile war klar, dass Karl keinen Thronerben mehr haben würde. Elisabeth Christine war nicht mehr schwanger geworden, war aber auch nicht todkrank, womit auch eine Wiederverheiratung des Kaisers ausgeschlossen war. Daher erhielt die Verliebtheit Maria Theresias neue Brisanz und die junge Erzherzogin begann ihren Vater zu bearbeiten und entschlossen für ihre Liebe zu kämpfen. Gerade in dieser Zeit zeigten sich bereits jene Eigenschaften, die Maria Theresia als junge Monarchin kennzeichnen sollten: ihr Kampfgeist, ihr energischer und eiserner Wille – und ihre Durchsetzungskraft. Denn Karl war ganz und gar nicht angetan von einer Heirat seiner Nachfolgerin mit einem politisch bedeutungs- und machtlosen Herzog, der noch dazu über keinerlei finanzielle Mittel verfügte. Vielmehr fasste er eine Verbindung mit dem spanischen Königshaus ins Auge, auch der portugiesische Kronprinz galt als mögliche Option. Der englische Gesandte Robinson berichtete 1735 über die offenkundig verliebte Erzherzogin: „Wenn sie am Tage über sich auf der Höhe ihrer Seelenstimmung befunden, so seufzt sie des Nachts nach ihrem Herzog von Lothringen. Wenn sie schläft, so träumt sie nur von ihm, wenn sie wacht, so spricht sie mit ihren Hofdamen nur von ihm. Man darf dessen gewiß sein, daß sie niemals auf die Regierung noch auf ihren Gatten verzichten wird. Beide gehören ihr zu und sind für sie geschaffen; niemals würde sie dem verzeihen, der ihr dies Besitztum entrisse.“6
Doch Maria Theresia hatte Glück. Auf Druck der Seemächte musste Karl für die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion im Interesse des europäischen Gleichgewichts auf eine Verbindung mit Spanien verzichten. Nur ein Prinz mit geringer Macht würde gebilligt werden. Plötzlich begann aber nun Franz Stephans Mutter die Angelegenheit zu hintertreiben, da sich gleichzeitig abzeichnete, dass eine Vermählung des Herzogs von Lothringen mit der österreichischen Erzherzogin und Erbin KarlsVI. nur akzeptiert würde, wenn er auf sein Herzogtum verzichten würde. Frankreich hatte in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass ein potentieller Kaiser des Heiligen Römischen Reiches für sie unmöglich gleichzeitig Herzog von Lothringen sein könne – eine Konstellation, die sogar Habsburgs Bündnispartner England ablehnte. Um nun endlich sein Ziel zu erreichen und Lothringen endgültig zu gewinnen, stellte Frankreich sogar die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion in Aussicht – sowie schließlich einen Tausch gegen die Toskana. Franz Stephan musste sich also zwischen Maria Theresia bzw. als Gemahl der österreichischen Erzherzogin, künftigen Königin von Ungarn und Böhmen zwischen einer möglichen „Karriere“ als Kaiser und seinem Herzogtum entscheiden. Seine Mutter war empört über seine Tendenz, sich für Maria Theresia zu entscheiden. Sie beschwor ihn – wohl auch in eigenem Interesse –, seine „Heimat“ nicht für die Ehe mit einer Erzherzogin zu „verraten“, die als Frau wahrscheinlich wenige Chancen auf das Erbe ihres Vaters habe, womit auch seine Zukunft mehr als ungewiss wäre. Doch Franz entschied sich für Maria Theresia. Ende des Jahres 1735 unterschrieb er den „Handel“ und hielt am 30. Jänner 1736 bei Karl um ihre Hand an. Im Hinblick auf die damalige Situation war dies ein durchaus riskanter Entschluss, der bedeutete, dass sich Franz Stephan im Unterschied zu seiner Mutter entweder blind auf die Zusagen Frankreichs bzw. die Pragmatische Sanktion verließ, die Aussichten auf die Kaiserwürde zu verlockend waren – oder er sich doch auch in Maria Theresia verliebt hatte.
Eine absolute Liebesheirat: das Hochzeitsmahl. Gemälde von Martin van Meytens, 1736.
Die Quellen geben darüber keinen genauen Aufschluss. Denn während Maria Theresia ihrem „Mäusl“ glühende Liebesbriefe schrieb ,wirken Franz‘ Briefe an seine Braut eher ungelenk – was jedoch sowohl an seinen mangelnden Deutschkenntnissen als auch an dem Umstand liegen mag, dass sie im Rang über ihm stand und er in Briefen trotz allem die Etikette wahren und vor allem seine Ergebenheit demonstrieren wollte. So schrieb er wenige Tage vor ihrer Hochzeit aus Pressburg: „Durchlauchtigste Erzherzogin, engelische Braut, nachdeme mir von Ihro Majestät dem Kaiser die Allerhöchste Erlaubnis ist gegeben worden, Ew. Liebden zu schreiben, so kann ich nicht länger warten, von diesen Gnaden zu profitieren und Ew. Liebden zu versichern, daß mir nichts Harters ankommt, als dieses schriftlich zu tun, und mich selbst zu Dero Füßen zu legen nicht erlaubt seie, wie es E.L. nicht schwer zu glauben sein wird, indem die allerliebste Braut persuadiert (überzeugt) sein wird, daß kein Bräutigam in der Welt mit mehrerer Ergebenheit und Respekt sein kann als Ew. Lbd. meiner engelischen Braut getreuester Diener Franz, Preßburg, d. 8. Febr. 1736.“7 Maria Theresia antwortete überschwänglich: „Caro viso (liebes Gesicht/geliebtes Antlitz)! Ich bin Euch unendlich verbunden für die Aufmerksamkeit, mir von Euch Nachricht zu geben, denn ich war schon in Angst wie eine arme Hündin; liebt mich ein wenig und verzeiht, wenn ich nur kurz antworte, aber es ist 10 Uhr, und Herbeville (der Kurier) wartet auf meinen Brief. Adieu Mäusl, ich umarme Euch von ganzem Herzen, schont Euch recht, adieu caro viso ich bin Eure sponsia dilectissima“ (liebste Braut).8 Adressiert war der Brief an: „Durchleuchtigsten Fürsten Franzisco, Herzogen zu Lothringen, meinen villgelibten Bräutigamb“. Franz antwortete: „In diesem Augenblick erhalte ich Ew. Lbd. (Euer Liebden) gnädiges Schreiben, welches mir in meiner Entfernung nicht von geringen Trost ist, dann ich versichern kann, daß mir die Tage unerträglich seind, wo ich die Freud nicht habe, meiner allerliebsten Braut mich zu Füßen zu legen. Vor welchem mich nicht konsolieren (trösten) könnte, wann nicht beständig darhin gedenkete, daß ich die Gnad haben werde, sonntags bei denen Augustinern einander näher und in Vollkommenheit meines Vergnügens zu sehen.“9